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Das Armband der Lady Melville

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 22

 

Das Armband der Lady Melville

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

Frau Thora Torstensen war überglücklich! Nun hatte sie auch die beiden seit Tagen leerstehenden Zimmer wieder vermietet. Und dazu noch an so solide Herren gesetzten Alters, einen englischen Ingenieur und einen Wiener Geschäftsreisenden, die beide gleich für eine Woche vorausbezahlt hatten.

Frau Torstensen lief hurtig wie ein Wiesel in die Küche und teilte ihrer Köchin Ulla die frohe Botschaft mit. – „Ulla – soeben bin ich auch Busleys Zimmer wieder losgeworden. Der Herr zieht sofort ein. Es ist ein Engländer namens Percy Haberton, Ingenieur.“

Ulla, die mit Frau Torstensen noch die besseren Zeiten durchgemacht hatte, als der Major Torstensen noch lebte, brummte etwas wie „Alle Engländer können mir gestohlen bleiben!“ vor sich hin.

„Ulla, Ulla!“ meinte da die Frau Major. „Sie müssen doch den anderen Engländern nicht unterschiedslos nachtragen, was der Busley uns für Unruhe und Laufereien bereitet hat!“

„Na – ein Mensch, der hier in ein anständiges Haus kommt, plötzlich an Schlagfluß stirbt und von dem sich dann herausstellt, daß er fraglos unter falscher Flagge segelte, der sicherlich ganz anders hieß und der begraben wurde, ohne daß sich auch nur ein einziger Verwandter hier in Kopenhagen meldete, – so ein Mensch ist ein Spitzbube oder Mörder gewesen, nichts anderes!“

„Unsinn! Reden Sie nur nicht derartiges vor anderen, Ulla! Er kannte keine Seele hier in Kopenhagen, der Macdonald Busley! – Jetzt aber an die Arbeit, Ulla! Um ½5 wollte der Ingenieur Haberton mit seinem Koffer kommen. Geben Sie nur das Tablett mit dem Kaffee für den ulkigen, den Wiener her. Ich stell’ es ihm ins Zimmer. Er muß ja gleich mit dem Bad fertig sein.“ –

Der ulkige Wiener nannte sich hier Josef Greiner und stand zur Zeit auf dem Rande der gefüllten Wanne in ein Badelaken gehüllt hoch ausgereckt da und lauschte in die Ventilationsklappe hinein, die vom Badezimmer nach der Küche durch die Mauer sich hindurchzog.

Als es für Herrn Greiner nichts mehr zu spionieren gab, beendete er seine Toilette, ließ das Wasser aus der Wanne ablaufen und – rieb sich zufrieden lächelnd die Hände. Dann nahm er aus einem mitgebrachten Holzkästchen allerlei seltsame Dinge heraus, stellte sich vor den Spiegel und begann sein bartloses Gesicht mit der Geschicklichkeit eines routinierten Schauspielers zu verändern.

Als er aus der Wanne gestiegen, hatte er lediglich Ähnlichkeit mit mir selbst gehabt, mit Max Schraut, dem Freunde und Privatsekretär des einigermaßen bekannten Liebhaberdetektivs Harald Harst. –

Mein Zimmer bei Frau Torstensen – ich war mittags eingezogen – lag neben dem Balkonzimmer, war nur einfenstrig und besaß eine Verbindungstür nach rechts hin, die durch den Kleiderschrank verstellt war. Wenn ich mein Fenster öffnete, mich hinauslehnte und nach rechts griff, konnte ich bequem das Balkongitter erfassen. Wir hatten das alles genau berechnet, bevor wir bei Frau Torstensen mieteten, – wir, denn Ingenieur Percy Haberton war ja kein anderer als Harald Harst, dem sehr viel daran lag, gerade des geheimnisvollen Busley Zimmer zu erhalten, in dem dieser zehn Tage gewohnt und dann am elften Tage morgens an Schlagfluß gestorben war. Ein Arzt hatte Schlagfluß festgestellt. Dann suchte man in London Bekannte oder Verwandte des Verstorbenen zu ermitteln. Man fand niemand, der für den Kaufmann Busley Interesse hatte. Nur die Kopenhagener Polizei und wir gedachten uns mit diesem Manne noch näher zu beschäftigen. Aber – jeder für sich. Für die hiesige Polizei waren wir bereits nach Deutschland abgereist.

Ich trank jetzt an meinem Sofatisch Kaffee und studierte dabei ein paar deutsche Zeitungen, die ich mir heute gekauft hatte. Als „Wiener“ durfte ich ohne Verdacht zu erregen deutsche Blätter lesen.

Ich lauschte sehr oft nach dem Flur hin. Harst-Haberton mußte ja nun jeden Augenblick hier seinen Einzug halten. Aber – es wurde fünf, es wurde halb sieben, – er erschien nicht. Da kam die Unruhe und Angst über mich, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Ich trat ans Fenster, öffnete es und schaute auf die stille Olfersgade hinab.

Frau Torstensen bewohnte den ganzen ersten Stock des alten Hauses. Gegenüber im Erdgeschoß befanden sich in einem neuen, modernen Mietspalast ein Blumenladen und eine Fleischerei. – Meine Blicke wanderten von dem Blütenschmuck des großen Schaufensters, der in diese triste Herbststimmung so gar nicht hineinpaßte, ohne besondere Absicht höher. Meine Augen entzifferten ein an der Balustrade einer Loggia angebrachtes, sehr langes und auffallendes Schild: „Fremdenheim 1. Ranges Tilda Olafsen“; gewahrten an den Fenstern rechts davon die dunkle Gestalt eines Menschen; ob Mann oder Weib, war nicht zu erkennen, denn das Zimmer war nicht beleuchtet.

Gleichgültig wollten meine Blicke wieder auf die Straße hinabspähen.

Da – wurde in unserem Hause im zweiten Stock gerade über mir im Zimmer bei unverschlossenen Vorhängen offenbar eine elektrische Krone mit mehreren Flammen eingeschaltet. Das wirkte wie ein Scheinwerfer. Die Lichtflut traf das Schild des Fremdenheims 1. Ranges, traf auch die Fenster neben der Loggia.

Einen Moment nur gewahrte ich so die Gestalt drüben deutlicher. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der meinen Augen gestattete, das seltsame Geschöpf genauer zu mustern. Dann fielen drüben die Vorhänge übereinander.

Ich sage: ein seltsames Geschöpf! – Besser kann ich diesen Gesamteindruck nicht bezeichnen. – Aus einem unförmigen, dunklen Leibe wuchs ohne Halsansatz ein ungeheurer Kopf hervor, dessen Schädel absolut kahl gewesen sein mußte, denn ich hatte ja ein mattes Glänzen bemerkt, wie es schweißigen Kahlköpfen im Lampenlicht eigen. Aber – es war doch wieder nicht das Glänzen einer menschlichen, haarlosen „Billardkugel“ gewesen. Nein – wenn’s ein Mensch überhaupt gewesen, dann mußte es sich um einen Farbigen, einen Neger oder vielleicht einen Vertreter eines ganz dunkelhäutigen Volkes gehandelt haben. – Von dem Gesicht selbst war in mir nur die unklare Erinnerung zurückgeblieben, daß dem Geschöpf die Ohren gefehlt hatten und daß auch kaum eine Nase vorhanden gewesen sein konnte. Nur etwas wie einen wahrhaft riesigen, aufgerissenen Mund glaubte ich erkannt zu haben.

Über mir war die Krone längst wieder ausgedreht worden. Ich selbst stand gleichfalls im dunklen Zimmer am Fenster und starrte daher mit Ausdauer hinüber auf jene Vorhänge, hinter denen das merkwürdige Wesen verschwunden war. Ich konnte von dorther in dieser Dunkelheit nur schwer bemerkt werden, wenn ich mich nicht gerade hinauslehnte, und deshalb blieb ich auch auf meinem Beobachtungsposten noch gut eine Viertelstunde, obwohl es drüben nichts mehr zu erspähen gab. Nur matt erleuchtet waren die gelben Vorhänge jetzt. Sonst – nichts! –

Ich kam mit meinen Gedanken von dem Rätselgeschöpf nicht mehr los! Selbst als ich dann mein Fenster geschlossen, den Vorhang vorgezogen und auf dem Schreibtisch die Lampe angedreht hatte, dachte ich abwechselnd an den noch immer nicht hier eingetroffenen Harst-Haberton und den Farbigen mit dem Kürbiskopf.

Wo steckte Harst nur? Sollte ihm wirklich etwas zugestoßen sein? – Oder – ob ich sein Kommen etwa überhört hatte? Es war jetzt ja ¼8.

Ich läutete nach der Bedienung. Frau Torstensen erschien selbst. Ich fragte, ob ich etwas zu essen erhalten könnte.

„Sehr gern,“ erklärte die freundliche Dame. „Sehr gern, Herr Greiner! Sie können ein Beefsteak mit Bratkartoffeln haben. Ihr Nachbar hat ebenfalls eins bestellt, der Herr Ingenieur Haberton. Oh – ein sehr netter Herr! Jetzt schläft er. Aber um ¾8 wünscht er das Abendbrot bereit. Wie wär’s also mit einem Beefsteak, Herr Greiner?“

„Gewiß, gewiß, – mir sehr lieb, Frau Torstensen.“ Ich war ganz verdutzt. Harst war also wirklich schon da.

„So – ein Herr Haberton ist also mein Nachbar,“ meinte ich dann. „Mittags, als ich mietete, war das Zimmer doch noch frei. Wann ist er denn eingezogen?“

„Oh – vor anderthalb Stunden etwa. Die Köchin scheuerte gerade die Treppe. Er sagte, er habe große Kopfschmerzen und wolle sich gleich niederlegen.“

Also Harst schon da! Er hatte an der Flurtür nicht zu läuten brauchen. So klärte sich das Rätsel. –

Im Hause wurde es gegen zehn sehr still. Ich hatte auch die übrigen vier „Möblierten“ der Majorin heimkehren hören. Von Harsts Zimmer her war wenig zu vernehmen gewesen. Die Verbindungstür war auf seiner Seite offenbar mit Stoff verkleidet.

Wir hatten, bevor wir uns in der verflossenen Nacht trennten, verabredet, daß Harst, falls wir wie beabsichtigt die beiden leeren Zimmer hier erhielten, gegen elf Uhr über den Balkon zu mir kommen solle.

Und er kam auch. Zehn Minuten vor elf öffnete ich das Fenster, nachdem ich das Licht im Zimmer ausgedreht hatte.

Er kam lautlos wie ein Einbrecher, flüsterte mir sofort beim ersten Händedruck zu: „Vorsicht, die Köchin ist die personifizierte Neugier. Sie hat verschiedentlich an meiner Stubentür gehorcht. – Wir müssen sofort einen kleinen Spaziergang unternehmen. Etwas ganz Harmloses, mein Alter. Die Sache ist in einer Stunde erledigt. Ich habe schon einen Strick mit eingeknoteten Handgriffen bereit, mit dessen Hilfe wir ganz bequem vom Balkon auf die Straße gelangen werden. Der Nebel draußen ist jetzt so dicht, daß man ihn auf Flaschen füllen kann. Sehr günstig für uns. Zieh’ Dir Deinen blauen Sweater über, dann brauchst Du keinen Mantel. Nimm auch eine weiche Reisemütze und Deinen Selbstknaller. Man kann ja nie wissen, was passiert!“

Im Dunkeln traf ich meine Vorbereitungen für den Ausflug, – Ausflug wohin wohl? Ich hatte keine Ahnung. Und – das war gut! Hätte ich’s gewußt, wäre ich vielleicht zum ersten Mal daheim geblieben und hätte Harst allein gehen lassen.

Harst saß derweilen in meiner Sofaecke und rauchte seine Zigarette. Ich sah von ihm lediglich das rote Pünktchen der glimmenden Zigarette, das sich hin und wieder bewegte.

Von der Straße drangen nur sehr selten das Rollen eines Wagens und matte Hufschläge herauf. Im Hause selbst regte sich nichts mehr.

Ich schob gerade die Arme durch die Sweaterärmel, als das rote Pünktchen plötzlich dicht vor mir war.

„Still!“ hauchte Harst. „Hörst Du –? Da entfernt jemand ganz leise die Sicherheitskette der Flurtür.“

Meine Stubentür lag dieser am nächsten.

„Ah – nun wird der Schlüssel umgedreht,“ flüsterte Harst weiter. „Du – da schleicht sich jemand zum Hause hinaus! Schon faul, dieses Bestreben, jedes Geräusch zu vermeiden! – Du – ich klettere voraus auf die Straße. Die Leine hängt so, daß Du noch zum Schluß ein Meter tief hinabspringen mußt. Wir treffen uns vor dem Thorwaldsen-Museum. Du wartest dort bis ich komme. Des Nebels wegen pfeife ich unser altes Signal. – Wiedersehen!“

Im Nu schwang er sich auf den Balkon hinüber. Dann verschluckte der braungelbe Nebel ihn.

Ich beeilte mich, meine Mütze überzuziehen und die Pistole aus dem Koffer zu nehmen. Kaum zwei Minuten nach Harst turnte ich gleichfalls an dem Seil abwärts. Als ich mit den Füßen das Ende des Seiles erreicht hatte, lauschte ich. Da nichts von Passanten zu hören war, glitt ich schnell weiter nach unten und sprang auf den Bürgersteig. Von der Leine war in diesem Nebel nichts zu sehen.

Ich lief auf die andere Straßenseite und pfiff möglichst laut die ersten Takte der Gralsarie[1] aus Lohengrin. Ich lauschte –; keine Antwort. Um mich her nur die häßlichen, gelblichen, feuchten Schwaden.

Nochmals pfiff ich; wartete eine Weile; sah dann ein, daß Harst längst vorausgeeilt sein müsse und schlug die Richtung nach dem Hauptbahnhof ein. Ich fand mich auch bis zum Museum durch; Menschen tauchten vor mir wie Gespenster auf, glitten in diesem Brodem wie Gespenster weiter.

Da – unser Pfiff! – Gleich darauf stand Harst vor mir.

„Verwünschtes Pech!“ knurrte er. „Der Mensch muß bereits aus der Haustür geschlüpft sein, bevor ich auf die Straße gelangte. Ich hörte auch noch das Rollen eines schnell sich entfernenden Wagens. Der Kerl ist vielleicht erwartet worden. Na – trösten wir uns. Jedenfalls wissen wir nun, daß einer der vier anderen möblierten Herren der Majorin ein Fragezeichen verdient. Das ist sehr viel wert. Ebenso viel wie das, was ich in Busleys Sterbezimmer fand. Du weißt ja: in den zehn Tagen, wo er bei der Torstensen wohnte, empfing er nur einen einzigen Brief. Das hat die Majorin und die neugierige Ulla vor Inspektor Barkeröd zu Protokoll gegeben. Den Brief habe ich gefunden. Das heißt: nur ein Stück des Umschlags. – Doch davon später. Beeilen wir uns. Ich möchte bald wieder daheim sein. Wir haben allerlei zu besprechen.“

Nun – es wurde ein harmloser Spaziergang über eine hohe Mauer, hinab in einen kleinen Hof, mittels Dietrich hinein in irgend ein großes Gebäude mit zementierten Flur, in dem Harsts Taschenlampe über Türen hinglitt, die ganz nach Bureautüren mit ihren Nummern und Papptafeln aussahen, – weiter hinab in ein Kellergeschoß, dessen schmiedeeiserne Tür Harsts Dietrich eine Weile trotzte, dann einen ähnlichen Flur entlang, dann ein neuer Aufenthalt vor einer breiten Tür, neben der ein zweirädriger Wagen stand, wie sie zum Leichentransport benutzt werden, – mit Zinkblech benagelt, anzusehen wie ein langer Koffer auf Rädern.

Beim Anblick dieses Karrens wurde mir unbehaglich.

„Harald, wo sind wir eigentlich?“ fragte ich unsicher.

„Nun – im Leichenschauhause von Kopenhagen!“

– – – – – – – –

Er hatte schon den Dietrich in das Schlüsselloch der großen Tür geschoben. Ich hörte ein Knacken. Und Harst legte die Hand auf den plumpen eisernen Drücker, wandte den Kopf und flüsterte:

„Inspektor Barkeröd hat heute nachmittag in aller Stille den Sarg Busleys ausgraben und hierher schaffen lassen. Deshalb kam ich auch so spät zur Majorin. Ich war nämlich auf dem Kirchhof, weil ich mir das Grab des Geheimnisvollen ansehen wollte. Ich vermutete, die Ausgrabung hätte bereits stattgefunden. Daß Barkeröd sie vornehmen würde, war ja selbstverständlich. Ich hatte Glück: als ich den Kirchhof verließ, kamen die Arbeiter mit den Schippen. Natürlich wollte ich feststellen, was sie vorhätten. – Und jetzt werden wir uns ebenfalls mal den Toten ansehen, – ohne Barkeröds Erlaubnis, der ja froh war, als wir angeblich nach Gjester abdampften und weiter kein Interesse für Busley zeigten.“

Er öffnete die Tür. Der scharfe Geruch von irgend einem chemischen Präparat schlug uns entgegen. Harst drückte die Tür sacht ins Schloß, führte den Dietrich wieder ein und hatte den Riegel sehr bald vorgeschoben. Ich leuchtete ihm dabei.

Wir ließen die beiden Lichtkegel unserer Lampen umhergleiten. Es war ein gut 8 Meter langer und 5 Meter breiter, gewölbter Raum. Sechs zinkbeschlagene, schmale Tische standen in der Mitte nebeneinander. Drei davon waren belegt: stille Schläfer ruhten dort; zwei Männer und ein Weib mit aufgelöstem, hellblondem Haar; Leichen, mit denen die Polizei sich zu beschäftigen Grund hatte.

In der Ecke links war auf zwei Holzblöcke ein erdbeschmutzter Sarg gestellt. Der Deckel lag nur lose auf.

Harst winkte mir. Wir faßten an. Nun konnten wir in den Sarg hineinschauen.

„Ah!“ rief Harst unwillkürlich. „Das hätte ich nicht erwartet!“

Auf Hobelspänen lag da ein grober Leinensack der halb aufgeschnitten war und die Mauersteine sehen ließ, mit denen er gefüllt war.

Ich wollte den Deckel wieder in die Lage zurückbringen.

„Nein!“ wehrte Harst ab. „Dort auf den Boden mit ihm! Leise! – Ich möchte mir auch diese Leichenattrappe anschaun.“

Er tat’s mit jener Gründlichkeit, die ihm stets eigen.

Ich stand voller Ungeduld dabei. Weshalb er nun den groben Sack so eingehend sich ansah und sogar samt den Steinen anhob, begriff ich nicht recht.

Er ließ die schwere Leichenattrappe wieder zurücksinken. Die Hobelspäne knisterten. Das Geräusch machte mich nervös.

„Beeile Dich doch!“ meinte ich. „Hier ist’s wirklich nicht gemütlich genug, um –“

Ich verstummte. Gleichzeitig waren wir beide herumgeschnellt. Ein Geräusch von der Tür her hatte uns gewarnt. Unsere Lampen erloschen sofort. Regungslos lauschten wir. Nun – ein heller weißer Strahl schoß auf uns zu, – verschwand wieder. Abermals ein Ton, wie das vorsichtige Senken eines Türdrückers.

Mit langen Sätzen schnellte Harst sich plötzlich vorwärts. Seine Taschenlampe flammte auf. Ich auf Fußspitzen hinter ihm drein.

Er hatte schon den Dietrich in der Hand, führte ihn ins Schlüsselloch ein.

„Verdammt!“ murmelte er. „Da hat jemand von der anderen Seite einen Schlüssel ins Schloß gesteckt. Wir sind gefangen. – Na – Inspektor Barkeröd wird nun ja sehr bald wissen, daß wir nicht abgereist sind. – Schade! Ich hätte lieber ohne ihn weitergearbeitet an diesem neuen Fall. Hier – ist ein Sack mit Steinen beerdigt worden. Das deutet doch fraglos auf eine sehr große „Sache“ hin!“

„Du glaubst also, es war der Hausmeister, der uns hier einsperrte?“

„Gewiß. Er wird uns trotz unserer Lautlosigkeit gehört haben, vermutet Diebe in uns, wird die Polizei anrufen. Hinaus können wir nicht. Da die kleinen Fenster sind stark vergittert. Diese Tür aber ist aus Eichenholz. – Setzen wir uns dort auf die Stühle neben den großen Seziertisch. Was sollen wir anderes tun? Ich habe noch sechs Mirakulum bei mir, für Dich zwei, für mich vier. Was meine Spezialzigarette anbetrifft, so bin ich schamloser Egoist. – Komm’ nur. Es kann eine halbe Stunde dauern, bevor die Offiziellen hier sind.“

In einem Leichenkeller eine halbe Stunde sitzen und Zigaretten rauchen –! – Aber – was sollte ich anderes machen als Harsts Beispiel folgen. Ich setzte mich neben ihn. Er hielt mir sein Reiseetui hin, eine dunkle Buchsbaumschachtel. „Bediene Dich bitte. Schalte aber Deine Lampe aus. Die eine genügt.“

Als er mir das brennende Zündholz reichte, als mein scheuer Blick gerade da den Kahlkopf der einen der beiden männlichen Leichen traf, – da erst fiel mir das Rätselwesen am Fenster des Fremdenheims ein.

„Ich habe heute abend gegen ¾7 Uhr etwas Merkwürdiges beobachtet,“ begann ich flüsternd. „Ich weiß nicht, ob es Dich interessieren wird.“

„Nur zu!“ meinte Harald und schlug ein Bein über das andere. „Was war’s denn? Beobachtet? Dann kann’s nur etwas auf der Straße vor unserem Hause oder am Hause gegenüber gewesen sein.“

Ich berichtete. Aber ich faßte mich kurz.

Harst beugte sich plötzlich vor. Seine Haltung bewies eine gewisse Spannung, ebenso seine Worte:

„Erzähle nochmals, aber ganz eingehend. – Also einen blanken Kahlkopf hatte das Geschöpf? Und – was war’s mit dem großen Maul dieses angeblichen Niggers?“

Er horchte auf, als ich von den fehlenden Ohren und der fehlenden Nase sprach, fragte hastig:

„Und der Leib? Der Körper? Besinne Dich! Wie war das Wesen bekleidet? – Schließe mal die Augen, rufe Dir das Bild wieder ins Gedächtnis zurück! – Sahst Du irgend etwas, das –“

„Ja, – jetzt fällt mir ein: das Geschöpf trug vielleicht einen farbigen Umlegekragen. Aber – einen sehr großen. Weiß war dieser Kragen auf keinen Fall! Nein – sogar dunkel. Er schimmerte so matt wie vielleicht Gummiwäsche.“

„Und – der Hals war auffallend kurz?“ forschte Harst weiter.

„Ja. Falls überhaupt von einem Halse die Rede sein kann. Der Kopf steckte auf dem Leibe, als ob man einen Kürbis direkt auf einen Rumpf setzt.“

„Und – die Arme?“

„Davon bemerkte ich nichts. Der Gesamteindruck war jedoch der einer menschlichen Gestalt. Das bleibt bestehen!“

Harst lehnte sich wieder zurück, rauchte schweigend wohl fünf Minuten lang, rauchte wie einer, der mit den Gedanken weit weg ist und die Zigarette nur mechanisch zum Munde führt.

Dann beugte er sich wieder vor, legte mir die Hand auf das Knie.

„Du ahnst nicht,“ sagte er langsam, „wie ungeheuer wichtig dieses Rätselwesen für unsere jetzige Arbeit ist, lieber Alter! Wie ein Blitz kam mir soeben die Erleuchtung. Ich weiß, welcher Art dieses Geschöpf war! Ich weiß, weshalb es Dir „als Rätselwesen“ vorkam bei dem flüchtigen Eindruck. Nur – die Hauptsache weiß ich nicht: wozu man dieses Geschöpf benutzen will, zu dem sowohl der Briefumschlag, den ich in meinem Balkonzimmer fand, als auch der Leinwandsack dort im Sarge in Beziehung stehen!“

Er verschränkte nun die Arme über der Brust. Ich hatte keine Zeit, über das soeben Gehörte nachzudenken, denn er fragte schon wieder:

„Bei Dir im Zimmer lagen Zeitungen auf dem Tisch. Ich fühlte das. Hast Du Dir die neuesten Blätter gekauft? Stand darin irgend etwas Besonderes? Ich meine irgend etwas, das irgendwie in unser Fach schlägt?“

„Nein – nichts! Ein neuer Raubmord in Berlin; den Täter hat man schon dingfest. Ein paar Diebstähle und Hochstaplerstückchen. Nichts von Bedeutung – alles Alltagsware.“

„Hm – das soll man nicht so ohne weiteres behaupten. Vieles schaut alltäglich aus und kann doch wie ein Leckerbissen sein. – Nun – wir werden morgen jedenfalls die Zeitungen der letzten vier Wochen etwa uns besorgen und darin nach Seeunfällen suchen. Ich interessiere mich augenblicklich sehr für Schiffsuntergänge, Strandungen und ähnliches. Dieses Interesse kann zwecklos sein. Aber – es ist jedenfalls da!“

„Und woher dieses Interesse, wenn ich fragen darf und Du ausnahmsweise in mitteilsamer Stimmung bist?“

„Lieber Alter – Du hast Pech! Ich bin nicht in mitteilsamer Stimmung. Ich frage mich augenblicklich, wie es kommen mag, daß die Polizei uns noch immer nicht am Kragen hat.“

Er zog seine Uhr. „Wir sitzen hier nun bereits 33½ Minuten. Verstreichen noch fünfzehn Minuten, ohne daß die „Offiziellen“ erscheinen, so bekenne ich, daß ich mich geirrt habe, daß der Kerl schlauer war als wir und wir selbst uns einen Trumpf in unserem Spiel verdorben haben. – Also noch fünfzehn Minuten. – Bitte, hier ist Deine zweite Zigarette. Ich nehme die dritte.“

Er blies einige gut gelungene Rauchringe.

„Würdest Du mir vielleicht erklären, was –“

„– diese letzten Sätze bedeuten?“ vollendete er ganz richtig. „Gewiß will ich das. Nach fünfzehn Minuten. Wenn sie um sind, wird noch mehr geschehen: wir werden dann versuchen, aus diesem Gewölbe gewaltsam ins Freie zu gelangen. Es wäre vielleicht richtiger, Lärm zu schlagen, damit wir noch rechtzeitig heimkommen.“

„Rechtzeitig heimkommen?“ meinte ich. „Es ist geradezu –“

„– empörend von Dir, daß Du nie sofort mit dem Ganzen herausrückst, sondern nur mit Teilen! – Das wolltest Du doch wohl sagen, mein Alter! – Ja – würde ich nicht Deine Denkbequemlichkeit in für Dich sehr nachteiliger Weise unterstützen, wenn ich stets meine Weisheit restlos sogleich zum besten gäbe? – Diese Andeutung „rechtzeitig heimkommen“ hängt mit dem „Kerl“ und dem verdorbenen Trumpf zusammen. Na – wird’s nun hell bei Dir?“

Ich schwieg. Harsts offenbar glänzende Laune in dieser schauerlichen Umgebung störte mich – mild ausgedrückt.

Und er – schwieg nun auch.

Ringsum Totenstille. Hier paßte dieser Ausdruck. Dort rechts lagen die stillen Schläfer, die irgend ein trauriges Schicksal betroffen hatte. Vielleicht waren’s die Opfer von Verbrechen; vielleicht Selbstmörder.

Harst machte eine Bewegung. Ich schaute hin. Er hatte seine Uhr in der Hand.

„Die Viertelstunde ist um, lieber Schraut. Ich habe mich also geirrt. Es war nicht der Hauswart dieses Gebäudes, der uns hier eingesperrt hat. – Wer aber war’s? Nun?“

Ich trat den glimmenden Zigarettenstummel mit dem Fuße aus.

„Du!“ rief Harst leise. „Sofort hebe den Rest Zigarette wieder auf und steck’ ihn zu Dir. Inspektor Barkeröd würde aus diesem Zigarettenstumpf unschwer feststellen, daß wir hier gewesen sind. Meine Mirakulum hast Du ja durch Deine Veröffentlichung unserer kleinen Abenteuer zu einer nur zu bekannten Marke gemacht! – Also – wer sperrte uns hier ein? – Du zuckst die Achseln. Lieber Alter – die Sache ist doch so leicht zusammenzustellen und ergibt ein Bild, das als logisches Denkgemälde auf den „Kerl“ hinweist, der vorhin so leise die Wohnung der Majorin verließ.“

Ah – jetzt wurde es wirklich hell in mir.

„Der Mensch hat Dich bemerkt, als Du an der Leine –“

„– oder Dich!“ fiel Harst ein. „Wen von uns beiden, ist gleichgültig. – Er folgte uns. Und daraus, daß er uns hier einschloß oder besser daß er von der anderen Seite irgend einen Schlüssel so ins Schloß steckte, daß unser Dietrich außer Gefecht gesetzt wurde, – daraus geht hervor, wie recht ich hatte, als ich behauptete, dieser Möblierte der Majorin verdiene ein Fragezeichen. Der Mensch hat eben sofort richtig durchschaut, daß wir Spione sind, hat uns, wozu ihn sein eigenes schlechtes Gewissen trieb, hier festgehalten, weiß nun, daß es für ihn höchste Zeit ist, das gastliche Heim der Torstensen zu verlassen – das ist der verdorbene Trumpf, lieber Schraut! – wird jetzt seine Koffer packen und heimlich verduften. Wir aber werden nicht mehr rechtzeitig heimkommen, seinen Abzug zu verhindern. – So – das ist das logische Gemälde.“

Ich streckte ihm die Hand hin.

„Glänzend Harald! Meine neidlose Anerkennung!“

„Oh – glänzend war der Kürbiskopf des Rätselwesens, nicht diese schlichte Schlußfolgerung!“ meinte er und stand auf. „Sehen wir uns nach Werkzeugen zum Ausbrechen um.“

Wir fanden in einem Schranke so manches, was einem Harst genügte, eines der Fenstergitter zu lockern und hochzubiegen. Diese Arbeit beanspruchte anderthalb Stunden, da Harst darauf Gewicht legte, daß wir allzu auffällige Spuren unseres Ausbruchs vermieden.

Es schlug von zwei nahen Kirchtürmen 3 Uhr morgens, als wir in die Olfersgade einbogen. Der Nebel war noch dichter geworden.

Harst kletterte dann vor unserem Hause auf meine Schultern, um nach der Leine zu suchen.

„Ah – ich hab’ sie!“ meldete er leise. „Warte – ich versuche erst, ob der Kerl uns nicht einen Streich gespielt hat. Ich werde mit einem Ruck von Deinen Schultern abspringen. Hält die Leine diese Probebelastung aus, dann –“

Da sprang er schon – und sprang vor mir auf den Bürgersteig, während das oben abgerissene Ende der Leine mir auf den Kopf fiel.

„Siehst Du, mein Alter!“ lachte Harst leise. „Der Schuft hat wenigstens einem von uns zu einem Beinbruch oder einer Rückgratverstauchung, wenn nicht zu einem Genickbruch verhelfen wollen. Er wird am Balkongeländer die Schlinge halb durchschnitten haben. – Was hältst Du nun von diesem Menschen?“

„Einer von James Palperlons internationaler Verbrecherbande!“

„Oder – er selbst!“ nickte Harst.

– – – – – – – –

Wir gelangten dann auf dem Wege, den die sogenannten ehrlichen, sittsamen Leute nehmen, – durch die Haustür, über die Treppe und durch die Flurtür in die Wohnung der Torstensen. Harst hatte sich abends von der Majorin die Schlüssel geben lassen.

Die Sicherheitskette der Flurtür war zum Glück noch losgehakt. Als Harst dies gemerkt hatte, war ein sehr gedehntes „Hm, hm!“ über seine Lippen gekommen.

Mit den Stiefeln in der Hand standen wir nun im Dunkeln vor meiner Zimmertür. Da erst fiel mir ein, daß ich meine Stubentür ja von innen verschlossen und verriegelt hatte. Und daß Harst dies bei seinem Balkonzimmer ebenfalls getan, unterlag wohl keinem Zweifel. Als ich ihn hierauf aufmerksam machte, raunte er mir zu:

„Oh – daran habe ich schon gedacht! Ich wollte auch gar nicht in unsere Zimmer. Ich wollte in das des Fragwürdigen! Du verstehst! Des Ausgekniffenen. – Er ist ganz sicher schon entflohen. Beweis: der durchschnittene Strick und die nicht vorgelegte Sicherheitskette! Übrigens: eine unserer Türen muß nur verschlossen, nicht auch verriegelt sein. Denn der Mann hat ja fraglos, um auf den Balkon zu gelangen, bei seiner Heimkehr die Leine benutzt, ist dann bei uns eingestiegen, wird sich unser Gepäck schnell angesehen haben und dann durch eine unserer Türen in sein Zimmer gegangen sein.“

„Allerdings!“ gab ich Harst leise recht. „Das wird wohl so gewesen sein.“

„Komm’ nun. Sehen wir uns als Revanche auch sein Zimmer an!“

Der lange gerade Flur mit den vielen Türen war uns beiden unbekanntes Terrain. Wir wußten nicht, wo die einzelnen Mieter der Torstensen ihre Zimmer hatten, wußten aber auch nichts von deren Namen. Es war mir unklar, wie Harst hier also die richtige Tür herausfinden wollte.

Er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet und seine Stiefel vor seine Tür gesetzt. Ich folgte schnell seinem Beispiel und stellte auch meine Schnürschuhe hin. Dann schlichen wir langsam weiter, Schritt für Schritt. Vor der vierten Tür linker Hand machte Harst Halt.

„Hier muß es sein!“ – Er deutete auf das Schloß. Der Schlüssel steckte von außen. Hier standen auch keinerlei Schuhe auf der Schwelle und hingen keine Kleider zum Ausbürsten.

Harst ließ den Lichtkegel weiter über die anderen Türen gleiten, flüsterte: „An dreien sind Visitenkarten befestigt. Hier nicht. Und – der Hauptbeweis: da unten am Schwellenrand klebt ein Klümpchen Straßenschmutz, der noch feucht schimmert! Bück Dich nur! Dann siehst Du’s schon. Dieses Zimmer ist also vor kurzem von jemand betreten worden, der von der nebelfeuchten Straße kam und an dessen Schuhabsatz Schmutz festgebackt war.“

Er legte die Hand auf den Schloßgriff. Millimeterweise drückte er ihn hinunter – ohne jedes Geräusch.

Die Tür ging auf. Harst schlüpfte hinein. Ich folgte. Die Tür verriegelte er, drehte dann das elektrische Licht an.

Es war das landläufige besser möblierte Zimmer wie die unsrigen. Das Bett war aufgedeckt, aber nicht benutzt. Nirgends war ein Koffer oder dergleichen zu bemerken.

Am Fensterpfeiler stand ein kleiner Diplomatenschreibtisch. Harst hob den Arm, zeigte auf die Tischplatte. Dort lagen ein Brief und ein Schlüssel.

Wir beugten uns gleichzeitig über den Tisch.

Herrn Ingenieur Percy Haberton,

hier,

bei Frau Torstensen

lasen wir die Inschrift des Umschlags, die mit lateinischen Buchstaben hingemalt war.

Harst schnitt den Umschlag hastig auf, zog den Bogen heraus und las vor:

„Harald Harst! Sie werden, sobald Sie das Leichenschauhaus verlassen haben, diesen Brief finden. Ihr Benehmen auf der Straße kurz nach ¼12 Uhr verriet, daß Sie mir auflauerten. Ich habe den Spieß umgedreht und bin Ihnen gefolgt. – Ich habe alle Ursache, zunächst das Feld hier zu räumen. Ich verschwinde. Der Schlüssel ist der Ihrer Stubentür. – Ich habe Ihre und Schrauts Koffer durchwühlt. Schminkkasten, Perücken und so vielgestaltige Garderobe führen nur Harst und Schraut mit sich. – Die harmlose, aber neugierige Köchin Ulla berichtete mir von den beiden Herren, die heute hier eingezogen waren. Da schon war ich argwöhnisch. Nun – jedenfalls: ich verschwinde! Sie können sich nun getrost den Kopf zerbrechen, wo der tote Busley geblieben ist, weshalb er starb und weshalb dann doch nur der Sack mit den Steinen im Sarge lag. Ich traue Ihnen einigen Spürsinn zu, gewiß! Daß Sie aber diesmal nicht herausbekommen, zu welchem Streich Busleys Tod den Auftakt bildete, weiß ich so genau, daß ich mir gestatte, Ihrem Genie durch die Andeutung nachzuhelfen: Es gibt auf diesem Erdenrund ein Schmuckstück, das für die weiblichen Mitglieder einer Adelsfamilie bisher ein Talisman des Glücks war! – Jetzt hat der Talisman, der einen Wert von zwei Millionen haben dürfte, versagt! –

So – und nun suchen Sie mich und den Talisman. Oder besser – lassen Sie es bleiben. Meine Geduld ist erschöpft. So sehr ich in Ihnen auch die hochentwickelte Intelligenz verehre: ich schone Sie nicht mehr! Fallen Sie mir je wieder in die Hände, so gewähre ich Ihnen nur noch zehn Minuten Frist. Und dann –

Beachten Sie also meine Warnung von Indien her: Hüte Dich! Ich bin stets um Dich!

James Palperlon.“

Harst schob den Brief in die Tasche.

„Palperlon, Du bist ein Esel!“ sagte er dabei sehr gleichmütig. „Ich hätte auch ohne diese Andeutungen herausgefunden, wozu Du das seltsame Geschöpf brauchst, das da drüben am Fenster gestanden hat. Jetzt – wird es schneller gehen.“

Er nahm den Schlüssel vom Tisch. Dann begaben wir uns in sein Zimmer hinüber.

Harsts Koffer lag auf dem rotlackierten Koffergestell neben dem Ofen. Nichts deutete darauf hin, daß er von unbefugter Hand durchsucht war.

Mir fiel auf, daß Harst ihn so überaus vorsichtig öffnete.

„Ich habe ein gutes Gedächtnis,“ meinte er. „Denk’ mal zurück an den Tresor im Universum-Klub. Damals befand sich neben der Leiche eine Giftschlange mit in dem untersten Tresorschrank. Es hätte an jenem Tage nicht viel gefehlt, und die Herren Verbrecher hätten abends einen Kommers[2] zu Ehren des Todes Harald Harsts feiern können. – Wer kann wissen, ob Palperlon meinen Koffer nicht in ähnlicher Weise zum Wunderknäuel hergerichtet hat, aus dem sich reizende Geschenke in Gestalt von Vipern und ähnlichem herausschälen.“

Er kippte den Koffer um und verstreute den Inhalt über den Teppich.

„Ich rate Dir, bei Dir genau dasselbe zu tun,“ sagte er, hob einen Schuh auf und schüttelte ihn. „Hm – in diesem Stiefel zum Beispiel befindet sich irgend ein Gegenstand der nicht hineingehört.“

Er schlug kräftig auf die Sohle, schüttelte nochmals.

Und – da fiel ein Etwas heraus, das wie ein Stechapfel aussah, – eine matt schillernde Aluminiumkugel mit nach allen Seiten starrenden, haarscharfen Spitzen.

„Da haben wir’s!“ rief er leise. „Natürlich vergiftet! Hätte ich den Stiefel ahnungslos angezogen, dann –! Nun – diesmal ist’s vorbeigeglückt, Master Palperlon! Das kleine Mordinstrument aber werde ich mir sorgfältig aufheben!“

Harst suchte weiter, fand aber nichts Verdächtiges mehr. Dann packte er den Koffer wieder, legte auch alles hinein, was er bereits in die Schublade des Waschtisches gelegt hatte.

„Wir werden nämlich sofort Frau Torstensens Heim verlassen,“ erklärte er. „Wir haben hier nichts mehr zu tun. Ich weiß jetzt, was Palperlon plant. Wenigstens in der Hauptsache weiß ich’s. Es ist besser, wir verschwinden und beziehen ein anderes Quartier. Beeile Dich, Schraut. Geh hinüber, pack Deine Sachen und halte Dich zu sofortigem Aufbruch bereit. Ich werde ein Auto besorgen. Die Majorin haben wir vorausbezahlt. Mag sie das Geld behalten. Für die Köchin legen wir ein Trinkgeld hin.“

„Du willst wirklich gleich fort?“ fragte ich erstaunt. „Interessiert es Dich denn gar nicht, in welcher Maske und unter welchem Namen –“

„– Palperlon hier wohnte? – Nein, das ist mir gleichgültig. Oder besser: sein Spiel hier ist aufgedeckt! Sein Doppelspiel als – Busley und der Andere! – Doch nun vorwärts, mein Alter! – Warte – ich bin doch der gewandtere. Ich werde über den Balkon in Dein Zimmer klettern und Deine Tür aufschließen.“ –

Es war fünf Uhr morgens, als uns ein Auto zunächst nach dem Hauptbahnhof brachte. Hier betraten wir den Wartesaal, verließen ihn aber sogleich wieder durch die gegenüberliegende Tür und fanden ein zweites Auto, mit dem wir nach dem bekannten, am Öre-Sund gelegenen Bade Klampenborg hinausfuhren. Dieses ist von Kopenhagen 10 Kilometer etwa entfernt, hat aber sehr günstige Eisenbahnverbindung dorthin. Wir mieteten uns als Maler in einem abseits gelegenen Fischerhäuschen ein. Um 9 Uhr vormittags fuhr Harst schon wieder nach Kopenhagen. Ich aber legte mich auf den Diwan und wollte die versäumte Nachtruhe nachholen.

Harst hatte mir ein eng zusammengefaltetes Stück eines grauen Briefumschlags dagelassen. „Sieh Dir das Ding mal an!“ hatte er gesagt. „Ich fand es auf dem Bücherbrett des Balkonzimmers in einem Spezialwerk über die dänischen Inseln als Lesezeichen an der Stelle, wo der Aufsatz über die Insel Saltholm beginnt. Inspektor Barkeröd hat diesen Fidibus sehr wahrscheinlich auch in der Hand gehabt. Bitte – beweise, daß Du schlauer bist als er.“

Nun lag ich auf dem Diwan halb aufgestützt, hatte den quer durchgerissenen, halben Briefumschlag in der Hand und besichtigte ihn mit Polizeiaugen.

Das Stück hatte Dreieckgestalt. Oben links war ein blauer Firmenstempel. Davon war noch folgendes vorhanden:

Jörn Hol
       Tau
Christi
 Anerk
  erste

Die rechte Hälfte des Stempels also fehlte. – Die Ergänzung des Fehlenden erschien mir sehr einfach. Jörn Hol war der Anfang eines Namens. – Tau konnte nur der Anfang eines Straßennamens sein. – Christi – da hatte man die Auswahl zwischen Christiania und vielen anderen Orten, die so anfingen – Anerk – natürlich Anerkennungen, erste gleich erster Firmen. –

Dann die Aufschrift auf der Umschlagshälfte:

Herrn

Mc              

Kope                     

bei Frau Ma               

Nun – das konnte ergänzt nur heißen:

Herrn

Macdonald Busley

Kopenhagen, Olfersgade 81

bei Frau Major Torstensen.

Weiter konnte ich an dem Lesezeichen beim besten Willen nichts entdecken.

Ich steckte es daher in die Brusttasche, legte mich bequemer und schlief ein und erwachte erst gegen ein Uhr mittags.

Harst war noch nicht da. Unsere Wirtin briet mir eine delikate Seezunge, wozu es Brombeerkompott gab. Nach dem Essen schlenderte ich durch die Straßen des wunderhübsch gelegenen und durch seine Sauberkeit angenehm auffallenden Badeortes.

Den rechten Genuß von diesem Spaziergang hatte ich jedoch nicht. Meine Gedanken klebten förmlich an jenen Sätzen in Palperlons Brief, wo er von dem Talisman des Glücks für die weiblichen Mitglieder einer Adelsfamilie sprach, – von diesem Talisman, der jetzt – versagt hatte!

Versagt! – Was hieß das? Hatte Palperlon etwa die Besitzerin ermordet und den Zwei-Millionen-Schmuck gestohlen?

Ich grübelte und grübelte. Fand mich plötzlich – so sehr war ich in Gedanken versunken gewesen! – auf dem Anlegesteg des kleinen Bootshafens von Klampenborg stehen, wußte kaum, wie ich hierher geraten war und beobachtete nun, wie eine große, elegante Privatjacht am Bollwerk festmachte.

Neben mir lehnten ein paar verwitterte Fischer mit dunklen, faltigen Gesichtern und machten ihre Bemerkungen über die Manöver des schneeweißen Seglers, auf dessen Achterdeck auch zwei Damen sichtbar waren.

Dann schlug ein Name an mein Ohr. Einer der Fischer hatte ihn ausgesprochen: Lord Melville!

Lord Melville – Melville? – Wo – wo nur hatte ich doch unlängst diesen Namen gelesen? Wo nur? – Dunkel entsann ich mich, daß der Name irgendwie mit einem besonderen Ereignis in Verbindung gestanden hatte.

Ich kam nicht darauf. – Aber mein Interesse an der Jacht war doch reger geworden. Ich schritt das Bollwerk entlang, sah jetzt, daß die Jacht in Messingbuchstaben am Bug den Namen Shallow (Schwalbe) trug, sah, daß neben den beiden Damen ein langer, dürrer Herr stand, der Urtyp des vornehmen Engländers.

Langsam kehrte ich darauf nach unserem Fischerhäuschen zurück.

Harst kam mir schon entgegen. Ein Blick in sein Gesicht verriet mir, daß irgend etwas besonderes sich ereignet haben müßte. Ich kenne ja Haralds Züge so gut wie ein Buch, das man täglich liest.

Er streckte mir die Hand hin.

„Mein Alter, diese Fahrt nach Kopenhagen hat gute Früchte eingetragen! Die beste davon ist –“

Eine Kunstpause. Dann ganz leise und doch mit seltsam schwerer Betonung.

„– ist ein Name: Melville!“

Ich fuhr leicht zusammen.

„Melville – Melville –?!“ wiederholte ich. „Merkwürdig, daß gerade dieser Name Dir so wichtig dünkt, den ich vorhin im Bootshafen hörte.“

„Im Bootshafen –? – Erzähle!“ Er faßte mich unter und zog mich in die Laube des kleinen Gartens. Hier setzte er sich auf den plumpen Tisch, drückte mich vor sich auf die Bank und sagte:

„Los nun! Lange haben wir nicht Zeit! Wir werden sofort mit Göllpaarts Kutter in See gehen.“

Göllpaart hieß unser Wirt.

Wie Harst diesen letzten Satz so lebhaft und geradezu kampfesfroh aussprach, fiel mir seine Bemerkung ein, die er im Leichenkeller des Schauhauses gemacht hatte – über sein Interesse für Schiffsunfälle und Strandungen! Und jetzt – jetzt sollten wir in See gehen?! Dann – dann war eins gewiß: dieser Fall „Busley“ hing irgendwie mit einem Seeunfall zusammen!

Ich berichtete, wie es gekommen, daß ich auf die Jacht aufmerksam wurde und weshalb mir gerade der Name Melville Veranlassung gegeben hatte, in meinem Gedächtnis so ein wenig rückwärts zu blättern, ohne freilich die richtige Stelle zu finden.

„Glaubst Du, daß der Fischer den Namen Melville in Bezug auf die Jacht nannte?“ fragte Harst hastig und sprang auf die Füße.

„Ja. – Ich denke der Besitzer des schmucken Seglers wird ein Lord Melville sein.“

Harst schlug mich derb auf die Schulter.

„Alterchen, Du hast da etwas gefunden, was mir außerordentlich wichtig ist. – Komm’, wir wollen Lord Melville einen Besuch abstatten.“

– – – – – – – –

Es war ein milder, sonniger Novembertag damals. – Harst hatte es so eilig, daß wir einen halben Laufschritt anschlugen. Ich fragte ihn dann keuchend, was er denn eigentlich in Kopenhagen erreicht hätte, und er antwortete: „Geduld! Die Stunde der großen Eröffnungen ist da!“

Als wir am Rande des Bollwerks standen und einen der Jachtmatrosen fragten, ob Lord Melville der Besitzer der Shallow sei, nickte der Mann nur maulfaul.

„Ich möchte den Lord sprechen,“ sagte Harst nun in so energischem Ton, daß der Matrose uns eingehender musterte und darauf brummig erklärte, wir sollten ihm nur unsere Visitenkarten geben. Er würde zusehen, ob Seine Lordschaft uns empfangen wolle.

Harst riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb in deutscher Schrift darauf:

„Bitte um kurze Rücksprache. Es handelt sich um das Armband. H. H.“

Der Matrose verschwand mit dem Zettel in dem Treppenaufbau des Achterdecks.

Harst sagte leise zu mir: „Der Matrose ist Stockengländer und kann deutsche Schrift sicherlich nicht lesen.“

Zum ersten Mal während unserer Beschäftigung mit dem geheimnisvollen Macdonald Busley war jetzt „das Armband“ aufgetaucht. – Es war für mich nicht schwer, mir sofort zusammenzureimen, daß dieses Armband eben „der Talisman“ sein mußte.

Der Matrose erschien bereits wieder an Deck. Und hinter ihm her kam steif und würdig der dürre blonde Herr, den ich vorhin hier schon gesehen.

Er trat an die Reling, lüftete die blaue Sportmütze.

„Lord Archibald Melville,“ stellte er sich vor. „Mit wem habe ich die Ehre?“

Harst sprang vom Bollwerk auf das tadellos gescheuerte Deck, flüsterte dem Engländer seinen Namen zu.

Der Lord stutzte. Mißtrauen zeigte sich auf seinem Gesicht. Trotzdem forderte er uns jetzt auf, ihm in den Salon der Jacht zu folgen. – Hier machte er uns mit den beiden Damen bekannt, bat uns, Platz zu nehmen und fragte Harst dann, noch immer in sehr kühl-höflichem Ton:

„Würden Sie sich mir gegenüber vielleicht irgendwie ausweisen, Herr Harst? – Sie dürfen mir diese Vorsicht nicht verargen. Ich weile hier zu einem ganz besonderen Zweck, der geheim bleiben soll. Und –“

Harst hatte sich leicht verbeugt. „Ich könnte Ihnen ein behördlich gestempeltes und mit Photographie versehenes Papier darlegen, Mylord,“ sagte er gelassen. „Die Photographie hätte aber wenig Zweck. So, wie ich jetzt, sieht Harald Harst nicht aus. Ich trage eben eine Verkleidung. Wenn ich Ihnen erst mitgeteilt haben werde, was ich über das Armband weiß oder doch auf Grund meiner Ermittlungen zu wissen glaube, werden bei Ihnen alle Zweifel schwinden, ob ich wirklich Harst bin. Mein bester Ausweis ist die Aufdeckung der Absichten derjenigen Leute, die es auf den Familientalisman der Melvilles abgesehen haben.“

„Ah – Sie wissen also, daß ein solches Komplott besteht?“ rief der Lord jetzt erregt. „Das wäre dann ja endlich die erste Spur, die vielleicht –“

Harst hob leicht die Hand. „Mylord, ich habe wenig Zeit. Ich bin im Begriff, Klampenborg wieder zu verlassen. Ich will Ihnen möglichst kurz schildern, wie wir, mein Freund und ich, überhaupt darauf gekommen sind, daß das berühmte Melville-Armband der Kern einer Reihe von Vorfällen und von uns klargestellter Tatsachen ist, die in ihrer Gesamtheit erst heute ergaben, um was es sich eigentlich handelt. Ich nehme an, wir können hier nicht belauscht werden. Wir haben es nämlich mit einer Verbrecherbande zu tun, deren Oberhaupt nichts unmöglich ist, selbst das nicht, hier auf die Jacht einen Spion eingeschmuggelt zu haben.“

„Ausgeschlossen!“ erklärte der Lord. „Die ganze Besatzung steht seit vielen Jahren in meinen Diensten.“

„Nun gut. – Ich beginne also. – Wir, Schraut und ich, hatten hier dem Grafen Söderholm helfen wollen, den Entführern seiner Frau das Lösegeld wieder abzujagen. Sie haben vielleicht davon in den Zeitungen gelesen. Leider war uns nun ja der Mörder des alten Herrn Stripley, ein gewisser Macdonald Busley (wenigstens nannte er sich so) insofern entwischt, als –“

„Ja, ja, Herr Harst, – ich kenne die Sache. Der Mörder sollte dieser Busley sein. Busley aber war bereits vor Tagen gestorben und auch schon beerdigt worden. Es mußte also doch wohl ein anderer der Täter sein.“

„Ganz recht. So schien’s! – Eben dies wollten wir aufklären. Wir mieteten uns dort ein, wo Busley gewohnt hatte und verstorben war, – bei der Frau Major Torstensen. – Erledigen wir nun zunächst die Person dieses Busley. Der Mann kannte in Kopenhagen angeblich niemand. Seinem Sarge folgten nur die Majorin und deren Köchin. Und doch hatte die Köchin gehört, daß er nachts mit jemand in seinem Zimmer sich unterhalten hatte. Wer nachts einen Besucher heimlich empfängt, muß mit diesem auf sehr vertrautem Fuße stehen. Dennoch kümmerte sich dieser Vertraute um den toten Busley in keiner Weise. – Für mich war damit erwiesen: Busley hatte hier zum mindesten einen Bekannten. Und – weil dieser sich nicht gemeldet hatte, argwöhnte ich, Busley wäre vielleicht keines natürlichen Todes gestorben. Daß er eine dunkle Existenz war, stand ja außer Zweifel. Konnte er nicht von einem Genossen aus irgend einem Grunde unter Vortäuschung eines Schlagflusses beseitigt worden sein? – Die Möglichkeit lag vor. Deshalb wollte ich mir hierüber Gewißheit verschaffen. Wir taten’s, indem wir in den Leichenkeller des Kopenhagener Leichenschauhauses eindrangen.“

Die beiden Damen stießen leise Schreckensrufe aus.

„Mylady,“ wandte Harst sich an des Lords junge Gattin, „das was wir dort im Sarge fanden, war sehr harmlos: einen mit[3] Steinen gefüllten Sack! – Mithin war Busley überhaupt nicht tot. Der Schlagfluß war eine absichtlich herbeigeführte starrkrampfähnliche Betäubung gewesen. Und diesen wahrscheinlich durch ein mir recht gut bekanntes indisches Nervengift Betäubten haben entweder seine Genossen dann aus dem Sarge noch zur rechten Zeit herausgeholt oder – und dies nehme ich an – er stand ganz von selbst wieder auf und legte den Sack mit den Steinen in den Sarg.“

„Aber – aber derartiges ist doch unmöglich!“ warf der Lord hier ein.

„Unmöglich für einen Durchschnittsverbrecher! Eine Kleinigkeit für James Palperlon! – Ja, Mylord, – das haben die Zeitungen auf Veranlassung der Kopenhagener Polizei verschwiegen, daß ich in Busley meinen alten Feind Palperlon wiederzufinden gehofft hatte. Der Name Palperlon ist Ihnen bekannt, Mylord. Ein Verbrechergenie von Palperlons Qualität stirbt und wacht nach Belieben wieder auf. Wir haben ja ähnliches damals in Indien erlebt, in Madras. Mein Freund Schraut hat dieses Abenteuer unter dem Titel „Der Fakir von Nagpur“ unlängst veröffentlicht.

Dieser Busley lebte also noch. Und – wie lebte er! Er war uns nachgeschlichen, sperrte uns dort unten ein und floh dann aus der Wohnung der Majorin, bevor wir heimkehrten.“

Der Lord schüttelte den Kopf. „Einen Augenblick, Herr Harst. – Aus der Wohnung der Torstensen? – das verstehe ich nicht. War er denn etwa –“

„Ja – er war noch immer dort Mieter. Das klingt sehr widerspruchsvoll, ist aber sehr einfach. Er war nämlich bei der Majorin „möblierter Herr“ in doppelter Gestalt. Einer als Busley, dann als – ein Anderer, dessen Namen ich nicht weiß. Diese Doppelrolle konnte auch nur ein Palperlon auf sich nehmen. Er hat sie jedenfalls so tadellos durchgeführt, daß wir hierauf erst kamen, als er uns den Rückweg aus dem Leichenkeller versperrte, uns zu einem Genickbruch verhelfen wollte und uns schließlich auch einen Brief mit der Unterschrift – James Palperlon in seinem Zimmer zurückgelassen hatte! – Hier ist der Brief, Mylord. Bitte lesen Sie ihn. Sie ersehen daraus, wie sicher Palperlon seiner Sache war, daß ich nie und nimmermehr dahinter kommen könnte, weshalb er diese Doppelrolle bei der Majorin gegeben und was er fernerhin plante.

So, nun der nächste Punkt.

Ich hatte in Busleys Zimmer einen halben Briefumschlag gefunden, der an ihn adressiert gewesen. Links oben befand sich ein ebenfalls nur noch zur Hälfte vorhandener Firmenstempel. Ich deutete oder besser ergänzte diesen zunächst falsch, indem ich die Silbe „Tau“ für den Anfang eines Straßennamens hielt. Erst als ich dann in dem Leichenkeller den Leinensack im Sarge Busleys mir recht genau ansah, bemerkte ich daran eine ganz verwaschene Aufschrift und zwar:

J. H.
Tauc  r.

In dem Tauc  r fehlten Buchstaben. Sie waren nicht mehr zu entziffern. Da aber der Firmenstempel mit „Jörn Hol“ begonnen hatte, der Sack nun J. H. gezeichnet war, der Umschlag weiterhin im Firmenstempel ein „Tau“ enthielt, gab ich den Gedanken an einen Straßennamen auf und ergänzte das Tauc  r in „Taucher“, was auch mit der Lücke zwischen c und r stimmte.

Wenn ich nun dem halben Umschlag zuerst nur deshalb Wichtigkeit beigemessen hatte, weil ich diesen „Jörn Hol“ aus „Christi“ zu ermitteln und durch ihn zu erfahren hoffte, welche Geschäftsbeziehungen er zu Busley unterhalten hatte, so half mir jetzt mein Freund Schraut einen Schritt weiter, indem er mir mitteilte, er habe an einem Fenster auf der anderen Straßenseite ein Rätselgeschöpf gesehen, dessen dunkel glänzender, riesiger Kürbiskopf und übergroßer Mund ihm besonders aufgefallen seien. Aus seiner Beschreibung dieser merkwürdigen Gestalt hätte ich nun wohl nicht so schnell klug werden können, wenn ich nicht vorher sowohl das Tauc  r auf dem großen Leinensack als auch das „Tau“ des Stempels als „Taucher“ richtig erkannt hätte.

Kurz: das Rätselwesen war eben ein Mann in einem Taucheranzug mit dem kupfernen Taucherhelm auf dem Kopf, und der Riesenmund war das – Glasfenster auf der Vorderseite des Helmes!“

„Ah – glänzend!“ rief Lady Melville jetzt.

Der Lord aber streckte Harst die Hand hin.

„Ich glaube Ihnen, daß sie Harald Harst sind!“

„Nun – ich hoffte auch, daß die kleinen Kombinationen mich besser ausweisen würden als ein Schriftstück,“ lächelte Harst liebenswürdig. „Wir wollen nun aber schnell noch den Rest erledigen, Punkt drei, – die Frage: Wer war der Mann im Taucheranzug?

Notwendig mußte ich nach dem Stande der bisherigen Ermittelungen zwischen diesem Menschen, der dort im Pensionat Olafsen wohnte, und Busley-Palperlon, der doch von einem Berufstaucher einen Brief erhalten hatte, einen Zusammenhang vermuten. Um dies nachzuprüfen, war ich heute in Kopenhagen. Zuerst bei Fräulein Tilda Olafsen. Ich holte aus ihr alles heraus, was ich wissen wollte. Es hatte bei ihr eine Woche ein Kapitän Houston Plampool, ein Engländer angeblich, gewohnt und zwar in dem betreffenden Zimmer. Dieser Plampool führte einen sehr großen, schweren Koffer mit sich, lebte sehr zurückgezogen und empfing nie Besuch, schloß sich auch des öfteren ein. Heute war er dann gegen ½7 morgens ganz plötzlich abgereist – nach Stockholm angeblich. – Von der Olafsen begab ich mich zu dem Kopenhagener Staatstaucher Nikolassen. Ich hatte in kurzem von ihm erfahren, daß er einen Zivilkollegen namens Jörn Holgersö habe, der in Christiansholm bei Klampenborg wohne. – Dies genügte mir. – Bevor ich mich nach Christiansholm aufmachte, suchte ich noch festzustellen, ob Kapitän Plampool mit seinem großen Koffer wirklich den Dampfer nach Malmö benutzt habe, um weiter nach Stockholm zu reisen.

Diese Nachforschungen hielten mich zwei Stunden auf. Dann wußte ich, daß Plampool an Bord eines Motorkutters gegangen war, den ein gewisser Tompson für eine Woche gemietet, aber nur mit einem von ihm selbst gestellten Matrosen bemannt hätte. Der Kutter hatte heute zehn Uhr vormittag den Hafen von Kopenhagen verlassen. Wohin – das konnte mir niemand sagen. Zu einer Vergnügungstour hatte Tompson ihn gemietet. Mehr wußte der Kutterbesitzer nicht.

Christiansholm liegt ja nun kaum 1½ Kilometer südlich von hier. Ich fuhr im Auto zu Taucher Jörn Holgersö. Unterwegs studierte ich ein Pack Zeitungen, die ich mir gekauft hatte, alles alte Nummern. Ich suchte darin nach einem Schiffsuntergang, der sich in der Nähe der dänischen Inseln ereignet hätte. Ich fand nichts dergleichen; fand aber doch in einer vor etwa drei Wochen erschienenen Zeitung einen Artikel über das rätselhafte Verschwinden der Lady Melville gehörigen kleinen Motorjacht „Albatros“. Die Jacht hatte Stockholm mit dem Reiseziel Kopenhagen verlassen, war aber dann als verschollen gemeldet worden. In dem Artikel war noch zum Schluß erwähnt, daß Lady Anastasia Melville, eine geborene russische Fürstin, die Witwe des bekannten englischen Admirals Melville und jene bekannte Sportlady sei, die mit ihrer Jacht dauernd sich auf Reisen befinde und die zur Zeit auch die Besitzerin und Trägerin des berühmten Melville-Brillantarmbandes sei, eines als Familientalisman geltenden Schmuckes.

Als ich dies las, war mir sofort klar, wozu Busley-Palperlon den Mann mit dem Taucheranzug brauche, der diesen damals, als Schraut den Menschen am Fenster erblickte, fraglos wieder zur Probe angezogen hatte.

Jörn Holgersö war nicht zu Hause. Aber seine Frau konnte mir folgendes mitteilen: Ein Herr Busley hatte sich an Holgersö gewandt und diesem einen Taucheranzug abkaufen wollen. Da Busley einen guten Preis bot, hatte Holgersö ihm schriftlich nach Kopenhagen geantwortet, er würde ihm den Taucheranzug bringen. Daraufhin erschien sofort bei Holgersö ein Beauftragter Busleys mit dem Gelde und nahm den Taucheranzug mit. Dieser war in einen Leinensack verpackt. Und diesen Sack bekam Busleys Beauftragter mit. – Es ist also derselbe Sack, der nachher im Sarge Busleys wieder auftauchte. – Holgersö erhielt dann sehr bald Arbeit in Helsingör, wo er noch immer weilt. Weder er noch seine Frau wissen etwas von dem „Tode“ Busleys.

Ja – dieser vorgetäuschte Tod! Darauf muß ich jetzt nochmals zurückkommen und die Hauptfrage nunmehr beantworten. Oder – können Sie dies jetzt nicht selbst tun, Mylord? Versuchen Sie es nur: Warum „starb“ Busley?“

Der Lord schwieg und machte nur eine bedauernde Handbewegung.

Harst blickte mich daraufhin an. Und ich beeilte mich, zu erklären: „Busley „starb“, um jede Spur hinter sich zu verwischen. Er hatte eben mit dem Taucheranzug etwas vor, das um jeden Preis verborgen bleiben sollte. Dadurch, daß er scheinbar begraben war, machte er es sowohl Holgersö als auch anderen Leuten unmöglich, sich mit ihm irgendwie noch zu beschäftigen.“

Harst nickte. „So ist’s! – Er hatte etwas vor mit diesem Taucheranzug! Und dieses „Etwas“ hat Busley-Palperlon in seiner Siegesgewißheit in seinem Briefe selbst angedeutet: der Talisman einer Adelsfamilie, der – versagt hat! – Das heißt nichts anderes, Mylord, als daß die Jacht Ihrer Frau Mutter – es tut mir leid, dies so offen aussprechen zu müssen – irgendwo auf dem Meeresgrunde ruht und daß aus dem Wrack das Armband durch den Kapitän Plampool herausgeholt werden soll.“

Harst erhob sich. „Mylord, ich muß mich verabschieden. Ich bin hergekommen, um Ihnen anheim zu stellen, uns zu begleiten. Ich hoffe die Verbrecher zu finden, die den Albatros plündern wollen und die ihn auch selbst zum Sinken gebracht haben müssen. Beweis: niemand hat eine Ahnung, wo die Motorjacht geblieben! Nur Palperlon kennt offenbar den Liegeplatz des Wracks! Woher kennt er ihn? Durch einen Zufall? – Nein – ich glaube nicht an diesen Zufall! – Er selbst hat dafür gesorgt, daß die Jacht unterging. – Mylord, Sie wollen mir jetzt den Vorschlag machen, Ihre Jacht Shallow zur Verfolgung der Verbrecher zu benutzen. Ich muß danken. Es wäre ein grober Fehler, ein so auffallendes Fahrzeug zu nehmen. Nein – nur ein einfacher Fischkutter kann uns nützen. Er liegt schon bereit. Wir aber müssen zu einfachen Fischern werden, je naturgetreuer, desto besser. Ich erwarte Sie also in zwanzig Minuten drüben am Strande bei dem Fischer Göllpaart.“

Der Lord sprang wie elektrisiert auf. „Ich werde zur Stelle sein, Herr Harst. Nur noch eine Frage: Wissen Sie denn, wohin die Verbrecher sich gewandt haben?“

„Ja. – Doch darüber sprechen wir nachher.“

– – – – – – – –

Es war bereits völlig dunkel, als unser Kutter mit fünf Mann an Bord den kleinen Hafen von Klampenborg verließ. Außer Harst, dem Lord und mir waren noch der alte Göllpaart und sein Sohn Gunnar mit von der Partie.

Der Fischkutter Kl 16 (dies war die Fischerei-Registernummer des alten Göllpaart) besaß einen Motor, wie heute die meisten Hochseefänger. Der Abendwind kam von Nordwest, also für uns günstig. Die Luft war diesig, klarte aber später auf.

Harst hatte Göllpaart-Vater, der am Steuer saß, befohlen, die Nordspitze der Insel Saltholm zunächst anzusteuern. Die beiden Fischer wußten nicht, worum es sich bei dieser Fahrt handelte, fragten auch nicht weiter. Sie erhielten für jeden Tag 100 Kronen. Das genügte ihnen.

Die Insel Saltholm liegt im Öre-Sund 30 Kilometer südlich von Klampenborg, ist 15 qkm groß, größtenteils unbewohnt und wird nur im Sommer als Weideland benutzt. Das einzige Dorf Holmegd befindet sich an der Nordostküste. – Ich nehme diese Angaben vorweg, um sie nachher nicht an unpassender Stelle einflechten zu müssen.

Wir drei Landratten und Pseudofischer hatten eine Weile an Deck auf der Kajütluke gesessen. Dann war der Lord aber immer ungeduldiger geworden und hatte Harst gebeten, ihm nun endlich mitzuteilen, wohin es ginge.

„Nicht weit, Mylord,“ erwiderte Harst. „Ich hoffe wenigstens, daß meine Kombinationen stimmen.“ Er sprach Deutsch, damit die beiden Göllpaarts ihn nicht verstanden. „Den halben Briefumschlag fand ich in einem Buche über die dänischen Inseln. Es war ein Spezialwerk. Der Umschlag lag als Lesezeichen dort, wo der Artikel über Saltholm begann. Dieser Abschnitt hatte 16 Seiten. Das Buch war so gut wie gar nicht benutzt worden. Wer liest auch rein geographische Werke?! – Auf Seite 102 und 103, dort, wo die winzigen Inseln an der Südspitze Saltholms besprochen sind, fand ich sowohl am Rande Fingerabdrücke als auch Durchdrücke von Worten und Zahlen, die jemand aus dem Buche, es als Unterlage benutzend, mit Bleistift abgeschrieben hatte. Diese Durchdrücke waren leicht zu entziffern und entsprachen den Tiefenangaben der Kanäle zwischen den auf Seite 102 und 103 beschriebenen Inselchen. Da doch nur Busley-Palperlon den Briefumschlag als Lesezeichen benutzt haben kann, da er ferner nur mit einem Motorboot jetzt unterwegs ist, also das Ziel seiner Fahrt in der Nähe liegen muß, vermute ich, daß die Jacht Albatros zwischen jenen Eilanden in geringer Wassertiefe zum Sinken gebracht worden ist.“

Lord Melville drückte Harst die Hand. „Ich wünschte, ich könnte auch so leicht aus Tatsachen Schlüsse ziehen wie Sie!“ meinte er. „Ich möchte Ihnen noch mitteilen, daß ich nur hier in der Ostsee seit drei Wochen kreuze, um nach meiner Mutter zu suchen. Die letzte Nachricht von ihr war ein Brief aus Stockholm, in dem sie nichts von Bedeutung mitteilte, nur das eine, daß sich zwei verdächtige Menschen stets in ihrer Nähe hielten. Den einen beschrieb sie als groß und hager mit einer Nase mit auffallend aufgeblähten Nasenflügeln und schwarzem Spitzbart. Der Kleinere sah wie ein Seemann aus. Sie hat sich schließlich an die Stockholmer Polizei gewandt, da sie argwöhnte, die Leute hätten es auf das Brillantarmband abgesehen, das sie nie ablegte, wie es in unserer Familie seit fast drei Jahrhunderten Brauch ist. Der Schmuck stammt aus Indien und ist sehr alt. Heute mag er mit seinen acht großen, wasserklaren Brillanten von Haselnußgröße einen Wert von gut zwei Millionen Mark haben.“

Harst rauchte schweigend seine Zigarette. Auch der Lord starrte düster vor sich hin.

Wir begegneten vielen Fischkuttern und mehreren Seedampfern, die nach Kopenhagen wollten. Gegen ½9 schlief der Wind völlig ein. Dafür war die Luft so klar geworden, daß wir beim Lichte des vorhin erschienen Vollmondes recht deutlich in der Ferne Land erblickten.

Es war die Nordspitze von Saltholm. – Harst ließ den Kutter jetzt in 100 Meter Entfernung von der Ostküste nach Süden laufen. Auf dem Wasser wurde es einsamer und einsamer. Der schwache Wind trug uns das Blöken der Herden von der öden Insel zu. Träge Möwen schwebten kreischend vorüber. Und wieder einmal genoß ich die sanften Reize einer nächtlichen Fahrt auf einem unter Motorgeknatter dahinziehenden Schifflein.

Der Lord wurde jetzt mit jeder Minute nervöser. Er schritt auf dem kleinen Deck auf und ab, lehnte sich an den Mast, nahm sein Fernglas zur Hand, kam wieder zu uns, sprach mit den biederen Fischern, fragte Harst gleichgültige Dinge, bis er dann plötzlich leise herausplatzte:

„Herr Harst, mir ist es ganz unbegreiflich, wie der Albatros versenkt worden sein kann! Und gerade noch dort zwischen den Inseln. Was hatte die Jacht dort zu suchen? – Überhaupt – die ganze Katastrophe ist mir so unverständlich, daß ich vor einem unfaßbaren Rätsel stehe.“

Harst rief dem jüngeren Göllpaart zu, er solle seine Ziehharmonika an Deck bringen und spielen. „Wir wollen auch nur noch mit halber Kraft fahren,“ meinte er zu Göllpaart-Vater. „Damit Sie es wissen: wir sind hinter Leuten her, die sehr mißtrauisch sein dürften und vielleicht an Land Wachen ausgestellt haben. Wir müssen möglichst harmlos tun.“

Der alte Fischer lachte kurz auf. „Dacht’ ich mir schon, daß ich keine Malers an Bord hätte! Sie sind von der Polizei, meine Herren, – Detektive, wie man das so nennt.“

„Mag stimmen!“ nickte Harst.

Die Ziehharmonika, ein „Schifferklavier“ von ansehnlicher Größe, dudelte einen Walzer.

„Muß das sein?!“ fragte der Lord leicht gereizt.

„Ja – es muß sein,“ erklärte Harst sehr ernst. „Bedenken Sie, Mylord, – wir haben es mit einem James Palperlon zu tun. Der Mann sichert sich nach allen Seiten hin. Wir haben die Eilande jetzt fünfhundert Meter vor uns. Ich wünschte, es wäre dunkel und nebelig. – Mylord, das Rätsel des Unterganges des Albatros hat nur eine Lösung. Vielleicht hat sich folgendes ereignet – nein, es muß sich etwa folgendes ereignet haben: Die Jacht mußte auf dem Wege nach Kopenhagen dicht an Saltholm vorüber. Ein angeblich Schiffbrüchiger wird von dem Albatros dann aufgefischt worden sein, hat irgend ein Märchen erfunden, wodurch Ihre Frau Mutter bewogen wurde, die Kanäle der Eilande anzulaufen. Und hier wird der Genosse Palperlons die Jacht dann durch eine Höllenmaschine in die Tiefe geschickt haben, – so plötzlich, daß weder Ihre Frau Mutter noch sonst jemand der Besatzung sich retten konnte. Jedenfalls: die Leiche der Lady Anastasia Melville muß sich im Innern der Motorjacht befinden, und mit ihr das Armband. Wozu sonst der Taucheranzug?!“

„Entsetzlich!“ stöhnte der Lord auf. „Sie werden mit alledem wohl recht haben. Wie anders sollte sonst wohl auch –“

Irgendwo von Süden her kam der dumpfe Knall eines Schusses über die nur leicht bewegte See. Lord Melville schwieg jäh mitten im Satz. Wir alle waren zusammengezuckt.

„Volle Kraft, Göllpaart!“ rief Harst. „Da vor uns ist irgend eine Teufelei im Gange!“

Der Kutter durchschnitt schneller die trägen Wogen. Der alte Fischer legte die Ruderpinne weiter nach links. Gehorsam beschrieb der Kutter einen Bogen.

Vor uns im Mondenschein tauchten etwas wie niedrige Hügel aus der See auf: die Eilande!

Harst hatte Lord Melvilles Fernglas an den Augen. Jetzt sprang er auf das Dach des kleinen Aufbaus.

Zwischen den Inseln schillerten die schmalen Kanäle im Mondenlicht. Und dort – weiter nach Süden – dort bewegte sich auf einem dieser silbern glänzenden Wasserstreifen ein dunkler, großer Fleck.

„Stoppen!“ befahl Harst ganz heiser. „Stoppen, Göllpaart! Das Motorboot kommt auf uns zu.“

Harst hatte sich doch in der Richtung getäuscht. Das Boot wäre gut dreihundert Meter südlich an uns vorbeigefahren. Der alte[4] Fischer übersah die Situation hier besser. Aus eigenem Antrieb warf er den Motor wieder an, steuerte dann so, daß wir schließlich dem Boote im Bogen von vorn den Weg abschnitten.

Drüben jedoch keine lebende Seele; das Deck leer. Der Platz am Steuer leer.

„Göllpaart – Bord an Bord – ich springe hinüber!“ rief Harst in einer Erregung, wie ich ihn nicht oft sah.

Dann – ein dumpfer Krach; die Fahrzeuge waren leicht aneinander geprallt. Und Harst war auch schon drüben, brüllte förmlich: „Das Steuer ist festgebunden. Ein Toter liegt hier –!“

Dann hatte er das Steuer in der Hand; dann liefen unsere Boote hintereinander in den Kanal ein.

„Da – dort treibt etwas auf dem Wasser!“ meldete der Lord.

Die Motoren stoppten. Melville und der junge Göllpaart fischten das unförmige Etwas mit Bootshaken heraus, zogen es an Deck des Kutters.

Das Motorboot kam längsseit. Harst stand neben uns. Und in unserer Mitte lag ein Taucher mit luftgefülltem, aufgeblähtem Anzug. Der Luftschlauch, der am Kupferhelm angeschraubt war, hatte nur sechs Meter Länge, war – glatt abgeschnitten.

„Runter mit dem Helm – losschrauben!“ befahl Harst, kniete nieder. Der junge Göllpaart half ihm.

Jetzt war die letzte Schraube gelöst –

Der Mond bestrahlte ein bleiches, bärtiges Gesicht, geschlossene Augen und – einen Ausdruck so wahnwitzigen Entsetzens in den starren Zügen, wie ich’s selten beobachtet habe.

Harst hatte sich tief über den Mann gebeugt. „Er lebt noch,“ meinte er. „Wir sind noch zur rechten Zeit gekommen. Reibt ihm die Schläfen mit Wasser, gebt ihm Kognak ein! Er wird bald wieder zu sich kommen.“

Er untersuchte dann den Toten, der zusammengeduckt auf der kleinen Kajütentreppe des Motorbootes lag. Eine Kugel war dem Manne von hinten in den Schädel gedrungen.

Der Taucher (es war jener angebliche Kapitän Houston Plampool) erlangte nach fünf Minuten die Besinnung wieder. Wie er in Wahrheit hieß, hat er nie angegeben. Daß er einer von Palperlons Bande war, räumte er ohne weiteres ein. Ebenso legte er auch ein umfassendes Geständnis über die Tragödie der Motorjacht Albatros ab. Seine Wut und sein Haß gegen Palperlon, der ihn so schmählich betrogen und so kaltblütig hatte ermorden wollen, hatte geradezu etwas Dämonisches an sich.

Es zeigte sich, daß Harsts Vermutungen über die Art und Weise, wie die Motorjacht in den Kanal zwischen den südlichsten Inselchen gelockt war, in allen Punkten zutrafen. Tatsächlich war ein Schiffbrüchiger an Bord des Albatros geschmuggelt worden, hatte der Lady Melville eine rührende Geschichte von seinem in jenem Kanal auf Grund geratenen Fischkutter erzählt und gebeten, den Kutter abzuschleppen. –

Was weiter geschehen, ergab sich aus dem Zustande des Albatros, der schon am nächsten Vormittag gehoben wurde. Der Schiffbrüchige hatte die ganze Besatzung in den Wohnsalon gelockt und dann durch eine Bombe die Steuerbordwand der Jacht am Heck derart zerstört, daß diese im Augenblick wegsackte und die in der Kajüte Befindlichen mit in die Tiefe nahm. Und dieser Schiffbrüchige war derselbe Mann, den Palperlon hinterrücks niedergeschossen hatte, damit er sodann ungehindert den zweiten Schurkenstreich gegen den Taucher ins Werk setzen könnte.

Als Plampool nämlich das Armband von der Hand der Leiche der Lady Melville gelöst hatte und an der Strickleiter wieder an Deck des über dem Wrack verankerten Motorkutters gestiegen war, hatte Palperlon ihm das Armband abgenommen und ihm befohlen, nochmals in den Wohnsalon zurückzukehren und dort nach Geld zu suchen. Kaum hatte Plampool die Kajüte mit den dort unter der Decke im Wasser schwimmenden Leichen betreten, als er merkte, daß die Luftzufuhr durch den Luftschlauch aufhörte. Er hatte noch die Bleigewichte von den Taucherschuhen loshaken können, war auch wie ein Ball an die Oberfläche geschnellt, hatte hier jedoch das Bewußtsein sehr bald verloren.

Harst selbst stellte dann noch fest, daß Palperlon nach der nächsten Insel hinübergeschwommen war, wo er ein kleines, offenes Motorboot schon vorher zur Fortsetzung seiner Flucht versteckt gehabt haben mußte. – Er war wieder einmal entkommen, dieser raffinierte Verbrecher.

Die versteckten Vorwürfe, die Lord Melville damals Harst machte, weil dieser die ganzen Inseln durch Boote hätte umstellen lassen sollen, waren jedoch unberechtigt. Palperlon wäre trotzdem entschlüpft. Davon war ich und bin ich noch heute fest überzeugt.

Welche Rolle der Talisman der Familie Melville bei unserem nächsten Abenteuer spielte, will ich in der folgenden Erzählung berichten, in „Um die Millionenbeute“.

 

 

Um die Millionenbeute.

 

Harsts Laune war in jenen Tagen nach der Flucht James Palperlons die denkbar schlechteste. So schweigsam und insichgekehrt war er bisher nie gewesen. Ich merkte, daß ihm die Äußerungen der Kopenhagener Presse genau so nahe gingen wie der kühl-förmliche Abschied von Lord Melville. Dieser machte ihm zum Vorwurf, Palperlons Entweichen durch ungenügende Sicherheitsmaßregeln erleichtert zu haben, und die dänischen Zeitungen wieder brachten sehr deutlich zum Ausdruck, daß Harst unbedingt die Hilfe der Kopenhagener Polizei hätte im Anspruch nehmen müssen.

Für mich als Freund und Privatsekretär Harald Harsts waren’s damals ebenfalls schwere Tage. Wir hatten unter unseren richtigen Namen in einem der ersten Pensionate Wohnung genommen. Zu dem Pensionat gehörte ein großer Garten, in dem noch ein kleineres Logierhaus stand. In diesem hausten wir in zwei Zimmern des Hochparterres, deren vier Fenster nach den Tennisplätzen hinaus gingen.

Es war am Morgen des vierten Tages. Ich erwachte in unserem gemeinsamen Schlafzimmer über dem Prasseln eines starken Regenschauers gegen die Fenster.

Ich richtete mich auf. Harsts Bett war leer.

Leer? – Ich schaute genauer hin. Ich sah nun, daß er es offenbar gar nicht benutzt hatte. Ich war gestern abend vor ihm schlafen gegangen und auch sofort eingeschlummert.

Ich zog mich hastig an und öffnete die Tür nach dem Salon, trat ein. Mein Blick fiel auf die grünbezogene Schreibtischplatte. Dort lag ein Brief. Adresse: „Herrn M. Schraut.“ – Also für mich – von Harst! Da ahnte ich schon, daß er Kopenhagen verlassen und – in diesen Tagen vor mir so ein wenig Komödie gespielt hatte.

Der umfangreiche Brief lautete:

„Mein lieber Alter! Um Deinen festen Schlaf habe ich Dich immer schon beneidet. Die hiesige Luft scheint besonders „schlafhaltig“ zu sein. Daß ich in diesen drei Nächten, seit wir der Frau Ebba Blörnken die Ehre unserer Anwesenheit erweisen, stets vier bis fünf Stunden Dich schnöde allein gelassen habe, hast Du in hervorragendster Weise – nicht bemerkt.

Also: ich war Nachtschwärmer vom ersten Abend an.

An diesem ersten Abend verließ ich unseren Salon gegen ½1 bei Regen und Sturm durch das Fenster, lehnte es nur an, band es mit einer Strippe am Weinspalier fest, damit es nicht aufflog und kletterte über den rückwärtigen Gartenzaun. Diesen Weg wählte ich stets. – Ich nahm ein Auto und fuhr hinaus nach Klampenborg zu unserem Freunde, dem Fischer Göllpaart, dessen Sohn Gunnar ich 500 Kronen versprochen hatte, wenn er herausbrächte, wo Palperlon gelandet war.

Ich hatte ihm auch verschiedene Winke gegeben, wo und wie er nach Palperlons Motorboot suchen sollte. Ich war überzeugt, daß Palperlon irgendwo in der Nähe eines Küstenortes mit Eisenbahnverbindung das Boot versenkt hatte, um jede Spur hinter sich zu verwischen und sofort in irgend einer Maske die Bahn benutzen zu können. – Die Anzahl dieser Küstenorte, die hier in Frage kamen, ist nicht allzu groß. Gunnar sollte im Norden bei Helsingör anfangen.

Als ich seine Eltern in Klampenborg damals nachts heraustrommelte, war er nicht daheim. Ich verabschiedete mich also sofort wieder, bestieg das wartende Auto und fuhr zu dem Vorsteher der Kopenhagener Zweigstelle der Auskunftei Schimmelpfeng. Herr Meyer ist geborener Berliner, Junggeselle und Kunstfreund. Er war noch auf und besichtigte gerade eine alte Stutzuhr, die er am Tage gekauft hatte. Ich vertraute ihm gegen Zusicherung vollster Verschwiegenheit an, daß ich Palperlon das Armband wieder abjagen wollte, und bat ihn, mir auf Grund seiner Allerweltsweisheit mitzuteilen, wo ein Gauner wohl ein Schmuckstück von so hohem Wert am leichtesten und am günstigsten verkaufen könne.

Herr Meyer schrieb mir ein Dutzend Namen und Adressen in den verschiedensten Städten des europäischen Kontinents auf, lächelte geschmeichelt, als ich die Vielseitigkeit seiner Firma gebührend lobte, lehnte eine Bezahlung der Auskunft ab und führte mich in sein „Museum“, in dem er als begeisterter Sammler von Antiquitäten manch interessantes Stück stehen hatte, darunter auch ein mechanisches Spielzeug in Gestalt eines auf einer Schüssel ruhenden Menschenhauptes, das nicht nur die Lider, die Augen und den Unterkiefer bewegte, sondern auch die Zunge herausstreckte und deutlich Papa und Mama sagte.

Dieser Kopf sollte aus Nürnberg und aus dem 15. Jahrhundert stammen. Leider mußte ich Herrn Meyer erklären, daß man ihn mit dieser Rarität gründlich angeschmiert hätte. Ich bewies ihm, daß der Metallteller, auf dem der Wachskopf festgeschraubt war, aus einer Legierung bestand, die erst eine Erfindung der Neuzeit ist, und daß das Uhrwerk in dem Kopf (der Hinterkopf ließ sich abklappen) ohne Frage Fabrikarbeit war. Worauf Meyer himmelhoch schwor, bei seinem nächsten Aufenthalt in Stockholm dem „Kerl“, der ihm das Ding angedreht hatte, gehörig seine Meinung zu sagen. – Dieser „Kerl“ heißt Severin Bloomberg. Merk’ Dir den Namen.

In der folgenden Nacht wurde es bei schönstem Wetter eine Mondscheinfahrt nach Klampenborg. Wieder traf ich Gunnar nicht an. Ich hatte mich damals so etwas „zurechtgestutzt“. Harald Harst sah ganz anders aus. Der blasse, nach „Galizien“ ausschauende und sehr gebrochen Englisch sprechende Herr, der dann den einzigen Kopenhagener Biedermann, der auf Meyers Zettel vertreten war, herausklingelte, wurde von dem ehrwürdigen Doktor der Philosophie und Privatgelehrten Olaf Doornblam zunächst sehr zurückhaltend empfangen, nannte sich Mieszeslaw Podgorcz[5] und erklärte im Verlauf einer Unterhaltung über alle Schmuckstücke, ihm sei „zufällig“ eine Brosche aus der Renaissancezeit, Emaillemalerei mit Brillantenkranz, in die Finger geraten, die er gern verkaufen möchte.

Doornblam fragte, ob ich die Brosche bei mir hätte. Ich verneinte, – verneinte aber absichtlich so, daß es mehr eine Bejahung war. Ich erklärte weiter, ich würde ihm die Brosche morgen nacht bringen. Fügte in einem Atem hinzu, ob er vielleicht auch Interesse für altertümliche Armbänder habe.

Als ich altertümliche Armbänder sehr vorsichtig erwähnte, zogen sich seine Augenbrauen hoch, seine Lider schlossen sich und er – suchte den Ahnungslosen zu spielen, obwohl er fraglos sofort an den Melville-Schmuck gedacht hatte, von dem die Zeitungen ja vor zwei Tagen in Riesenartikeln berichtet hatten.

Nun – ich versprach ihm dann, als er auf den Köder anbiß, das Armband ebenfalls in der nächsten Nacht mitzubringen. – Aus seinem Verhalten merkte ich, daß der Melville-Talisman ihm bisher nicht angeboten worden war. Das genügte mir – oder hätte mir genügen sollen. Wenn ich trotzdem dann gestern nacht, nachdem ich Gunnar Göllpaart gesprochen hatte, wieder bei ihm mich einfand, so lag das eben daran, weil der junge Fischer bedeutend mehr Schlauheit entwickelt hatte, als ich ihm zutrauen konnte. Er hatte nämlich jenseits des Öre-Sundes auf der schwedischen Seite in einem Fischerdorfe unweit Arlöf, der ersten Station nördlich von Malmö, von einem Bekannten erfahren, daß ein paar Fischer in einer nahen Bucht durch einen auf der Wasseroberfläche schwimmenden großen Ölfleck auf die Vermutung gekommen seien, dort müsse ein kleiner Dampfer oder dergleichen gesunken sein. – Du ahnst wohl schon, daß die Fischer auf diese Weise das in nur drei Meter Tiefe liegende kleine Motorboot gefunden und in aller Stille geborgen hatten. Sie wußten sehr gut, daß die Polizei in Kopenhagen nach einem solchen Boote suchte, hüteten sich aber, den Fund zu melden, weil sie – den Motor sehr gut für sich brauchen konnten. – Gunnar hat dann auf dem nahen Bahnhof Arlöf sich nach einem einzelnen Reisenden erkundigt und wirklich ermittelt, daß ein älterer, in der Gegend ganz unbekannter Herr eine Fahrkarte 1. Klasse nach Stockholm gelöst hatte. Dies war gegen acht Uhr morgens zu dem gerade fälligen Zuge geschehen. Und um diese Zeit konnte Palperlon längst schwedischen Boden erreicht haben. –

Lieber Alter – ich habe hier eine halbe Stunde bei Niederschrift dieser Aufklärung über meine plötzliche Abreise pausieren müssen, weil ich es für ratsam hielt, das Licht auszudrehen und mich im Dunkeln an das Fenster zu stellen.

Jetzt nun habe ich Grund, diesen Brief schleunigst zu beenden und Dir folgendes aufzutragen: Reise morgen heim nach Berlin und erwarte mich dort. Grüße meine Mutter herzlich und bestelle ihr, daß ich bald dort einzutreffen hoffe. – Wohin ich gereist bin, verschweige ich Dir. Jedenfalls nicht nach Stockholm. Und – weshalb ich diesmal auf Deine Begleitung verzichte, will ich nur andeuten: Dieser weißbärtige Simson[6] ist kein zu verachtender Feind und arbeitet mit Mitteln, denen gegenüber selbst Palperlons Mörderphantasie harmlos genannt werden muß. Du würdest nur meine Bewegungsfreiheit hindern. – Alles weitere mündlich, besonders meinen zweiten Besuch bei dem Millionär Doktor Doornblam, wobei ich dem Tode näher als je zuvor war. – Leb’ wohl – Wiedersehen. Dein H. H. (Nachschrift: Sei vorsichtig. Doornblam wird vielleicht auch Dir eine Falle stellen wollen).“

– – – – – – – –

Ich fuhr natürlich nicht nach Berlin.

Ich bezahlte unsere Rechnung, löste eine Fahrkarte 2ter nach Berlin, gab unsere Koffer nach dorthin auf, behielt nur eine Handtasche mit unserem Handwerkszeug bei mir, bestieg den Mittagszug nach Gjester und – verließ ihn schon auf der nächsten Station, nachdem ich mich im Waschraum gründlich verwandelt hatte. Nachdem ich festgestellt hatte, daß niemand mir folgte, kehrte ich mit dem Vorortzuge nach Kopenhagen zurück und – saß abends 10 Uhr 45 Minuten in einer Schlafwagenkabine 1. Klasse, also nicht gemeinsam mit einem Kabinengenossen wie in 2. Klasse, im Zuge nach Stockholm.

Ich saß auf dem Bettrand meiner Kabine Nr. 21 bei offener Tür. Soeben hatte der Zug Malmö verlassen. Im Gange des Schlafwagens gingen noch Reisende auf und ab. Dann kam der Schaffner, ließ sich die Bettkarte zeigen, fragte, wann ich geweckt sein wolle, ging freundlich lächelnd mit seinen zwei Kronen Trinkgeld davon und schob die Tür zu. Ich war allein. Aber ich dachte an Harst, der mir zur Vorsicht geraten hatte, trat daher nach einer Weile in den Gang hinaus und rauchte am Fenster eine Zigarette, scheinbar nur in die mondhelle, eilig vorbeifliegende Landschaft hinausblickend. Scheinbar. Ich beobachtete die anderen Reisenden, die gleichfalls noch nicht zu Bett gehen mochten.

Dann – im letzten Wagen vor einer Kabinentür 1. Klasse stutzte ich unwillkürlich. Dort saß ein Herr in Hemdärmeln auf dem Bett und las Zeitung, hatte eine dicke lange Zigarre im Mundwinkel. Es war ein weißbärtiger Riese. Der Bart war lang und wohlgepflegt. Und – die Augenbrauen fielen durch ihre Stärke auf, waren buschig und ragten an den Schläfenenden wie ein Schnurrbart empor. Das gab dem frischen, roten Gesicht einen sehr energischen Ausdruck.

Ich schritt vorüber, machte kehrt, ging nochmals an der Tür vorbei, wiederholte dies abermals. Ich zweifelte nicht mehr, daß dieser Herr der Doktor Doornblam war; ebensowenig, daß er nach Stockholm reiste. – Was wollte er dort?! Gerade dort, wo ich Harst und – James Palperlon zu finden hoffte?! Was wohl? – War’s ein Zufall, daß er gerade jetzt ebenfalls nach Stockholm unterwegs war?

Ich hatte mir die Kabinennummer gemerkt – neun! Ich kehrte in mein winziges Kämmerchen zurück, schloß die Tür, riegelte ab, überlegte mir bei einer neuen Zigarette Harsts Andeutungen über seinen zweiten Besuch bei Doornblam.

Ich lag in dem verdunkelten Abteil in meinem Bett und starrte mit offenen Augen vor mich hin. Ich fühlte, wie allmählich die Angst um Harst in mir ständig wuchs. Ich grollte ihm, weil er ohne mich abgereist war. Wenn ich nun ganz umsonst nach Stockholm fuhr? Wenn ich Harst dort nicht fand?!

Mir wurde heiß und ungemütlich unter dem Zudeck. Mein Groll gegen Harst, der mich allein gelassen, steigerte sich.

Da – träumte ich?! – Da oben schob sich jetzt eine Hand durch den Spalt der an der Decke befindlichen Luftklappe, eine menschliche Hand, bekleidet mit einem dunklen Handschuh.

Träumte ich?

Ich kniff mich in den Arm. Nein – ich war wach.

Und die Hand da oben reckte sich weiter vor, war halb geballt. Ihr folgte ein nackter, weißer Arm bis zum Ellenbogengelenk.

Ich lag regungslos. Was – was würde sich ereignen? Wer kroch da draußen auf dem Wagendach in dem schneidenden Luftzug umher?

Regungslos verhielt ich mich, aber auch sozusagen sprungbereit.

Jetzt öffnete sich die Faust etwas. Ich erkannte undeutlich eine schillernde Kugel – wie Glas schillernd!

Richtete mich auf, reckte die Arme hoch.

Und – keine Sekunde zu früh. Mit leichtem Schwung flog die Kugel in der Richtung auf den schmalen Gang zwischen Bett und Wand.

Ich griff zu wie nach einem Ball. Ich hatte Glück. Ich bekam sie zwischen die Hände, legte sie sofort auf das Tischchen in meine weiche Reisemütze, schnellte hoch.

Wo ich die Gelenkigkeit hernahm, mit einem Satz mit hochgestreckten Händen so hoch zu springen, daß ich die geheimnisvolle Hand erreichte, das Gelenk umklammerte und nun mit aller Kraft daran ziehen konnte, – ich begreife es heute selbst nicht! Jedenfalls: der Attentäter war gefangen! Und sein Unterarm ruhte nun auf der Eiseneinfassung der Luftscheibe; das Fleisch wurde tief eingedrückt, so rücksichtslos zerrte ich an der unheimlichen Hand. Wozu ich’s tat, – das überlegte ich mir nicht weiter. Ich war zunächst nur froh, den Menschen gepackt zu haben.

Von ihm selbst konnte ich ebensowenig etwas sehen wie er von mir. Die Scharniere des kleinen Fensters lagen ja an der unteren Leiste des Fensterrahmens, so daß die Scheibe schräg nach oben offenstand.

Ich hielt fest. Der Mensch hatte offenbar Riesenkräfte. Er versuchte alles mögliche, freizukommen; schob den Arm plötzlich noch weiter durch das Fenster, riß ihn mit einem Ruck wieder hoch. Das geschah mehrmals. Aber – es brachte ihm nur blutige Hautabschürfungen durch den Eisenrand der Scheibe ein. Ich sah, daß der Unterarm sich blutig färbte.

Und da – da schoß es mir durch den Kopf: der Kerl ist jetzt gezeichnet. Versuche noch, ihm den grauen Zwirnhandschuh abzureißen. Vielleicht hat die Hand irgend ein Merkmal. Dann – gib ihn frei.

Es gelang; der Handschuh rutschte bis auf die Finger hinab. In demselben Moment ein neuer Ruck.

Die Hand verschwand.

Schweiß lief mir über das Gesicht. Ich fieberte vor Anstrengung und Aufregung. Ich klappte schnell beide Scheiben hoch, ebenso die Stoffhalbkugeln der Lampe. Dann setzte ich mich erschöpft auf mein Bett. Meine Blicke stierten auf die Kugel. Nachdem ich ruhig geworden, besichtigte ich den kleinen Glasball. Er war schwer und hatte etwa 4½ Zentimeter Durchmesser. Ich schüttelte ihn, hielt ihn gegen das Licht. Eine bräunliche Flüssigkeit war darin. Das Glas selbst war hauchdünn.

Kein Zweifel: ich hatte ermordet werden sollen! Wäre die Kugel vor mein Bett auf den Teppich gefallen, dann würde sie zerschellt sein. Das Rattern der Räder hätte das schwache Geräusch verschlungen. Die Flüssigkeit wäre ausgeflossen. Giftige Dünste hätten den Schlafenden erst betäubt, dann erstickt.

Das wäre mein Schicksal gewesen, wenn ich nicht wach gewesen wäre.

Was nun? Sollte ich das Attentat verschweigen? Sollte ich die Notbremse ziehen, sollte ich dem Zugführer das Erlebte melden und den Zug nach dem Menschen mit dem zerschundenen Arm absuchen lassen?

Eine schwierige Frage! – Tat ich’s, so mußte ich auch angeben, wer ich war: Max Schraut, des berühmten Harald Harst Privatsekretär.

Und dann? Dann würde die ganze Sache natürlich in die schwedischen Zeitungen kommen! Dann würde bekannt werden: Schraut war auf dem Wege nach Stockholm! Da kann also Harst nicht weit sein! – Dann schadete ich ganz sicher Harsts Plänen, durchkreuzte seine Absichten.

Was also tun? – Mir fiel ein, daß die Hand eine welke, faltige Haut gehabt hatte. Es war die Hand eines älteren Mannes gewesen.

Und – in demselben Moment, als ich an diese Hand dachte, deren Handrücken stark behaart gewesen, da – dachte ich auch an Kabine Nr. 9, an Doktor Doornblam!

Doornblam! Ja – er, nur er konnte der Attentäter gewesen sein. Nur er!

Ich wollte Gewißheit haben, kleidete mich an, steckte die entsicherte Pistole zu mir, öffnete die Tür, drückte sie wieder zu, schlich in den halbdunklen Gang entlang.

Nirgends ein Mensch; alle Türen fest geschlossen.

Es war jetzt kurz nach Mitternacht. Der Zug brauste durch eine kleine Station ohne Aufenthalt; ein paar Menschen, Bahnbeamte, standen vor dem Stationsgebäude.

Ich hatte durch eins der Gangfenster geschaut, schritt nun weiter, sagte mir: „Es ist unmöglich, daß jemand bei dieser Schnelligkeit abspringt. Doktor Doornblam muß noch im Zuge sein!“

Nun stand ich vor Nr. 9. Ich legte die Hand auf den Drücker. Dieser lag wagerecht.

Wagerecht?! Ich stutzte. Dann war die Tür nicht ins Schloß gedrückt! – Ich schaute hin. Wirklich – eine fingerbreite Spalte war da zu sehen. In der Kabine mußte es dunkel sein. Sonst hätte ich die Spalte sofort bemerkt.

Ich schob die Tür ganz langsam auf – mit der Linken. In der Rechten hielt ich die Pistole. Ich wollte Doktor Doornblam mit vorgehaltener Waffe zwingen, mir zu gestehen, weshalb er mich hatte beseitigen wollen.

Ich trat ein, wollte mich halb umdrehen und die Tür wieder zudrücken.

Wollte –! – Ein furchtbarer Schlag traf meinen rechten Arm. Polternd entfiel mir die Waffe. Ich schnellte mich herum; vor mir ein Herr mit heller Reisemütze; vor meinem Gesicht die Mündung eines Revolvers.

„Keine Bewegung!“ flüsterte der Mann mir auf englisch zu. „Zurücktreten! – So!“

Er schob die Tür ins Schloß. Wir waren in Kabine Nummer 9.

Dann schoß mir eine blendende Lichtflut ins Gesicht. Mein Überwältiger hatte in der Linken eine Taschenlampe. Er musterte mich – nur sekundenlang. Dann – und ich ruckte bei der Stimme leicht zusammen wie unter einem angenehmen lauen Wasserstrahl:

„Na, mein Alter, – was treibst Du denn hier?“

Harst – Harst!

„Entschuldige den groben Hieb,“ fuhr er fort und zog die Stoffhalbkugeln der Lampe auf, steckte seine eigene Taschenlampe weg. „Du solltest doch auf dem Wege nach Berlin sein!“ Er lächelte. Und dieses Lächeln war so liebenswürdig – nachsichtig, wie der semmelblonde Geck mit dem hochgekämmten Schnurrbart und den Pausbacken, den Harst hier vorstellte (Typ Konfektionsreisender), wohl nie hätte lächeln können. „Ich hatte keine Ahnung, daß Du im Zuge warst,“ fügte er hastiger hinzu. „Wir haben nicht lange Zeit. Hier in diesem Wagen ist irgend etwas geschehen. Ich hörte etwas wie einen Schrei.“

Meine Augen flogen argwöhnisch über die Kabine hin. Sie war leer. Aber – die Fenstergardine flatterte stark, so daß die Ringe klapperten, mit denen sie oben an der Stange hing.

Dieses offene Fenster sagte mir genug. Dort war Doornblam fraglos hinausgeklettert.

Mit wenigen Worten unterrichtete ich Harst über mein Abenteuer mit der Hand und der Säurebombe.

Er sagte nichts, blickte mich nur starr und so geistesabwesend an, als hörte er kaum, was ich sprach. Dann nahm er Doornblams kleinen Handkoffer, öffnete ihn mit einem winzigen Dietrich und warf den ganzen Inhalt auf das noch unberührte Bett. – Darunter befand sich auch ein Buch; ein Roman. Harst blätterte darin, wollte ihn schon wieder weglegen, als er in der Mitte zwischen den Seiten ein zusammengelegtes Telegramm entdeckte. Er steckte es zu sich, packte die Sachen einzeln wieder ein, verschloß den Koffer, suchte noch unter dem Kopfkissen des Bettes und in den Taschen des neben der Tür hängenden langen Ulsters, klappte die Stoffhalbkugeln der Lampe wieder herunter und schob die Tür auf.

Der Gang war leer. Harst winkte mir. Wir machten dann in dem zweitletzten Wagen vor Kabine Nr. 14 wieder halt.

Harsts Lampe blitzte auf. Ich sah, daß in der Türfüllung in einer Ecke ein kleines Loch mit einem braunen Papierpfropfen verstopft war. Harst zog ihn heraus, bückte sich, richtete sich wieder auf, flüsterte: „Schau’ hindurch.“

Die Kabine war hell, aber leer; das Zudeck des Bettes aufgeschlagen, jedoch das Bett unbenutzt. Nirgends ein Gepäckstück oder dergleichen. – Ein Geräusch ließ mich seitwärts blicken. Harst hatte die Hand auf dem Türdrücker.

„Von innen verriegelt,“ meinte er. „Vorhin stand ein kleiner, schmaler gelber Koffer auf dem Bett. – Ich weiß genug. Komm’!“

Wir gingen in meine Kabine. Dort lag noch die Säurebombe in der Mütze auf dem Tischchen. Harst öffnete das Fenster, schleuderte sie hinaus.

„Das Ding ist zu gefährlich, mein Alter,“ sagte er und reichte mir jetzt erst zur Begrüßung die Hand. „Ich konnte mir ja denken, daß Du ungehorsam sein und mir folgen würdest. Hm – ich rechnete eigentlich damit. Nur erwartete ich Dich erst übermorgen in Stockholm. Ich hätte Dich schon aufgestöbert. Na – so ist alles nun einfacher. Die Hauptgefahr ist ja auch beseitigt. Doornblam ist tot.“

Er hatte sich auf den Bettrand gesetzt und ich mich neben ihn. Wir flüsterten nur.

„Tot?“ fragte ich ungläubig.

„Ja. Ohne Zweifel. Doch – das ist eine lange Geschichte, mein Alter. Und ich bin müde, sehr müde. Ich bin seit gestern nacht zwölf Uhr auf den Beinen. Und in Stockholm werde ich frischer denn je sein müssen.“

„Was geht denn eigentlich vor, Harald? Wenigstens andeuten kannst Du doch, womit wir uns in Stockholm werden beschäftigen müssen.“

„Oh – natürlich mit Freund Palperlon, mit einem auf einem Teller ruhenden Wachskopf und mit Herrn Severin Bloombergs Antiquitätensalon. – Sehr vielversprechend, nicht wahr? – So, nun noch einige Verabredungen.“

Er gab mir sehr eingehende Verhaltungsmaßregeln. Dann trennten wir uns. Ich lag noch eine Stunde wach und grübelte darüber nach, wie Doktor Doornblam wohl den Tod gefunden haben könne. Und – wer war wohl der Insasse der Kabine Nr. 14, in deren Tür Harst ein Loch gebohrt hatte? – In meinen Träumen spielte dann eine Hand und ein Wachskopf eine mich stark beunruhigende Rolle.

– – – – – – – –

Auf dem Zentralbahnhof in Stockholm war vormittags neun Uhr bei Ankunft unseres Zuges ein ganzes Polizeiaufgebot zur Stelle. Niemand durfte aussteigen. Reisende, die sich nicht legitimieren konnten, wurden auf dem Bahnsteig von Kriminalbeamten bewacht.

An der Sperre durften dann die von der Polizei nicht zurückgehaltenen Reisenden ohne weiteres passieren. Ich nahm eine Droschke und ließ mich nach dem Hotel Gustav Adolf in der Jakobsgatan (Straße) fahren. Es war ein bescheidenes, sehr sauberes Hotel. Im Erdgeschoß befand sich eine Gastwirtschaft, in der viele Schiffskapitäne verkehrten.

Im ersten Stock waren drei Zimmer frei, Nr. 6, 7 und 8. Ich wählte Nr. 7. Eine halbe Stunde später belegte der sächsische Reisende der Textilbranche Müller aus Chemnitz Nr. 6. Ich trug mich als Schriftsteller Markus Scheibeck aus Hamburg in das Fremdenbuch ein. Harst war Herr Müller-Chemnitz.

Eine Stunde drauf lernten wir uns „zufällig“ unten in der Gastwirtschaft kennen, saßen an einem Fenstertisch und speisten zusammen. Es gab hier Kellnerinnen-Bedienung. Die Heben[7] waren sämtlich bereits in respekteinflößendem Alter. Die uns bedienende fragte, ob wir von Malmö mit dem Nachtzuge gekommen seien und ob wir auch wüßten, daß unterwegs ein Passagier ermordet und auf die Strecke geschleudert sei? – Messerstich ins Herz – völlig ausgeplündert – bei Station Rahldör hätte der durch den Sturz schrecklich verstümmelte Leichnam gelegen – und so weiter.

Harst beobachtete scharf die Straße. Als wir allein waren und das geschwätzige Fräulein sich zu einigen Seeleuten an den Tisch gesetzt hatte, sagte Harst leise:

„Bisher ist niemand hier hinter uns her. Wir können es also wagen, uns nachher an der Kreuzung der Jakobsgatan mit der Hauptgeschäftsstraße, der Drottninggatan, zu treffen.“

Als unser Frühstück verspeist war, machte mir Harst eine Verbeugung und ging. Ich folgte nach zehn Minuten. Es war jetzt elf Uhr.

Harst stand an einem Schaufenster und rauchte eine Zigarette. Unsere Begrüßung war förmlich. Er führte mich dann an der Königlichen Oper vorbei nach dem Hafen, der mit seinen kahlen Felswänden, den steilen, bebauten Felseninseln, dem lebhaften Dampfer- und Bootverkehr ein Bild darbietet, wie man es nicht oft findet, selbst wenn man die halbe Welt bereist hat.

Wir fuhren mit dem kleinen Tourdampfer nach dem Naturmuseum Skansen hinüber und schlenderten durch die einsamen Wege, genossen eine prächtige Aussicht auf das düstere, gewaltige Königliche Schloß und bewunderten uralte Blockhütten, Wikingerfahrzeuge, ein Lappländer-Lager und anderes.

„Schade!“ meinte Harst. „Schade, daß wir all dies nicht harmlosen Gemüts genießen können. – Aber – wenn wir’s dürften, mein Alter, ob uns dann Stockholm nicht sehr langweilig vorkommen würde?! Wir sind zu sehr daran gewöhnt, nur mit einem viertel Auge nach den Sehenswürdigkeiten unserer „Schlachtfelder“ zu schielen und mit dreiviertel nach Leuten, die wie James Palperlon, Doktor Doornblam und Severin Bloomberg interessanter für Leute unseres Schlages sind als ganz Skansen – Bitte – nun explodiere, denn Du bist ja mit Fragen zum Platzen gefüllt!“

Ich fragte nur zu gern, und er antwortete:

„Weshalb ich Dir den Brief zurückließ und nicht mündlich alles erledigte? – Ja – da werde ich wohl am besten gleich dort beginnen, wo mein Brief aufhörte, also mit dem zweiten Besuch bei Doornblam, der nun tot ist und dessen[8] Ende ich beim besten Willen nicht bedauern kann. Er hat mir zu arg zugesetzt und dabei eine so scheußliche Bosheit bewiesen.

Doch – eins nach dem andern. – Als der Pan Mieszeslaw Podgorcz aus Galizien zum ersten Mal bei Doornblam war, taute der millionenschwere Sammler, nachdem ich von altertümlichen Armbändern gesprochen, sehr schnell auf, holte sogar eine Flasche Rheinwein höchstselbst aus dem Keller. Der Wein war vorzüglich. Noch besser war das, was ich auf Doornblams Schreibtisch unter einem Briefbeschwerer fand. Pan Podgorcz war nämlich so unfein, des weißbärtigen Simsons Abwesenheit zu einer gründlichen Besichtigung des Diplomatenschreibtisches zu benutzen. Als der Doktor mit der Flasche Rheinwein zurückkehrte, hatte ich die Depesche unter dem Briefbeschwerer schon auswendig gelernt. Sie war mittags in Stockholm aufgegeben und um sechs Uhr in Kopenhagen gewesen und zwar an demselben Tage, als ich des Doktors Bekanntschaft machte.

Sie lautete:

„Erwarte Dich baldigst mit Verfügung über die erste und die sechs Stellen zu gemeinsamer Erledigung hier. Voraussetzung, daß sofort über die Stellen verfügt werden kann – Bloomberg.“

Nicht wahr – eine sehr harmlose Depesche! – Nun, wenn Du wie ich gewußt hättest, daß Firma Schimmelpfeng mir auf dem bewußten Zettel auch einen Herrn Severin Bloomberg in Stockholm als beachtenswert empfohlen hatte, dann würdest Du fraglos genau wie ich Dich entschlossen haben, diesen offenbaren Geschäftsfreund jenes Stockholmer Bloomberg nochmals aufzusuchen, nachdem Du von Gunnar Göllpaart die Geschichte von Palperlons Fahrkarte nach Stockholm gehört hättest. Vielleicht hättest Du auch probiert, der Depesche, die doch hinsichtlich der „Stellen“ etwas unklar gehalten war, eine weniger harmlose Deutung zu geben. – Was hieß das: mit Verfügung über die erste und die sechs Stellen?! – Warum telegraphierte Bloomberg nicht: über die sieben Stellen – falls es sich eben um irgend welche unbesetzten Stellen handelte?! – Nun – wenn man von Zahlen spricht, sagt man: eine vier-, eine fünf- und so weiter -stellige Zahl. Mich machte der Ausdruck „Stellen“ stutzig. Ich glaubte das Richtige gefunden zu haben: „die erste und die sechs Stellen“ bedeutete eine bestimmte Summe, die Doornblam mitbringen sollte, – eine Summe, bestehend aus einer ersten Zahl, nämlich eins, und sechs anderen, nämlich sechs Nullen! – Füge in die Depesche „eine Million“ statt der verschleiernden Worte ein, und Du hast einen ganz zwanglosen, vernünftigen Sinn darin, nämlich: „Erwarte Dich baldigst mit Verfügung über eine Million zu gemeinsamer Erledigung hier. Voraussetzung, daß sofort über die Million verfügt werden kann“. – Es handelt sich mithin um ein Geschäft, dachte ich, das Bloomberg zusammen mit Doornblam machen will und wozu dieser eine Million bereit haben muß.“

Ich konnte nur zustimmend äußern, daß diese Deutung auch mir als die gegebene erschiene.

„Ein Geschäft, zu dem der eine Partner eine runde Million zu sofortiger Verfügung, also in bar, mitbringen soll, – ein Geschäft, das durch eine so vorsichtige Depesche eingeleitet worden war und das in Stockholm erledigt werden sollte, wo vielleicht unser Palperlon weilte, mußte mich notwendig interessieren. Notwendig mußte ich auch dabei an das Melville-Armband denken, den so überaus kostbaren Talisman, der sehr wohl zwei dunkle Ehrenmänner reizen konnte, ihn trotz des Blutes, das daran klebte, zu erstehen.

Mein zweiter Besuch bei Doornblam geschah also schon in der festen Absicht, zu ergründen, ob der Doktor inzwischen vielleicht bei seinem Freunde Bloomberg telephonisch angefragt hätte, worum es sich bei dem Geschäft handele. Ich ahnte ja nicht, daß dieser Simson ein so schlauer Patron wäre, ahnte nicht, daß er mich – Na – ich will nicht vorgreifen! Du wirst Dich wundern, was mir dann zustieß!

Gegen Mitternacht ließ Doornblam[9] mich ein. Er bewohnt ein eigenes Haus, hält sich nur eine Köchin und einen Diener, der noch älter als er ist. – In seinem Studierzimmer stand schon eine Flasche Rheinwein bereit, zwei Römer dazu, Zigarren, Zigaretten und wundervoller Kaviar mit Röstschnittchen.

Ich beachtete all das nicht. Ich spielte den völlig Geknickten.

„Was haben Sie nur?“ fragte Doornblam sehr bald.

„Herr Doktor, ein Freund hat mich schmählich betrogen, bestohlen. Die Sachen, die ich Ihnen zum Kauf anbot, waren unser gemeinsames Eigentum. Er – er ist damit geflohen.“

Er machte ein sehr langes Gesicht. „Wissen Sie denn nicht, wohin der Mensch geflüchtet ist?“

„Nein – keine Ahnung. Er muß die Sachen schon vorgestern aus dem Versteck –“ ich hüstelte verlegen – „aus dem Schrank genommen haben. Aber – ich werde den Schuft finden! Und dann – dann soll er merken, mit wem er es zu tun hatte.“

– Lieber Alter, ich glaubte, ich schauspielerte vortrefflich. Ich weigerte mich, Doornblam die Brosche und das Armband genau zu beschreiben. Das hätte jetzt ja doch keinen Zweck mehr. Ich ließ sehr fein durchblicken, daß sie auf nicht ganz rechtmäßige Weise mein und meines treulosen Genossen Eigentum geworden.

Du verstehst, weshalb ich diese Komödie aufführte. Es sollte so scheinen, als ob mein Gaunerkompagnon vielleicht nach Stockholm geflüchtet war, falls eben das Geschäft, das Bloomberg dem Doktor vorgeschlagen hatte, sich wirklich auf dieses Armband bezog. Und ich hoffte, Doornblam würde sich irgendwie verraten, falls er mittlerweile von dem Stockholmer erfahren hatte, welches Objekt von ihnen gemeinsam erworben werden sollte. Ich beobachtete ihn heimlich. Ich merkte nichts – nichts. Dieser weiße Simson, mein Alter, war mir gewachsen, nein, überlegen!

Wir tranken Rheinwein, plauderten über allerlei. Dann meinte der Doktor, ob ich so einiges von mechanischen Spielereien verstände. Er habe da einen sehr alten Kraftmesser in Gestalt eines Ritters in voller Rüstung. Wenn man diesem die gespreizten Finger der Panzerhände zusammendrücke, zeige eine im halb offenen Munde des Ritters erscheinende Zahl die Druckkraft an. Das Ding sei nun letztens irgendwie in Unordnung geraten.

Ich besann mich, den Ritter bemerkt zu haben, als ich in der vergangenen Nacht des Doktors Sammlungen besichtigt hatte. Wir gingen hinüber in eins der Hinterzimmer. Dieser Kraftmesser war offenbar ein sehr altes Stück. Die Arme waren in Schulterbreite halb vorgestreckt. Doornblam erklärte mir, wie man am besten mit Untergriff die Panzerhände fasse. „Vielleicht haben Sie mehr Kraft als ich, Herr Podgorcz,“ sagte er weiter. „Es muß in der Maschinerie eine Feder übergesprungen sein. Möglich, daß sie bei sehr starkem Druck zurückgleitet.“

Ich war noch immer ahnungslos. Ich faßte zu – mit Unterarmgriff. Doornblam stand dicht neben dem Ritter.

Das heißt: ich wollte zufassen! Kaum lagen meine Hände unter den Panzerhänden, – da geschah das Unerwartete, da bewies der Ritter seine Heimtücke und der Doktor seine raffinierte Bosheit.

Die gepanzerten Hände schnellten vor, schlossen sich blitzschnell um meine Handgelenke, schlossen sich mit solcher Kraft, daß ich vor Schmerz leise aufschrie. Und vor mir stand Doornblam und grinste mich höhnisch an.

„Sehen Sie, Herr Harst,“ sagte er ironisch, „es gibt auch Leute, die schlauer sind als Sie. Viel schlauer! Sie kamen mir gleich gestern verdächtig vor. Daß ich Ihnen nachschlich, merkten Sie nicht. Jedenfalls: Sie sind Harald Harst! Leugnen hat keinen Zweck. Und – Sie sind ein überaus gefährlicher Mensch! Überaus gefährlich! Ich schätze Sie anders ein als unsere hiesige Presse. – Was wollten Sie bei mir, he? Lügen Sie nicht! Es hat wirklich keinen Zweck, Doktor Doornblam beschwindeln zu wollen. Gar keinen Zweck! Sie vermuten hier bei mir Arbeit zu finden? – Sprechen Sie! Und – nur ein einziges unwahres Wort, so drücke ich hier auf die zweite Feder und – sehen Sie dort die drei Löcher im Brustharnisch? Es sind die Öffnungen für drei lange Dolchklingen! – Ein Druck – und die Arme des Ritters krümmen sich; er reißt Sie an seine Brust. Diese Umarmung ist absolut tödlich, Herr Harst. – Nicht wahr, eine reizende mechanische Spielerei. Ich habe sie in Madrid erworben. Sie stammt aus der Zeit der Inquisition, als man die Ketzer zu Ehren Gottes zu tausenden köpfte, verbrannte, marterte, in siedendem Öl schwitzen ließ. – Also bitte! Sprechen Sie! Was wollten Sie hier? Was hofften Sie mit Ihrem Spürgenie hier herauszufinden?““

– Harst hatte mir die Hand schwer auf die Schulter gelegt.

„Ich sage Dir, – daß ich von dem Menschen kein Mitleid zu erwarten hatte, bewiesen mir seine kalten Mörderaugen. Ein alter Erfahrungssatz: wenn gebildete Leute heimlich dunkle Wege wandeln, sind sie schlimmer als einer, der mit zwölf Jahren schon stahl und mit zwanzig die Zuchthausvorschriften besser kennt als das Vaterunser.

Was sollte ich tun? Alles gestehen: daß er mir als zweifelhafter Ehrenmann genannt sei, daß ich dem Melville-Armband nachjage, daß ich die Depesche auf seinem Schreibtisch gelesen hätte, daß ich Palperlon in Stockholm vermutete?

Es war ein schwerer Entschluß. Ich gab mich verloren. Niemand wußte, daß ich bei Doornblam gewesen. Sagte ich die Wahrheit, würde er mich schon deshalb beseitigen, weil ich die Depesche kannte und auch wußte, daß er gestohlene Sachen erwarb. – Lügen – etwas erfinden? Ja – was? Der Mensch war zu klug für jede Ausrede.

Das überlegte ich mir, während meine Handgelenke in der Umklammerung der eisernen Schraubstöcke brannten und Doornblam den rechten Zeigefinger auf einen aus der rechten Hüfte des Ritters herausragenden Knopf gelegt hatte. Über diesem Knopf befand sich ein zweiter. Meine Blicke hafteten wie gebannt darauf. Mein Gedankengang wurde unmerklich ein doppelter. Ich erwog die Aussichten einer klug erfundenen Lügengeschichte, erwog zugleich die Möglichkeit einer ganz sicheren Rettung, denn zu einem Lügengespinst hatte ich kein rechtes Vertrauen.

Dann – neben mir das halblaute Hohnlachen Doornblams.

„Na – haben Sie schon mit Ihrer unerschöpflichen Phantasie etwas entdeckt, was ich vielleicht glauben könnte?“ meinte er mit grimmem Spott. „Geben Sie sich keine Mühe, Verehrtester! Ich sah, daß Sie die Depesche lasen und darauf stierten, als wär’s eine große Offenbarung! Ja – ich sah’s, – damit Sie auch das wissen, sah’s und – wickelte Sie dann allgemach so fein ein, daß Sie jetzt verloren sind. Ich bin nicht der Mann, der halbe Arbeit tut. Nur Sie können Bloomberg und mir gefährlich werden. Nur Sie! Die Polizei verlachen wir. Sie werden verschwinden – so spurlos, daß auch Ihr Freund Schraut Sie niemals finden wird! – Es gibt nur eine Rettung für Sie: die volle Wahrheit!“

Daß er log, daß er mich nie mehr aus seinem Hause lebend hinauslassen würde, war mir sofort klar. Er wollte die Wahrheit hören, um sein Verhalten danach einrichten zu können.

Und das Bewußtsein, jetzt dem Tode so nahe gegenüberzustehen, diese Überzeugung, daß nur meine kühlste Ruhe mich befreien könnte, war wie ein Medikament, das die Nerven künstlich wieder für kurze Zeit in Ordnung bringt. Die Umklammerung des teuflischen Mordwerkzeugs hatte mich zu plötzlich betroffen. Ich mußte wieder erst ich selbst werden. Und – ich war wieder derselbe Harald Harst, der selbst damals in Kingston uns rettete, als wir elektrisch hingerichtet werden sollten.“

Er schwieg, langte in die Tasche, zündete sich eine Zigarette an. Und meine Gedanken eilten derweil zurück zu der „Verschwundenen Million“, wie ich unser damaliges Abenteuer in Band 11 des „Detektiv“ bezeichnet habe. – Kingston! Das war ja der Beginn unseres Kampfes gegen Warbatty-Palperlon gewesen.

– – – – – – – –

„Ich war wieder ich selbst!“ fuhr Harst fort. „Und – in demselben Augenblick hatte auch Doornblam verspielt.

„Herr Doktor,“ sagte ich, „halten Sie mich für so töricht, daß ich mich zu Ihnen wagen würde, ohne meinen Rückzug mir genügend zu decken?! Den Tod fürchte ich nicht. Wir müssen alle einmal sterben. Und ich sterbe in der Gewißheit, daß Sie mir sehr bald folgen werden. Wollen Sie bitte nur einen kurzen Blick aus dem Fenster Ihres Arbeitszimmers auf die Straße werfen. Aber – schalten Sie dabei das Licht nicht aus. In demselben Augenblick, wo es erlischt, ohne daß ich vorher die Straße betreten habe, geschieht zweierlei. Was – behalte ich für mich!“

In seinem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck schnell wachsender Unruhe. Dann meinte er achselzuckend:

„Gut – ich kann ja mal nachsehen! Aber – bewegen Sie sich nicht. Der Todesmechanismus wird auch ausgelöst, sobald man zu stark an den Armen des Ritters rüttelt. – Ich bin Ihrer ja ganz sicher. Diese Eisenhände sind besser als Patenthandschellen.“

Er ging zur Tür nach den Vorderzimmern hin. Er ließ die Tür hinter sich offen.

Ich wandte nur einmal den Kopf dorthin. Dann – hob ich das linke Bein. – Alles hing jetzt von meiner Geschmeidigkeit ab. Ich hob es, fand mit der Spitze des Fußes den oberen Knopf, drückte – drückte.

Und – war frei! Die Hände hatten sich geöffnet. Ich war frei, riß die Pistole aus der Tasche, schlüpfte hinter Doornblam drein; fand ihn – an seinem Schreibtisch sitzen, den Federhalter in der Hand.

Ich wartete. Er schrieb – schrieb hastig. Dann trocknete er den Zettel mit dem Löscher, lachte leise auf, erhob sich.

Wir standen uns gegenüber. Und – er lächelte.

„Lieber Herr Harst,“ sagte er schnell, „da – lesen Sie!“ Ich nahm den Zettel mit der Linken. Die Rechte hielt die Pistole, und der Zeigefinger war um den Abzug gekrümmt. Ich trat drei Schritt zurück, überflog die Zeilen, ließ den Doktor trotzdem nicht aus den Augen.

„Ich habe Ihnen nur beweisen wollen, verehrter Herr Harst, daß ich ungefähr Ihnen gewachsen bin. Alles war ein Scherz, wenn auch ein etwas brutaler. Weder Bloomberg noch ich haben Sie zu fürchten. Dr. Doornblam.“

Einen Moment wußte ich nicht, was ich von diesem „Scherz“ zu halten hätte.

Da sagte Doornblam schon: „Ich sehe, es ist gekommen, wie ich vermutet habe. Ich verließ das Zimmer nur, damit Sie sich mit dem Fuße befreien sollten. – Entschuldigen Sie, Herr Harst, – es war aber wirklich nur ein Scherz.“

„Das merke ich jetzt selbst, Herr Doktor. Immerhin ein sehr übler Scherz.“ Ich steckte die Pistole ein und verbeugte mich. „Leben Sie wohl. Ihr Haus enthält denn doch zu unangenehme Überraschungen.“

Er bat mich aufs liebenswürdigste, zu bleiben. Ich erklärte, ich müßte heim.

Dann ging ich. Und – wie, wie atmete ich auf! – Schraut: der Mensch war gefährlicher als Palperlon! Siehst Du das ein? Bedenke: er hat natürlich beobachtet, wie ich mich so blitzschnell befreite, hat sein Spiel verloren gegeben, sich an den Schreibtisch gesetzt! – Ich will mich bei dem Folgenden nun kürzer fassen. Ich war darauf vorbereitet, daß Doornblam versuchen würde, mich auf andere Art auszulöschen. Und – ich wollte ihm dazu Gelegenheit geben! Ich wollte nachprüfen, ob er sich wirklich nochmals an mich heranwagen und wie er’s tun würde. Deshalb setzte ich mich damals an den Schreibtisch, der ja links neben dem einen Fenster stand, und teilte Dir schriftlich mit, was ich Dir ebenso gut auch hätte erzählen können. Ich wollte eben nur irgend eine Schreibarbeit haben. Aber bevor ich den Brief begann, erledigte ich noch so einiges andere. Ich ließ die Vorhänge eine Handbreit am Fenster offen so daß man mich von draußen sehen konnte, aber nur von einer bestimmten Stelle des Tennisplatzes aus. Dort stellte ich die Trittleiter des Gärtners auf, löste aber oben die Schrauben der Gelenke so, daß sie unter einem Gewicht wie dem Doornblams zusammenbrechen mußte. Nur von der Leiter aus war der Schreibtisch zu überblicken, nur von dort her konnte jemand auf mich – schießen.“

Harst holte aus der Westentasche ein längliches, mit einer stearinähnlichen Masse umgebenes Bleigeschoß hervor.

„Da – das fand ich neben der umgestürzten Leiter. Es ist das Geschoß einer jener amerikanischen Luftbüchsen, deren Durchschlagskraft es mit jedem Jagdgewehr aufnimmt. Ich fand es, als das Geräusch der zusammenbrechenden Leiter um halb zwölf mir sagte, daß Doornblam mir in die Falle gegangen war. Ich trat sofort ans Fenster, öffnete es, sah einen Menschen hinkend fliehen, folgte ihm nicht allzu rasch. An der massigen Gestalt erkannte ich den Doktor. Ich ließ ihn entwischen. Ich war ihn los, beendete den Brief und – verschwand, bezog ein anderes Quartier in anderer Maske, beobachtete Doornblams Haus, sah den Depeschenboten es betreten und folgte dem Doktor dann abends nach Malmö, wo wir den Zug bestiegen, den auch Du gewählt hattest. Nachdem alles in den Schlafwagen zur Ruhe gegangen war, wollte ich mich in Doornblams Kabine einschleichen. Ich hoffte, daß ich bei ihm das Telegramm finden würde, das der Bote ihm vormittags gebracht hatte. So kam es, daß ich eine Frauengestalt bemerkte, die an des Doktors Kabinentür lauschte. Sie verließ den Wagen; ich folgte ihr bis Kabine Nr. 14, wo sie verschwand. Sie riegelte sich ein. Das Loch war bald gebohrt. Ich sah gerade noch, wie sie einen Männeranzug anlegte. Dann scheuchte mich einer der Schaffner davon. Als ich meine Kabine wieder betreten wollte, hörte ich undeutlich einen Schrei. – Das weitere weißt Du. Ich überraschte Dich; ich fand in Doornblams Koffer diese Depesche. Und – das Loch in der Tür von Nr. 14 wird Dir verraten haben, daß deren Inhaber oder Inhaberin ebenfalls durch das Fenster hinausgestiegen war. Der Fenstervorhang flatterte ja zur Genüge. – Der Doktor ist auf dem Wagendach erstochen worden. Er stieß den Schrei aus. Und der Mörder oder die Mörderin – das Weib trug Hut und dichten Schleier! – wird das Risiko auf sich genommen haben und von dem fahrenden Zuge abgesprungen sein. Wer geschickt ist und die richtige Stelle dazu auswählt, kommt mit ein paar Hautabschürfungen davon. – So – nun lies diese zweite Depesche.“

Er reichte sie mir.

„Reise mit Nachtzug. Geschäft sehr dringend. Ich erwarte Dich bestimmt. – Bloomberg,“

so lautete das Telegramm.

Harst stand auf. „Es wird kühl; gehen wir. Die Sonne hat nur für eine halbe Stunde mit ihrer Wärme geprahlt. Es ist auch Zeit, daß Du Bloomberg besuchst.

Um 3 Uhr nachmittags schließt er seinen Antiquitätensalon,“ sprach Harst weiter. „Du wirst sehr vorsichtig sein müssen. Bloomberg dürfte gerade jetzt überaus mißtrauisch sein. Der Laden befindet sich in der Drottninggatan Nr. 51. Sehr wahrscheinlich wirst Du dort genau denselben Wachskopf auf der Schüssel bemerken, wie ich ihn Dir beschrieben habe. Du kaufst ihn, fragst aber, ob er garantiert echt, das heißt ein paar Jahrhunderte alt ist. Handele auch tüchtig, feilsche um jede Krone; deute trotzdem an, daß Du selbst das Teuerste bezahlen könntest, und flechte ein, Du hättest eine Vorliebe für historischen Schmuck. – Na – Du wirst Deine Sache schon gut machen, mein Alter.“

Wir fuhren mit dem kleinen Dampfer nach der Anlegestelle zurück. Schon auf dem Dampfer taten wir fremd. Wir hatten uns schon vorher lebewohl gesagt.

Ich nahm eine Droschke und ließ mich nach der Drottninggatan 51 fahren. Der Laden war wie das Haus schmal und tief. Zahlreiche elektrische Beleuchtungskörper brannten hier und bestrahlten eine Unmenge zum Teil geradezu kostbarer Gegenstände. In der Mitte des Ladens bemerkte ich linker Hand eine Art großen Glaskasten, das Kontor. Dort saß ein Mädchen und tippte Schreibmaschine. Außerdem standen noch zwei Herren in zwangloser Haltung neben einem großen Diplomatenschreibtisch. Der ältere der beiden, ein Kahlkopf mit blondem Spitzbart, Goldkneifer und rundem Bäuchlein unter der weißen Weste, winkte dem Fräulein, nachdem er mich durch die Glaswand kurz gemustert und mir eine höfliche Verbeugung gemacht hatte.

Das Fräulein, ein älteres, verblühtes und leidend aussehendes Geschöpf mit kurzsichtigen Augen, fragte nach meinen Wünschen.

„Ich möchte den Salon besichtigen und vielleicht dies und jenes kaufen,“ erklärte ich in meinem nicht gerade tadellosen Englisch.

Das Fräulein führte mich herum. Sie sprach fließend Englisch. Sie leierte alles, was sie über die Gegenstände zu sagen wußte, wie auswendig gelernt herunter. Als wir in den ersten Stock hinaufstiegen, verabschiedete sich der andere Herr von Severin Bloomberg, und dieser eilte uns nun die Wendeltreppe empor mit großer Beweglichkeit nach, schickte das Fräulein weg und entschuldigte sich, weil er nicht sofort mir zur Verfügung gestanden hätte.

„Der Herr war der Leiter der hiesigen Detektivpolizei, Inspektor Brodersen. Er überbrachte mir die traurige Nachricht, daß ein alter Bekannter von mir unterwegs von Malmö nach hier ermordet und völlig ausgeplündert worden ist. Ich weiß nun zufällig, daß mein Bekannter, der Doktor Doornblam aus Kopenhagen, eine beträchtliche Summe Geldes bei sich führte. Der Polizei war dies sehr interessant – hm – sehr wichtig. Brodersen hat mich deshalb auch recht lange aufgehalten. – Mein Herr, dies hier ist eine Schnitzerei aus dem alten Troja. Garantiert echt –“ Er war nun ganz Geschäftsmann.

Einen ungünstigen Eindruck machte Bloomberg nicht. Er war nur sehr fahrig und nervös. Dies konnte allerdings auf Doornblams Tod zurückzuführen sein.

Dann standen wir vor einem elfenbeineingelegten Tischchen. Und auf diesem Tischchen war eine Schüssel mit einem Wachskopf aufgestellt.

„Was ist denn das?“ fragte ich. – So begann der Handel um den Wachskopf. – Bloomberg versicherte, diese mechanische Spielerei sei nur in drei Exemplaren vertreten und stamme aus Nürnberg, sei etwa 400 Jahre alt.

„Gewiß – für die Echtheit übernehme ich volle Garantie,“ sagte er dann. „Derartige Dinge fertigt man heutzutage nicht mehr an, mein Herr. – Sie sind Deutscher, nicht wahr? – Ah – Schriftsteller! So so – mehr im Nebenberuf, – mehr Rentier als Schriftsteller. Da darf man gratulieren. – Was der Kopf kostet?“ Er zögerte. „Fünftausend Kronen. Es ist das ein sehr geringer Preis.“

Ich feilschte, und nach zehn Minuten hatten wir uns auf 4500 Kronen geeinigt. Als ich bezahlte, fragte ich so nebenher, ob er vielleicht auch antike Schmuckstücke zur Auswahl hätte. „Ich besitze eine kleine Sammlung. Letztens kaufte ich in Paris einen Ring der Königin Marie Antoinette, ein wundervolles Stück. Es war fabelhaft billig – 180 000 Mk., – in Anbetracht des historischen Wertes geschenkt!“

Bloomberg biß sofort an. „Gewiß – gewiß – ich habe sogar einige Sachen, die einen Millionenwert darstellen –“

„Das tut nichts. Wenn sie nur echt sind und – ihre Geschichte haben.“ Ich lächelte Bloomberg an und kniff das eine Auge zu. „Diese Geschichte darf sogar – hm – etwas abenteuerlich sein. In dieser Beziehung denke ich wie mein Freund Seymour aus Chikago, der Schweinekönig, – Sie wissen wohl. Der kauft Gemälde, die er niemandem zeigen darf – ganz unter uns gesprochen.“

Bloomberg grinste. Ja – es war ein Grinsen, kein verständnisinniges Lächeln, – ein Grinsen, das seine Seele mit einem Male bloßlegte.

„Bitte, wollen Sie mich morgen früh um 8 Uhr vielleicht aufsuchen,“ flüsterte er, sehr geheimnisvoll tuend. „Ich öffne das Geschäft erst um neun. Da hoffe ich Ihnen so einiges vorlegen zu können, was – hm – nur unter Diskretion veräußert wird.“

Er grinste wieder. Mein „Freund Seymour“ hatte ihn offenbar vertrauensselig gemacht. – Ich nahm den Karton mit dem Wachskopf und verabschiedete mich. Bloomberg brachte mich bis zur Ladentür, meinte dann noch: „Ich wohne im 2. Stock. Der Eingang zu meiner Privatwohnung liegt in der Gvestragatan, der nächsten Querstraße. Mein Garten zieht sich rechtwinklig bis dorthin. An der Pforte der Gartenmauer finden Sie mein Schild und eine Glocke. – Auf Wiedersehen, mein Herr.“

– – – – – – – –

Eine Viertelstunde drauf saßen wir in Harsts Hotelzimmer. Der Wachskopf stand auf dem Tisch. Harst hatte an der Unterseite des Metalltellers mit dem Messer die künstliche Patina abgekratzt und das bloße, blanke Metall freigelegt. „Ich gehe nachmittags mit dem – Teller – der Kopf ist nur aufgeschraubt – zu einem Goldschmiede und lasse mir bescheinigen, daß es sich um eine moderne Metallegierung handelt,“ hatte er gesagt.

Und als ich mit meinem Bericht über meinem Besuch bei Bloomberg zu Ende war, meinte er: „Lieber Alter, Du hast Deine Sache vorzüglich gemacht. Du kannst nächstens Hochstapler werden. Dieser Schweinekönig Seymour war ein famoser Einfall.“

Ich begriff Harsts gute Laune nicht recht. „Hm – sind wir denn durch meinen Besuch bei Bloomberg irgendwie einen Schritt vorwärts gekommen?“ fragte ich. „Und soll ich morgen früh zu ihm gehen? Er wird mir ja fraglos sehr seltene und fraglos auch Gott weiß wo gestohlene Schmucksachen vorlegen. Wie rede ich mich dann heraus, wenn ich nichts kaufe? Und schließlich, selbst wenn Palperlon bereits das Armband der Melvilles an Bloomberg veräußert haben sollte, –“

„– was nicht der Fall ist, – bestimmt nicht!“ fiel Harst mir ins Wort. „Palperlon besitzt es noch. Das weiß ich jetzt.“

„Woher denn?“

„Mein Geheimnis, mein Alter! – Ich weiß noch mehr. Ich habe mich, während Du bei Bloomberg warst, bei dessen einzigem Konkurrenten hier nach ihm erkundigt. Er ist – Spieler! Der Inhalt seines Ladens ist das einzige, was er noch besitzt. Das Haus ist über und über belastet. Vor einem Jahr stand es noch anders mit seinen Finanzen. – Ganz interessant, nicht wahr? Schade: wenn er schlank wäre, dieser Ehrenmann, wenn er eine schlanke, verschleierte Dame hätte mimen können, dann – dann würde ich, falls er gestern nach Malmö gereist wäre, sagen, daß er Doornblams Mörder ist. Aber bei solcher Korpulenz ist das ausgeschlossen. Und sein Bauch dürfte echter sein als seine Altnürnberger mechanischen Spielereien. Doch nun wollen wir nach unten in die Kapitänkneipe und Mittag essen. Du wirst dort einen Herrn kennen lernen, den ich telephonisch „im Kostüm“ herbestellt habe. Von Ansehen kennst Du ihn schon.“

Wir saßen dann kaum zehn Minuten an unserem Tisch und waren gerade beim Fischgericht, als ein älterer, wettergebräunter Mann mit Goldtresse an der blauen Mütze bei uns Platz nahm.

Als die Kellnerin außer Horchweite, sagte Harst: „Du gestattest: Herr Inspektor Brodersen, Chef der hiesigen Kriminalpolizei.“

Ich wollte Brodersen erklären, ich hätte ihn heute schon bei Bloomberg bemerkt, aber Harst trat mir noch rechtzeitig auf den Fuß, so daß ich dem begonnenen Satz einen anderen Schluß geben konnte.

„Herr Inspektor,“ flüsterte Harst dann, „wer ich bin, wissen Sie. Wollen Sie mir helfen, jenen James Palperlon in dieser Nacht zu fangen? – So, dann umstellen Sie bitte mit Ihren Leuten ganz unauffällig von abends 8 Uhr an dieses Haus.“

Er schob ihm einen Zettel hin. Brodersen las, stutzte und Harst nahm ihm den Zettel wieder ab, sprach sofort von dem Naturmuseum Skansen sehr laut und zerrieb den Zettel zwischen den Fingern. Brodersen wollte allerlei offenbar noch fragen, hatte damit jedoch kein Glück, da Harst ihm sofort erklärte, ohne ihn ausreden zu lassen: „Sie sollen’s wissen, sobald ich Palperlon Handschellen angelegt haben werde. Diesmal entwischt er mir nicht.“ –

Es war ¾8 abends. Harst hatte den 400 Jahre alten Wachskopf und den Teller wieder eingepackt. Wir brachen auf. Es regnete sacht. Die Straßen waren still und einsam, der Südwind hatte den Qualm der Dampferschlote in die Straßen des Geschäftsviertels gedrückt. Es roch nach Rauch und heißem Schmieröl. Es war der typische Hafenduft.

In einer engen Gasse machte Harst vor einem schmiedeeisernen[10] Tore halt. Daneben lag eine kleinere, zierliche Pforte. Es gab da eine elektrische Glocke in Form einer Menschenhand, die man anheben mußte. Darüber war ein kleines Messingschild befestigt. Ich bückte mich, strich ein Zündholz an, las:

S. Bloomberg.

Da ging mir ein Licht auf. – Harst nickte mir zu. „Ja, zunächst kommt der Dicke heran!“ –

In der Pforte befand sich ein Klappfenster. Es öffnete sich. Bloombergs Gesicht erschien.

„Wir möchten des Nürnberger Kopfes wegen mit Ihnen reden,“ sagte Harst. „Das Ding ist unecht, Dutzendware. Mein Bekannter zeigte mir seinen heutigen Einkauf. Wenn Sie den Kopf nicht zurücknehmen und zwar sofort, zeigen wir Sie wegen Betruges an. Und – nicht für eine Krone machen wir je wieder mit Ihnen Geschäfte. Sollten Sie selbst mit dem Wachskopf angeschmiert worden sein, so werden Sie uns das leicht beweisen können.“

Bloomberg ließ uns ein. Sein Arbeitszimmer, gleichzeitig Bibliothek, lag nach der Drottninggatan hinaus und war ein Saal fast. Wir nahmen auf einem Ecksofa Platz. Über dem runden Eichentisch brannte eine Lampe mit gelbem Seidenschirm.

Harst legte Bloomberg das Gutachten des Goldschmieds vor, daß der Teller höchsten 25 Jahre alt sein könnte und die Räder des Uhrwerks des Kopfes gestanzt wären – also ebenfalls neueren Datums. – Bloomberg fuchtelte mit den Armen umher, rief, schwor, er sei selbst mit dem Wachskopf hineingelegt worden. Sein Freund Doornblam würde bezeugen können, falls er noch lebte, daß –

Da machte Harst eine sehr bestimmte, kurze Handbewegung. „Lassen wir das jetzt. Mein Freund Schraut sollte den Kopf ja nur kaufen, damit ich einen Vorwand hätte, Sie in Ihrer Privatwohnung zu sprechen. – Ich heiße etwas anders, als wir Ihnen vorhin sagten. Ich bin Harald Harst. Vielleicht kennen Sie den Namen.“

Bloomberg war in seinem Sessel matt zusammengesunken, hatte plötzlich dicke Schweißperlen auf dem Gesicht und stammelte: „Harst – Harst! – Be – beweisen Sie mir das?“ Er faßte sich langsam, wurde frech aus Angst. „Ich habe mit Ihnen beiden nichts zu schaffen. Ich werde Ihnen sofort die 4500 Kronen für den Wachskopf zurückzahlen und –“

„– und jetzt schweigen!“ unterbrach Harst ihn kalt. „Jetzt rede ich. – Sie haben an Ihren Freund Doornblam eine Depesche geschickt folgenden Inhalts.“ Er wiederholte den Wortlaut des ersten Telegramms. „Diese Depesche konnte sich nur auf eines jener faulen Geschäfte beziehen, die man Ihnen beiden nachsagt: Hehlerei im großen! – Bleiben Sie sitzen! Sobald Sie Miene machen zu fliehen, fesseln wir Sie. Ich sage Ihnen auch gleich, daß Ihr Grundstück von Inspektor Brodersens Leuten umstellt ist. Es wird ganz von Ihrem Verhalten abhängen, wie Brodersen nachher mit Ihnen umspringt. Seien Sie also vernünftig, Mann, und leugnen Sie nichts ab. – Also die Depesche mußte sich auf ein großartiges Hehlergeschäft beziehen, auf eine Millionensache. Doornblam sollte ja in bar eine Million mitbringen. Sie selbst konnten das Geschäft allein nicht machen. Sie verfügen über Barmittel nicht mehr. – Als ich diese Depesche mir ihrer wahren Bedeutung nach klar gemacht hatte, kannte ich auch das Vorspiel zu diesem Telegramm. Es ist vor kurzem ein Mann zu Ihnen gekommen und hat Ihnen ein Armband angeboten – das sogenannte Melville-Armband. Da Sie selbst es nicht erwerben konnten, erklärten Sie dem Manne, Sie würden es gemeinsam mit einem Freunde erwerben. Der Besitzer des Armbandes war jedoch vorsichtig, weil er dazu eben allen Grund hatte, und wollte wissen, wer dieser Freund wäre. Sie nannten den Namen und werden dem Manne auch mitgeteilt haben, was Sie an Doornblam depeschieren wollten.“

Bloomberg trocknete sich die feuchte Stirn, erklärte ganz heiser: „Der Mensch verlangte sogar, daß ich die Depesche in seiner Gegenwart abschickte. Und er drohte mir, sich nicht mehr bei mir sehen zu lassen, falls ich mich mit Doornblam ohne sein Wissen außerdem noch in Verbindung setzte.“

„Ähnliches habe ich mir gedacht,“ nickte Harst. „Sie verabredeten mit dem Manne ein neues Zusammentreffen nach Ankunft Doornblams – für diesen Abend. Inzwischen haben Sie den Mann nicht wieder gesehen. – Sie schweigen – also trifft auch dies zu. – Der Armbandbesitzer – wir können ihn ruhig Palperlon nennen, denn Sie dürften mittlerweile aus den Zeitungsberichten über den Fall Melville diesen Namen erfahren haben – hat dann an Doornblam ohne Ihr Wissen eine zweite Depesche geschickt und dem Doktor vorgeschrieben, mit welchem Zuge er fahren solle. Denn Palperlon wollte seinem Opfer, als Frau verkleidet, in Malmö auflauern und es ermorden und berauben. Palperlon ist Doornblams Mörder. Er hat auch hier wieder bewiesen, was er alles fertig bekommt. Ich wette, der Gedanke Doornblam auszuplündern, kam ihm erst, als er von Ihnen dessen Namen hörte. Deshalb hat er Ihnen auch verboten, irgendwie noch mit dem Doktor über das Geschäft vorher sich in Verbindung zu setzen. Er hatte eben schon die zweite Depesche im Kopfe fertig, als er Ihnen dies untersagte. – Wenn ich soeben behauptete, Palperlon hätte mit Ihnen für heute ein Stelldichein verabredet, so war die Unterlage für diese Behauptung Ihre heutige Bitte an Schraut, er möchte Sie morgen früh suchen. Denn Sie hofften, trotz der Ermordung Doornblams und trotzdem Ihnen nun das Geld für dieses Hehlergeschäft fehlte, Palperlon zu überreden, an den deutschen Schriftsteller das Armband zu veräußern und Ihnen als Vermittler anständige Prozente abzugeben.“

Bloomberg senkte den Kopf.

„Wann und wo wollten Sie sich mit Palperlon treffen?“ fragte Harst nun. „Ich nehme an, hier bei Ihnen. Wahrscheinlich erst nachts.“

Der gänzlich verstörte Bloomberg leckte sich die trocken gewordenen Lippen, stöhnte auf: „Er – er hat mir mit dem Tode gedroht, falls ich ihn verraten würde. Er –“

„Bitte – wann wollte er hier erscheinen?“

„Um zwölf Uhr,“ sagte Bloomberg zögernd.

„Gut. Sie werden ihn empfangen, als ob hier alles in Ordnung wäre. Lassen Sie sich nichts anmerken, Bloomberg. Palperlon ist schlau. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiele steht. –“

Es schlug draußen von Stockholms Türmen Mitternacht. Harst und ich hockten unter einem Tisch mit tief heruntergezogener Decke gegenüber dem Ecksofa. Vor drei Minuten war Bloomberg hinab an die Gartenpforte gegangen, um Palperlon zu erwarten.

In dem saalartigen Zimmer schlug jetzt auch eine alte Standuhr zwölf. Sie hatte einen unangenehmen schrillen Ton, der mir auf die Nerven fiel. Ich zählte die Schläge ungeduldig mit –

– acht – neun – zehn –

Da – ein undeutlicher Knall – ein Schuß vom Garten her. – Harst packte meinen Arm. „Du – ich fürchte, daß das einzige Bedenken, das ich gegen diese Falle hier hatte, sich erfüllt hat,“ flüsterte er. „Ein Mensch wie Palperlon wird den Garteneingang heute nicht aus den Augen gelassen haben – aus Vorsicht! Er wird uns gesehen haben, wie wir zu Bloomberg mit dem Karton kamen. Aber – er sah uns nicht wieder weggehen! Und – da wird er mißtrauisch geworden sein. Da wird er vielleicht soeben an der Pforte Bloomberg einen Verrat auf den Kopf zugesagt und dabei dieses Waschlappens sicherlich scheues Benehmen richtig gedeutet und – über die Verräterei mit einer Revolverkugel quittiert haben! – Wenn nur Brodersens Leute –“

Laute Schritte draußen im Flur. Die Tür flog auf.

Es war Brodersen mit zwei Beamten, denen zwei andere folgten, die eine gefesselte, recht elegant gekleidete Dame zwischen sich hatten.

Wir verließen unser Versteck. Harst drehte schnell die große elektrische Krone an. Tageshelle durchflutete den Raum.

Die Dame hatte den weißen Schleier hochgeschlagen. Sie neigte jetzt vor Harst mit beinahe kokettem Lächeln das Haupt, sagte mit klangvoller, männlicher Stimme:

„Ich gratuliere! Sie haben gesiegt, Harst! Daß Sie gerade hier mit der Polizei Hand in Hand arbeiten würden, ahnte ich nicht. Ich wußte sofort, als ich zwei Herren um 8 Uhr vor der Parkpforte sah, wer diese beiden waren. – Nun – Bloomberg hat seinen Lohn empfangen. Die Kugel dürfte mitten in der Stirn sitzen.“ Dann riß das Weib sich vorn die Bluse auf, warf drei Päckchen auf den Tisch. „Bitte – das Melville-Armband, die Million, die ich Stripley abnahm und die zweite, die mich Doktor Doornblam so leicht erwerben ließ!“

Harst trat ganz dicht an die stark gepuderte Person heran, deren Gesichtszüge zum mindesten einen pikanten Reiz hatten, faßte das rechte Handgelenk, hob ihre Hand und schaute auf den Mittelfinger.

„Schraut!“ winkte er mir zu. Ich kam näher. Und ich erblickte an der Spitze des Mittelfingers eine tiefe Narbe, – diese Narbe, die für uns das einzige Erkennungszeichen Palperlons war.

Harst ließ die Hand los. „Herr Inspektor,“ wandte er sich an Brodersen. „Dieser verkleidete Mann ist James Palperlon! Ich rate Ihnen dringend, ihn aufs allersorgfältigste zu bewachen. – Gute Nacht. Ich bin müde.“ –

Die Stockholmer Presse machte gut, was die Kopenhagener gesündigt hatte. Harst war der Held des Tages. –

Und James Palperlon!? – Das ist ein Kapitel für sich – ein sehr spannendes Kapitel, wert, unter dem Titel

 

Die Rätselbrücke

 

besonders behandelt zu werden.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Graalsarie“.
  2. Kommers – Hochoffizielle Feier, die vor allem bei Studentenverbindungen abgehalten wird.
  3. In der Vorlage steht: „mt“.
  4. In der Vorlage steht: „ale“.
  5. In der Vorlage steht: „Miesgoeslaw Podzrcz“ – Hier ist ein simpler „Buchstabendreher“ drin: das „go“ im Vornamen und das erste „z“ im Nachnamen sind miteinander vertauscht.
  6. Simson – Auserwählter Gottes, der solange unbesiegbar war, wie sein Haupthaar ungeschoren blieb.
  7. Hebe – Göttin der Jugend.
  8. In der Vorlage steht: „deren“.
  9. In der Vorlage steht: „Bloomberg“.
  10. „schmiedeeiserne“ / „schmiedeiserne(n)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich und bandübergreifend auf „schmiedeeiserne(n)“ geändert.