Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band: 17
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.
Der Nachtzug Gwalior-Amritsar durcheilte ohne Aufenthalt die endlosen Ebenen des Pandschab, des Fünfstromlandes im Norden Vorderindiens.
Die letzten drei Wagen enthielten nur Schlafabteile. In einer der bequemen Kabinen mit zwei Betten hatten Harst und ich uns ganz häuslich eingerichtet, hatten soeben draußen im Gange noch eine Zigarette geraucht und uns vergewissert, daß unsere Nachbarn rechts und links zwei baumlange Offiziere der britisch-indischen Armee waren, die wir nicht weiter zu beargwöhnen brauchten.
Vorsichtig mußten wir beide ja stets und überall sein. Wer hinter einem Verbrecher von Cecil Warbattys Fähigkeiten her ist, tut gut, jedem Menschen gegenüber zunächst mißtrauisch zu sein.
Harst gähnte, verriegelte die Tür des Abteils und begann sich zu entkleiden. Ich folgte seinem Beispiel. Ich saß auf dem Bettrand und ließ aus Ungeschick einen Stiefel fallen.
„Du machst mich noch nervöser!“ fuhr Harst sofort gereizt auf und warf mir einen bitterbösen Blick zu.
„Entschuldige,“ stammelte ich. – Was hatte er nur: Von einer so unliebenswürdigen Seite lernte ich ihn ja sehr selten kennen.
Er öffnete jetzt die eine Luftscheibe des Dachschachtes noch mehr, meinte dann: „Die Hitze ist unerträglich. Trotzdem werde ich wie ein Toter schlafen. – Gute Nacht, mein Alter. Verzeih’ schon, wenn ich soeben etwas heftig wurde. Dieses schöne Land mit Warbatty als Zugabe ist das reinste Nervenreibeisen.“
Er streckte mir die Hand hin und kroch dann unter sein Moskitonetz und auf sein Lager.
Nachdem ich die Stoffhalbkugeln über die Deckenlampe gezogen hatte, suchte auch ich mein Bett auf. – Unsere Betten standen einander an den Längswänden der Kabine gegenüber. Zwischen ihnen war ein Gang von etwa anderthalb Meter Breite.
Ich konnte nicht sofort einschlafen. Ich mußte immer wieder an das denken, was unserer Verfolgung des vielfachen Mörders in Gwalior eine neue Note gegeben hatte. Warbatty sollte verheiratet sein. Dieser in seiner Art einzig dastehende Gesetzesverächter schien seine Frau aufrichtig zu lieben. – Seltsame Widersprüche der Menschenseele! Derselbe Mann, der mit der Kaltblütigkeit eines über alle moralischen Bedenken erhabenen Wahnsinnigen tötete und mit dem eigenen Leben ebenso leichtfertig spielte, besaß in seinem Herzen doch noch Raum genug für edlere Regungen!
Ich blinzelte zu dem schmalen, hellen Strich nach oben, den die Stoffhalbkugeln der Lampe frei ließen. In unserem Abteil war es im übrigen völlig dunkel. Nur dieser eine weiße Schimmer milderte die Finsternis hoch über uns in der Wölbung des Dachschachtes.
Die Räder des Wagens sangen ihr träges, einförmiges Lied; nichts anderes war sonst zu vernehmen; wie in einem großen Käfig glitten wir in unserer Kabine über den Schienenstrang dahin.
Meine Gedanken begannen zeitweise ins Traumland hinüberzuwandern; kehrten für Sekunden zurück in die Wirklichkeit; entwischten abermals in das Phantasieland der Unwirklichkeit. Und in diesem Zustande des Halbschlafs war’s, als ich von Harsts Bett her ein leises Geräusch vernahm, das ganz so klang, als hätte mein Freund und Brotherr sich aufrecht gesetzt.
Ich wurde sofort munter; starrte hinein in das Dunkel und glaubte nun auch zu erkennen, daß Harst in seinem hellen Schlafanzug auf dem Bettrand zusammengeduckt hockte. Dann aber verschwamm mir infolge der Überanstrengung der Sehnerven alles vor den Augen; dann – fühlte ich eine Hand, die sich leicht auf meinen Mund legte.
Und Harst, der nun auf dem Bastteppich vor meinem Bett kniete, flüsterte, mit dem Munde mein rechtes Ohr fast berührend:
„Vorsicht! Die Geschichte hier ist nicht geheuer!“
Mir wurde noch heißer. Aber ich blieb regungslos liegen; wartete nun, was Harst weiter tun würde.
Aber – ich hörte und sah nichts mehr von ihm; sah nur schräg über mir den weißen Streifen, der das polierte Holz des Dachschachtes in kleinem Umkreis glänzen ließ; hörte nur das Rollen der Räder und das feine Singen des Blutes in meinen Ohren.
Dann – von der Tür her ein leises Knarren.
Sollte jemand eindringen wollen? – Meine Rechte tastete sogleich unter das Kopfkissen, bekam den Revolver zu fassen.
Wieder wartete ich. Jetzt nichts Verdächtiges mehr – nichts! Aber gerade diese Stille war schwerer zu ertragen als alles andere. Meine Stirn troff von Schweiß. Ich öffnete das Moskitonetz, faßte mit der Linken hindurch, fühlte, ob Harst noch dicht vor meinem Bett sei. – Nichts – nichts!
Ich hielt es so nicht länger aus; kroch mit dem Oberkörper, die Beine auf meinem Lager lassend und mich auf die Hände stützend, halb bis zu Harsts Bett hin und fuhr mit der Rechten über seine Kissen.
Leer – leer! Und vorhin das Geräusch an der Tür. – Ich wußte Bescheid; er hatte sich heimlich aus dem Abteil geschlichen. – Aber wohin? Zu welchem Zweck?
„Die Geschichte hier ist nicht geheuer!“ hatte er mir zugeflüstert. – Also war er jetzt wohl auf dem Wege, das, was seinen Verdacht erregt hatte, näher aufzuklären.
Nun – er sollte dabei Gesellschaft haben! Er hatte mir nicht verboten, ihm zu folgen. Ich erhob mich ebenso leise und fand – die Schiebetür, die er nur immer in Millimetern ruckweise geöffnet haben konnte, noch handbreit offen.
Im Gange des Schlafwagens brannte eine einzelne Lampe unter Milchglocke etwa vier Meter rechts von mir. In diesem Halbdunkel gewahrte ich sofort jenseits des matten Lichtscheins eine Gestalt: Harst im Schlafanzug! Er stand tief gebückt vor einer Kabinentür und hatte den Kopf an das Holz gelehnt.
Ich glitt die wenigen Schritte schnell entlang, war nun neben ihm. Er wandte nur etwas den Kopf, winkte mit der Hand, richtete sich nach ein paar Minuten auf und zeigte auf eine bestimmte Stelle der Türfüllung links vom Schloß.
Ich beugte mich tiefer; hatte nun ein winziges Loch bemerkt und spähte hindurch.
Vor dem länglichen Tischchen einer sogenannten Luxuskabine saß eine Frau, – ein junges Weib in heller Seidenbluse mit kastanienbraunem gescheitelten Haar. Das Profil war von klassischer Schönheit; die langen Wimpern, die starken Brauen und ein Paar etwas zu volle Lippen fielen besonders auf.
Die Frau hatte die Arme auf das Tischchen gestützt und hielt in den Händen – ja, – was war’s wohl – was?
Ah – ein Löschblatt mit zersetzten Rändern, ein bekleckstes, schmutziges, rosa Löschblatt von der Größe einer Schreibunterlage!
Das junge Weib starrte auf dieses nichtige Ding hin, als gäbe es darauf sehr Wichtiges zu lesen; wie eine Statue saß sie da. Und – zwischen den Wimpern drängten sich nun ein paar Tränen hervor. –
Ich begriff nicht, weshalb Harst diese Frau beobachtete. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie wäre mir aufgefallen. Ein Gesicht von solcher Schönheit übersieht man nicht.
Harst schob mich jetzt beiseite, deutete mit der Hand nach der Ganglampe hin, machte die Bewegung des Ausdrehens.
Ich gehorchte. Die Milchglocke ließ sich herabklappen. Die elektrische Birne darunter brauchte ich nur ein paarmal nach links zu drehen, dann war die Stromleitung unterbrochen. Die glühenden Fäden erloschen.
Ich tappte vorsichtig zu Harst zurück. Der flüsterte jetzt: „Der Schaffner schläft vorn im Wagen in seiner Kabine. Er hat Licht brennen. Sobald er sich regt, warne mich.“
Eine volle Stunde stand ich dann dort Posten. Der Schaffner hatte die Tür nur angelehnt und saß auf seiner Bank mit ausgestreckten Beinen und auf die Brust herabhängendem Kopf. Er schnarchte und war ungefährlich.
Dann kam Harst mich holen. Er hatte das Licht wieder eingeschaltet im Gange, raunte mir triumphierend zu: „Ich hab’s!“ und eilte mir voraus in unser Abteil.
Hier klappte er die Stoffhalbkugeln der Lampe hoch, kletterte auf sein Bett, schloß die Luftscheiben ganz fest, setzte sich dann auf seinen Bettrand, faßte in die Jacke seines Schlafanzugs hinein und reichte mir das bekleckste rosa Löschblatt.
Seine Augen waren dabei halb zugekniffen; aber sie funkelten vor Genugtuung. Und um seinen Mund spielte ein besonderes Lächeln.
Ich besah mir das Löschblatt ganz genau. Ich hielt es so, daß auch Harst es gleichzeitig betrachten konnte.
Links oben waren die Reste eines länglichen schwarzen Stempelaufdrucks zu erkennen. Ich entzifferte unschwer, das fehlende ergänzend:
Post- und Eisenbahnabteilung.
Öffentliches Eigentum!
Im übrigen war an dem ziemlich starken Löschblatt nichts Besonderes zu entdecken. Es war ohne Frage eine Schreibunterlage aus dem Schalterraum eines englischen Postamtes.
„Nun?“ fragte Harst.
Ich gab meine Weisheit zum besten: Schreibunterlage – Postamt. –
„Hm!“ meinte Harst. „Etwas wenig bei der Fülle von Auffälligem.“
Ich bin ehrgeizig. Also besichtigte ich das Ding nochmals von beiden Seiten. Leider blieb’s nur ein bekleckstes Blatt, auf dem offenbar recht viele Schriftstücke getrocknet worden waren und ihre Tintenspuren zurückgelassen hatten, so daß die Mittelstücke auf beiden Seiten wie große dunkle Flecke aussahen.
Ich gab es Harst achselzuckend zurück. „Ich vermag wirklich nichts zu entdecken –“
„Und doch muß etwas zu entdecken sein!“ flüsterte er. „Ohne Grund wird die Kastanienbraune das Löschblatt kaum wie eine geheimnisvolle Zeichnung studiert haben. Ohne Grund stiehlt Harald Harst keine Löschblätter aus einer Handtasche aus einer verschlossenen Luxuskabine –“
Er bot mir aus seinem Zigarettenetui eine seiner immer spärlicher werdenden Mirakulum-Lieblinge an, hielt mir das Feuerzeug hin und paffte dann mit Wohlbehagen die ersten Rauchwölkchen in die Luft.
„Das Feuer läutert alles,“ lächelte er mit jener liebenswürdigen Überlegenheit, die bei ihm den Verdacht der Wichtigtuerei von vornherein ausschließt. „Ein scharfer Holzbohrer arbeitet, mit Speichel angefeuchtet, lautlos. So entstand das Löchlein in der Kabinentür der Miß Lizabet Doogston. Und ein zweites Löchlein genügte, den Riegel zurückschieben zu können mit der Spitze des Bohrers. Sie schlief ganz fest, die kastanienbraune Miß. Und sie wird sehr unangenehm überrascht sein, wenn sie bei der Ankunft in Amritsar den Verlust merkt.“
„Glaub’ ich gern!“ nickte ich. „Zunächst aber: Wie bist Du denn in aller Welt auf sie aufmerksam geworden?“
„Im Speisewagen, als wir die tadellosen Hammelrippen vom Rost aßen. Sie saß mit dem Rücken nach uns hin am dritten Tischchen, dicht verschleiert –“
„Ah – nun besinne ich mich. Sie kam an uns vorüber, als wir –“
„Ja – und sie hatte eine Handtasche aus Krokodilleder, hatte darin einen Taschenspiegel den sie scheinbar absichtslos so aufbaute, daß sie mit einem Herrn, der durch den Gang getrennt neben uns saß, sich durch bestimmte Zeichen verständigen konnte, – sehr raffiniert ausgeklügelte Zeichen beim Essen, so zum Beispiel kleine Schlucke Wein, Heben von Messer und Gabel, Zerknicken von Zahnstochern – und so weiter. Es war eine recht eigenartige Telegraphie – aber Telegraphie war’s bestimmt. Und der Herr neben uns –“
„– war groß und breitschulterig, hatte Blatternarben und viele Brillantringe,“ vollendete ich. „Ich schätze auf einen Norweger oder Schweden.“
„Ganz recht. – Jedenfalls genügte mir das Beobachten, die Kastanienbraune aufs Korn zu nehmen –“
„Augen hast Du, – Augen!“
„Zum Glück bessere als Du, lieber Alter. Sonst würden unsere sterblichen Überreste wohl längst irgendwo –“
Das Aufkreischen der sich an die Räder anschmiegenden Bremsen ließ Harst verstummen. Wir schauten uns vielsagend an. Der Zug fuhr langsamer, hielt mitten in einer unwegsamen Wildnis.
Harst war im Nu in den Beinkleidern, zog sich notdürftig an. Ich beeilte mich genau so. Wir traten in den Gang hinaus, liefen nach vorn, kamen in den zweitletzten Wagen, fanden hier den Zugführer, zwei Schaffner und zwei Reisende in erregtem Gespräch vor einer Kabinentür stehen.
Man teilte uns mit, daß in diesem Schlafwagenabteil Nr. 9 vor wenigen Minuten ein Schuß gefallen sei. Daraufhin hatte Master Halborne, der Inhaber von Nr. 8, die Notleine gezogen.
Harst schob den Zugführer, der abermals gegen die Tür mit der Faust donnerte, zurück und holte seinen dünnen Bohrer hervor.
„Ich verstehe mich auf solche Dinge,“ meinte er zu dem verdutzten Beamten.
Der Riegel war bald zurückgedrückt. Harst öffnete die Schiebetür.
Nr. 9 war ebenfalls eine Luxuskabine. Das Licht darin war nicht abgeblendet. Wir alle sahen gleichzeitig auf dem Bett unter dem Moskitonetz einen Mann in einer Stellung liegen, wie sie kein Schlafender einnimmt.
„Schicken Sie die Neugierigen weg,“ raunte Harst dem Zugführer, einem kleinen, hageren Engländer zu. „Ich bin Detektiv. Der Mann dort ist ermordet und beraubt worden.“
Gegen Harsts bestimmte Art wehrt sich niemand. Es ist eben die Macht der Persönlichkeit, die ihm Gewalt auch über Wildfremde gibt. – Der Zugführer gehorchte.
Wir drei waren dann allein mit dem Toten. Harst hatte hinter uns und dem Beamten die Tür zugeschoben. Inzwischen hatte ich bereits bemerkt, daß der auf dem Bett Liegende an der Stirn eine kleine Wunde hatte und daß am Fenster am Boden ein offener Koffer stand, dessen Inhalt daneben ausgestreut war.
Der Zugführer ließ Harst auch weiterhin in allem freie Hand. Er war offenbar an derlei Vorkommnisse nicht gewöhnt und jetzt völlig ratlos.
Harst musterte noch immer von der Tür her den kleinen Raum, deutete nun auf das Fenster und sagte: „Von dort ist der Mörder eingedrungen. Die Vorhänge sind nicht angeknöpft.“
Dann beugte er sich über den Toten, fühlte ihm nach dem Puls, nickte kurz, ging zum Fenster und hob vom Boden zwischen Wäschestücken eine Aktentasche auf, besichtigte deren Inhalt und erklärte:
„Advokat Howard Austin Stelton aus Lahore.“
Der Zugführer fragte kläglich, was er wohl tun solle. Länger dürfte der Zug nicht halten. Sonst gäbe es eine zu große Verspätung.
„Lassen Sie nur weiterfahren,“ meinte Harst. „Wir erledigen auch so das Nötige –“
Der Beamte war froh, daß er die Kabine für ein paar Minuten verlassen konnte.
Harst winkte mir vom Fenster her, zeigte auf ein blendend weißes Oberhemd, auf dessen Hemdbrust sich undeutlich der Abdruck eines kleinen Stiefels abzeichnete. Das Hemd hatte der Mörder in seiner Hast aus dem Koffer ebenfalls auf den Boden geworfen und war dann darauf getreten, – vielleicht, ohne dies selbst zu ahnen.
Harst hob das sauber gefaltete Oberhemd auf und betrachtete den Abdruck, der in Form von feinen Knüllen entstanden war.
„Na, mein Alter?“ Sein fragender Blick forderte von mir eine Erklärung über diese Spur.
„Der Größe nach ein Frauenschuh, denn ein Kind kommt als Mörder nicht in Betracht.“
Er nickte, sagte: „Wie wär’s mit der Kastanienbraunen, lieber Schraut?“
Der Zugführer erschien wieder. Gleichzeitig ruckte der Wagen an. Wir fuhren weiter.
„Ich rate Ihnen, sich eine Dame näher anzusehen, die in Abteil Nr. 3 im letzten Wagen untergebracht ist,“ erklärte Harst dem Beamten.
Dieser hatte sich jetzt an den Anblick des Toten mehr gewöhnt.
„Verzeihen Sie, Master,“ meinte er. „Dürfte ich Ihren Namen wissen? Sie sagten, Sie seien Detektiv. Vielleicht zeigen Sie mir auch Ihren Ausweis. Ich sprach soeben im Gange draußen mit Chefingenieur Albström von den Eisenbahnwerkstätten in Amritsar. Er warnte mich. Ich kenne Sie nicht, Master. Und ich –“
„Ich bin ein Deutscher namens Harst – Harald Harst,“ fiel ihm mein Freund ins Wort. „Vielleicht genügt Ihnen der Name.“
Er genügte. Der Zugführer dienerte vor Unterwürfigkeit. „Ich wäre Ihnen überaus dankbar, Master Harst, wenn Sie mir –“
„Schon gut. – Kommen Sie –“
Der Gang war leer. Nur am Ende des Wagens stand ein Schaffner, der nun vor Nr. 9 Wache halten mußte. – Wir blieben vor Nr. 3 stehen. Harst klopfte, klopfte immer kräftiger. Dann – schob er die Tür auf. Sie war nicht verriegelt gewesen. Die Luxuskabine enthielt jedoch nichts als einen kleinen Rohrplattenkoffer.
„Entflohen!“ meinte Harst. „Habe ich befürchtet. Sie hat den Zug auf offener Strecke verlassen, die Kastanienbraune, die sich Miß Lizabet Doogston nannte und sicher ganz anders hieß.“
„Sie kennen die Dame, Master Harst?“ fragte der Zugführer überrascht.
„Wenigstens von Ansehen. Ihren Namen verriet mir – Doch darauf kommt es hier nicht an. Ich habe noch eine zweite Person, die mir verdächtig erscheint. Im vordersten Schlafwagen in Abteil Nr. 6 ist ein –“
Der Zugführer unterbrach Harst. „Nr. 6? – Wohl ein Irrtum, Master. Dort ist ja unser Chefingenieur Albström untergebracht.“
„Natürlich – ich meinte Nr. 8,“ verbesserte sich Harst schnell. „Gegen diesen Herrn von Nr. 8 können wir jedoch erst in Amritsar etwas unternehmen. Ich rate Ihnen, jetzt zunächst die Kabine des Ermordeten zu verschließen. Alles weitere findet sich bei unserer Ankunft in Amritsar.“ Er gähnte. „Am besten, Sie verschweigen den Mord. Wozu die Fahrgäste aufregen? Schärfen Sie den Schaffnern ein, den Mund zu halten. Gute Nacht –“
In unserer Kabine nahmen wir wieder auf den Betträndern Platz. Harst hatte das Löschblatt vorhin unter das Kopfpolster gelegt, nahm es nun zur Hand und meinte, indem er mir zunickte: „Unsere Gebeine würden also längst irgendwo modern, lieber Alter, wenn ich nicht mehr sehen könnte als zum Beispiel – nicht etwa Du, denn Du bist ein ganz gelehriger Schüler gewesen, sondern als dieser Zugführer, der ein sehr harmloses Kaninchen ist.“ Er hatte schon wieder eine Zigarette angezündet. Seine Laune war glänzend. Ich merkte, daß dieser Mord im Schlafwagen ihn anregte und mitteilsam machte. „Der Zugführer,“ setzte er hinzu, „hätte bemerken müssen, daß ich aus des Toten Aktentasche etwas zu mir steckte. – Bitte – dies hier!“ Er hatte mit der Linken in die Jackentasche gefaßt und hielt mir einen Kiesel von etwa Fingergliedgröße hin.
„Ein Unscheinbares Ding – und doch ein ungeschliffener Diamant,“ erklärte er. „Die große Aktentasche dürfte noch mehr ähnliche Steine enthalten haben. Wir können also als Motiv der Tat zunächst Habgier, Eigennutz oder wie Du’s sonst nennen willst, annehmen.“ Er ließ den Diamant wieder in die Tasche gleiten, sog den Zigarettenrauch mit dem Behagen des leidenschaftlichen Rauchers ein und – brachte die glimmende Spitze der Zigarette an den Rand des Löschblattes heran, sagte lauter:
„Gib acht!“
Es roch nach verbranntem Papier. Das Löschblatt war angesengt. Dann – ein feines Zischen.
Und nun fraß ein dünner Feuerstrich sich schnell in vielfach verschlungenen Linien durch das Papier hindurch, wanderte eilig weiter und weiter, beschrieb Bogen und Ecken, schuf gerade Linien – bis der Feuerstrich die Ausgangsstellung wieder erreicht hatte und der Rand der Löschunterlage zu Boden fiel.
Das, was Harst in der Hand behielt, war ein ganz unregelmäßig geformtes Stück Löschblatt von der Größe zweier Handflächen, war gerade am dichtesten mit den Tintenspuren bedeckt.
„Genial,“ lächelte Harst. „Diesen Gedanken könnte ganz gut unser Freund Cecil ausgeklügelt haben. Wenn Du, lieber Alter, vorhin das Löschblatt Dir mit Polizeiaugen angeschaut hättest, wäre Dir der weißliche Strich kaum entgangen, der über beide Seiten des Blattes sich hinzog. Ich ahnte, daß dieser Strich mit einer bestimmten Lösung getränkt war, die das schnelle Weiterfressen des Feuers begünstigt. Diese Löschunterlage glich also jenen Scherzartikeln, bei denen etwas Ähnliches sich abspielt und zum Beispiel der Feuerstrich schließlich eine auf Pappe gezeichnete Kanone zur Entladung bringt. Hier handelt es sich fraglos um alles andere nur nicht um Scherz. Warum wohl? Was denkst Du?“
Ich war bescheiden und begnügte mich mit einem Achselzucken.
„Du machst Dir die Sache bequem, weiß Gott,“ sagte Harst etwas vorwurfsvoll. „Wenn man Phantasie hat, könnte man zwischen diesem herausgebrannten Stück Löschblatt und dem Edelstein aus des ermordeten Advokaten Aktentasche leicht eine Verbindung herstellen. – Indien ist berühmt wegen seiner Diamantenfundstellen. Südafrikas Minen mögen reicher sein. Die besseren Steine findet man hier. Wenn nun jemand eine solche Fundstelle entdeckt hat, wird er, falls sie in unbewohnter Gegend liegt, sich vielleicht eine Kartenskizze herstellen, dabei aber sehr vorsichtig zu Werke gehen, damit die Skizze nicht auch anderen die Fundstelle verrät. Ein ganz Schlauer mag ein Löschblatt als Papier für die Skizze gewählt haben –“
„Ah – glänzend! Du hast Phantasie, lieber Harst!“
„Trotz aller Vorsicht des ersten Finders mag nun doch ein Anderer hinter das Geheimnis gekommen sein und die Fundstelle ausgebeutet haben – etwa der Ermordete, bei dem ich ja einen ungeschliffenen Stein entdeckte. Und dieser jetzt still gemachte Advokat wird vielleicht die besten Steine bei sich gehabt, der erste Finder sie ihm nun aber abgenommen haben – mit Gewalt, durch einen Mord. – So kann der Zusammenhang sein, lieber Schraut, – kann! Aber – ich wette schon jetzt: auch meine Phantasie reicht nicht hin, den wahren Sachverhalt auch nur zu ahnen. Wenigstens vorläufig nicht. Ich kenne eben noch zu wenige Begleitumstände dieses Verbrechens.“
Es war jetzt die beste Gelegenheit, auch mein Licht leuchten zu lassen. „Du hast natürlich vorhin den Zugführer beschwindelt, als Du so tatest, als ob Du Dich in der Nummer der Kabine geirrt hättest. Du hast es doch auf den Mann von Nr. 6 abgesehen, auf den Herrn Chefingenieur.“
„Ganz recht. Ich weiß jetzt, daß dieser Ingenieur Albström derjenige ist, der mit der Kastanienbraunen von Tisch zu Tisch telegraphierte. Ich kannte seinen Namen und Stand noch nicht, als die Bremsen kreischten und wir nach Nr. 9 liefen. Der Herr wird kaum mein Freund werden. Er ist ohne Zweifel an dem Morde des Advokaten beteiligt.“
„Und woher weißt Du den Namen des Weibes?“
Er lächelte eigenartig. „Von ihr selbst, lieber Schraut. Als Du im Speisewagen noch die Zeitungen studiertest, sprach ich Miß Doogston im Gange des Küchenwagens an, erklärte, sie zu kennen, nannte sie Miß Balmer, erreichte so, daß wir in eine Unterhaltung kamen. Plumper Trick, aber er gelang. Noch mehr gelang: ich merkte, daß diese Miß Doogston aus der Nähe gesehen gar nicht mehr so sehr jung wirkte. Ich schätze ihr Alter auf über dreißig. Wichtiger war mir, daß ich noch feststellte, eine fein gebildete Dame von sicheren Umgangsformen vor mir zu haben, und zwar – keine Engländerin! Jedenfalls keine geborene Britin. Sie dürfte eher aus Dänemark, Schweden oder da woher stammen. Ihre Augenfarbe ist jenes ausgesprochene, reine Graublau, wie man es nur bei den Nordländerinnen findet. Schließlich sagte mir noch meine Menschenkenntnis dieser Frau gegenüber, daß sie ohne Frage ein großes Herzeleid heimlich mit sich herumträgt. – Wenn ich vorhin trotzdem von ihr als der mutmaßlichen Mörderin sprach, so ist dies nur deshalb geschehen, um mit ihr dadurch vielleicht noch näher in Berührung zu kommen, denn hinsichtlich ihrer Person ist in mir inzwischen eine ganz besondere Vermutung aufgestiegen, über die ich jedoch zunächst noch schweigen möchte. – All das schwebt noch recht haltlos in der Luft. Sie kann ja das Verbrechen auch wirklich begangen haben – kann! Es gibt bei dieser Sache so unendlich viel Widersprüche. Gäbe es die nicht, würde ja auch Harald Harst jetzt nicht fest entschlossen sein, diese Widersprüche aufzuklären.“ Er lächelte wieder so eigenartig, fügte hinzu: „Gehen wir zu Bett, mein Alter. Morgen vormittag noch vor der Ankunft in Amritsar werden wir uns die Geschichte mal bei Tageslicht anschaun – die Leiche, die Kabine Nr. 9 und den Chefingenieur. – Eine Frage noch: Hältst Du es für wahrscheinlich, daß diese Miß Doogston mitten in einem meilenweiten Urwald – denn dort wurde die Notleine von dem Kabinennachbar des Advokaten gezogen – allein den Zug verlassen hat, um zu Fuß weiter zu flüchten?“
Ich sah ihn überrascht an. „Du argwöhnst, daß sie sich noch im Zuge befindet!“ meinte ich schnell.
Er gähnte. „Gute Nacht, mein Alter –“
Das war seine Antwort auf meine Bemerkung.
Ich lag noch eine Weile wach in dem wieder verdunkelten Abteil unter meinem Moskitonetz. Ich hatte ja übergenug Stoff zum Denken. Ganz besonders war es das merkwürdige Löschblatt, das mir nicht aus dem Sinn wollte. – Harst hielt es für eine Kartenskizze. Diese Annahme erschien mir recht gewagt, denn ich hatte auf der beklecksten schwarzen Fläche nichts entdecken können, was an eine absichtlich hergestellte Zeichnung erinnerte. – Ich schlief ein. In meinen Träumen spielten der Ermordete und Miß Lizabet Doogston eine große Rolle. Als ich erwachte, schimmerte das Tageslicht durch die Fenstervorhänge. Ich erhob mich, zog die Vorhänge zurück, schaute nach Harsts Bett hin.
Es war leer. Aber – auf dem Kissen lag ein Blatt Papier. Darauf hatte mein Freund mit Bleistift geschrieben:
„Hole morgen mittag 12 Uhr von der Post in Amritsar einen postlagernden Brief unter Chiffre M S 100 ab. Gruß – Wiedersehen – H.“
Was bedeutete das? – Das sah doch ganz so aus, als ob Harst den Zug verlassen hätte?
Sein Koffer war noch da. Nur sein Gummimantel fehlte. – Ich sah nach der Uhr. Es war ½10. Ich kleidete mich schnell an und suchte den Zugführer auf. Der Mann konnte mir auch nicht sagen, wo Harst geblieben. „Der Zug hat inzwischen nicht mehr gehalten, Master,“ meinte er. „Vielleicht sitzt Ihr Freund im Speisewagen.“
Daß dies nicht der Fall, hatte ich schon festgestellt. Wo also war Harst? – Nichts gab mir darauf Antwort.
Ich fragte den Zugführer, ob Harst sich denn noch irgendwie um die Aufklärung des Mordes bemüht hätte.
„Nein, Master. Gar nicht! Leider –“ Der Beamte tat ein wenig gekränkt.
Ich ging in recht schlechter Laune in den Speisewagen. Und – ich zuckte unwillkürlich leicht zusammen, als ich rechts am Fenster Miß Doogston jetzt bemerkte, die an ihrem Tischchen soeben ein Ei köpfte.
Miß Doogston – die Mörderin! – Mörderin? Unsinn! Harst hatte ganz sicher niemals ernstlich gegen sie Verdacht gehegt. Das war jetzt meine feste Überzeugung. Leider hat er ja die vermaledeite Angewohnheit, mich niemals ganz in seine Schachzüge einzuweihen. Auch hier hatte er fraglos wieder mit mir so etwas Verstecken gespielt. –
Sehr bald erschien dann auch der breitschultrige Riese von Chefingenieur. Inzwischen waren alle Plätze bis auf den zweiten Stuhl an meinem Tische besetzt worden. Albström setzte sich also zu mir. Bald kamen wir ins Gespräch. Ich hatte auch in kurzem das bestimmte Gefühl, daß er wüßte, wen er vor sich hatte – eben Harald Harsts Privatsekretär und Freund. Unsere Unterhaltung drehte sich in der Hauptsache um Amritsar. Ich gab zu, die Stadt nicht zu kennen. Er empfahl mir das Hotel Edward Albert-Hof, schilderte mir Amritsars Sehenswürdigkeiten, den heiligen Teich und auch den berühmten Darbar Sahib-Tempel, das größte Heiligtum der Sikh, jener Religionssekte, deren Bekenner gleichzeitig einen besonderen Volksstamm bilden. – Albström gab sich Mühe, recht zwanglos zu erscheinen. Er war aber offenbar nicht daran gewöhnt, so ein wenig zu schauspielern. Nach einiger Zeit stellte er sich mir vor.
„Sie gestatten: Ingenieur Albström –“ – Ich erhob mich gleichfalls halb und nannte meinen Namen – meinen richtigen Namen! Wir reisten ja diesmal nicht inkognito.
Albström spielte sehr schlecht den Überraschten. „Schraut? Schraut? – Sie sind Ihrem Englisch nach Deutscher. Etwa der Privatsekretär des vielgenannten Amateur-Detektivs Harald Harst?“
Ich nickte. „Ja, Master Albström. Ich bitte Sie aber, dies nicht gerade hier im Zuge oder in Amritsar zu verbreiten. Wir, Harst und ich, haben allen Grund –“
„Ich weiß Bescheid,“ unterbrach er mich leise und mit einem vertraulich sein sollenden Lächeln, das aber seltsam verzerrt aussah. „Sie verfolgen den Verbrecher Warbatty. Alle Zeitungen sind davon voll. Die Reporter behaupten – wenigstens las ich’s gestern in der Gwalior-Post –, daß Warbatty hier in Indien noch mehr von seinen frechen Streichen vorhabe. Sollte er etwa den neuesten in Amritsar planen? Sie sind doch dorthin unterwegs, Master Schraut?“
Oho – aushorchen wollte er mich! Das sollte ihm vorbeigelingen! Gewiß – er vermutete ja das richtige. Wir hofften Warbatty in Amritsar zu stellen. Aber – wissen durfte das niemand! In Gwalior hatte Harst jedem, der es hören wollte, erzählt, er habe Warbattys Spur verloren und beabsichtige daher, zunächst sich das Pandschabgebiet anzusehen.
Ich schüttelte also den Kopf und erklärte, Warbatty sei uns vorläufig entwischt. „Es kann vielleicht Wochen dauern, bevor wir ihn wieder irgendwo aufstöbern. Jedenfalls reisen wir jetzt lediglich zu unserem Vergnügen.“
Ich fühlte das Mißtrauen in Albströms Blick. Dieser Mann kam mir immer verdächtiger vor. – Unser Gespräch lenkte wieder in harmlosere Bahnen ein. Als wir uns trennten, hatte ich ihm versprochen, ihn in Amritsar zu besuchen, wußte nun auch, daß er aus Stockholm gebürtig und seit zehn Jahren in Indien war. –
Anderthalb Stunden später befand ich mich im Edward Albert-Hof, einem modernen Prachtbau. Bevor ich den Bahnhof in einer Rikscha verlassen hatte, mußte ich mich noch dem Polizeiinspektor von Amritsar gegenüber legitimieren, der merkwürdigerweise nichts über Harsts Verbleib fragte, was mir sehr auffiel.
Nachdem ich im Hotel gebadet, gefrühstückt und die größte Tageshitze bis sechs Uhr nachmittags verschlafen hatte, fuhr ich nach dem heiligen Teich hinaus, in dessen Mitte sich der berühmte Tempel Darbar Sahib erhebt.
Amritsar heißt „Teich der Unsterblichkeit“[1]. Nun – die wunderbare Schönheit des Darbar-Tempels mit seiner vergoldeten Kuppel wird Jahrhunderte überdauern und wirklich unsterblich bleiben. – Der Teich ist im Jahre 1581 künstlich geschaffen worden, hat einen Umfang von 4000 Meter und bedeutet den Sikh dasselbe wie den Hindu der heilige Ganges: ein Bad in der trüben Flut gibt Anwartschaft auf den phantastischen Sikh-Himmel.
In einem zierlichen Boot ruderte mich ein Sikhpriester nach dem Tempel hinüber. In der Haupthalle wird der Granth, das Religionsbuch der Sikh, in einem diamantenverzierten Kästchen aufbewahrt, dessen Wert man auf sieben Millionen schätzt. Zum Schutze dieses Schreines sind ganz besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen. Jeder Fremde wird mißtrauisch von einigen fünfzig Priesteraugen beobachtet. Trotzdem ist, wie mir ein Fremdenführer erzählte, schon zweimal der Versuch gemacht worden, den Schrein zu rauben. – Über den Tempel und den heiligen Teich ließen sich Seiten schreiben. Jedenfalls machte das Heiligtum auf mich einen Eindruck wie bisher nichts in dem Zauberlande Indien. Peterskirche in Rom, der Dom in Berlin, – was bedeuten diese Bauwerke gegenüber der sinnverwirrenden Schönheit des ganz aus Marmor ausgeführten Darbar Sahib?!
Nach einer Rundfahrt durch die Stadt kam ich gerade noch zum Abendessen ins Hotel zurück. In der Vorhalle erwartete mich – Master Albström. Wir speisten zusammen an einem kleinen Tische. Sehr bald rückte er dann mit seiner Einladung heraus: er bat mich, in seinem Bungalow sein Gast zu sein. – „Ich bin Junggeselle, Master Schraut. Sie haben es bei mir weit behaglicher als hier im Hotel –“
Mein Argwohn gegen ihn wurde stärker. Sollte ich mich wirklich in sein Haus hineinwagen? – Es kam mir vor, als beträte ich dann die Höhle des Löwen.
Trotzdem nahm ich dankend an. Ich ahnte, daß ich dort nicht lediglich Gast sein würde.
Es war zehn Uhr abends, als Albströms eleganter Ponywagen uns in das Europäerviertel brachte. Des Chefingenieurs geräumiger Bungalow lag inmitten eines hügeligen Parkes unweit eines Nebenflüßchens des Rawi (Amritsar liegt zwischen Rawi und Bias[2]). – Die Nacht war mondhell. Wir saßen noch eine Stunde auf der um das Haus herumlaufenden Veranda nach dem Flüßchen zu, dessen Wasser zwischen den Büschen hindurchschimmerte. Albström brachte das Gespräch sehr bald auf Harst, fragte, wo er sich jetzt aufhalte und meinte, er hege die größte Hochachtung vor meines Freundes genialen Fähigkeiten.
Ich erwiderte ihm, ich dürfe leider nicht über Harsts Verbleib sprechen; er müsse schon entschuldigen, ich sei ja nur dessen Privatsekretär und nicht befugt, ohne Harsts Einwilligung Aufschluß über Dinge zu geben, die dessen Person betrafen.
Albström schwieg eine Weile. Über unseren Köpfen hing eine elektrische Lampe in Form einer chinesischen Laterne, deren farbiges Licht kaum bis zum Holzgeländer der Veranda reichte. – Daß Harst und ich bei unserem Kampf gegen Warbatty dauernd in Lebensgefahr schwebten, ist bekannt. Auch jetzt, wo Harst sich von mir getrennt hatte, ließ ich in nichts jene Vorsicht außer acht, die mir inzwischen zur zweiten Natur geworden. Auge, Ohr und Verstand lagen sozusagen beständig auf der Lauer, ganz besonders hier in Albströms Haus.
Plötzlich vernahm ich irgend woher ein wimmerndes Schluchzen. Ich lauschte gespannt. Ein Weib weinte in fassungslosem Schmerz. – Gerade bei der feierlichen nächtlichen Stille ringsum wirkte dieses Weinen seltsam nervenaufreizend und peinigend. – Ich schaute zu Albström hinüber. Mir schien, daß er sehr rot und verlegen geworden. – Jetzt sprang er auf.
„Entschuldigen Sie, Master Schraut,“ hastete er hervor. Er wollte die Veranda verlassen.
Da – ein gellender Schrei – aus einer Frauenkehle! Und – gerade über uns war er erklungen.
Albström taumelte zurück, umkrampfte die Lehne eines Korbsessels, stierte zum Glasdache der Veranda empor. Dann raffte er sich auf, stotterte:
„Es – kann – nur – einer Dienerin etwas zugestoßen sein –“ und eilte ins Haus, wo ich ihn die Treppe hinanstürmen hörte. Er mußte die Stufen mit langen Sätzen hinaufgeeilt sein.
Ich hatte mich noch nicht von meinem Schreck über diesen furchtbaren Schrei erholt, als dicht vor mir an einem der eisernen Pfeiler, die das Dach trugen, eine menschliche Gestalt hinabglitt, – ein zerlumpter, bärtiger Hindu mit schmierigem Turban.
Im Nu hatte ich den Revolver in der Hand, hob den bewaffneten Arm.
Der Hindu jedoch, der jetzt halb nach außen an der Brüstung hing, flüsterte mir zu – flüsterte in tadellosem Deutsch:
„Schieß’ hinter mir drein – schlage Lärm. Auf Wiedersehen!“
Er ließ sich in den Garten hinabfallen.
Harst – Harst! – Es wurde mir schwer, die Erstarrung sofort wieder abzuschütteln. Dann brüllte ich aufspringend:
„Halt – steh’ – oder ich schieße!“
Harst verschwand nach dem Flüßchen zu in den Gartenwegen. Und ich feuerte dreimal in die Luft, brüllte abermals: „Master Albström – hierher! Ein Dieb – ein Dieb!“
Zwei eingeborene Diener eilten herbei. Gleich darauf kam der Ingenieur zurück. Wir durchsuchten den Park, fanden natürlich nichts.
Und der gute Albström erzählte mir, ein Eingeborener habe versucht, oben in ein Zimmer einzusteigen.
„Schade, daß ich vorbeigeschossen habe!“ meinte ich. „Sehr schade. Der Halunke war aber flink wie ein Wiesel!“
Albström war jetzt recht zerstreut. Ich merkte, auch er glaubte nicht recht an einen Dieb und zermarterte sich jetzt den Kopf, wer dieser Hindu wohl gewesen sein könnte. Bald darauf ging ich auf mein Zimmer und sagte Albström, der mich begleitet hatte, gute Nacht.
Als ich dann meinen Koffer öffnete, um mein Nachtzeug herauszunehmen, lag obenauf ein neuer Zettel von Harsts Hand – eilig gekritzelt, nur auf einem Stück von einer Zeitung: „Unternimm nichts allein! H.“
Harst war also hier im Zimmer gewesen! – Und abermals hatte ich nun zu viel Stoff zum Denken, um sofort einschlafen zu können. Meine Gedanken waren ein Stockwerk höher bei der Frau, die vorhin so gellend aufgeschrien hatte. Eine Dienerin? – Niemals! Ich ahnte, wer es war: Miß Doogston! – Denn ich hatte ja am Nachmittag mich ganz unauffällig nach ihrem Verbleib erkundigt und leicht herausgebracht, daß sie am Bahnhof von einem Mietauto erwartet worden und ungehindert von der Polizei davongefahren war. Wohin – das wußte niemand.
Ungehindert! – Das war mir gleich aufgefallen. Ungehindert, obwohl doch Harst sie dem Zugführer gegenüber verdächtigt hatte.
Wie ich mir dies jetzt alles in Ruhe klar machte, lichtete sich das Dunkel etwas. Ich durchschaute die Ereignisse: Harst war im Einverständnis mit dem Zugführer aus dem Zuge scheinbar verschwunden und hatte dem Beamten fraglos genaue Anweisungen gegeben, darunter auch die, daß Miß Doogston nicht belästigt werden sollte.
Daß ich in diesem Punkte richtig kombiniert hatte, bestätigte Harst mir sehr bald.
Die Nacht verlief ruhig. Ich schlief gut. Am Morgen frühstückte ich mit Albström wieder auf der Veranda. Er sah übernächtig aus und war in sehr gedrückter Stimmung. Er fuhr dann in sein Bureau, während ich nach einer halben Stunde zu Fuß in die Stadt schlenderte. In der Nähe des Polizeigebäudes drängte sich ein Eingeborener an mich heran, flüsterte mir zu: „Den Brief nicht vergessen –“ und ging weiter.
Erst hatte ich geglaubt, es wäre Harst gewesen. Doch der Eingeborene war gut einen Kopf zu groß. Also nur ein Bote Harsts.
Kein Wunder, daß ich nun auf den Inhalt des postlagernden Schreibens M S 100 noch gespannter war. Pünktlich um 12 war ich im Postamt, das mit seinen modernen Einrichtungen ebenso gut in Berlin hätte stehen können. Es gab hier sechs Schalterfenster. Das letzte war das für postlagernde Sendungen. – Der Verkehr um diese Stunde war überaus lebhaft. Amritsar mit seinen 163 000 Einwohnern ist ja eine blühende Handelsstadt. – Ich hatte etwa sechs Leute vor mir. Von Hast und Eile merkte man nichts. Alles wickelte sich recht gemütlich ab. So konnte ich mir denn das zumeist aus Eingeborenen bestehende Publikum in Ruhe ansehen. Europäer waren nur spärlich vertreten. Als die Reihe an mich kam, als ich nun von dem Beamten meinen Brief M S 100 erbat, als ich diesem Beamten, einem hellbraunen, älteren Hindu, ins Gesicht schaute, da fuhr ich leicht zurück.
Denn – ich hatte meinen Harald Harst vor mir, – Harst mit einer großen Stahlbrille auf der Nase, – den nur ich in dieser Maske wiedererkannte.
Er reichte mir den Brief, murmelte etwas dabei. Wie ein Hauch erreichten die Worte mein Ohr: „Sofort hier lesen!“
Ich stellte mich daher auch in der Nähe in eine der Schreibnischen, riß den Umschlag auf, zog den Bogen heraus. – Harsts Handschrift. Und der Inhalt: „Bleibe im Schalterraum. Beobachte meinen Schalter. Sobald ich aufstehe, die Brille abnehme und mich ohne Brille wieder niedersetze, folgst Du der Person, die dann von mir etwas ausgehändigt erhält. Du wirst recht weit hinter der Person bleiben, denn sie wird noch von einer anderen im Auge behalten werden, auf die es mir hauptsächlich ankommt. Sobald Du diese zweite Person herausgefunden hast, stellst Du fest, wo sie bleibt. Betritt sie ein Haus, so warte in der Nähe. Ich werde hoffentlich rechtzeitig zur Stelle sein. H.“
Diese Anweisungen waren klar und einfach. – Kurz vor ein Uhr bemerkte ich eine tief verschleierte Mohammedanerin, die Harst einen Zettel hinschob. Ob sie jung oder alt, war nicht zu erkennen. Ihre weiten Gewänder umgaben sie derart, daß lediglich festzustellen war, sie müsse sehr klein sein. Und – jetzt stand Harst auf, nahm die Brille ab, setzte sich wieder.
Die Verschleierte erhielt ihren Brief und schritt langsam dem Ausgang zu. Ich wartete, bis die Pendeltür hinter ihr zufiel und bis dann eine zweite, ebenfalls dicht verhüllte Eingeborene dieselbe Tür passiert hatte. Sehr bald hatte ich heraus, daß diese zweite Frau der ersten folgte. So bewegten wir uns nun zu dreien in Abständen von dreißig Metern durch die belebteren Straßen, gelangten ins Eingeborenenviertel und schließlich in einen[3] Hindutempel dicht am Ufer des Rawi. Der Tempel war halb verfallen, aber recht ausgedehnt. Da am Eingang der Umfassungsmauer kein Priester Wache hielt, gehörte er zweifellos zu den zum Gottesdienst nicht mehr benutzten.
Hier nun verlor ich die beiden Frauen aus den Augen, da um das Hauptgebäude eine Anzahl von Höfen lag mit verschiedenen Pforten. Während ich jetzt ärgerlich und übereifrig bald hierhin bald dorthin lief, stürmte der Polizeiinspektor von Amritsar mit vier Unterbeamten an mir vorüber. Kaum waren sie nach dem Flusse zu verschwunden, als auch Harst auftauchte, – Harst als Postbeamter.
„Der verd… Esel!“ fluchte Harst atemlos und so ergrimmt, wie ich ihn selten gesehen habe. „Komm’, retten wir, was noch zu retten ist –“
Wir liefen hinter den Polizeileuten drein, um den Tempel herum, hörten plötzlich vom Flusse her zwei – vier Schüsse, rasten weiter, fanden eine Pforte, die auf einen Bootssteg mündete, sahen auf dem hölzernen Stege den Inspektor mit seinen Beamten, sahen mitten auf dem Strome zwei kleine Nachen und in jedem eine der verschleierten Frauen.
Harst rannte auf den Inspektor zu. Ich durfte mich nicht zeigen.
„Master Blunk,“ fuhr er diesen grob an, „es ist geradezu hinterlistig von Ihnen, mir in so plumper Weise ins Handwerk zu pfuschen. Sie haben nun alles verdorben – alles!“ Er war so empört, daß er förmlich brüllte. „Folgen Sie mir jetzt. Wir wollen uns nicht noch mehr blamieren,“ fügte er ruhiger hinzu. Derartige Erregungszustände dauerten stets nur Sekunden bei ihm.
Sie traten durch die Mauerpforte wieder ein. Hier nun nahm Harst den Inspektor abermals ins Gebet.
„Weshalb hielten Sie unsere Vereinbarung nicht, Master Blunk?“ meinte er sehr ungnädig. „Sie hatten mir versprochen, sich nicht einzumischen.“
Blunk war recht verlegen. Er schickte erst seine Leute weg und sagte dann: „Entschuldigen Sie nur, Master Harst. Ich gebe zu: ich habe die Geschichte verdorben. – Aber Sie können es mir schließlich nicht verargen, daß ich ehrgeizig war und diesen Schurken selbst dingfest machen wollte –“
Harst lachte ärgerlich auf. „So – nun können Sie versuchen, ihn einzufangen. Wird Ihnen schwer fallen. Wir sind geschiedene Leute, Master Blunk –“
Er faßte mich unter und zog mich fort. Der Inspektor machte gar nicht den Versuch, Harst zu versöhnen.
Wir betraten dann den Tempel und setzten uns in der Nähe des Eingangs in einen Seitenanbau, dessen Fenster nach dem nahen Flusse hinausgingen. Harst hatte zuerst noch eine Weile durch eins der Fenster nach dem Strome hinübergespäht, hatte wie befriedigt mit dem Kopfe genickt und sagte nun zu mir, indem er mir die Hand hinstreckte:
„Lieber Alter, dieser Blunk hätte tatsächlich die Karre völlig festfahren können. Ich hoffe jetzt jedoch wieder, daß es nicht geschehen ist. Die Wettfahrt der beiden Nachen drüben auf dem Flusse dürfte nämlich für die Verschleierte Nummer 2 ungünstig enden, und Dich dürfte dieselbe Verschleierte nicht bemerkt haben. Unter diesen Umständen werden wir doch gewinnen, obwohl die Partie bereits für uns sehr schlecht stand.“
Ich begriff von alledem nichts – nichts, und ich sagte das Harst auch ohne Scheu.
„Durchaus verständlich, daß Du nichts begreifst,“ meinte er. Ich fiel ihm ins Wort. „Nur daß Warbatty die kleinere der beiden Mohammedanerinnen gewesen sein dürfte, muß ich nach der einen Äußerung Blunks annehmen.“
„Ganz recht. Es war unser alter Freund Cecil!“ Er suchte nach seinem Zigarettenetui, bot mir eine Zigarette an und fuhr nach den ersten Zügen fort: „Die Löschblattgeschichte ist verzwickter, als ich je geglaubt habe, mein Alter. Ich will Dir kurz so einiges mitteilen, wodurch Du die Sachlage dann besser übersehen kannst. – Zunächst mein Verschwinden aus dem Zuge. Das kam so. Als ich nicht gleich einschlafen konnte und mir das, was wir von der Ermordung des Advokaten Stelton wußten, nochmals durch den Kopf gehen ließ, als ich dabei an Cecil Warbattys geringe Körpergröße und die uns schon einmal aufgestoßene Zierlichkeit seiner Füße dachte, indem ich mir die Spur aus der Oberhemdbrust vergegenwärtigte, da – hätte ich mir am liebsten vor die Stirn geschlagen! Uns war ja bekannt, daß Warbatty in Amritsar etwas plante. Könnte dieser neue Streich nun nicht auch für die Bahnstrecke nach Amritsar vorbereitet gewesen sein, fragte ich mich. – Warum nicht? – Könnte weiter nicht vielleicht Freund Cecil sich im Zuge in der Verkleidung einer Frau befinden? Ihm ist ja jede Maske möglich – jede! – Diese Erwägungen genügten zu dem Entschluß, ganz leise mein Lager zu verlassen, mich ebenso leise umzukleiden und den Zugführer im Postwagen vorn aufzusuchen. Er holte mir die Schaffner und auch die Kellner des Speisewagens herbei. Doch keinem von diesen Leuten war etwas aufgefallen an einem oder einer Reisenden, das auf eine Verkleidung hingedeutet hätte – nichts. Es blieb mir also nichts übrig als mich in einen Zugbeamten zu verwandeln und morgens in Begleitung des Zugführers eine Revision sämtlicher Abteile vorzunehmen, wozu uns der Mord an Stelton ja genug Anlaß gab. Ich entdeckte Warbatty nicht. Aber – ich stellte etwas anderes fest: Miß Doogston hielt sich in dem Abteil des Chefingenieurs Albström auf! – Auf unser Klopfen an die Tür wollte Albström zunächst nicht öffnen. Der Zugführer erklärte jedoch, er käme gleichzeitig in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter der Bahn. – Albström war überaus verlegen. Miß Doogston saß an dem Tischchen am Fenster mit tief herabgezogenem Schleier. – „Die Dame ist eine Verwandte von mir,“ erklärte der Ingenieur. – Das war jedenfalls eine große Überraschung für mich, dieses Auftauchen der anscheinend Flüchtigen bei Albström, mein lieber Schraut, – eine nie geahnte Überraschung. Ich sah die Dinge plötzlich mit ganz anderen Augen an – ganz anderen –“
Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Harsts Mund. Das Lächeln machte jedoch ebenso schnell einem ernsten, fast schmerzlichen Ausdruck Platz. Er seufzte sogar leicht auf, fuhr dann fort: „Auf meine Veranlassung ließ man Miß Doogston dann in Amritsar unbehelligt im Auto davonfahren. Es war nicht schwer, die Spur des Kraftwagens bis zu Albströms Bungalow zu verfolgen. – Desto genauer wurden aber die anderen Passagiere auf dem Bahnhof aufs Korn genommen, – auch Du, mein Alter. Warbatty freilich entdeckten wir auch jetzt nicht.“
Er faßte in die Tasche und holte einen zerknitterten Brief hervor. – „Dieses Schreiben bekam ich gleichzeitig mit dem ungeschliffenen Edelstein in einer Falte der Aktentasche Steltons zu packen,“ erklärte er weiter. „Dem Mörder, der es sehr eilig hatte, die Tasche auszuräumen, ist es entgangen, genau wie der eine Stein. – Ich werde es Dir vorlesen. – Die Maschinenschrift verrät nichts. Die Unterschrift ist vielsagend. – Es lautet also: „Herrn Rechtsanwalt Stelton, Lahore. – Wir wissen genau, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Notar seiner Zeit den Vertrag über die sogenannte Mikarisa-Diamantmine für den Verkäufer aufgesetzt und so erfahren haben, wo die Fundstelle zu suchen ist. Sie sind dann angeblich nach Kalkutta gereist, haben jedoch in Wahrheit in aller Stille das ausgetrocknete Flußbett des Mikarisa durchwühlt und gerade die wertvollsten Edelsteine an sich genommen. Ich habe meine Verbündeten überall. Ich lasse Sie ständig beobachten. Wenn Sie nicht gehorchen, sind Sie ein verlorener Mann. Eine Anzeige an die Polizei genügt! Sie werden also die Edelsteine mit uns teilen, das heißt, Sie dürfen ein Drittel davon behalten. Kommen Sie baldigst nach Gwalior und bringen Sie die Steine mit. Ich werde mich Ihnen gegenüber durch das Stichwort „Mikarisa-Vertrag“ ausweisen. – Ein nicht zu Unrecht Berühmter.““ – Harst blickte mich an. „Diese Unterschrift entspricht durchaus Warbattys Eitelkeit. Und dieser Brief hat ja auch mit dazu beigetragen, meinen Verdacht auf ihn zu lenken. – So – nun weißt Du fürs erste genug. Ich werde jetzt versuchen, Warbatty eine Falle zu stellen. Ich – tue es nicht gern.“ Abermals seufzte er leise. „Nein – dieser Kampf ist mir jetzt fast zuwider. Miß Doogston tut mir so unendlich leid –“
„Miß Doogston?“ meinte ich kopfschüttelnd.
Er nickte nur. „Ich gehe jetzt. Auf Wiedersehen, mein Alter, – vielleicht schon heute abend in Albströms Bungalow –“
Er eilte davon. Und er ließ mich allein wie einen Blinden, der ringsum nur tiefes Dunkel sieht. – Miß Doogston bedauerte er? Und dazu noch seine trübe Miene, seine Unlust, Warbatty unschädlich zu machen?! – Ich begriff abermals nichts von alledem – nichts, erkannte lediglich, daß der Mord an Stelton hier nur eine Nebenrolle spielte, erinnerte mich des seltsamen Löschblattes und fragte mich immer wieder: Was hat es wohl mit diesen Dingen zu schaffen? Ist es wirklich eine Kartenskizze der Mikarisa-Mine?
Und wieder war es ein Abend wie der letzte, wieder saß ich mit Albström auf der Veranda seines behaglichen Heims und genoß alle Reize einer indischen Nacht – mit Glühwürmchen in den Sträuchern, mit dem schmetternden oder schluchzenden Schlag einer Bul-Bul, einer indischen Nachtigall, mit all dem seltsamen Drum und Dran eines Landes, in dem uns überall Geheimnisse höhnisch angrinsen, uns aufgeklärte Europäer.
Albström war einsilbig und zerstreut. Ich fühlte deutlich: irgend eine schwere Sorge lastete auf ihm. – Zuweilen schaute er mich versonnen an. – Unser Gespräch quälte sich mühsam vorwärts. Er erzählte von seiner schwedischen Heimat. Dann – ganz unvermittelt ging er auf den Mord an Stelton über. – „Ob Harst wohl den Täter finden wird?“ fragte er zögernd nach einigen anderen Bemerkungen.
Jetzt hatte ich das ganz bestimmte Empfinden: dieser Albström fürchtet Harst und wünscht insgeheim, der Mörder möchte nicht entdeckt werden! – Ich war daher gerade im Begriff, ihm ehrlich zu erwidern: „Sie zeigen ein Interesse für dieses Verbrechen, das mich etwas eigenartig berührt,“ als vom Ufer des den Park durchströmenden Flüßchens ein wüster Lärm herüberschallte.
Albström sprang sofort auf, rief: „Ah – meine Diener scheinen nicht umsonst gewacht zu haben! Sie dürften den Kerl abgefaßt haben, der schon gestern abend –“
Weiter hörte ich nichts. Er war die Stufen der Verandatreppe hinabgeeilt. Ich blieb hinter ihm. Auf dem Hauptwege kamen uns schon drei Diener entgegen, die einen Eingeborenen gepackt hielten, der sich kaum noch wehrte. Im Lichte der über dem Verandatische hängenden Lampe sah ich dann sofort, daß es Harst nicht sein konnte. Der Eingeborene, dessen langer Bart und Riesenturban ihn als Sikh erscheinen ließen, war viel zu klein und schmächtig.
Albström begann sofort mit einem strengen Verhör. Der Farbige schwieg beharrlich. Schließlich gab der Ingenieur das Fragen auf und wollte den kleinen Menschen, dessen Augen zu Boden schauten, nach der Polizei bringen lassen. Da erst kam in den Schwarzbärtigen Leben. Er hob den Blick, winkte Albström mit dem Kopfe zu. Der Ingenieur trat denn auch dicht an ihn heran, und jetzt beugte der von den Dienern noch immer fest Umklammerte den Oberkörper vor und raunte Albström etwas zu. Was, verstand ich nicht. Aber die Wirkung war auffallend genug: der Ingenieur prallte zurück, streckte wie abwehrend die Arme aus, rief leise: „Unseliges Mißgeschick!“
Ich hatte schon ein paar Sekunden vor dieser Szene auf der Treppe hinter den Dienern eine neue Gestalt bemerkt, einen Europäer in hellem Leinenanzug und Tropenhelm. Dieser Mann erschien nun im Lichtkreis der Lampe. Es war – Harald Harst.
Auch Albström sah ihn jetzt, fuhr zusammen.
Da sagte Harst schon: „Das Haus ist von der Polizei umstellt, Master Albström. Schicken Sie Ihre Diener weg.“
Der Ingenieur winkte. Die drei Farbigen verschwanden. Harsts Rechte war jetzt halb erhoben, und die Mündung eines Revolvers richtete sich auf den kleinen Schwarzbärtigen. „Setzen Sie sich dorthin, Warbatty!“ wandte er sich an den angeblichen Sikh. „Jeder Fluchtversuch ist aussichtslos. Bevor mein Pfiff die Beamten herbeiruft, möchte ich mit Ihnen einiges erörtern, was Sie nicht direkt angeht.“ Er deutete auf einen Korbsessel hinter der breiten Seite des Tisches an der Hauswand.
Albström stand leichenblaß dabei. – Auch ich hielt es für gut, meinen Revolver zu ziehen. Aber Warbatty hatte sich schon mit einem Achselzucken gesetzt, entfernte nun gelassen den falschen Bart und sagte dann: „Ich durchschaue das Spiel zur Hälfte, Master Harst. Sie scheinen diesmal ganz besonders schlau vorgegangen zu sein –“ Er lehnte sich bequem zurück, ließ die Arme auf der Lehne des Korbsessels und war wieder ganz der überlegen-ruhige, geniale Verbrecher, wie wir ihn nun schon so vielfach kennen gelernt hatten.
Harst beobachtete ihn aufmerksam, erwiderte mit einem gewissen Mitleid in der Stimme: „Sie haben einen neuen Mord auf Ihr Gewissen geladen, Warbatty. Sie sind Steltons Mörder. Geben Sie das zu?“
„Ihnen gegenüber ist Leugnen zwecklos,“ meinte Warbatty mit erschreckender Abgebrühtheit. „Obwohl Sie mich im Zuge umsonst gesucht haben!“ fügte er lebhafter hinzu. „Ich fuhr eben als blinder Passagier in der Gerätekammer des Speisewagens mit – als Mohammedanerin –“ Man merkte abermals, wie eitel dieser Mensch war, wie er sich mit seiner Schlauheit brüsten wollte.
Harst schwieg eine Weile. Dann sagte er so mild und gütig, als spräche er zu einem Schwerkranken: „Sie sind Arzt. Sie sind verheiratet. Ihre Frau liebt Sie, wie Sie selbst –“
Da schnellte Warbatty hoch. „Lassen Sie mein Weib aus dem Spiel!“ rief er ganz heiser. „Weshalb erwähnen Sie gerade jetzt –“
Harst machte eine beschwichtigende Handbewegung, fiel ihm ins Wort: „Weshalb, Doktor Doogston? Weshalb? – Weil ich klar sehen will –“
Warbatty sank in den Korbsessel zurück, deckte die Rechte über die Augen, brachte gequält heraus: „Sie – Sie scheinen ein schlechtes Namengedächtnis zu haben! Ich heiße Cecil Warbatty bekanntlich –“
„So nennen Sie sich in Ihrer anderen Rolle, eben als – Verbrecher aus krankhaftem Trieb zum Verbrechen. In Wahrheit sind Sie Doktor Reginald Doogston –“
Albström, der neben mir saß, schlug jetzt aufstöhnend die Hände vor sein verstörtes Gesicht. Mir aber begann sich dieses Abenteuer im Nachtzuge Gwalior–Amritsar etwas zu klären.
Warbatty hatte ironisch aufgelacht. „Mann, Sie sind ein Phantast!“ rief er Harst zu. „Reginald Doogston? Ich habe diesen Namen noch nie –“
Abermals unterbrach Harst ihn. „Ich werde Ihnen beweisen, daß Sie mich soeben belügen wollten. – Der Mord an dem Advokaten wäre Ihrerseits wohl unterblieben, wenn Sie geahnt hätten, daß Ihre Gattin, die jetzt, was Ihre häufigen Reisen anging, Verdacht geschöpft hatte und die wahrscheinlich infolge der Zeitungsnachrichten über Cecil Warbatty und seinen fehlenden linken Zeigefinger von der Angst gepackt war, Sie könnten dieser Massenmörder sein, sich bereits in Gwalior befand, als Sie den neuen Streich gegen Stelton zur Ausführung bringen wollten. Sie ist Ihnen nachgereist. Als ich im Nachtzuge Zeuge wurde, wie im Speisewagen zwischen ihr und Master Albström insgeheim allerlei Zeichen ausgetauscht wurden, da ahnte ich noch nichts von alledem, was nun ans Tageslicht gekommen. Selbst als ich dieser Miß Doogston dann, als sie eingeschlafen war, aus ihrer Kabine ein Löschblatt gestohlen hatte, dem sie eine sehr verdächtige Beachtung schenkte, und selbst nach der Ermordung Steltons tappte ich noch völlig im Dunkeln, was diese Frau anbetraf, bis mir dann gestern hier in Amritsar beim nochmaligen Betrachten des herausgebrannten Löschblattstücks klar wurde, daß dieses nichts anderes sein konnte als eine Zeichnung Amritsars und seiner nächsten Umgebung aus der Vogelperspektive, – eine Skizze, auf der an der linken Seite ein längliches kleines Viereck ein Haus in einem Park vorstellen sollte: diesen Bungalow des Ingenieurs Albström! Und über diesem Viereck stand ein ebenso verschwommenes Datum – die Zeitangabe der jetzigen Woche! – Als ich dies herausgefunden, als ich weiter dann festgestellt hatte, daß Miß Doogston hier bei Albström Wohnung genommen, in dessen Kabine sie geeilt war, nachdem sie das Fehlen des Löschblattes bemerkt hatte, als ich schließlich noch sah, daß Master Albström meinen Freund Schraut als Gast in sein Haus nahm, natürlich um ihn, meinen Gehilfen, ständig und leichter beaufsichtigen zu können, – da hatte ich allen Grund, diesem Bungalow am gestrigen Abend einen Besuch abzustatten, da drang ich in das Zimmer Miß Doogstons ein, stand hinter einem Fenstervorhang, als sich ihr Herzeleid in wildem Schluchzen äußerte, da trat ich plötzlich vor. Und das arme Weib schrie gellend auf, rief dann leise: „Reginald, bist Du’s?“ – Ich entfloh. Man hielt mich für einen Dieb. Ich entfloh und nahm etwas mit mir: die Gewißheit, daß die Frau, die in wilder Verzweiflung wiederholt geflüstert hatte: „Mein Gott, – er – er ein vielfacher Mörder!“ und ein andermal wieder aufgestöhnt hatte: „Wenn er nur den Brief abholen würde – wenn ich ihn auf diese Weise zu Gesicht bekäme!“ nur Warbattys Gattin sein könnte. – Brief abholen! Das genügte mir. Sofort dachte ich an ein postlagerndes Schreiben für Warbatty. – Ich verständigte mich mit dem hiesigen Polizeiinspektor. Ich wurde Beamter am Schalter für postlagernde Sendungen, der täglich nur von 12–1 geöffnet ist. So gelang es mir, Warbatty außer dem von ihm geforderten Brief, der an „Doktor Reginald Doogston, Amritsar, postlagernd“ adressiert war, noch einen zweiten von mir hergestellten und mit Maschine geschriebenen auszuhändigen, der ihn für heute abend hier in den Park bestellte und lediglich mit Lizabet unterzeichnet war. – Die Flucht Warbattys vor seiner Frau über den Fluß, das Eingreifen des Polizeiinspektors mit seinen Leuten und andere Nebenumstände will ich hier weglassen. Jedenfalls unterlag Warbatty dann der Versuchung, seine Frau wiederzusehen, die er in der Verkleidung als Mohammedanerin wohl für einen seiner ärgsten Widersacher – mich! – hielt. Er kam hierher, lief Albströms Dienern in die Arme! Auch hiermit hatte ich gerechnet – eben mit einer Bewachung des Parkes durch die Diener. Hätten diese ihn nicht festgenommen, dann hätte ich’s später hier im Hause getan. – So, Doktor Reginald Doogston alias Cecil Warbatty, leugnen Sie auch jetzt noch, daß – Ingenieur Albström, der genau dieselben graublauen Augen wie Miß Doogston hat, Ihr Schwager, der Bruder Ihrer Frau ist?“
Da regte der Ingenieur sich. Seine Stimme zitterte, als er nun hastig sagte: „Master Harst – leugnen ist alledem gegenüber eine Torheit! Ja – Lizabet ist meine Schwester. Sie hat Sie seit Gwalior im Auge behalten. Sie hoffte durch Sie auf ihren unglücklichen Gatten noch rechtzeitig aufmerksam zu werden, ihn zur Heimkehr nach Margate in England bewegen zu können. Reginald ist ein Unglücklicher, Master Harst. Er ist geistig nicht normal, kann es nicht sein! – Als wir, Lizabet und ich, die mich in ihrer Angst nach Gwalior gerufen hatte, mit Ihnen und Ihrem Sekretär im selben Zuge hierher fuhren, wagten wir nicht, offen miteinander zu sprechen, tauschten nur vorher vereinbarte Zeichen aus. Sie haben also ganz richtig beobachtet. Meine Schwester teilte mir auf diese geheime Weise mit, daß sie ihren Gatten bisher im Zuge nicht entdeckt habe. – Ebenso stimmt Ihre Vermutung hinsichtlich des Löschblattes. Meine Schwester erhielt es vor vier Wochen aus Madras mit der Post zugeschickt. Sie kannte diese seltsamen Lebenszeichen ihres Gatten schon, der ihr so stets angab, wann und wohin sie postlagernde Briefe an ihn senden dürfe. Schon diese unglaubliche Idee, derartige Stadtpläne ihr zuzuschicken, beweist nebst vielem anderen, daß mein Schwager Reginald nicht zurechnungsfähig sein kann. Ich würde Sie daher auch –“
In demselben Augenblick erlosch die elektrische Lampe über dem Tische; der Tisch selbst flog mit allen darauf stehenden Sachen Harst gegen den Leib; ich konnte nicht eingreifen. Die Dunkelheit war zu groß. Ich saß wie gelähmt da; hörte nur das Klirren der Gläser und Flaschen, hörte Albströms ärgerlichen Ausruf: „Wie töricht!“ dann aber Harsts ruhige Stimme: „Master Albström, Ihre Schwester dürfte uns belauscht, den Strom ausgeschaltet und ihrem Gatten so eine Flucht ermöglicht haben –“
Da – glühte die Lampe wieder auf. Und wenige Sekunden später erschien auf der Veranda Lizabet Doogston, trat vor Harst hin, erklärte mit fester Stimme:
„Lassen Sie mich verhaften! Rufen Sie die im Garten versteckte Polizei herbei! Ich war’s, die die Hauptsicherung am Schaltbrett herausnahm und so das Licht auslöschte.“
Harst verbeugte sich. „Das Haus ist nicht von Beamten umstellt. Das war lediglich eine kleine Notlüge von mir. – Sie zu verhaften, habe ich kein Recht. Im Gegenteil – ich bemitleide Sie so sehr, daß ich fortan Ihren Gatten nicht mehr verfolgen werde. Auch ich halte ihn für geisteskrank –“
Frau Doogston griff nach Harsts Hand.
„Master Harst,“ rief sie tief bewegt, „– wirklich, auch Sie sind der Überzeugung, daß –“ Sie begann zu weinen.
Harst schob ihr einen Sessel hin. Sie ließ sich kraftlos hineinfallen.
Es war dies eine Szene, wie man sie so leicht nicht vergißt. Der umgestürzte Tisch. Am Boden Scherben von Gläsern, Zigaretten, Zigarren, große Lachen von eisgekühlten Getränken; dazu wir drei Männer und dieses arme schluchzende Weib, – und im Garten Nachtigallen, die mit ihr um die Wette ein zerstörtes Eheglück bejammerten. –
Harst winkte mir zu. Wir drückten Albström stumm die Hand, schlichen davon, verließen das Haus und den Park, wanderten dem Hotel Edward Albert-Hof zu.
„Mag die Polizei sich mit Doktor Doogston befassen, falls sie ihn – findet,“ sagte Harst plötzlich. „Er gehört jedenfalls in eine Heilanstalt für Gemütskranke, nicht vor den Richter; sein verbrecherisches Genie war die Ausgeburt eines defekten Hirns; daher auch die entsetzliche Gewissenlosigkeit seiner Verbrechen –“
So sprach Harst in jener Nacht.
Daß es anders kam, daß wir trotzdem uns nochmals unserem alten Gegner an die Fersen hefteten, geschah aus ganz anderen Gründen als bisher.
Im Edward Albert-Hof in Amritsar gab es vor jedem Zimmer einen geräumigen Balkon. Harst und ich hatten im ersten Stock nach Norden heraus zwei Zimmer belegt. Am Morgen nach der Flucht Warbattys aus Ingenieur Albströms Bungalow saßen wir gegen neun Uhr beim Frühstück und genossen mit stillem Entzücken die wundervolle Aussicht, die sich uns vom Balkon über den Rawi-Fluß hinein in das weite Niederungsland des Pandschab darbot.
Wir waren beide schweigsam. Die Erinnerung an den vergangenen Abend wirkte noch in uns nach. Ich sah es Harst auch an, daß er über irgend etwas nachgrübelte, das ihn beunruhigte. Plötzlich fragte er dann:
„Meinst Du, daß Warbatty – oder besser Doktor Doogston – seine letzten verbrecherischen Anschläge, die er noch hier in Indien beabsichtigt, nunmehr aufgeben wird? – Nach der, damals bei einem seiner Helfershelfer aufgefundenen Liste muß er noch in Lahore und in Baroda etwas von seinen großzügigen Unternehmungen vorbereitet haben. Es ist nun die Frage, ob nicht das Auftauchen seiner Gattin hier in –“
Der farbige Etagenkellner war in der Balkontür erschienen, meldete: „Polizeiinspektor Blunk bittet Sahib Harst sprechen zu dürfen –“ –
Blunk war ein kleiner, nervöser, übereifriger Herr. Er begrüßte uns mit strenger Amtsmiene, setzte sich kerzengerade in den Korbsessel und platzte dann wie ein Ankläger heraus:
„Master Harst, gestern abend sollen sich im Bungalow des Chefingenieurs Albström Dinge zugetragen haben, die mir von Ihnen unbedingt sofort hätten gemeldet werden müssen – unbedingt! Ich begreife nicht, daß Sie –“
Harst lächelte den Beamten jetzt so freundlich an, daß dieser verlegen wurde, ins Stottern kam und schließlich seinen Satz mit einem unsicheren: „Sie scheinen ja sehr guter Laune zu sein!“ beendete.
Harst, der vorhin die in Amritsar erscheinende englische Zeitung durchgesehen hatte, nickte Blunk flüchtig zu und reichte ihm das Blatt mit einem: „Da – im Anzeigenteil finden Sie etwas, das Sie interessieren dürfte –“
Der Inspektor legte die Zeitung wieder auf den Tisch. „Master Harst,“ sagte er empört, „ich muß Sie ersuchen, mich nicht vom Thema abzulenken und mir zu berichten, wie es möglich war, daß dieser – dieser Massenmörder Ihnen entschlüpfen konnte. Einer der Diener Albströms hat –“
Harst fiel ihm gelassen ins Wort. „Pardon, Master Blunk, bin ich vielleicht Ihr Untergebener, der Ihnen Rechenschaft schuldig ist? Ich glaube kaum! Ich bin Privatmann, bin Detektiv aus Liebhaberei. Sie haben mir gestern nachmittag nochmals versprochen, mich in meinem Bestreben, Warbatty unschädlich zu machen, zu unterstützen und dabei auf selbständiges Vorgehen zu verzichten. Heute schlagen Sie einen Ton an, der mir sehr wenig paßt. – Gut – Warbatty ist abermals entkommen. Ich bin nicht verantwortlich dafür –“
„Oho!“ rief Blunk dazwischen. „Sie hätten Warbatty sofort fesseln und nach der Polizei schicken sollen. – Es scheinen da jedoch gestern abend für Sie noch ganz besondere Gründe mitgesprochen zu haben, die wohl in der Person jener Dame zu suchen sind, – Gründe, die Sie veranlaßten, den Verbrecher entweichen zu lassen –“
Harst zuckte die Achseln. „Ich denke, wir beenden diese Unterredung, Master Blunk. Sie sind schlechter Laune und daher ungerecht, zum mindesten vorschnell in Ihrem Urteil.“
Wiederum erschien der Kellner und meldete:
„Frau Doogston bittet um eine Unterredung, Master Harst. Sie sitzt unten im Lesezimmer.“
Blunk sprang auf. „Aha! Also keine Miß Doogston, sondern eine verheiratete Frau! Wieder etwas Neues. Ich werde die Dame sofort mit auf die Polizeidirektion nehmen. Ich muß wissen, wer sie eigentlich ist und weshalb Albström ihr Unterkunft gewährt hat.“
Harst wandte sich gleichmütig an den Kellner.
„Ich lasse Frau Doogston bitten, hier heraufzukommen. Sagen Sie ihr, Master Blunk wünsche sie als Beamter zu sprechen.“ – Der Kellner verschwand und Harst fügte hinzu:
„Frau Doogston ist die Gattin eines gewissen Arztes Doktor Reginald Doogston aus Margate in England, der infolge krankhafter Veranlagung zum Verbrecher geworden ist und sich als solcher unter anderem auch Cecil Warbatty nannte. Wir werden die Leidensgeschichte dieser armen Frau sofort hören. Ich muß Sie jedoch bitten, Master Blunk, hier jetzt nicht den gestrengen Beamten zu spielen. Frau Doogston ist unendlich zu bedauern. – Da ist sie schon –“
Er ging ihr entgegen. Und er war so überaus höflich und liebenswürdig zu ihr, daß man ihr anmerkte, wie wohl ihr diese warme Freundlichkeit tat. – Ich bewunderte heimlich den eigenartigen Liebreiz dieses klassisch schönen Dulderingesichts, bewunderte nicht minder die Willensstärke dieser Frau, mit der sie dann über das Unglück ihrer Ehe sprach, ohne je in einen weinerlichen Ton zu verfallen.
„Wir sind jetzt acht Jahre verheiratet,“ begann sie. „Ich lernte meinen Mann in Stockholm, meiner Vaterstadt, aus Anlaß eines Ärztekongresses kennen. Mein Vater war selbst Arzt. Reginald machte auf mich sofort trotz seines sonst unscheinbaren Äußeren einen starken Eindruck. Nie wieder habe ich einen Mann gesehen, der so geistreich zu plaudern wußte wie er, der aber auch so vielseitig und gründlich gebildet war. Wir verlobten uns drei Monate später, heirateten und bezogen Reginalds kleine Villa in Margate. Drei Jahre ungetrübten Glückes folgten. Dann wurde an einem stürmischen Herbstabend, als das nahe Meer mit wütendem Brüllen gegen die Küste brandete, in der Nachbarvilla ein Einbruch verübt und ein Gemälde, ein echter Rubens, gestohlen, der einen Wert von einer halben Million hatte. Reginald war um elf Uhr noch zu einer Schwerkranken gegangen. Wann er nachts heimgekehrt war, wußte ich nicht. Wir hatten jeder ein eigenes Schlafzimmer. – Eine Woche drauf zeigte er mir ein Seestück, das er für sein Arbeitszimmer gekauft und auch bereits über seinen Schreibtisch gehängt hatte. Ich fand nichts an dem Bilde. Er aber freute sich wie ein Kind darüber. Sein Verhalten war so seltsam, daß ich stutzig wurde. Er sprach tagelang nur von dem neuen Wandschmuck und betonte stets, das Bild sei ihm mehr wert als seine ganze ausgedehnte Arztpraxis. Wieder eine Woche später wollte ich das Seestück mit dem Besen am Rande von einem Spinngewebe befreien. Es fiel herab. Der Nagel war lose gewesen. Und da – da, sah ich nun, daß – die Rückseite des Bildes aus – jenem echten Rubens bestand, der unserem reichen Nachbar gestohlen worden war. In demselben Augenblick durchzuckte mich eine jähe Erkenntnis. Reginald hatte mir ja so oft von sogenannten Gentleman-Verbrechern, von eleganten Dieben und Hochstaplern geradezu vorgeschwärmt, besaß auch eine große Sammlung von Büchern, die sämtlich über kriminalistische Dinge handelten. – Und jetzt – jetzt der echte Rubens in seinem Arbeitszimmer! – Ich war überzeugt: entweder hatte er selbst das Gemälde entwendet oder es doch zum mindesten dem Diebe abgekauft! – Was sollte ich tun? Ihn zur Rede stellen? Ihn fragen, woher er das Bild hätte? – Ich entschloß mich, zu schweigen und ihn zu beobachten. Monate vergingen. Ich entdeckte nichts an ihm und seiner Lebensführung, das meinem Argwohn neue Nahrung gegeben hätte. Ich wurde wieder fröhlich. Ich vergaß, wie sehr ich damals unter den quälenden Gedanken gelitten. – Es war Frühjahr geworden, und wir befanden uns zur Erholung in Norwegen, in der berühmten Heringsstadt Bergen am Ausgang des Hardangerfjordes. Im Hotel Hardanger wurde aus Nr. 14 – wir wohnten auf Nr. 16 – eines Nachts ein reicher Amerikaner ermordet und beraubt, der mit einem Brillantring am kleinen Finger geprotzt hatte, wie man sonst einen solchen Stein kaum als Ring trägt. Der Mord blieb unaufgeklärt. Erst ein volles Jahr später stieß ich zufällig im Schreibtisch meines Mannes auf ein Geheimfach, das zahlreiche Kästchen und Päckchen enthielt, – alles Brillantenschmuck, Goldsachen und wertvolle Raritäten. Und – hier fand ich auch den Ring des Amerikaners wieder. – Unendliches Grauen packte mich. Als Reginald mittags von seinen Krankenbesuchen heimkehrte, lag ich fiebernd im Bett. Viele Wochen schwebte ich zwischen Tod und Leben. Er rettete mich durch unermüdliche treue Pflege. Nie wurde mir seine Liebe klarer als damals. Als ich genesen und eines Abends ihm dann zaghaft mein wundes Herz ausschüttete, da lächelte er nur gütig, wußte mir einzureden, daß sowohl der Rubens als auch der Inhalt des Geheimfachs lediglich Erzeugnisse meiner Fieberphantasien seien. Er zeigte mir die Rückseite des Seestücks: kein Rubens da – nur Pappe! Und in dem Geheimfach nur Schächtelchen mit Giften und Medikamenten. – Ich wurde für lange Zeit wieder eine glückliche Frau. Dann begann mein Mann mich langsam darauf vorzubereiten, daß er zur Erforschung der Pest und Cholera längere Orientreisen unternehmen würde. Ich argwöhnte nichts. Ich glaubte ihm, daß er sich durch die Entdeckung eines neuen Seuchenserums einen berühmten Namen machen wolle. – Seine erste Reise dauerte drei Monate. Als er zurückkehrte, fehlte ihm der linke Zeigefinger. Angeblich hatte er ihn durch einen Unfall, die Entladung eines Revolvers, verloren. Seltsamerweise stellten sich nun bei uns vielfach zur Abendstunde Patienten ein, stets Männer, die von auswärts kamen und die oft über Nacht bei uns blieben. Bald merkte ich, daß es mit diesen Patienten eine besondere Bewandtnis haben müsse. Mein Mann fuhr auch sehr oft nach London, angeblich zum Besuch von Vorträgen. Jedenfalls trug dies alles dazu bei, meinen Verdacht abermals zu erregen und meine Seele mit peinvollen Zweifeln zu erfüllen. – An einem Julivormittag kam mir dann eine Mappe in die Finger, die Reginald in seinem Bücherschrank ganz unten versteckt hatte. Darin lagen nichts als Zeitungsausschnitte. Und sie alle handelten von Verbrechen, die hier und dort von einem geheimnisvollen Täter verübt worden waren. Mein Herz krampfte sich vor Entsetzen zusammen, als ich feststellte, daß diese Verbrechen sämtlich in die Zeit fielen, während der mein Mann Palästina und Ägypten bereist hatte, – also in die drei Monate seiner Abwesenheit von Hause. Mit meinem Seelenfrieden war es vorbei. Tagelang kämpfte ich mit mir. Dann warf ich mich meinem Manne zu Füßen und klagte ihm mein Herzeleid. Gütig zog er mich an sich, lachte mich mit ruhiger Miene aus, schalt mich eine kleine Törin, wußte mir die Sammlung der Zeitungsausschnitte so harmlos zu erklären, daß ich befreit aufatmete. – Und wieder verreiste er; kehrte heim, war der zärtlichste Gatte, zog abermals für Monate in die Fremde, brachte mir kostbare Reiseandenken mit, blieb stets der treue, aufmerksame Liebhaber wie einst. Dann – vor etwa fünf Monaten – rüstete er zu einer neuen Forschungsreise nach dem Orient. Und drei Wochen später las ich dann in einer Berliner Zeitung zum ersten Male den Namen Cecil Warbatty –“
Frau Lizabet Doogston schwieg sekundenlang, atmete schwer und krampfhaft, fuhr leiser fort:
„Cecil Warbatty! Und – ihm sollte der linke Zeigefinger fehlen! Er sollte von kleiner, hagerer Gestalt sein! – Wieder beschlich mich da ein dumpfes Grauen. Das Mißtrauen regte sich wieder von neuem, verstärkte sich, wurde zu Argwohn, führte schließlich dazu, daß ich mir – ja, denken Sie, so stark war mein Argwohn! – telegraphisch stets Zeitungen aus den Städten bestellte, die Reginald bei seiner Reise berührt hatte und die mir aus seinen häufigen Briefen bekannt wurden. So erhielt ich nacheinander durch diese Blätter Kunde von den Verbrechen, die jener Warbatty in Palermo, Kairo, Suez und so weiter und so weiter verübt hatte, so mußte ich endlich mir selbst eingestehen, daß nur mein Mann dieser – dieser Unhold sein könne, der so viele Menschenleben –“ Ein trockenes, jammervolles Aufschluchzen schnitt ihr die weiteren Worte ab. Doch sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt, diese bewundernswerte Frau, vollendete den begonnenen Satz mit jener starren Ruhe, wie sie denen eigen ist, deren Herz langsam vor Gram erstarb.
„– auf dem Gewissen hat. – Ich will mich kürzer fassen. – Es litt mich nicht länger daheim; ich konnte mir nicht denken, daß Reginald mit gesundem Verstande all das begangen haben sollte. Ich reiste ihm nach. Aber – ich bin ja so unkundig in derlei Dingen, vermochte ihn nicht zu finden, ebenso wenig auch seinen hartnäckigen Verfolger Harald Harst, den die Presse als größtes Detektivgenie aller Zeiten feierte.“ Sie schaute Harst offen an. „Ja, Master Harst, – ich habe Sie gesucht; ich war auf Ihrer Spur, wie Sie auf der Reginalds. Nur mit dem Unterschiede, daß – ich stets zu spät dort anlangte, wo Sie ein neues Verbrechen meines Mannes durchkreuzt hatten. Von Lucknow aus, wo Sie den mit Hilfe des künstlichen Auges der Prinzessin Singawatha geplanten Raub vereitelt hatten, schrieb ich an meinen einzigen Bruder Holger Albström hier nach Amritsar und bat ihn, mir zu helfen, meinen Gatten vor Ihnen zu schützen und ihn in irgend eine Privatheilanstalt für Gemütskranke zu bringen. In Gwalior trafen wir uns dann, wollten aber vor Ihnen sorgsamst auf der Hut sein und verkehrten nur heimlich miteinander. Was sich hierauf im Nachtzuge Gwalior–Amritsar und als Folge davon gestern in Holgers Bungalow abspielte, wissen Sie ja nur zu gut. Ich bin nun heute hier zu Ihnen geeilt nach einer furchtbaren, schlaflosen Nacht, um Sie anzuflehen, mir Ihre Hilfe zu gewähren. Ohne Sie finde ich Reginald niemals. Er weiß jetzt, daß ich sein Gemütsleben kenne, er wird annehmen, ich wollte mich fortan mit Abscheu von ihm abwenden, und er wird seine Verbrecherlaufbahn daher mit dem Gefühle des gänzlich für sich allein Dastehenden noch rücksichtsloser fortsetzen, um die Stimme seiner Seele zum Schweigen zu bringen, die ihm immer wieder von unserem einstigen Liebesglück Traulich-Zartes zuraunen dürfte. – Nein – nein!“ – ihre Stimme bebte vor Erregung – „niemals werde ich ihn verlassen, – niemals! Ich liebe ihn nach wie vor! Nicht er ist jener Warbatty, – ein Fremder ist’s, der von ihm Besitz ergriffen hat, – ein Fremder und ein Fremdes! Mein Reginald war der beste, menschenfreundlichste, aufopferndste Arzt in Margate, der zärtlichste, aufmerksamste Gatte. Nicht ein einziger Charakterzug Cecil Warbattys findet sich bei Reginald wieder. Es ist eben der Wahnsinn, der sein Inneres so vollständig verwandelt. Sein bester Freund Palperlon hat mich ja bereits vor der Hochzeit gewarnt, hat mir angedeutet, daß Reginald geistig nicht ganz normal sei und daß die Gefahr bestehe, das Leiden könnte sich mit den Jahren immer mehr zu einer ernsten Gefahr für meinen damaligen Bräutigam ausbilden. Ach – ich hörte nicht auf James Palperlon, weil – ja, weil auch er sich um meine Hand bemüht hatte, weil ich glaubte, es handele sich bei ihm lediglich um eine Eifersucht, die selbst davor nicht zurückschrak, den Freund derart zu verdächtigen. – Master Harst, – nochmals bitte ich Sie: leihen Sie mir Ihren Beistand. Man rühmt Sie als edelmütig, als –“
Da mischte sich dieser kaltherzige Aktenmensch, dieser unsinnig ehrgeizige Blunk geradezu roh und brutal mit den in kältestem Amtston hervorgestoßenen Worten ein:
„Dieser Beistand liefe wohl auf nichts anderes hinaus, als Doktor Doogston den Gerichten zu entziehen! Ich warne Sie, Master Harst! Sollte ich merken, daß Sie diesem merkwürdigen Ansinnen einer Frau, die die Pflicht gehabt hätte, längst sich in dieser Angelegenheit an die Behörde zu wenden, irgendwie nachzukommen gewillt sind, so werde ich –“
– Ich habe Harst selten so bleich vor Empörung gesehen wie damals. Er sprang auf, hinderte diesen Blunk die so ungeheuerlich gemütsrohen Sätze fortzuführen, indem er rief: „Master Blunk, Sie sind jetzt hier überflüssig! Ich bitte Sie dringend, uns allein zu lassen, – dringend!“ Seine Augen flammten; er wies mit der Hand nach der Balkontür.
Der Inspektor stieß ein höhnisch-verlegenes Lachen aus. – „Wir sehen uns wieder!“ sagte er rachsüchtig und verschwand eilends. –
Harst geleitete Frau Doogston dann heim nach dem Bungalow ihres Bruders.
Ich aber nahm die Zeitung, die er vorhin dem Inspektor gereicht und die dieser nicht weiter beachtet hatte, und suchte in dem Anzeigenteil nach der Annonce, die nach Harsts Meinung diesen Grobian hätte interessieren dürfen.
Und ich fand nur eine einzige Anzeige, die mir beachtenswert erschien und die eines gewissen geheimnisvollen Anstrichs nicht entbehrte. Sie war ganz klein und unscheinbar, stand in der Rubrik Vermischtes:
„Die Dame, die sich über den Gubdu-Stein erkundigte, wird um Angabe gebeten, ob sie noch gewillt ist, das Bisherige unter anderen Voraussetzungen als erledigt zu betrachten. Nachricht erbeten in dieser Zeitung mit den Anfangsbuchstaben des Namens als Kennzeichen.“
Ich überlas dieses Inserat immer wieder, prüfte jedes Wort. Aber je mehr ich mich anstrengte, dem Inhalt eine andere, versteckte Deutung zu geben, desto klarer wurde mir, daß dies für mich unmöglich. Wußte ich doch nicht einmal, was es mit dem Gubdu-Stein für eine besondere Bewandtnis hätte. Ich gab diese Sache also auf und versenkte mich in die Erinnerung an das, was ich soeben aus des unglücklichen Weibes Munde gehört hatte. – Wahnsinnig sollte Doktor Doogston sein, nicht zurechnungsfähig. Harst hatte dies ja bereits seit langem vermutet, hatte den Gedanken jedoch wieder verworfen, so daß ich den Eindruck gewann, dieses Schwanken in seiner Beurteilung des Seelenzustande „Warbattys“ könnte nur auf starke Widersprüche in den Krankheitserscheinungen zurückzuführen sein. –
Drinnen im Zimmer klappte eine Tür; Harsts Schritte waren ebenso hastig. Es war sonst nicht seine Art, Türen zuzuwerfen.
„Koffer packen!“ rief er mir zu, ohne sich zu zeigen.
Ich eilte ins Zimmer. Er stand unter der elektrischen Lampe, die er angedreht hatte, und hielt eine photographische Platte gegen die Lichtquelle der starkkerzigen Birne. Die Platte stammte aus seinem Liliput-Apparat einer amerikanischen Erfindung von Uhrgröße und hatte eine Abmessung von 3 mal 3 Zentimeter.
„Koffer packen!“ wiederholte er und nickte mir flüchtig zu. „Wir fahren um 11 Uhr nach Lahore, werden dort den Gubdu-Stein besichtigen –“
Ah – da war’s: Gubdu-Stein!
„Die Anzeige in der Zeitung!“ sagte ich nur. Und ich sagte es mit gewissem Stolz.
„Natürlich – was sonst?!“ lautete seine Entgegnung.
Ich ging in unser gemeinsames Schlafzimmer. Harst folgte mir nach wenigen Minuten und half mir, unsere Koffer zu füllen, meinte dabei: „Ich habe ein Auto bestellt. Es erwartet uns vor der Stadt. Die Koffer bringt ein Diener Albströms heimlich an die vereinbarte Stelle. Mach’ fix, mein Alter, sonst überrascht uns dieser übergewissenhafte Blunk doch noch hier mit einer polizeilichen Vorladung oder einem Haftbefehl –“
Nun – Blunk kam zu spät. Gerade als wir durch den hinteren Ausgang das Hotel verließen, erschien er – wir sahen ihn noch durch die Glastür – in der Vorhalle mit drei Beamten. Und fünfzehn Minuten später saßen wir schon in einem neuen Kraftwagen und rasten nach Süden zu davon, bogen dann jedoch in die Hauptstraße nach Delhi ab, änderten bald nochmals die Richtung und langten in Beschaurir, einer Haltestelle der Hauptstrecke nach Lahore, fast gleichzeitig mit einem Personenzuge an, bestiegen diesen in einer unterwegs angelegten Verkleidung als ältere Mohammedaner, erwischten noch ein leeres Abteil 1. Klasse, drückten dem Schaffner ein gutes Trinkgeld in die braune Hand und blieben bis Lahore allein, so daß Harst bis zuletzt lang ausgestreckt auf der einen Polsterbank schlafen konnte. Ich hatte ihn gebeten, mir über den Gubdu-Stein Aufschluß zu geben. Er jedoch hatte gähnend gemeint: „Wozu das?! Du wirst ihn ja mit eigenen Augen sehen.“
Ob er wirklich schlief, blieb mir zweifelhaft. Vielleicht wollte er nur Ruhe zum Nachdenken haben. Daß er mit geschlossenen Augen dalag, wollte wenig bedeuten.
Bei unserer Ankunft in Lahore stellte er sich dann ans Fenster halb hinter die Gardine und beobachtete das Leben und Treiben auf dem modernen großen Bahnhof. Plötzlich trat er zurück, ergriff seinen leichten Koffer und sagte: „Wir müssen auf der falschen Seite aussteigen. Der Bahnhof wird von Polizei überwacht. Das gilt uns, lieber Alter –“
Der Zug hielt. Auf dem Nebengleis standen zwei halbgefüllte, offene Wagen mit Kohlen. Wir schlüpften zwischen ihnen hindurch und dann in die Bremserkabine hinein, die den einen wie ein Turm überragte. Fünf Minuten drauf legte sich eine Maschine vor die Wagen und schob sie als letzte an einen Güterzug heran, so daß wir uns nun ein Stück außerhalb des Bahnhofs befanden und die Gelegenheit abpassen konnten, unser Versteck unbemerkt zu verlassen.
Ich erwähne diesen Aufenthalt in dem Bremsertürmchen deswegen, weil Harst, als wir dort dicht nebeneinander auf dem Boden hockten, plötzlich redselig wurde.
„Die Angelegenheit Doktor Doogston hat ein ganz anderes Aussehen plötzlich bekommen,“ begann er nämlich und lächelte mich zufrieden an. „Wir werden hier, scheint mir, eine Überraschung erleben, wie wir sie uns nie träumen ließen – nie! Ich habe all die Stunden während der Fahrt darüber nachgegrübelt, wie man die Widersprüche in „Warbattys“ Charakter zwanglos, das heißt möglichst logisch lösen könnte. Eine Frau, die so sehr an ihrem Gatten trotz all den furchtbaren Ereignissen hängt und die wie Frau Lizabet[4] eine durchaus gesund empfindende, keineswegs hysterische Person ist, bietet eigentlich in dieser ihrer unwandelbaren Liebe die beste Gewähr dafür, daß ihr Mann kein Scheusal sein kann. Und doch muß man Doktor Doogston ja leider in seiner Verbrecherrolle als ein solches bezeichnen. Es käme also nur periodischer Wahnsinn unter Ausschaltung des wahren Wesens bei diesem genialen Bösewicht in Frage. Dies anzunehmen, sträubt sich mein Hirn. Gewiß: Doppelnaturen mag es zuweilen geben. – Hier aber müßte man geradezu von einer doppelten Persönlichkeit sprechen. Und eine solche Unterstellung stößt auf wissenschaftlichen Widerspruch. Ohne fremde Einflüsse ist eine solche doppelte Persönlichkeit, vereint in einem einzigen Körper, äußerst selten zur Entstehung gelangt. Es wird also unsere Aufgabe sein, diese – fremden Einflüsse zu ergründen. Vielleicht finden wir sie sehr bald. Deshalb sprach ich auch von ungeahnten Überraschungen. – Weißt Du, was die kleine photographische Platte enthielt, die ich in Amritsar heute vormittag gegen das elektrische Licht hielt? Nichts anderes, als das in einem günstigen Moment geknipste Brustbild eines Mannes, der für Frau Doktor Doogston schon vorgestern so viel Interesse hatte, daß er wie ich abends in den Büschen des Parkes Holger Albströms herumkroch. Der Mann ist ein schlanker, sehniger Hindu mit prachtvollem schwarzen Bart. Als ich heute Frau Doogston nach Hause begleitete, war er auch wieder zur Stelle, und im Gedränge der Basarstraße hat mein Liliput dann von ihm vier verschiedene Aufnahmen gemacht, die ich sofort nachher entwickeln ließ. Vier Aufnahmen, und alle leidlich gelungen. Die beste zeigt ihn von vorn in halber Körpergröße –“ Er richtete sich auf, schaute durch das Fenster. „Die Luft ist rein. Fort mit uns.“ Er nahm seinen Koffer, und im Trab gelangten wir über die Schienenstränge auf einen Kohlenlagerplatz, wo uns ein Farbiger dann einen Ponywagen besorgte. – Wir hatten dem Lenker befohlen, uns nach einem Fremdenheim zu bringen. Er wußte gut Bescheid, und das Quartier, das wir nun bezogen, war sauber und behaglich, obwohl der Wirt ein Chinese mit fettglänzendem Gesicht und ebenso speckigem Anzug war. Die Fenster unserer zwei Zimmer gingen nach dem Schalimar, dem „Haus der Freude“ hinaus, den berühmtesten Gartenanlagen der Welt, die sich in drei endlosen Terrassen dahinziehen und nicht weniger als 450 Springbrunnen aufweisen, von denen die meisten Kunstwerke in Marmor sind.
Wenn je der ganze Zauber Indiens übermächtig mein Herz bewegte, dann war es in dem Augenblick, als unser Chinamann uns auf das Dach seines Hauses führte und mit stummer Handbewegung auf den Schalimar deutete, der hundert Meter entfernt vor uns lag. Ich war überwältigt. Überall leuchtete zwischen dem Grün der Bäume und der Farbenpracht von riesigen Teppichbeeten der weiße Marmor der Fontänen auf; überall standen außerdem zierliche Pavillons wie reizende Kinderspielzeuge. – Nur eins war mir unklar: der Name dieser den Blick berauschenden Schönheitsfülle. – Weshalb Schalimar, „Haus der Freude“? – Ich wandte mich an Mi Kao, unseren Wirt, und bat um Auskunft hierüber, da Harst bis dicht an den Rand des Daches herangetreten war und auf die Straße hinabschaute.
Der Chinese dienerte. „Dort im Osten des Parkes hat einst der dazu gehörige Palast gestanden,“ erklärte er. „Aber er und viele andere Prachtbauten aus der Zeit, als Lahore noch die Residenz des Großmoguls war, sind bei der Eroberung des Landes durch die fanatischen Sikh zerstört worden. Das heutige Lahore ragt auch nur deshalb so hoch über die Ebene ringsum heraus, weil es auf den Ruinen der alten Hauptstadt errichtet worden ist –“
In diesem Augenblick rief Harst mir zu: „Komm’ doch einmal her, Mahomed Bakra –“ – So hatte ich mich für meine jetzige Rolle als reicher indischer Muslim getauft.
Ich ging bis zum Rande des Daches. Die Straße unten war einer der lebhaftesten Verkehrswege der großen Stadt. Gerade gegenüber befand sich ein Kaffeehaus mit hübschem Dachgarten. Die Tischchen dort waren von einer Zeltleinwand überspannt. Trotzdem konnten wir von unserem Standort aus zwei der Tischreihen überblicken. In einer durch Schlingpflanzen gebildeten Laube an der linken Seite saßen zwei Inder, die europäische Kleidung trugen. Der eine hatte einen prächtigen, dunklen Vollbart; der andere einen kürzer gehaltenen, bereits leicht ergrauten. Beide Männer hatten breitrandige Strohhüte mit hochgewölbter Krempe von jenem Faserstoff auf, der federleicht und doch dauerhaft wie Leder ist. Sie flüsterten mit zusammengesteckten Köpfen sehr eifrig und kümmerten sich nicht im geringsten um ihre Umgebung.
Harst hatte mich auf die beiden aufmerksam gemacht.
„Sieh Dir den Kleineren recht genau an,“ meinte er jetzt.
Der besondere Ton der Worte genügte. – „Doktor Doogston?“ erwiderte ich schnell.
Er nickte nur. „Ja – er und der Mann, den ich in Amritsar viermal geknipst habe –“ Er zog mich vom Rande des Daches nach der Luke hin, wo der dicke Chinamann mit schlauem Grinsen uns erwartete.
Er dienerte wie ein wackelndes Stehaufmännchen und meinte mit vertraulichem Zwinkern seiner winzigen Schlitzaugen:
„Mi Kao ist sehr verschwiegen. Falls die hohen Gäste meines unwürdigen Hauses mich bei ihren Geschäften gebrauchen könnten, ist Mi Kao gern bereit, seine Orts- und Menschenkenntnis gegen geringen Lohn in ihren Dienst zu stellen –“
Harst blickte den Chinesen, der englisch gesprochen hatte, scharf an.
„Bei unseren Geschäften? – Wofür hältst Du uns denn, Mi Kao, – he?!“
„Für Gäste, die vielleicht morgen anders aussehen als heute und einen Ausweis vom Leutnant-Gouverneur (oberster Beamter einer Division) bei sich tragen,“ grinste der Speckige unterwürfig.
„Vielleicht ist es so!“ meinte Harst mit Betonung. „Richte Dich danach und verschließe Deinen Mund!“
Der Chinese bücklingte eifriger. „Meine Lippen sind wie die eines steinernen Götzen, hochwürdiger Gast, wenn es sein muß. – Ihr seid vielleicht bei mir abgestiegen des Gubdu-Steins wegen. Ja – die ganze Stadt war heute früh in Aufregung, als der seltsame Vorfall entdeckt wurde,“ schnatterte er kurzatmig weiter. „Niemand begreift, wie der mächtige Granitblock so plötzlich hat abstürzen können. Besonders die Hindu hier, die doch den Stein als heilig verehren, nehmen das Ereignis als schlechte Vorbedeutung und befürchten irgend ein großes Unheil. Doch was rede ich von alledem. Die hohen Gäste meines armseligen Hauses werden all das viel besser wissen als ich –“
Harst kletterte durch die Dachluke auf die abwärtsführende Treppe. Erst vor dem Eingang zu unseren Zimmern sagte er dann zu dem Chinesen: „Tritt mit uns ein, Mi Kao –“
Er schloß dann die Tür hinter uns ab. Ich sah es dem Dicken an, daß er ängstlich geworden war; seine Schlitzaugen irrten im Zimmer unstät hin und her.
Harst pflanzte sich jetzt dicht vor ihm auf. „Wenn Du uns wirklich für verkleidete Polizeibeamte gehalten hättest, würdest Du nicht Dinge über den Vorfall mit dem Gubdu-Stein erwähnt haben, die uns als Detektiven notwendig bekannt sein mußten. – Nein, – daß wir verkleidete Europäer sind, hast Du durchschaut, aber für Beamte hältst Du uns nicht. Du wolltest nur so etwas auf den Strauch schlagen –“
Der Chinamann hob wie beschwörend die Arme. Doch Harst fuhr schon fort: „Lüge nicht! Hier stimmt irgend etwas nicht. Auch Deine Hilfe botest Du uns nur an, um vielleicht aus unserer Antwort herauszuhören, wer wir eigentlich seien –“
Ich lauschte gespannt. Ich erkannte in Harst jetzt wieder einmal den überlegenen Geist und scharfen Beobachter, dem nichts Auffälliges entgeht.
„Bevor ich nicht die Wahrheit weiß,“ hatte er hinzugefügt, „verläßt Du diesen Raum nicht! Merke Dir das! Weshalb also wolltest Du uns aushorchen –“
Der Chinese wand sich förmlich vor Unterwürfigkeit und steckte ein harmlos-biederes Lächeln auf.
„Oh – aushorchen! Niemals – niemals!“ quäkte er mit seiner belegten Stimme.
Harst langte in die Tasche und holte gemächlich seinen Revolver hervor, machte mir ein Zeichen und erklärte:
„Wir werden Dich binden und knebeln, Mi Kao! Hier ist irgend eine Teufelei im Gange. Dann verlassen wir schleunigst Dein Haus –“
Der Dicke schwitzte vor Angst. Sein Gesicht verzerrte sich. „Ehrenwertester Gast, – man wird mir das Fremdenheim schließen!“ jammerte er. „Die Polizei wird sagen, ich habe Euch gewarnt und mich bestechen lassen. Oh – ich bin ruiniert, ich bin arm gemacht, ich bin tot, ich sterbe –“
„Aha – also die Polizei weiß bereits, daß wir hier sind! Jetzt ist mir alles klar!“ fiel Harst ihm ins Wort. „Gib nur zu: Es ist auf die Ergreifung zweier Männer von Amritsar aus eine Belohnung dem zugesichert worden, der –“
„Tausend Rupien!“ röchelte der Dicke verzweifelt.
„So – wir stehen ja hoch im Kurse!“ lachte Harst. „Nun – ich zahle Dir die gleiche Summe, Mi Kao, wenn Du uns so verbirgst, daß niemand uns findet –“
„Es ist zu spät!“ stöhnte der Chinese. „Der Anschlag in der Stadt mit der ausgesetzten Belohnung erfolgte um drei Uhr nachmittags. Deshalb war auch der Besitzer des Ponywagens, der Euch zu mir brachte, sofort argwöhnisch geworden, weil Ihr vom Kohlenplatz am Bahnhof –“
„Schon gut. Du sollst 2000 Rupien haben, Mi Kao. Hier sind sie. Nun schnell. Entscheide Dich –“
Der Dicke griff nach den Banknoten. „Folgt mir,“ meinte er. – Er lauschte erst in den Flur hinaus. Dann führte er uns in den kleinen, von den Mauern der Nachbargebäude abgesperrten Garten, der für seine geringe Größe viel zu dicht mit Bäumen und Büschen bepflanzt war. In der hintersten Ecke gab es einen offenbar sehr alten, ausgemauerten Brunnen, der jetzt als Abfallgrube benutzt wurde. Der Chinese schleppte eine Leiter herbei, deutete hinab und sagte: „Dort nach Norden zu findet Ihr ein Loch in der Brunnenwand. Kriecht nur hindurch, es erweitert sich sehr bald und mündet in einen Hauptarm der alten Kanalisation der ehemaligen Residenz des Großmoguls. Laternen findet Ihr dort vor. Speise und Trank bringe ich Euch, sobald die Polizei wieder fort ist. Sie wird jeden Augenblick erscheinen. Der Besitzer des Ponywagens hat einen Bekannten unter den Polizisten, dem er –“
Harst stieg bereits die Sprossen hinab. Ich hielt mich dicht hinter ihm.
Es gab hier tatsächlich einen engen Gang, der vom Brunnen in ein langgestrecktes Gewölbe führte. Harst hatte seine Taschenlampe stets bei sich. Wir fanden uns also sehr leicht zurecht, suchten dann aber umsonst in dem alten Kanalisationsarm nach Laternen, stellten nur fest, daß das Gewölbe rechts und links durch Einsturz völlig zugeschüttet war, so daß wir auf einen Raum von etwa sechzig Meter Länge und vier Meter Breite und Höhe angewiesen waren.
„Der Schuft hat gelogen,“ erklärte Harst ganz unvermittelt. „Hier gibt es keine Laternen. Er hat uns hier hinab geschickt, um uns ganz sicher einzusperren. Diese gelbe Brut ist hinterlistiger als ein betrogenes Weib! – Hinaus können wir nicht mehr. Die Leiter hat er natürlich hochgezogen –“
Er sprach ohne besondere Erregung und ließ den Lichtschein hin und her huschen. „Begib Dich jetzt nach dem Loch in der Brunnenwand zurück, mein Alter,“ sagte er nach kurzer Pause. „Drohe jeden zu erschießen, der sich in den Brunnen hinabwagt. Wir dürfen uns auf keinen Fall einsperren lassen. Es steht zu viel auf dem Spiel: Das Eheglück eines armen Weibes, der ich mein Wort gab, ihren Mann vor den Schergen zu retten. – Geh’, ich will derweilen mich hier genauer umschaun. Es müßte doch sehr sonderbar sein, wenn dieser gelbe Fettwanst dieses Gewölbe nicht für irgend welche dunklen Geschäfte benutzt. Ein Chinese, der nicht mindestens im Nebenberuf Hehler ist, wäre eine Rarität –“
Ich bezog meinen Posten in dem Loche der Brunnenwand. Ein Meter unter mir lagen Müll und Abfälle, und geradezu atemberaubender Gestank stieg mir daraus in die Nase. Ich hatte noch keine fünf Minuten lang ausgestreckt dagelegen, als ich auch schon über mir Stimmen hörte. Dann wurde die Leiter herabgelassen. Schnell schob ich mich noch weiter vor, reckte den Kopf und brüllte den drei uniformierten Beamten oben zu: „Wir schießen, sobald sich auch nur ein Bein auf der Leiter zeigt!“
Da zupfte Harst mich von hinten am Stiefel.
„Das genügt,“ meinte er. „Komm’ nur. Ich habe des Dicken Geheimnis schon entdeckt –“
Ich beeilte mich, kroch rückwärts, denn der Gang war hier höchstens halbmannshoch. Dann war ich im Gewölbe, dann sah ich Harsts Lampe eine Stelle der Mauer des Kanalisationsarmes beleuchten, die auf den ersten Blick gar nichts Auffälliges an sich hatte.
Harst klopfte mir auf die Schulter. „Etwas höher, lieber Alter. Da steckt das Geheimnis.“
Gleichzeitig klomm er, sich in den Mauerfugen bequeme Stützpunkte für Füße und Hände suchend, an der Mauer hoch und – drückte nun einen Teil des Mauerwerks dicht unter der Decke nach hinten auf. Es war dies lediglich eine viereckige Brettertür von Quadratmetergröße, die man sehr geschickt mauerähnlich angepinselt hatte.
Diese Pforte bildete den Zugang zu einer steil in die Tiefe laufenden, noch sehr gut erhaltenen Steintreppe, die in einen gemauerten Schacht eingeführt war. – Harst hatte die Geheimtür wieder zugedrückt und begann die Treppe hinabzusteigen.
„Die Luft hier ist so rein, daß wir sehr bald einen zweiten Ausgang finden dürften,“ meinte er gutgelaunt. – Wir waren dann etwa zwanzig Stufen tiefer gelangt, als sich vor uns in dem Schacht eine bogenförmige Öffnung zeigte, in der noch Reste von zierlichen Gitterstäben steckten.
„Ah – dies ist ein Turm der alten, jetzt verschütteten Residenz,“ sagte Harst. „Der Turm muß zu einem Schlosse gehört haben. Sieh – die Gitter sind stark vergoldet, mein Alter.“ Er leuchtete die Treppe tiefer hinab. „Schutt – nichts als Schutt dort unten. Also muß dieses Fenster hier die Fortsetzung des Weges sein –“ Er beugte sich durch die Öffnung weit vor, streckte den Arm mit der Taschenlampe aus und ließ den weißen Lichtkegel in die Dunkelheit hineinfallen. Ich stand neben ihm. Gleichzeitig stießen wir einen Laut ungläubigen Staunens aus.
Denn dort jenseits des Bogenfensters enthüllte der strahlende Lichtschein uns einen uralten Marmorprunksaal, an dessen Wänden noch allerlei merkwürdige Einrichtungsgegenstände zu bemerken waren, während von der Decke noch drei riesige, geschweifte Kronleuchter mit flachen Öllampen herabhingen.
„Also doch kein Turm dies hier!“ meinte Harst, „sondern das Treppenhaus eines Palastes, der in einer Bodensenkung gestanden haben muß, sonst könnte der Kanalisationsarm nicht in gleicher Höhe mit diesem Saale liegen. Fürwahr, das unterirdische Lahore scheint auch seine interessanten Seiten zu haben.“
Wir kletterten in den Saal hinab, dessen Fliesenboden noch tadellos erhalten war, durchquerten ihn, sahen, daß die anderen Fenster von außen durch Schutt und Erde völlig verrammelt und zum Teil eingedrückt waren, fanden dann jedoch eine Türöffnung, die in einen Gang mündete, der mit zu dem ehemaligen Palaste gehören mußte.
Gleich darauf hatte Harst eine Leiter erspäht, die uns in den Kellerraum eines offenbar neueren Gebäudes brachte, der bis obenan mit Kisten gefüllt war. Bei einigen Kisten waren die Deckel lose. Wir überzeugten uns, daß sie Teile von Maschinen und Motoren enthielten.
„Ah – also ein Schmugglerlager!“ meinte Harst. „Auf Maschinen liegt hier ein sehr hoher Einfuhrzoll. Unser schuftiger Chinese gibt sich also mit Schmuggel ab. – Sehen wir, wohin wir weiter gelangen.“
Auch hier fanden wir eine gut versteckte Falltür in der Decke, kamen in einen zweiten, höheren Keller, in dem allerlei Warenballen lagen, und endlich vor eine verschlossene, eiserne Tür, die jeder Gewaltanwendung gespottet hätte.
Harst donnerte mit der Faust und den Stiefelabsätzen dagegen. Sehr bald wurde ein Schlüssel von der anderen Seite ins Schloß geführt; die Tür ging auf, und eine Stimme fragte aus dem Dunkel vor uns heraus:
„Was gibt’s, Mi Kao?“
Harst schaltete seine Lampe plötzlich wieder ein. Vor der Tür stand ein europäisch gekleideter, kleiner Hindu mit graumeliertem Vollbart.
Es war Doktor Reginald Doogston alias Cecil Warbatty.
Harst und ich waren gleich sprachlos. Nicht minder aber war’s unser alter Gegner, der jetzt erst zwei Gestalten erkannte. Doch er hatte im Moment seine Geistesgegenwart wiedergewonnen. Blitzschnell – schneller, als wir dachten! – hatte er einen Revolver in der Rechten, zischte uns an: „Wer seid Ihr? Etwa Polizeibeamte? – Dann macht nur getrost Euer Testament, Ihr Schnüffler!“ Er wollte die eiserne Tür zuschlagen. Wollte.
Harsts Taschenlampe erlosch. Ich hörte einen Fluch, den dumpfen Fall eines Körpers.
Harst hatte sich tief gebückt vorgeschnellt und Doktor Doogston einfach überrannt. –
Es blieb uns dann nichts anderes übrig, als ihn zu fesseln. Er wehrte sich wie ein Verzweifelter. Unsere Taschentücher genügten, ihm die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Wir zwangen ihn dann, uns bis in den Saal des verschütteten Palastes zu folgen, nachdem wir die eiserne Tür von innen abgeschlossen und den Schlüssel hatten stecken lassen.
In dem Saale mußte Doogston sich auf eine prunkvolle Ebenholzbank setzen. Wir standen vor ihm. Harst beleuchtete sein Gesicht und sagte ernsten Tones:
„Doktor Doogston, ein eigentümlicher Zufall hat uns hier wieder zusammengeführt –“
„Warbatty“ war bei dieser Anrede mit seinem wahren Namen merklich zusammengezuckt. Jetzt verzog sein Gesicht sich zu jenem höhnisch überlegenen Grinsen, das wir bereits an ihm kannten. Und ebenso anmaßend und ironisch war das, was er als Erwiderung bereithatte:
„Schau’ an, – meine Freunde Harst und Schraut! – Sehr erfreut über dieses Wiedersehen – sehr! Tatsächlich! In Amritsar nahmen wir ja etwas kurzen Abschied voneinander, Master Harst. Meine Frau wird’s wohl gewesen sein, die das elektrische Licht rechtzeitig versagen ließ –“
„Doktor Doogston,“ meinte Harst in freundlich-überredender Weise, „Ihre Gattin hat mich gebeten, ich möchte Ihnen, falls wir uns treffen sollten, folgendes –“
Doogstons heiseres Hohngelächter schnitt ihm jedes weitere Wort ab. – „Meine Frau?! Meine Frau mit Ihnen im Bunde?! Halten Sie mich für so beschränkt, daß ich –“
Harst hatte ihm plötzlich die Taschenlampe ganz dicht vor die Augen gehalten, folgte dem bis an die Wand zurückweichenden Kopfe, legte Doogston nun die Linke flach auf die Stirn und sagte zu dem mit halb zugekniffenen Augen Dasitzenden:
„Doktor Doogston, mein Wille ist stärker als der Ihrige. Sie – werden – gehorchen. Sie – werden – jetzt sofort einschlafen, – ganz fest einschlafen –“ Er sprach kurz und abgehackt. „Rühren – Sie sich – nicht mehr – Sie werden – müde. Schließen Sie – die Augen. Sie fühlen – eine Schwere in allen – Gliedern –“
Man merkte es an dem nervösen Zucken in Doogstons Gesicht, wie krampfhaft er sich gegen diese Beeinflussung wehrte.
„Die Schwere – nimmt zu. Sie sollen – schlafen, sollen – an nichts denken –“
Doogstons Lider sanken tiefer. Sein Antlitz entspannte sich gleichsam, wurde schlaff und verlor jeden Ausdruck. – Noch hatte Harst jedoch nicht völlig gesiegt. Es dauerte noch mehrere Minuten, bevor Harst sich aufrichtete und tief Atem holend mir zuflüsterte:
„Ein weiterer Beweis, daß er unschuldig ist. Die Hypnose war schwer zu erreichen. Es hat mich die Anspannung all meiner Willenskraft gekostet, den Einfluß des Dritten zu überwinden.“ Er lehnte sich erschöpft an die Marmormauer. „Ich muß etwas ausruhen. Dann folgt das Weitere. – Begreifst Du nun, weshalb diese abgrundtiefe Verschiedenheit in Doogstons Wesensart sich eingenistet hatte?“
Ich hatte die Szene vorhin mit vor Spannung jagendem Herzen verfolgt, hatte jede Einzelheit der allmählichen Willensunterjochung dieses seltsamen Mannes genau beobachtet. Und sofort war da in mir die Erinnerung an unser Abenteuer in Nagpur aufgetaucht. Damals hatte Warbatty in der Rolle des Freundes des schmutzigen Fakirs es auf die Beraubung des Juwelenhändlers abgesehen gehabt, dessen Tochter den Vater in der Hypnose bestahl. –
Hypnose! Ja – das erklärte am leichtesten Reginald Doogstons Doppelnatur! Und so erwiderte ich Harst denn:
„Im Bremsertürmchen sprachst Du von fremden Einflüssen. Du meintest Suggestion –“
Er nickte nur zustimmend.
„Dazu gehören zwei, Herr und Knecht sozusagen,“ fuhr ich fort. „Wer ist der Herr, wer ist der, dem Frau Lizabet das große Leid ihres Lebens zu danken hat?“
Harst drückte meinen Arm. „Denke nach, mein Alter!“ Seine Stimme bebte vor verhaltener Erregung. „Denk’ an Frau Doogstons – anderen Bewerber, – an den, der sie vor Reginald Doogston als einem dem Wahnsinn Verfallenen warnte!“
Ich stand sekundenlang regungslos. Was alles hatte sich urplötzlich wie eine Fernsicht über ungeheure Schändlichkeiten vor mir aufgetan.
„Eifersucht – Rache – der andere Freier – James Palperlon!“ stotterte ich flüsternd.
„Ja – James Palperlon!“ bestätigte Harst. „Oh – daß ich das nicht früher geahnt habe! Wie sollte ich aber auch vermuten, daß Warbatty nur eine willenlose Maschine war, nur das Werkzeug eines wahren Satans in Menschengestalt?! – Nicht Warbattys Hirn entsprang die Genialität seiner verbrecherischen Anschläge, nicht er mordete kaltblütig, nicht er verhöhnte uns und achtete sein eigenes Leben für nichts: all das tat er, während sein wahres Ich gefesselt war durch den stärkeren Willen dessen, der sich stets so schlau im Verborgenen hielt, daß wir nie etwas von diesem Dritten merkten, – nie! Und doch muß er stets in der Nähe gewesen, stets Warbatty von Stadt zu Stadt gefolgt oder vorausgeeilt sein, muß stets mit ihm persönlich in Berührung gekommen sein! Wenn Du Dir dies klarmachst, dann wirst Du Dir sofort sagen, welche teuflische Schlauheit in diesem Palperlon steckt. Bedenke: nirgends bisher spürten wir auch nur das Geringste von diesem Menschen. Erst in Amritsar brachte mich Frau Doogstons Bemerkung über ihren zweiten Bewerber auf den Gedanken, daß dieser aus verschmähter Liebe einen Racheplan gegen das ihm verhaßte Ehepaar ersonnen haben könnte, wie er nur von einem jeden menschlichen Gefühls baren Ungeheuer in solcher Bestialität ausgeklügelt werden kann! Denn dieser Palperlon hatte es nicht etwa darauf allein abgesehen, Doogston an den Galgen zu bringen, – nein, – langsam wollte er auch das arme Weib durch die wachsende Erkenntnis, ihr Mann sei ein vielfacher Mörder, zu Tode foltern, – ganz langsam! Jahre sollte diese Tortur dauern, recht viele Jahre. Und so ist’s ja auch gewesen, wie die Lebensgeschichte, die Geschichte der Ehe Lizabet Doogstons uns zeigt! – Dieser Palperlon hat sich gerächt, wie’s noch nie einem Menschen in den Sinn kam, dieser Mann ist in Wirklichkeit unser Gegner gewesen, der hinter den Kulissen hohnlachend den Kampf zwischen uns und Warbatty mitansah.“ Harst schwieg, holte mehrmals tief Atem, fügte ruhiger hinzu: „Frau Doogston sagte mir, als ich sie heute vormittag heimbrachte, daß Palperlon mehrfacher Millionär ist und aus Liebhaberei chemische und medizinische Studien betreibt. Das erklärt vieles, so besonders seine Fähigkeit, es in der Willensbeeinflussung fremder Personen bis zu einem so hohen Grade von Vollkommenheit gebracht zu haben. Ich fürchte, ich werde bei Doktor Doogston deshalb auch nichts weiter ausrichten als das Eine, daß er auf Befehl über dieses Zusammentreffen mit uns schweigt. Alles Übrige, was Palperlon angeht, wird nicht über seine Lippen dringen, da dieser ihm natürlich ein völliges Versagen des Gedächtnisses anbefohlen haben wird.“
Harst behielt recht. Doktor Doogston befand sich zwar in tiefem hypnotischen Schlaf, antwortete jedoch lediglich auf Fragen, die außerhalb seiner verbrecherischen Tätigkeit lagen. So behauptete er zum Beispiel auch, einen James Palperlon überhaupt nicht zu kennen.
Harst gab diese Versuche, auf diese Art die ungeheuerliche Angelegenheit zu klären, bald auf, befahl dem mit geschlossenen Augen Dasitzenden jetzt lediglich, sich nachher an dieses Zusammensein mit uns nicht mehr zu erinnern.
Wir kehrten darauf mit Doogston, ohne daß dieser geweckt wurde, in den oberen Keller des unbekannten Gebäudes zurück, schlossen leise die eiserne Tür auf und verschlossen sie wieder hinter uns. Wir standen nun in einem Kellervorraum, aus dem eine kurze Treppe auf einen Hof führte. Inzwischen war es Abend geworden. Der Hof lag in tiefem Dunkel da. Der wolkenbedeckte Himmel drohte mit einem Gewitter. Im Osten wetterleuchtete es. Das fahle Aufblitzen enthüllte uns die Einzelheiten des Hofraumes so weit, daß wir uns zurechtfinden konnten.
Doktor Doogston, der bisher teilnahmlos dagestanden hatte, wurde von Harst nun anbefohlen, nach zwei Minuten von selbst aus dem hypnotischen Zustand zu erwachen. Wir steckten ihm den Schlüssel der Eisentür in die Tasche, verließen den Hof durch eine Tür, die in einen Hausflur mündete und gelangten durch eine zweite auf die Straße.
Ich begriff Harsts Verhalten nicht recht. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir Doogston mitgenommen und irgendwo in Sicherheit gebracht.
Harst besah sich das Haus von der Straße aus sehr genau. Es war ein neueres, zweistöckiges Backsteingebäude. Im Erdgeschoß lag ein Geschäft. Das große Firmenschild trug die Aufschrift: „Jonathan Purklay, Agenturen.“
Dann rief Harst eines der leichten Ponywägelchen an. Wir stiegen ein, nachdem Harst dem Lenker „Goranna-Hügel“ zugerufen hatte. –
Lahore mit seinen 200 000 Einwohnern ist wie viele andere indische Städte von einer dicken, hohen, uralten Backsteinmauer umgeben. Dreizehn Tore führen in die Ebene hinaus. Wir schlugen die Richtung nach Norden ein, hatten bald die Stadt hinter uns und jagten im Galopp eine breite Straße hinab, die zum Rawi-Flusse führte, wo eine eiserne Brücke gleichzeitig dem Eisenbahn- und dem sonstigen Verkehr dient. Am Nordufer des Rawi lenkte der Wagen nach Westen in einen Zypressenhain ab, hielt dann plötzlich. – Trotz der späten Stunde waren hier noch zahlreiche Eingeborene unterwegs. Sehr schnell sollte ich hierfür eine Erklärung haben, denn Harst wandte sich nun zu Fuß einem nahen Felsenhügel zu, auf dessen flacher Kuppe das häufige Aufleuchten der fernen elektrischen Entladungen uns viele Hunderte von Indern in dicht gedrängten Scharen zeigte.
Harst flüsterte mir jetzt zu: „Der Goranna-Hügel dort beherbergte noch gestern eine der größten Merkwürdigkeiten Indiens, das sogenannte Orakel des Gubdu-Steins. Dieser pyramidenförmige Felskoloß gehörte zu den „Wackelsteinen“, das heißt, er stand mit der Spitze oben auf dem Hügel und reckte seine Grundfläche zum Himmel empor, ohne je das Gleichgewicht zu verlieren; sein Schwerpunkt lag eben derart günstig, daß er sich von selbst in der Balance hielt. – Ich habe mir dieses Wunder bei meiner früheren indischen Reise angesehen. Damals war er noch nicht abgestürzt, damals bemerktest Du ihn von hier aus als mächtiges Granitstück, das wie ein kurzes, dickes Ausrufungszeichen über dem Hügel schwebte. Dieser Gubdu-Stein erhob sich nun dicht am Rande einer tiefen Felsspalte, in die die gläubigen Hindu, wenn sie das Orakel des Gubdu anrufen wollten, Opfergaben hineinwarfen. Wie tief die Spalte ist, weiß niemand. Seit Jahrhunderten wird sie von Priestern Tag und Nacht bewacht, die an ihrem Rande hocken und achtgeben, daß niemand den heiligen Ort entweiht. Angeblich verläuft die Felskluft bis zum Mittelpunkte der Erde, wo Gubdu, ein von Brahma aus den Reihen der Götter Ausgestoßener jetzt als Teufel haust. Mit dem Orakel hatte es folgende Bewandtnis. Der Stein antwortete auf die Fragen durch Schwankungen. Erfolgten diese von Nord nach Süd, bedeutete es Ja, während die von Ost nach West sich zeigenden als Nein galten. Tatsache ist, daß der Stein wirklich nicht nur bei starkem Winde wackelte, sondern auch bei unbewegter Luft, wenn ein Hindu eine Antwort erbat. Ich habe seiner Zeit gleich den Verdacht gehabt, daß hier ein schlauer Betrug vorliegt. Die Brahminen[5] (Priester) dürften an den Schwingungen des Gubdu nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. – Nun ist der Felskoloß, wie der Chinese uns mitteilte, abgestürzt. Ich möchte mir die Geschichte aus der Nähe ansehen. Ich habe nämlich so meine besondere Vermutung, was diese Katastrophe anbetrifft.“
Wir hatten inzwischen die Kuppe des Hügels erreicht, drängten uns durch die Menschenmauer durch und erblickten nun den Stein, der so abgerutscht war, daß er wie ein Keil in der Felsspalte steckte, über die er nur wenig hinwegragte. Irgend etwas Merkwürdiges war an dem Anblick durchaus nicht. Es war ja überhaupt nur etwas zu sehen, wenn die Lichtbündel des näherkommenden Gewitters den schwarzen Horizont mit ihren Zickzacklinien zu zerreißen schienen. Dann folgte auf die elektrischen Entladungen stets desto tiefere Finsternis. Die noch halb geblendeten Augen unterschieden die Menschen ringsum nur als dunkle Masse, in der nur hier und dort der weiße Leinenanzug eines Europäers heller schimmerte.
Als die ersten Tropfen zu fallen begannen und ein paar Donnerschläge von unerhörter Heftigkeit den Äther erzittern ließen, verlief sich die Menge schnell. Unweit von uns standen zwei baumlange Offiziere, dürr wie die Latten, und unterhielten sich sehr laut und ungeniert über die Ursache der Katastrophe. Ich merkte, daß Harst angestrengt lauschte. Dann trat er auf sie zu, flüsterte eine Weile mit ihnen und rief mich leise herbei, stellte mich den Herren mit meinem wirklichen Namen vor und fügte hinzu, indem er sich an den Älteren wandte:
„Ich bin derselben Überzeugung, Herr Major. Nur eine Wurfbombe, die am Fuße des Felsens explodierte, kann diesen zum Abrutschen in die Felsspalte gebracht haben. Daß ein Sprengkörper benutzt worden ist, beweisen ja auch die zerfetzten Körper der gerade Wache haltenden Brahminen.“ – An mich das Wort richtend, erklärte er dann noch: „Die Katastrophe hat sich in der verflossenen Nacht ereignet. Man hörte hier auf dem Hügel einen starken Knall, eilte herbei, und fand den Gubdu dort in der Kluft. Die Brahminen, die weit fortgeschleudert worden waren, mußte man erst mühsam zusammensuchen. Sie waren sämtlich tot. Kein Zeuge ist also vorhanden, der etwas über das Ereignis angeben könnte, mit Ausnahme des Attentäters selbst. Dieser wird die Bombe aus sicherer Entfernung geworfen haben. Jedenfalls dürfte es zweckdienlich sein, wie ich auch schon dem Herrn Major Marconnay[6] erklärte, die Felsspalte in aller Stille zu untersuchen. Grundlos hat man die Katastrophe nicht herbeigeführt.“
„Da sind wir ganz Ihrer Ansicht, Herr Harst,“ erklärte der Major zuvorkommend. „Uns wird es ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen, diese Sache aufzuklären.“
„Zumal hier ein Verbrechen aus Gewinnsucht nach Ihrer Meinung vorliegt,“ setzte der andere Offizier, ein Hauptmann namens Slooker, hinzu.
„Allerdings – Gewinnsucht!“ nickte Harst. „Es ist ja genugsam bekannt, daß seit Jahrhunderten überreiche Opfergaben dem Orakel des Gubdu-Steins gespendet wurden, indem die Ratsuchenden sie in die Felsspalte warfen. Man spricht von unermeßlichen Werten, die der Schlund dort bergen soll –“
Der Regen fiel stärker. Der Hügel war jetzt ganz leer. Wir suchten unter den Bäumen Schutz, während der Hauptmann den Kraftwagen, mit dem die Offiziere gekommen waren, nach der Militärstation Mian Mir schickte und Taue, Strickleitern, Stangen, Eisenhaken und Magnesiumfackeln holen ließ. Der Hauptmann brachte aus dem Auto eine Ölplane mit, die wir als Zelt aufbauten, so daß wir im Trockenen saßen.
Major Marconnay spendete uns Zigarren, und so hatten wir es trotz des Unwetters ganz gemütlich.
Harst war still und in sich gekehrt. Er hatte schnell noch die Kluft untersucht und festgestellt, daß man zu beiden Seiten des Granitkeils ganz bequem hinabgelangen konnte. – Die Offiziere waren Feuer und Flamme für das Unternehmen. Der Hauptmann meinte, wenn der Anschlag auf den Gubdu aus Gewinnsucht verübt sei, müßten der oder die Verbrecher sich doch gleichfalls in die Felsspalte hinablassen, um die Schätze zu holen.
Diese Bemerkung gab Harst Gelegenheit, mit einem zweifelnden Hm sich in unser Gespräch wieder einzumischen und dann in seiner zuweilen so versonnenen Art zu erklären: „Die Herren kennen doch aus den Zeitungen fraglos den Namen Warbatty –“
„Natürlich! Genau so wie Ihren Namen, Master Harst,“ meinte der Major.
„Ich habe bestimmte Verdachtsgründe dafür, daß Warbatty der Attentäter ist, also der Schuldige an dieser Gubdu-Katastrophe. Warbatty hat sich vor kurzem noch in Amritsar aufgehalten, dürfte wahrscheinlich erst in der verflossenen Nacht mit einem Kraftwagen hier eingetroffen sein und sofort den Anschlag auf den Orakelstein verübt haben. Vor seinem Verschwinden aus Amritsar hat er jedenfalls noch eine Anzeige in die dortige englische Zeitung eingerückt, deren Wortlaut sich lediglich auf eine ihm sehr nahe stehende Person beziehen kann –“
„Seine Frau!“ warf der Hauptmann ein. „Er soll ja Doogston heißen. So las ich in unserem hiesigen Abendblatt gleichzeitig mit der Sie und Ihrem Freund betreffenden Bekanntmachung –“
„Ah – also hat Inspektor Blunk die Geschichte des armen Weibes wirklich an die große Glocke gebracht!“ rief Harst empört. „Nun – Geschehenes ist nicht zu ändern. – Jene Anzeige lautete folgendermaßen:
„Die Dame, die sich über den Gubdu-Stein erkundigte, wird um Angabe gebeten, ob sie noch gewillt ist, das Bisherige unter anderen Voraussetzungen als erledigt zu betrachten. Nachricht erbeten in dieser Zeitung mit den Anfangsbuchstaben des Namens als Kennzeichen.“
Und sie kann nur an die Expedition der Zeitung gelangt sein, bevor dieses Attentat hier stattfand. Mithin wußte der, der sie veröffentlichen wollte, daß der Name Gubdu demnächst in aller Munde sein würde, und hoffte, daß auch – seine Frau dadurch auf die Annonce aufmerksam werden und ihn als deren Urheber erkennen würde. Die ersten Sätze bis „erkundigte“ dürften eine Irreführung sein. Dieser Wortlaut wurde eben von Doktor Doogston nur gewählt, um das Wort Gubdu unauffällig hineinbringen zu können. Der weitere Text ist wohl so auszulegen, daß Doogston-Warbatty von seiner Frau darüber Aufschluß haben möchte, ob sie ihm verzeihen könnte und mit ihm die Ehe fortsetzen möchte, wenn er seine Verbrecherlaufbahn – „unter anderen Voraussetzungen“ – aufgibt. – Doogston hat fraglos diese Anzeige veröffentlicht. Ihr Wortlaut paßt zu gut zu den ganzen Verhältnissen. Hat er sie aber eingerückt, so ist er auch der Attentäter –“
Major Marconnays Stimme ließ sich jetzt mit dem Tone ungläubigen Staunens vernehmen. „Aber bester Master Harst, – welch ein Widerspruch! Doogston gibt die Anzeige auf, in der er seiner Frau sozusagen Besserung gelobt, und hinterher begeht er hier abermals ein Verbrechen, dem mehrere Leute – die Brahminen – zum Opfer fallen!“
„Nur ein scheinbarer Widerspruch, Herr Major. In der Seele dieses Mannes kämpfen zwei Mächte gegeneinander: die Liebe zu seinem Weibe und – hypnotischer Einfluß eines dritten! Zuweilen überwindet diese Liebe die suggestive Kraft des eigentlichen Anstifters aller Schandtaten Warbattys. Dann aber ist die hypnotische Macht wieder stärker. So gewinnen wir von Doogston den Eindruck eines vollkommenen Seelenrätsels –“
„Hypnose – Suggestion!“ sagte der Major schnell. „Ja ja, Master Harst, – wer an diese Wunder und ihre Vielgestaltigkeit nicht glaubt, der soll nur hier nach Indien kommen. Hier, wo man die unerklärlichen Zauberkunststücke der Yogi oder Fakire anstaunt, die zumeist auf Massenhypnose beruhen, lernt man anders darüber denken.“
Das Gewitter stand jetzt gerade über uns. Unser Gespräch hatte daher nur mit Unterbrechungen stattfinden können. Wie bei vielen tropischen Unwettern hörte das Toben der Naturgewalten ganz unvermittelt auf. Die Stille war fast beängstigend. Fünf Minuten später hatten wir den klaren Sternhimmel über uns. Hauptmann Slooker eilte den Hügel hinab nach der Straße, um zu sehen, ob der Kraftwagen bereits zurückgekehrt sei. Er kam mit drei Soldaten zurück die alles Nötige auf den Schultern trugen. Die Leute wurden dann wieder nach dem Kraftwagen geschickt, wo sie warten sollten. Harst wünschte ohne Zeugen, auf deren Verschwiegenheit er nicht bestimmt rechnen konnte, in den Schlund hinabzusteigen.
Marconnay begriff nicht recht, weshalb Harst die Hilfe der Soldaten ablehnte. Er sprach dies auch offen aus. „Was schadet es, wenn die Leute auch Plaudern sollten,“ meinte er.
Wir vier standen nun am Rande der Felsspalte und hatten die Millionen Lichter des Nachthimmels als matte Beleuchtung über uns. – „Weil man notwendig zu der Ansicht gelangen muß, Herr Major, daß in diese Kluft auch anderswoher einzudringen ist,“ erwiderte Harst. „Der Mann, der Doktor Doogston zu diesem neuen Verbrechen trieb, mußte sich sagen, daß die Priester den Orakelstein vielleicht auch weiterhin ebenso sorgfältig trotz seines Einsturzes bewachen würden. Wenn dies jetzt nicht geschieht, so ist das wohl auf die erste Bestürzung unter den Brahminen zurückzuführen. Ein Einsteigen in den Spalt wäre also möglicherweise auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen, das heißt, der Urheber dieses Planes hätte dessen Früchte vielleicht nie einheimsen können. Er ist jedoch ein so schlauer Kopf, daß er sich einer unsicheren Sache wegen nicht anstrengt. Mithin muß sie für ihn die Hoffnung auf vollen Erfolg von vornherein gehabt haben. Er wird eben einen anderen Zugang zu den Tiefen des Schlundes kennen.“
„Hm,“ brummte der Major, „träfe dies zu, so hätte er die erhofften Schätze sich ja auch aneignen können, ohne den Gubdu abrutschen zu lassen.“
„Oh nein, – er hätte sie sich nicht aneignen können, weil die Kluft wahrscheinlich nur so tief ist, daß das Tageslicht nicht hinabdringt, und daß man einen mit einer Laterne auf ihrem Grunde herumsuchenden Menschen von hier [oben gesehen hätte. Und weil viele von den Ratsuchenden][7] dicht am Rande der Spalte gehockt haben. Mithin mußte der Verbrecher erst die Kluft bis auf die beiden kleinen frei gebliebenen Stellen rechts und links des Steines verschließen, ehe er mit einiger Aussicht, unbemerkt zu bleiben, seinen Raubzug antreten durfte. Eine andere Erklärung für die Absichten des Mannes gibt es nicht.“
Marconnay lachte leise. „Ja – Ihnen gegenüber sagt man am besten zu allem Ja und Amen. Ich bekenne mich geschlagen. Sie werden recht haben.“
Harst ließ sich jetzt anseilen. Wir drei hielten das lange Tau. Er kletterte über den Rand der Spalte hinweg, pendelte nun frei in der Luft. Ganz langsam ließen wir das Tau durch die Hände gleiten. Sehr bald sahen wir nichts mehr von ihm. Es ging tiefer und tiefer abwärts. Achtzehn Meter Tau waren bereits abgelaufen, als die Belastung plötzlich aufhörte.
Harst hatte uns angewiesen auf keinen Fall ihm etwas zuzurufen; er wollte durch Rucke am Tau sich mit uns verständigen, und wir hatten ein paar einfache Zeichen vereinbart.
Wir warteten fünf, wir warteten zehn Minuten. Nichts geschah. Nicht einmal den Lichtschimmer von Harsts Taschenlampe bemerkten wir. Das Tau hing schlaff herab. Harst hatte sich offenbar losgebunden.
Wir lagen nebeneinander mit den Köpfen über der Kluft. Marconnay meinte, die Geschichte gefalle ihm nicht; man könne da unten Harst durch einen Schlag auf den Kopf lautlos betäubt haben. – Auch mir ward bange um den Freund. Noch drei Minuten – ich hatte die Uhr in die Hand –, dann erklärte ich, die Herren möchten mich an einem zweiten Strick hinablassen. Der Hauptmann erwiderte, wir könnten auch die längste der Strickleitern mit Eisenhaken hier oben sicher befestigen. Es geschah. Ich trieb zur Eile. Dieses Schweigen dort in der Tiefe des Schlundes war mir unheimlich. Endlich saß die Strickleiter an zwei Haken zuverlässig fest. Ich begann hinabzuturnen. Die Strickleiter schwankte, aber ich hatte bald herausgefunden, wie man an ihr Kletterschluß nehmen mußte, damit sie still hing. Ein paarmal schlug ich unsanft mit dem Körper gegen vorspringende Zacken. Dann fühlte ich mit dem linken Fuß zuerst harte Unebenheiten unter mir. Gleichzeitig Harsts flüsternde Stimme:
„Ich wußte, daß Du mir folgen würdest, mein Alter. Ich konnte meinen Posten hier nicht mehr verlassen. Sie waren nämlich schon einmal hier und dürften sehr bald mit einer – Harke wiederkehren. Klettere also nach oben und sage den beiden Herren, sie sollen die Köpfe nicht mehr über den Rand hinausrecken und geduldig warten. Dann finde Dich hier wieder ein –“
Ich sah nicht eine Spur von Harst. Pechschwarze Finsternis umgab uns. Ich antwortete mit einem kurzen „Wird gemacht,“ führte meinen Auftrag aus und war dann kaum neben Harst wieder angelangt, der mich am Arm packte und nahe an sich heranzog, als meine Augen vor mir scheinbar in endloser Ferne einen hellen Punkt unterschieden, der zeitweise sich in einen verschwommenen Strich verwandelte. Ich kannte dieses Bild des Lichtkegels einer Taschenlampe von anderen nächtlichen Abenteuern her sehr wohl, flüsterte Harst daher zu: „Sie kommen!“
„Ja, – sie kommen, lieber Alter. Und sie haben sehr wahrscheinlich einen langen Weg hinter sich, nämlich vom Hause des Agenten Jonathan Purklay bis hierher – immer unter der Erde, immer dem Hauptkanal der alten Kanalisations- und Bewässerungsanlage folgend –“
„Ah – also deshalb –“
„Ja, deshalb fanden wir Doktor Doogston auch im Hause Purklays wieder, besser im Keller des Hauses. Ich sagte mir gleich, daß das alte Kanalisationsnetz jener dahingeschwundenen Kulturepoche des Großmoguls von Lahore eine erhebliche Ausdehnung gehabt haben müsse und daß die Möglichkeit naheliege, ein Hauptarm könne vielleicht gar bis an die Felsspalte neben dem Gubdu-Steine reichen. Daher galt auch meine erste Frage an Major Marconnay, kaum daß ich mich den Herren vorgestellt hatte, diesem alten Kanalisationsnetz. Marconnay erklärte, der Hauptkanal solle angeblich einst in nördlicher Richtung und unter dem Rawi-Flusse entlang bis zum Tale von Sangpi, also noch weiter nördlich als der Goranna-Hügel, geführt haben. Palperlon hat also diese längst in Vergessenheit geratene Anlage sehr schlau für seine Zwecke ausgenutzt. – Als er und Doogston vorhin bis dort an die Einmündung des Kanals in diesen Felsschlund gelangt waren, bemerkten sie oben am Rande Eure gegen den hellen Nachthimmel sich abzeichnenden Köpfe und berieten ziemlich laut, wie sie die Weihgeschenke der Gläubigen, auf denen wir jetzt hocken, in die Kanalmündung hineinziehen könnten. Palperlon kam dann auf den Gedanken, hierzu eine Harke mit langem Stiel zu benutzen. – Jetzt still. Sie sind schon ganz nahe –“
Der Lichtkegel in dem horizontalen, breiten Gange vor uns war klarer und größer geworden. Bald konnte ich zwei Gestalten unterscheiden, da der eine Mann die elektrische Lampe jetzt so hielt, daß ihr Schein nach rückwärts fiel.
Harst stieß mich an. – „Revolver bereithalten!“ hauchte er. – Jetzt waren die beiden keine zehn Schritt vor uns. Und nun hörten wir eine halblaute Stimme sehr nachdrücklich befehlen: „Vorwärts, Reginald, – krieche auf allen Vieren weiter nach vorn. Und dann harke behutsam hier in den Gang, was Du erreichen kannst –“
Doktor Doogston gehorchte. Hin und wieder klirrte es metallisch, wenn er die Harke an sich zog. Hinter ihm kniete Palperlon am Boden und prüfte den Raub, legte einzelnes beiseite, schob anderes achtlos von sich. Er schien mit der Ausbeute nicht sehr zufrieden zu sein.
Abermals fühlte ich Harsts Ellbogen; abermals hauchte er mir ins Ohr: „Wirf Dich auf Doogston. Den anderen erledige ich. Los denn –“
Leider war mir von der unbequemen Körperstellung der linke Fuß eingeschlafen. Ich kam daher langsamer hoch als Harst, sah ihn bereits mit langen Sprüngen auf Palperlon einstürmen, als ich erst leidlich in Bewegung geriet.
Da –: Harst hatte nicht an den Stiel der Harke gedacht, kam mit dem einen Fuß darunter und stürzte der Länge nach hin, raffte sich zwar sofort wieder auf, hatte aber die beiden Männer durch diese verdächtigen Geräusche bereits gewarnt.
Palperlon war wie ein Blitz hochgeschnellt und rannte den Kanal entlang. Auch Doogston wollte hinter ihm drein. Harst packte ihn jedoch und schleuderte ihn nach rückwärts mir halb in die Arme. Ich wollte ihn zu Boden zerren, erhielt jedoch einen so sicher gezielten Hieb mit einem Revolverkolben in die Schläfe, daß ich ohnmächtig umsank. Ich erholte mich bald wieder und tastete mich nun, da von Harst nichts mehr zu sehen und zu hören war, bis zur Strickleiter hin, rief den beiden Verbündeten nach oben zu, sie sollten mich an dem Tau hochhissen, erzählte ihnen darauf unser Abenteuer und schlug vor, hier auf Harst zu warten.
Ich hatte so starke Schmerzen, daß ich mich niederlegen mußte. Meine linke Stirnhälfte schwoll dick an. – Nach einer halben Stunde erschien Harst auf der Strickleiter, schwang sich auf festen Boden und trat zu uns.
„Entwischt,“ sagte er achselzuckend. „Wir haben eben Pech gehabt. Palperlon ist der reine Schnelläufer. Außerdem muß er noch einen zweiten Ausgang aus dem Kanal gekannt haben. Daran hätte ich sofort denken sollen. Die Harke konnte er ja unmöglich in der kurzen Zeit etwa aus Purklays Haus geholt haben. Dieser andere Ausgang wird nicht allzu weit von dieser Felsspalte entfernt gewesen sein. Jedenfalls war er plötzlich verschwunden.“
„Und Doktor Doogston? Sind Sie nicht mit diesem zusammengetroffen?“ fragte der Major gespannt.
„Ja – ich hätte ihn fangen können. Ich wollte es nicht. Ich hatte meine guten Gründe dafür, ihn entschlüpfen zu lassen, denn – ich kann diesen Palperlon nur mit Hilfe Doogstons dingfest machen. Wo ich Doogston nun zu suchen habe, weiß ich! Und – dort wird auch Palperlon in der Nähe sein.“ –
Wir fuhren in dem Kraftwagen der Offiziere mit nach der Militärstation Mian Mir, wurden Marconnays Gäste und scherten uns nicht im geringsten um den gegen uns von Amritsar aus vorliegenden Haftbefehl. –
Unser Kampf gegen „Warbatty“ nähert sich jetzt seinem endgültigen Abschluß. Das, was darüber noch zu sagen ist, will ich unter einem besonderen Titel schildern.
Der Ausgang dieser monatelangen Hetze ist merkwürdig genug, ihn mit allen Überraschungen und Enttäuschungen ganz eingehend darzustellen.
Anmerkungen: