Sie sind hier

Der tote Tümmler

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 127:

 

Der tote Tümmler

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1924 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Herrn Grulls Herbstgäste.

Die wenigsten Menschen dürften wissen, daß die Ostsee, die den meisten nur als Fanggebiet für Flundern und als Riesenbadeanstalt bekannt ist, Fische von einer Größe beherbergt, wie man solche Ungeheuer sonst nur in anderen Meeren antrifft.

Wir, Harald Harst und ich, hatten einmal in Pillau, der kleinen Seefestung an der Pregelmündung in Ostpreußen, beruflich zu tun, wanderten dabei auch am Strande entlang und kamen so an eine entlegene Stelle, wo unter großen Eisenkesseln mächtige Holzfeuer lohten.

Der Geruch verriet uns, daß hier Tran ausgeschmolzen wurde.

Unweit dieser primitiven Trankocherei sahen wir im Sande Fische von einer Länge liegen, die uns überraschte. Es waren Exemplare darunter, die bis zu dreiundeinhalb Meter maßen, und all diese spindelförmigen schlanken[1] Wasserbewohner waren auf der schwärzlichen Haut mit leichten Härchen bedeckt, während auch die Kopfform entfernt an die eines Schweines erinnerte.

Die Fischer erklärten uns, es seien Tümmler oder Schweinfische, die man hier in großen Netzen finge, um die Speckschicht zu Tran sieden zu können.

Der Tümmler gehört zu der großen Familie der Delphine, kommt selten in die Nähe der Küsten und dürfte daher, wie ich schon eingangs bemerkt habe, nur wenigen Binnenländern bekannt sein. Ich hielt es daher auch für meine Pflicht, dieses unser Abenteuer mit dem toten Tümmler durch einige kurze Angaben über diese Fischart einzuleiten. – –

Die wenigen warmen Oktobertage 1923 verlebten wir beide zu unserer Erholung an der See.

Wir hatten gerade stille Zeit, nachdem der Fall Lord Goßweac in recht überraschender Weise erledigt worden war, den ich ja im vorigen Band unter dem Titel „Der Bouillonkeller Nr. 113“ geschildert habe.

Sellin auf Rügen war unser Reiseziel. Doch bereits am zweiten Tage nach unserer Ankunft erreichte uns hier ein Brief, den Haralds Mutter uns nachgeschickt hatte.

Und dieser Brief eines biederen pommerschen Ostseefischers lautete:

Neuhof bei Heringsdorf, Usedom,

11. Oktober 1923.

Geehrter Herr Harst!

Entschuldigen Sie, wenn ich Sie hier mit einigen Zeilen belästige. Soeben lese ich in einer Berliner Zeitung, wie Sie in Berlin die Mörder des reichen Engländers ermittelt haben und ersehe daraus, daß Sie wohl ein bekannter Detektiv sind, wie man Leute nennt, die klüger als die Verbrecher sein müssen.

Ich möchte Ihnen, geehrter Herr, nun etwas mitteilen, was mir nicht so ganz richtig vorkommt.

Ich besitze hier im Dorfe Neuhof, das mit dem Seebad Heringsdorf nach der See hin zusammenstößt, ein Haus und vermiete an Sommergäste. Die Saison ist ja längst vorüber, aber diesmal haben wir doch noch Herrschaften bei uns wohnen, und zwar ein Ehepaar namens Möller aus Berlin. Sie kamen vor einer Woche an und bezahlten gleich für vierzehn Tage voraus, mit Essen.

Da ich nun nachts regelmäßig erst so gegen zwölf Uhr mit meinem Boot vom Fischfang heimkehre, weiß ich, daß die Möllers immer noch auf sind. Sie haben die beiden Zimmer unten links im Erdgeschoß genommen, und wenn man auf den einen Pfahl der Vorgartentür steigt, kann man über die oben etwas kurzen Fensterladen in die Zimmer hineinsehen.

Ich war nun doch neugierig, was die Leute so spät abends immer noch tun, und da habe ich denn bei ihnen zwei fremde Herren schon dreimal gesehen, die im Zimmer hin und her gingen. Die Möllers sprechen nun niemals über diese Besucher, Herr Harst, was doch recht merkwürdig ist. – Außerdem aber noch etwas: der Möller hat eine Perücke, und auch sein blonder Spitzbart ist nur angeklebt, obwohl sehr geschickt. Man merkt es nur, wenn man sehr scharf hinsieht. Meine Frau behauptet nun auch, Herr Harst, daß der Möller überhaupt kein Mann, sondern eine Frau ist – wegen der Stimme und der kleinen Füße und Hände. Aber das kann wohl nicht stimmen, denke ich mir.

Und dann noch was, Herr Harst: der Möller hat mir einen toten Tümmler, den ich mit an Land brachte, abgekauft. Das war vor drei Tagen. Und nun behauptet er, der Tümmler sei ihm gestohlen worden. Jedenfalls ist der Fisch weg.

Alles dieses, Herr Harst, kommt mir so vor, als ob die Möllers hier bei mir Dinge tun, die verboten sind. Was, weiß ich nicht. Ich bin ja kein Detektiv.

Ich habe nur mit meiner Lina hierüber gesprochen, und meine Frau ist verschwiegen.

Sie könnten also hier vielleicht mal die Sache etwas untersuchen, Herr Harst. Auf das Reisegeld für Sie soll es mir nicht ankommen, und hier bei mir essen Sie billig. Die Lina kocht sehr gut.

Hochachtungsvoll

August Grull, Fischer,
Neuhof, Bergstraße 2.

Als Harald diesen Brief gelesen hatte, meinte er lächelnd:

„Es ist schließlich ganz gleichgültig, wo wir die Herbsttage verleben. Fahren wir also nach Neuhof …“ –

Und schon am folgenden Tage mieteten sich im Pensionat Seeblick, Bergstraße 6, zwei ältere Herren ein, die mit ihren altmodischen Nickelbrillen, den faltenreichen Beinkleidern und den Gummikragen ganz so aussahen, wie sie als Geheime Regierungskanzlisten Schreck und Huber aussehen wollten: unendlich harmlos!

Daß sie nur deshalb zwei Erdgeschoßzimmer belegt hatten, weil von deren Fenstern aus das Grullsche Grundstück bequem zu beobachten war, ahnte die überglückliche Pensionsinhaberin nicht. Und daß sie einen für Kanzlisten unverhältnismäßig großen und eleganten Koffer mitgebracht hatten, fiel auch niemandem weiter auf. –

Wir, Huber und Schreck, waren nachmittags halb sechs eingetroffen.

Nachdem wir Kaffee getrunken und mit Frau Marließ, der Pensionsmutter, einen längeren Schwatz zwecks Erkundung des Rufes und der besonderen Eigentümlichkeiten des Grullschen Ehepaares erledigt hatten, wobei Fischer Grull und Frau nur gelobt wurden und andererseits die freundliche Marließ nicht merkte, daß sie ausgehorcht wurde, sondierten wir auf einem längeren Spaziergang das Terrain, prägten uns die Straßen in der Nähe ein, musterten das Grullsche Haus und kauften bei einem Zigarrenhändler in der Bergstraße allerlei ein, sehr wohl wissend, daß in so winterstillen Ortschaften die Zigarrenläden die Neuigkeitsbörse sind.

Der alte Herr, dem der Laden gehörte, war gesprächig und bewies uns, daß August Grull tatsächlich über seine Mieter bisher mit niemandem gesprochen hatte.

Dann gingen wir zum Strande hinab. Es war bereits dunkel, und wie tote Walfische lagen da im hellen Sande überall die schwarz geteerten Fischerboote umher.

Neben dem einen brannte eine Laterne. Ein jüngerer Mann teerte im Laternenlicht Netze. Nach der Beschreibung der Marließ mußte es August Grull sein.

Wir schlenderten hin. Und hier am einsamen Ostseestrand lernte nun der biedere Grull die beiden Männer kennen, denen er in einem längeren Brief seine Bedenken wegen seiner Gäste mitgeteilt hatte.

Übrigens war es weiter kein Wunder, daß er uns zunächst nicht recht glaubte, Harst und Schraut vor sich zu haben. Wir sahen ihm offenbar zu harmlos aus. Erst als er seinen Brief in Haralds Hand sah und als ich meine Perücke lüftete, wurde der mißtrauische Pommer eitel Freundlichkeit und rief dann ganz traurig:

„Und nun sind die Möllers ausgerechnet abgereist – heute früh!“

„So unvermittelt, Herr Grull?“

„Hm – nee, das doch nicht … Sie haben mich eben ertappt …“

„Wohl dabei, daß Sie auf den Zaunpfahl kletterten?“ lachte Harald.

„Ja – stimmt! – Das war in der vergangenen Nacht, Herr Harst …“

„Bitte – nicht Harst, sondern Huber …“

„Gut, gut … Herr Huber! Verstehe! Aber das ist ja nun nicht mehr nötig, wo das Ehepaar doch eben abgereist ist! – Also in der vergangenen Nacht kam ich um ein Uhr vom Fischfang heim. Und da war’s bei den Möllers in den Zimmern dunkel. Trotzdem traute ich dem Frieden nicht recht und stieg auf den Türpfahl. Und wie ich da so stand, sagte mit einem Male hinter mir der Herr Möller mit seiner heiseren Stimme: „He – was machen Sie denn dort oben, Herr Grull?“ – Ich wäre vor Schreck beinahe vom …“

„… Stengel gefallen,“ lächelte Harald. „Und dann – –?“

„Na – ich suchte so nach einer Ausrede, und wie ich noch so stotterte, meinte der Möller, daß er und seine Frau vormittags abreisen würden, es sei ihnen doch schon zu kühl an der See … – Dann ging er ins Haus, wünschte mir noch ganz freundlich gute Nacht … Und heute um halb acht sind sie dann wirklich mit dem Zuge von Heringsdorf abgereist. Ich karrte ihnen ihre beiden Koffer hin, und Möller gab mir noch ein anständiges Trinkgeld. Sie hatten Fahrkarten bis Berlin gelöst, und …“

„Nahmen sie die Koffer in ihr Abteil?“

„Ja …“

„Was hatte es denn nun eigentlich mit dem toten Tümmler auf sich, Herr Grull?“

„Dja – das war ’ne komische Sache … Es kommt manchmal vor, daß ein Tümmler von einer Dampferschraube eins ausgewischt kriegt und dann infolge der Wunde recht matt ist. So war’s auch mit dem Schweinfisch, den ich im Flundernetz mit hochzog. Der Tümmler maß gut dreiundeinviertel Meter, Herr Ha… Huber, und lag schon so in den letzten Zügen. Ich brachte ihn mit bis hierher, und als die Möllers ihn morgens sahen, kaufte Herr Möller ihn mir ab. Er wollte ihn abhäuten lassen … sagte er. Ich schloß den Riesenfisch also dort in meine Netzbude ein,“ – er zeigte auf eine Bretterbude am Fuße der Dünen – „und von dort ist er in der Nacht gestohlen worden … – Nicht wahr, das ist doch merkwürdig, Herr Huber? Wer stiehlt einen Tümmler?! Wozu?!“

„Vielleicht des Tranes wegen …“

„Ach nee, Herr Harst … Die Stänkerei mit dem Trankochen, das würde man doch auf hundert Meter riechen!“

„Allerdings … – War denn die Tür Ihrer Netzbude erbrochen?“

„Keine Rede! Mit ’nem Nachschlüssel muß das Patentschloß geöffnet worden sein …“

Pause …

„Außerdem ist aber auch meinem Vetter, dem Fischer Wilhelm Krull, was gestohlen worden – ’ne dreißig Meter lange geteerte Leine – in derselben Nacht …“

„So … so … – Haben Sie denn vor der Netzbude keine Spuren der Diebe gefunden?“

„Nee … Nach so was sucht unsereiner nicht, Herr Huber …“

„Was sagten denn die Möllers zu dem Diebstahl des Tümmlers?“

„Na – er hat sich mächtig geärgert. Aber als ich meinte, wir könnten die Sache ja unserem Gendarm melden, da hat er abgewinkt … Das helfe ja doch nichts und mache nur Scherereien …“

„So … so … – Für alle Fälle verschweigen Sie weiter, was Ihnen an den Möllers aufgefallen ist und daß Sie uns hergerufen haben, Herr Grull. Man kann ja nicht wissen, ob die Möllers tatsächlich nach Berlin zurückgekehrt sind …“

„Nanu?! Sie hatten doch Fahrkarten, Herr Huber!“

„Vielleicht nur, um Sie zu täuschen … – Waren die Möllerschen Koffer schwer?“

„Und ob!! Ich wunderte mich, daß sie sie nicht aufgaben. In Swinemünde mußten sie doch umsteigen und ebenso in Ducherow …“

„Was darauf schließen läßt, daß diese Möllers in Swinemünde mit ihrer Rückreise Schluß gemacht haben! – Also, Herr Grull, – hübsch reinen Mund halten …! – Wo wohnten die Möllers in Berlin? Wissen Sie das?“

Grull holte aus der Brusttasche seiner dicken Joppe ein Stück Ölleinwand hervor, in das er allerlei Papiere eingewickelt hatte.

„Bitte, Herr Huber … Hier ist die polizeiliche Anmeldung – das Duplikat …“

Harst trat an die Laterne heran …

Lachte beim Lesen …

„In ganz Berlin gibt es keine Basedowstraße, Herr Grull … Hier steht:

Berlin W 57, Basedowstraße 121

Das ist Schwindel! Gibt’s nicht! – Wer hat dies denn geschrieben?“

„Herr Emil Möller selbst …“

„So … so! Dann sagen Sie nur Ihrer Frau, daß sie den richtigen Riecher gehabt hat: der Emil Möller war ein Weib, denn dies ist eine Frauenhandschrift, und zwar eine sehr charakteristische!“

Grull schüttelte den Kopf …

„Na – was auch so alles passiert, Herr Huber!! Und dabei hat der Möller dauernd Zigarren geraucht … dauernd!“

„Es gibt auch Zigarrenliebhaber unter dem schwächeren Geschlecht, lieber Herr Grull … – Könnten wir mal die beiden Zimmer der Möllers uns ansehen?“

„Gewiß … Ich bin hier fertig. Kommen die Herren nur mit.“

„Nein, wir wollen vorsichtig sein. Gehen Sie nur voraus. Wir folgen Ihnen und betreten Ihr Grundstück durch die Hoftür …“

 

2. Kapitel.

Auf der Seebrücke.

In einem „richtiggehenden“ Kriminalroman müßten nun die beiden Detektive in den Zimmern des Ehepaares Möller, das kein Ehepaar gewesen, zum mindesten im Papierkorb die abgerissene Ecke eines Briefes oder im Ofen einen halb verbrannten Hemdenknopf finden, Kleinigkeiten, aus denen diese Detektive dann unglaublich geistvolle Kombinationen ableiten.

Ich, Max Schraut, bedauere unendlich, den Leser hier enttäuschen zu müssen.

Denn wir beide fanden nichts – absolut nichts, was von Wichtigkeit gewesen wäre.

Wir lernten aber Frau Lina Grull kennen, und das war ein blitzsauberes freundliches Persönchen, die immer wieder betonte, sie sei froh, daß die unheimlichen Gäste das Haus geräumt hätten. –

Um halb acht waren wir beide wieder zum Abendbrot im Seeblick. Frau Marließ hatte Flundern gebraten, und ich kann wohl sagen, daß wir beide gehörig aßen – gehörig!

Und nach dem Abendbrot machten wir einen Mondscheinspaziergang …

Am Strande entlang gen Heringsdorf, umrauscht von der bescheidenen Brandung, umweht von kräftigem Salzhauch des Meeres.

Wir sprachen über die Möllers, über den Tümmler …

Das heißt: Harald ließ mich reden … – Was er über die Geschichte dachte, verschwieg er …

Und ich äußerte:

„Die Möllers haben den Tümmler selbst weggeschafft. Auch die Leine haben sie gestohlen …“

Und ich erging mich in allerlei spitzfindigen Vermutungen.

Harst – – schwieg.

Sagte nur, als ich nichts mehr zu sagen wußte:

„Wozu stahlen sie den Tümmler, der ihnen gehörte?! Und – wozu die Leine?! Wollten sie den Tümmler daran festbinden und schwimmen lehren?!“

Beißende Ironie war das … –

So näherten wir uns der Heringsdorfer Seebrücke …

Die Villen am Strande, das Kurhaus, – alles tot …

Nirgends Licht …

Das Seebad schlief – bis zur nächsten Saison.

Und der Mond zeichnete eine glitzernde breite Bahn über das Meer.

Muscheln zerknirschten unter unseren Sohlen.

Möwen schwebten wie verschlafen dahin, und von hoch oben kam der Schrei gen Süden ziehender Wildgänse wie häßliche Geisterstimmen … –

Die Seebrücke von Heringsdorf trat immer deutlicher hervor mit ihren beiden großen Ausläufern, den Wellenbrechern …

Wir bogen auf den Vorplatz des Kurgartens ein.

Auch hier keine Menschenseele …

Dort vor uns der Eingang zur Seebrücke, der Holzbau mit den Verkaufsläden …

„Setzen wir uns,“ meinte Harald.

Auf einer Bank rauchten wir Zigaretten, hüllten uns fester in unsere Mäntel.

Genossen die Mondnacht am Strande, sahen die welken Blätter wie matte Vögelchen von den breitästigen Bäumen des Kurgartens zur Erde flattern und beobachteten einen Fischerkutter, der durch die silberne Mondbahn glitt wie ein Gespensterschiff.

Schwiegen … Genossen …

Und – sahen gleichzeitig von der anderen Seite der Kurpromenade her zwei Herren nahen – langsam – mit unruhig umherspähenden Köpfen.

„Zigaretten weg!“ flüsterte Harald …

Die beiden gingen auf das Tor des Holzbaues zu – auf den Brückeneingang …

Standen dort im schwarzen Schatten, verschwammen mit der Dunkelheit in eins …

Wir rührten uns nicht …

Bis das leise Kreischen von Türangeln uns noch stutziger machte.

„Das breite Tor hat eine kleine Pforte,“ flüsterte Harald. „Warten wir noch …“

Drei Minuten …

Und wieder das Kreischen …

Wieder drei Minuten …

Und dann sahen wir draußen auf dem Seesteg zwei Gestalten, die tief gebückt dahinglitten …

Bis sie nicht mehr sichtbar waren, bis das Restaurant auf dem Brückenkopf sie deckte.

„Hinterdrein!“ meinte ich und erhob mich …

„Natürlich, mein Alter … Aber nur bis in den Vorbau – nicht weiter …“

Wir eilten zur kleinen Pforte. Harsts Patentdietrich hatte leichte Arbeit …

Die Türangeln quietschten … Hinein – Tür wieder zu, wieder abgeschlossen …

Unsere Taschenlampen blitzten kurz auf. Rechts und links leere Verkaufsstände. Und Kisten und Gerümpel – hier und dort … Wir drückten uns hinter die Rückwand eines Verkaufstisches dicht am Ausgang. Standen im Dunkeln …

Warteten …

„Das vorsichtige Benehmen der beiden läßt allerlei hoffen, mein Alter …“ kam aus der Finsternis Harsts leise Stimme. „Ich würde mich nicht wundern, wenn es die beiden angeblichen Möllers wären …“

„Hm – wir hätten ihnen besser bis zum Brückenkopf folgen sollen …“

„Damit wir alles verderben, damit sie uns sehen …!! – Nein, hier schnappen wir vielleicht ein paar Worte auf … Das ist wertvoller …“

Stille …

Und zehn Minuten vergingen so.

Dann knarrte eine Tür – die nach dem Stege hin …

Knarrte abermals …

Und jetzt Schritte – schleichende Schritte …

Die Holzwand hatte fingerbreite Spalten …

Wir sahen einen schwachen weißen Lichtschimmer …

Sahen die beiden Männer … Sie machten vor der Pforte halt. Der eine leuchtete, der andere führte den Schlüssel ins Schloß …

Dann erlosch die Taschenlampe. Sie lauschten offenbar, ob niemand draußen, der sie beobachten könnte …

Ich hörte sie flüstern, verstand kein Wort …

Die Pforte kreischte …

Kreischte nochmals … Das Schloß schnappte ein …

„Schade!“ flüsterte ich Harald zu … „Nichts haben wir gehört …“

„Du irrst, mein Alter. Ein Wort wurde stärker betont, ein Name vielleicht: Mecrouw!“

„Was soll das?! Mecrouw?!“

„Weiß ich nicht, obwohl das Wort mir bekannt erscheint …“

„Und – was nun?“

„Warten …! Bis wir die Gewißheit haben, daß die beiden nicht mehr in der Nähe. Dann werden wir ebenfalls den Stegkopf besuchen und uns dort einmal umschauen …“

Ganz leise pfiff der Seewind um den hohen Holzbau, durch die Ritzen der Bretter …

Irgendwo in der Nähe nagte eine Maus … Das Arbeiten der scharfen Zähne am splitternden Holze klang wie die Geräusche einer Raspel …

Wir warteten …

Mit jener Geduld, die nun einmal bei unserem Beruf nötig … Mit jener Reglosigkeit, die trainierte Muskeln erfordert.

Dann meinte Harald: „So – nun vorwärts!“

Auch die vordere kleine Tür war im Nu geöffnet.

Wir standen auf den dicken Planken der Brücke …

Duckten uns, schlichen weiter …

Bis unter uns der Strandstreifen zu Ende war und die See gurgelte und schäumte.

Kühl war es hier, empfindlich kühl …

Hinter dem Windschutz des Brückenkopfrestaurants blieben wir stehen. Drüben nun das Bild der Küste … Rechts der hohe Strandteil – mit Villen geschmückt, deren Fenster blinkten und glitzerten. Noch weiter rechts ein paar ferne Lichter: Bansin! Und links wieder zahlreichere Lichter: Ahlbeck, dann Swinemünde … – der Leuchtturm, dessen Blinkfeuer weit, weit in die dunkle See hineintastete …

Und wie wir hier noch schweigend verharrten und als Naturschwärmer die Schönheiten der Herbstnacht am deutschen Seestrand auskosteten, kam wie ein Schatten ein Mann mit unglaublicher Schnelligkeit den Steg entlang – tief gebückt – gleitend wie ein aufgezogener Automat – affenartig gewandt jede Bewegung …

Im Nu hatten wir uns hinter den Stapel von Bohlen geflüchtet, die hier am Geländer aufgeschichtet waren. Neue Bohlen, die noch nach Harz dufteten … Offenbar zum Ausbessern des Steges hier bereit gelegt.

Der Mann glitt dorthin, wo wir soeben noch unter Wind Atem geschöpft hatten …

Bevor er dort im Schatten verschwand, hatte er sich aufgerichtet …

Einen Moment lang sah ich sein vom Monde beschienenes bartloses Gesicht …

Faltig, bartlos, breite Kinnpartie, dicke blonde Augenbrauen, tiefe Augenhöhlen …

Jedenfalls ein Gesicht, das man nur ein einziges Mal zu betrachten braucht, um es nie wieder zu vergessen.

Der Mann trug einen Sportanzug mit Kniehosen und eine weiche Reisemütze, unter dem linken Arm aber ein Etwas, das nur eine Lodenpelerine sein konnte.

Jetzt eilte er nach rechts – die Treppe hinab zum rechten Wellenbrecher …

Und hier, wo es nicht einmal ein Balkengeländer gab, bewegte er sich nun kriechend vorwärts, bis er die Stelle erreicht hatte, wo dieser Ausläufer der Brücke nach See zu rechtwinklig sich fortsetzte.

Wir konnten ihn genau beobachten. Die dünnen Wolkenschleier, die den Mond bisher zuweilen verdeckt hatten, waren nach Süden zu davongezogen.

Der Mann kletterte nun mit derselben affenartigen Gewandtheit am Pfahlwerk hinab bis auf den untersten Querbalken.

Hier bückte er sich …

Und da – flüsterte Harald neben mir:

„Ich nehme alles zurück, mein Alter …“

Ich verstand ihn nicht …

„Was nimmst Du zurück?“

„Die Ironie …! – Die Möllers haben den toten Tümmler doch an die Leine gebunden und schwimmen lassen …“

Nun begriff ich, fügte hinzu:

„… und dort unten am Wellenbrecher festgebunden!“

„Der … Affe holt ihn heraus …“

Schlag auf Schlag folgten die leisen Sätze …

„Wirklich – er faßt ins Wasser …“

„Sucht die Leine …“

„Den Armbewegungen nach zieht er die Leine empor.“

„Da – der weißliche Bauch des Tümmlers an der Oberfläche …“

„Der – Affe läßt den Fisch wieder in die Tiefe gleiten.“

„Und wir – wir werden den Steg verlassen, dem Manne vorauseilen, damit wir ihm nachher folgen können.“

Wir eilten davon …

Wieder ganz tief gebückt …

Erreichten den Brückeneingang … Waren draußen auf dem Vorplatz, faßten Posto hinter einer Hecke …

Atemlos waren wir … Keuchten … Und ich fragte japsend:

„Wer ist nun wieder dieser Mensch?“

„Wenn ich’s wüßte, mein lieber Alter! Wenn ich’s auch nur ahnte! – Ich ahne nichts – nichts, und das ist die Wahrheit! Was soll der tote Tümmler dort am Wellenbrecher?!“

 

3. Kapitel.

Einer, der auskniff …

Und hier nun möchte ich mir – einen kleinen Scherz erlauben …

Möchte demjenigen meiner Leserfreunde, der das Geheimnis des toten Tümmlers jetzt schon durchschaut, mit Freuden alles versprechen, was er nur wünscht – alles, denn ich weiß genau, daß niemand den Kern dieses seltsamen Kriminalfalles herauszuschälen vermag.

Ich warne hier vor der Annahme, daß die Möllers, bei denen nachts bärtige fremde Leute verkehrten, etwa Diebe seien, die den toten Tümmler als Versteck für ihre Beute benutzten.

Ich warne vor dieser – unsinnigen Vermutung, denn ein so umständliches Versteck schafft sich kein Dieb! – Ich warne überhaupt vor allem zwecklosen Kopfzerbrechen, denn – der Wahrheit kommt niemand auf die Spur …

Nur einer vermochte es …

Wer der eine ist, brauche ich hier nicht zu sagen. Ich bin es nicht gewesen. –

Zurück zur Hecke …

Zu dieser Hecke aus Krüppelstämmen, die da in Heringsdorf die Strandpromenade nach Ahlbeck an einer Seite umsäumt, diese Promenade, die im grellen Sonnenlicht eines Julitages eine liebliche Täuschung hervorruft: man könnte wähnen, sich an der Riviera zu befinden!

Wir kannten sie – auch im Sommer.

Wir hatten hier in der Nähe, westlich von Bansin, mit Zigeunern allerlei erlebt. Ich habe dieses Abenteuer in einem früheren Band geschildert.

Nun dieselbe Promenade bei Mondlicht – im Herbst – in einer Herbstnacht … Gegen halb elf Uhr …

Und wir hinter der Hecke hockend, wir den Affen belauernd, der soeben den Brückenvorbau verließ und am Strande unten gen Ahlbeck wanderte …

Wir achtzig Meter parallel zu ihm – auf der Promenade …

Bis der Mond – Pech war das – hinter eine kleine Wolke kroch …

Nur zwei Minuten …

Da war der – Affe verschwunden …

Da lag der Strand wieder im fahlen Dämmerlicht da – – leer – leer …!

Haralds Augen sind zuverlässig.

„Verschwunden!“ meinte er … „Wohin aber?!“

Und nach kurzer Pause:

„Rasch – hinab zum Strande …! Aber nicht laufen. Mehr wie zufällige Abendspaziergänger …“

Wir fanden einen Durchgang in der Hecke, klommen die Düne hinab …

Leer – leer …

„Unglaublich!“ meinte Harald wieder. „Die Wolke hat uns den Streich gespielt …“

Jetzt waren wir auf dem flachen Uferstrich, den die Herbststürme bereits geglättet hatten.

Dunkle Haufen von Seetang lagen umher – ganze Muschelwege zogen sich weiß bis ins Wasser hinein …

Und – hinter einem der Tanghaufen erhob sich jetzt dicht vor uns ein Mensch …

Der Affe …

Ein gefährlicher Affe … Klein war der Kerl, aber Boxhiebe brachte er an, die einem Bullen Unbehagen bereitet hätten …

Zwei Fausthiebe nur – in die Herzgrube …

So jäh wie Blitze … So gut sitzend, daß wir umknickten …

Mir schwanden die Sinne. Ich fühlte nur noch, daß ich zur Seite taumelte …

Kam ja sofort wieder zu mir …

Und doch – zu spät …

Die Hände lagen auf dem Rücken, die Handgelenke dicht beieinander … Und Fesseln fühlte ich, breite Lederriemen …

Saß aufrecht im Sande … Neben Harst. Vor uns – der Affe, mit untergeschlagenen Beinen, den Lodenumhang über den Schultern, den Rücken dem Monde zugekehrt, so daß sein Gesicht im Schatten blieb.

Wir holten noch stoßweise Atem … Hatten die Gedanken noch nicht ganz beieinander …

Sagte da der Affe in miserablem Deutsch, das den Engländer oder Amerikaner erkennen ließ:

„Wo habt Ihr die Sachen? – Wenn Ihr sie freiwillig herausgebt, ist alles erledigt …“

Harald hüstelte, wollte sprechen …

Hüstelte wieder, quetschte hervor:

„Wer sind Sie, Mann?!“

Da lachte der Kleine grell …

„Frechheit!! Hinter Euch her bin ich seit vier Wochen. Lange genug, um nun Schluß zu machen! – Verdammt – wollt Ihr wirklich ein paar Jahre Gefängnis absitzen, Ihr Narren?! – Wo sind die 38 Stücke?“

Harald hustete kräftig. Seine Stimme klang wieder unbelegt …

„Mann, wer sind Sie?! Sie haben in uns die Unrechten erwischt. Sie glauben, daß wir die Möllers seien und daß wir Ihnen hier auf den Leib rücken wollten. Ein Irrtum, Mister Unbekannt! Wir sind Harald Harst und Max Schraut, und unser erfreulicher Beruf ist …“

Da war der Kleine emporgefahren …

„Pest!“ fluchte er. „Pest!! Eine Männerstimme!! Und – noch dazu Harst!!“

„Ja, Harst, den August Grull herbeigerufen hat –“

„Pest!!“ – Der Affe wich zurück …

Überlegte …

Und – drehte sich plötzlich um, rannte davon – mit Sprüngen, die jedem Schnelläufer Ehre gemacht hätten …

So komisch wirkte diese Flucht, daß Harald trotz der für uns nicht gerade angenehmen Lage laut herauslachte …

Lachte – und rief:

„Alterchen, was sagst Du nun hierzu wieder?! Kein Mensch rundum zu sehen, und der Kerl kneift aus wie von Furien gejagt! Das verstehe ein anderer!“

„Vielleicht – kommt er zurück,“ meinte ich ganz ernst. „Ich halte es für ratsam, daß Du mir schleunigst[2] die Riemen aufschnallst!“

Ich gab meinem rundlichen Kadaver einen Ruck und kehrte Harald die Achterseite zu.

Und da – stieß der Freund einen merkwürdigen Pfiff aus …

„Riemen?!“ sagte er sehr gedehnt. „Das sind keine Riemen, mein Alter. Das sind lederne Polizeifesseln mit Schnappschloß, wie die englische Polizei sie benutzt.“

Er drehte sich jetzt gleichfalls um, und Rücken an Rücken mit mir betastete er meine Fesseln, die – aus England stammen sollten!

Bis sie sich lösten …

Und gleich darauf standen wir im Mondenlichte da und schauten uns diese Handschellen genauer an.

„Ohne Zweifel – aus England!“ nickte Harald. „Der Affe war Engländer …“

„Vielleicht – Polizist, Staatsdetektiv …“

„Hm – weshalb floh er dann vor uns?! Riß aus wie Schafleder?! Weshalb?!“

Ich schwieg …

„Der tote Tümmler ist ja eine ulkige Bestie!“ meinte Harst. „Zaubert Affen herbei, die englische Handschellen benutzen und dann wegrennen, – schwimmt an einer gestohlenen Leine weit draußen am Wellenbrecher und …“

Jäh brach er ab …

Sein Gesicht lag im Mondenlicht …

Ich sah, wie es aufleuchtete, wie die Augen sich weiteten.

Und dann – nach tiefem Atemholen:

„Alterchen, jetzt glaube ich den toten Tümmler durchschaut zu haben!“

„Was heißt das?“

„Ich – weiß, wer Mecrouw ist …“

„Nun – und …“

„Ein Engländer …“

„Der Affe?“

„Bewahre … Einer der reichsten und schnurrigsten Käuze Großbritanniens …“

„Na – und?!“

„Hm – Und – er ist bestohlen worden …“

„Aha, – – von den Möllers, die die Beute im Tümmler verborgen haben …“

Harst prustete los …

„Im Tümmler? Im Tümmler? Weshalb nicht in einem Lederbeutel auf der Spitze des Gaurisankar?! Weshalb nicht in einem leeren Krähennest, das im Gipfel der höchsten Kiefer der hiesigen Wälder hängt?!“

Und er schob die Lederschellen in die Tasche seines Mantels, faßte mich unter …

„Gehen wir heim … Oder noch besser: gehen wir zu Frau Lina Grull, die ja stets so lange aufbleibt, bis ihr Mann vom Fischfang heimgekehrt ist. Ich möchte sie einiges fragen.“

Wir gingen – wieder am Strande entlang.

Ich bat und bat, daß Harald mir doch erklären möge, was dem Herrn Mecrouw denn gestohlen sei und was der Tümmler damit zu tun habe?

Ich bat ganz umsonst …

„Soll ich Dich etwa um den seltenen Genuß bringen, einen seltenen Kriminalfall eigenhändig zu öffnen?!“ meinte er wie eine Pythia mit leisem Lachen …

Und dabei blieb er … –

Wir läuteten vorn bei Grulls an.

Frau Lina erschien, ließ uns ein …

„Die Herren müssen schon mit in die Küche kommen,“ sagte sie freundlich. „Ich schäle Kartoffeln … Wenn August nachts heimkehrt, will er immer was Warmes haben …“

So saßen wir denn auf blendend weißen Küchenstühlen, und Harald fragte nach ein paar nebensächlichen Redensarten:

„Aßen die Möllers gern Fische, Frau Grull?“

„Sehr gern …“

„Flundern?“

„Ja … Und Aale …“

„Was tun Sie denn so mit den Fischabfällen, Frau Grull, – den Eingeweiden und so weiter?“

„Ich koche sie für unsere Schweine …“

„Hm – haben die Möllers sich niemals diese Abfälle geben lassen?“

„Ja, ja, das stimmt … Und denken Sie nur, Herr Huber: einen Blecheimer hatten sie gekauft mit ganz fest schließendem Deckel, und der war halb voll von rohen, schon stinkenden Fischeingeweiden. Und den Deckel hatten sie mit starkem Draht festgebunden und noch die Ritzen des Deckels mit Siegellack verschmiert. So stand der Eimer im Schlafzimmer …“

„Aha …! Also doch! – Die ganze Zeit über stand er da, Frau Grull?“

„Nein, eines Tages sagte Herr Möller, daß er das Experiment mit der Gasentwicklung von Fischabfällen nun doch einstellen wolle. Da goß er den stinkenden Inhalt in die Dunggrube.“

„Besinnen Sie sich einmal … Wann war das? Vielleicht an dem Tage, als der Diebstahl des Tümmlers bemerkt wurde?“

„Das kann sein … – Hm – es ist so … Nun erinnere ich mich … Ja – an dem Tage war’s …“

Frau Lina war jetzt plötzlich recht zerstreut …

Horchte nach draußen …

Stand auf, entschuldigte sich, ging ins Zimmer nebenan, kam zurück und seufzte:

„Ich hab’ nur nach dem Barometer gesehen … Es sinkt so rasch. Es gibt Sturm … Hören die Herren nur, wie die Windstöße schon die alten Kastanien auf dem Hofe rütteln … Hören Sie nur …!“

Ein neuer Seufzer …

„Und mein Mann draußen auf See …! – O lieber Gott, wenn’s nur nicht allzu schlimm wird …“

Harald beruhigte sie. „Ich habe abends in der Pension Seeblick die Wettervoraussage gelesen … Es ist nur starker Ostwind zu erwarten … – Noch eins, Frau Grull … Ihr Mann hat also in den Zimmern der Möllers fremde Männer gesehen. Hat er gleichzeitig auch die Möllers dann vom Zaunpfahl aus bemerkt? Ich meine, waren die Möllers dann zu Hause?“

„Ja … bestimmt. Aber gesehen hat August stets nur die Fremden …“

„Diese Fremden, Frau Grull, waren – die Möllers – verkleidet, unkenntlich gemacht …“

„Ah – sehen Sie, Herr … Huber, das hab’ ich mir ebenfalls schon gedacht … – Mein Himmel – wie die Bäume knarren und ächzen …! Ich will zum Strand hinab … Entschuldigen die Herren …“

„Wir begleiten Sie …“

Doch – etwas anderes kam dazwischen …

Die Flurglocke schlug an …

Eine jener altehrwürdigen Zugglocken, deren Gebimmel nichts für Großstädternerven ist …

Frau Lina eilte hinaus …

„Es wird wohl die Anna sein, die Frau von meines Mannes Gehilfen …“ rief sie uns noch zu …

 

4. Kapitel.

Jonathan Scrimax, der Affe …

Frau Lina kehrte zurück – ganz ängstlich …

„Oh – ein Fremder steht draußen … Er will mich nur etwas fragen, rief er mir durch die Tür zu … Aber ich fürchte mich … Vielleicht kommen die Herren mit in den Flur … Der Mann spricht ein so – so komisches Deutsch …“

„Lassen Sie ihn nur ein,“ flüsterte Harald hastig … „Wir passen schon auf … Bringen Sie ihn hier in die Küche … Wir verstecken uns dort in der Speisekammer.“

Und als Frau Lina wieder in den Flur geeilt war, als wir hinter der Speisekammertür standen, raunte Harald mir zu:

„Jede Wette: es ist der Affe, und er will sich hier nach uns erkundigen!“

Da trat auch schon ein Mann in die Küche …

Der Affe?! Der Oberboxer?!

Nein …

Ein dicker blondbärtiger Herr war’s in weitem Ulster, mit Kneifer, mit hellem Filzhut in der Hand.

Und hinter ihm Frau Grull …

„Bitte, nehmen Sie Platz …“

„Danke …“ Und er setzte sich, wandte uns das Profil zu …

Das „Danke“ hatte genügt: es war doch der Affe!

„Frau Grull,“ begann er sehr höflich, „mein Name ist Jonathan Scrimax, Angestellter des Londoner Detektivinstituts von James Watt und Kompagnie. Ich bin also Detektiv. Sie wissen doch, was das ist?“

„Ja,“ nickte Frau Lina. „Ein Privatpolizist ist das!“

„Gut. – Bei Ihnen wohnen zwei Leute, die ich beobachtet habe, zwei … Frauen, Diebinnen – sehr gefährliche …“

„Die Möllers …“

„Ja. So nannten die Schwestern sich hier. In Wahrheit heißen sie Mergentin, Alice und Julia Mergentin, von Beruf Bildhauerinnen, nebenbei Diebinnen.“

„Haben die beiden hier was gestohlen?“

„Nein. In London, bei Sir John Mecrouw, und zwar aus dessen Münzsammlung die achtunddreißig wertvollsten Stücke, uralte Münzen, die nur in ganz wenig Exemplaren vorhanden sind …“

„Oh – diese Weiber …! Und hier gaben sie sich als Ehepaar aus …!“

„Und jetzt als … Brüder, Frau Grull, denn die beiden wohnen nun seit heute nachmittag in Heringsdorf in der Waldstraße bei Neumann …“

„Dann hat Herr Harst ja recht gehabt!“ platzte Frau Lina heraus …

Jonathan Scrimax lächelte, als Frau Grull nun verlegen hüstelte und den soeben begangenen Fehler dadurch gutzumachen suchte, daß sie eilends hinzufügte:

„Nein – Herr … Herr Huber … Ich habe mich versprochen … Einen Herrn Harst kenne ich gar nicht …“

„Doch, Sie kennen ihn,“ meinte der Affe Jonathan freundlich. „Er hat mir nämlich vor einer Stunde selbst gesagt, daß Ihr Mann ihn der Möllers wegen hergerufen hat. Leider weiß ich jedoch nicht, wo Herr Harst hier wohnt. Ich möchte ihn gern sprechen, da ich vorhin, als ich in mein Logis kam, eine Depesche aus London vorfand, die auch Herrn Harst interessieren wird …“

Er wollte noch etwas erklären …

Bückte sich jedoch plötzlich …

Hob … einen Zigarettenstummel auf …

Schnupperte …

Lächelte …

„Hm – Herr Harst dürfte hier sein!“ sagte er sehr laut und erhob sich. „Dies ist der Rest einer Mirakulum!“

Schaute sich um …

Trat rasch auf die Speisekammertür zu, riß sie auf …

Verneigte sich höflich:

„Jonathan Scrimax … Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Herren …“

Wir verließen das Versteck …

Und Harald meinte kühl:

„Die erste Bekanntschaft mit Ihnen am Strande war etwas schmerzhaft für uns, Mr. Scrimax …“

„Was ich unendlich bedauere … Ein Versehen meinerseits … Ich werde sofort alles richtig beleuchten, Herr Harst.“

Wir nahmen Platz …

„Sie haben ja gehört, was ich Frau Grull mitteilte, meine Herren,“ begann der Affe Jonathan mit einer Zungenfertigkeit, die seiner sonstigen Gelenkigkeit durchaus entsprach. „Als ich nach dem peinlichen Zusammentreffen mit Ihnen beiden nach meinem Pensionat eilte, lag da auf dem Tisch eine inzwischen für mich eingetroffene Depesche … – Hier ist sie …“

Wir lasen – englisch:

„38 Stücke als Wertsendung zurückerhalten. Stellen Sie daher Ermittlungen ein. Sache ist erledigt.

Watt u. Ko., London.“

„An der Echtheit dieser Depesche ist nicht zu zweifeln, Herr Harst,“ meinte Jonathan eifrig. „Sie enthält das geheime Kennwort, das uns Detektive des Instituts vor Fälschungen bewahren soll. Das Kennwort ist „Sache“. – Mithin habe ich hier nichts mehr zu tun, da die Geschwister Mergentin nun die Beute freiwillig herausgegeben haben.“

Harald hatte sich gemächlich eine Zigarette angezündet.

„Sie wollen die beiden Diebinnen also nicht bestrafen lassen?“ fragte er mit forschendem Blick auf den Londoner Kollegen.

„Nein. Sir John Mecrouw wünscht nicht, daß die Geschichte an die Öffentlichkeit kommt, da er seine Münzensammlung testamentarisch dem Londoner Museum zugesprochen hat und da er sich nicht den Vorwurf machen lassen will, daß er so kostbare Stücke schlecht bewache.“

„Ach so …! – Begreiflich! – Sie fahren also heim?“

„Morgen früh, oder besser: heute früh reise ich ab. Und deshalb wollte ich Ihnen, Herr Harst, noch persönlich mitteilen, daß es auch für Sie nun hier nichts mehr zu tun gibt …“

„Sehr liebenswürdig, Mr. Scrimax. – Eine Frage: Wie denken Sie über den unten am Wellenbrecher angebundenen Tümmler?“

„Hm – ich glaubte, die Schwestern hätten vielleicht im Bauche des Riesenfisches die Münzen verborgen …“

„Sie waren heute auf der Brücke. Weshalb schnitten Sie dem Tümmler nicht den Leib auf?“

„Weil ich den riesigen Kadaver morgens durch ein paar Leute an Land schaffen lassen wollte, damit ich in Ruhe nachsehen könnte, ob …“

„Gut. – Und – wie denken Sie jetzt über den Tümmler, nachdem die Münzen dem Eigentümer wieder zugestellt worden sind?“

Scrimax hob die Schultern bis über die Ohren …

„Keine Ahnung …! Keine Ahnung!! – Ist mir auch gleichgültig, der Tümmler, – jetzt gleichgültig geworden …“ –

Frau Grull stand am Fenster …

Der Sturm schien rasch an Stärke zuzunehmen. Die besorgte Frau wandte sich an Harst:

„Ich möchte nun zum Strande hinab,“ drängte sie.

Wir brachen auf.

Vor dem Hause verabschiedete der Affe Jonathan sich.

„War mir eine Ehre, meine Herren … – Gute Nacht …“

Händedrücke – und er schob ab.

Harst schaute ihm nach …

„Das ist ein Akrobat, aber kein Detektiv, mein Alter!“

Und wir eilten hinter Frau Lina drein …

„Du nimmst an, daß die Schwestern dem Sir Mecrouw – Falsifikate zugeschickt haben?“ brüllte ich, da der Sturm uns bereits um die Ohren fegte.

„Keine Rede! Nichts von Fälschungen. Und doch ist Jonathan eine mäßige Kraft. Welcher Detektiv, der Liebe zu seinem Beruf fühlt, wird an einem Problem wie dem des gestohlenen toten Tümmlers vorübergehen?!“

Jetzt hatten wir den Schutz des letzten Hauses verlassen …

Jetzt packte uns der Orkan …

Wir sahen unten die weißen Streifen einer wütenden Brandung, sahen auch zwei Haufen von Männern und Weibern, die gerade an Stricken zwei Fischerboote bargen …

Und eins davon war August Grulls Boot … –

Wir beglückwünschten den braven Grull. Wir halfen ihm die Netze in die Holzbude tragen …

Und wenn ich Romanschreiber wäre, könnte ich hier nun drei Seiten lang schildern, wie der Strand sich immer mehr belebte, wie angstvolle Weiber auf das tobende Meer hinausschauten und wie der feine vom Sturm hochgefegte Sand uns die Gesichter peitschte …

Ich bin nicht Romanschreiber. Ich erwähne nur, daß wir beide noch bis zur Seebrücke wanderten, daß auch hier Fischer, Weiber und Kinder sich drängten und daß ein Dutzend Männer von der Spitze des Steges mit Ferngläsern nach den gefahrumdrohten Kameraden ausspähten …

Auch wir betraten die Brücke …

Und fanden dort unter den Fischern am Brückenkopf auch die, die wir suchten: zwei städtisch gekleidete schlanke Herren, von denen der eine ein grünes Jägerhütchen trug.

Zwei, die mehr Interesse für den rechten Wellenbrecher hatten, der unter den rollenden Wogen völlig verschwand …

Zwei, die fraglos fürchteten, daß die grimme See den Tümmler von der Leine losriß …

Zwei mit auffallend kleinen Füßen und Händen: die Schwestern Mergentin!

Dann sagte Harald zu mir im Schutze des Restaurants, über das der Orkan hinwegpfiff:

„Gehen wir nach Hause … Wir werden mit diesen Damen uns auseinandersetzen, wenn der Orkan vorüber ist …!“

So kehrten wir denn heim in den Seeblick …

Drei Uhr morgens war’s …

Und diese traurige Nacht hat damals sechs braven Fischern das Leben gekostet … –

Umsonst waren meine Fragen, was der tote Tümmler denn für uns noch bedeutete …

Ganz umsonst …

Harald schlief ein – schwieg …

Und ich lauschte der Musik des Herbstorkans da draußen und grübelte über den Eimer mit stinkenden Fischabfällen und über den toten Tümmler nach …

Ganz umsonst … – –

Ist einer meiner Leserfreunde klüger als ich damals? Ahnt er schon, was es mit dem Riesenfisch auf sich hatte?

Sollte tatsächlich ein solches Genie vorhanden sein, so würde ich mich freuen, wenn er mir unter der Adresse des Verlags mitteilte, wie er auf den Kern des Ganzen gekommen ist. Zum Dank soll er auch unsere Photographie nebst Unterschriften erhalten, die im übrigen gegen Einsendung von 1,60 Mark jederzeit vom Verlag zu haben ist.

 

5. Kapitel.

Der Bauch des Tümmlers.

Mittags sprang der Wind nach Süd um, flaute ab, und gegen drei Uhr nachmittags war das Meer wieder friedlich wie ein Ententeich.

Und gegen drei Uhr standen wir mit August Grull neben seinem Boot am Strande und freuten uns des warmen Sonnenscheins.

„Sagen Sie mal, Herr Grull,“ meinte Harald plötzlich, „wenn irgendein Brett zum Beispiel durch die Wellen von der Seebrücke in Heringsdorf losgerissen worden ist, wo dürfte es dann nach Ihren Erfahrungen von der See wieder ausgespien werden …?“

„Aha – Sie denken an den Tümmler,“ nickte Grull, den wir in alles eingeweiht hatten und der vor einer Stunde in unserem Auftrag auf der Seebrücke gewesen und festgestellt hatte, daß nur noch die Leine vorhanden, der tote Tümmler aber davongeschwommen war …

„Na – meist werden Bretter und so was ähnliches wieder halbwegs nach Bansin ausgeworfen, Herr Ha… Huber,“ erklärte Grull bedächtig.

„Danke … Dann werden wir also gen Bansin wandern … Auf Wiedersehen …“

Der Strand war menschenleer.

Krähen jedoch belebten den noch feuchten Uferstreifen, fanden reichlich angespülte Muscheln, flogen träge vor uns auf und ließen sich träge hinter uns wieder hernieder …

Die Seetanghaufen waren noch größer geworden. Äste, Balken, Bretter, ein Ruder, Weidenkörbe – allerlei hatte das Meer bereits an Land geführt …

Und wir sahen denn auch schon von weitem einen dichten Krähenschwarm über einem länglichen Körper kreisen, der noch halb im Wasser lag:

der tote Tümmler!

Hurtiger wurden unsere Schritte …

Krächzend stoben die Vögel davon …

Ja – es war der Tümmler …

Ein kapitaler Kerl … Oben im Nacken eine breite Wunde …

Und wir packten zu, packten ihn bei der Schwanzflosse, zogen ihn höher an Land.

„So – jetzt schneiden wir das Rätsel auf,“ meinte Harald, hatte schon sein Taschenmesser in der Hand, ließ die große Klinge herausschnellen, scharf wie ein Rasiermesser …

Ein Schnitt – noch einer …

Ekle Arbeit war’s …

Und – unvorsichtig waren wir. Zu eifrig …! Hätten die Gefahr wittern müssen …

Schauten uns nur flüchtig um, als wir mit zwei Knütteln nun aus dem Schlund des Tümmlers eine Schnur hervorzogen …

Und an dieser Schnur hing ein Leinenbeutel, der im Bauche, im Magen des Tümmlers gesteckt hatte …

Ekelhaft …

Pestilenzialischer Gestank …

Schnell ins Wasser mit dem Beutel – abgespült … gründlich …

Und wie wir so dastanden mit dem Rücken nach den Dünen – hinter uns ein gellender Schrei …

Wir fuhren herum …

Wir sahen oben auf dem Dünenrand zwei Männer miteinander ringen …

Dann erhob der eine sich, winkte …:

Der Affe Jonathan!

Winkte, riß seinen gefesselten Gefangenen hoch, hob eine kurze Büchse empor – eine zusammenschraubbare Büchse – und kam zu uns herab.

„Julia Mergentin,“ sagte er triumphierend …

Und – Julia war der Mann mit dem grünen Jägerhütchen!

„Das Weib wollte auf Sie beide schießen,“ fügte Jonathan noch triumphierender hinzu … Lachte … „Ja – ich hab’ nur so getan, als wollte ich schleunigst nach London zurück. So eilig war das nicht. Konnte doch den Tümmler nicht im Stich lassen, mußte doch wissen, was es mit dem Riesenfisch auf sich hatte …!“

Die verkleidete Julia Mergentin stand mit finsterem Gesicht dabei …

Und Harald schnitt nun den Leinenbeutel auf …

Münzen fielen in den Sand – mindestens hundert alte Münzen – scheinbar alt …

„Die Sache verhält sich so, lieber Scrimax,“ erklärte Harst. „Die Schwestern Mergentin haben von den echten seltenen Münzen Sir Mecrouws Abgüsse hergestellt und Fälschungen gefertigt, denen sie natürlich erst die Alterspatina verleihen mußten, bevor sie die Falschstücke reichen Sammlern andrehen konnten. Diese Patina ist nun am leichtesten durch Magensäure und Verwesungsgifte von Fischen zu erreichen. Daher taten die Schwestern die Münzen zunächst in einen Eimer mit Fischabfällen, dann in den … Tümmler, wovon sie sich eine noch bessere Wirkung versprachen! – Das ist der Kern des Geheimnisses – also eine besondere Art von Chemie!“ –

Und der Schluß des toten Tümmlers?

Nun – so wie die Dinge jetzt lagen, wurden die beiden Mergentins doch der Polizei übergeben und haben nachher im Gefängnis darüber nachdenken können, daß man als Bildhauerinnen nicht vom Pfade des Künstlertums abweichen sollte … –

Wir beide jedoch …

Nein – das soll besser die Einleitung zum zweiten Teil des toten Tümmlers werden …

Denn – die Geschichte ist noch nicht aus, wie die folgenden Seiten beweisen …

 

 

Das Wrack des Pestschiffes

 

1. Kapitel.

Die Erzählung des Försters.

Die Verhaftung der Geschwister Mergentin hatte die ganze Küste der Insel Usedom, all die Badeorte ringsum aus dem Winterschlaf wachgerüttelt. Die Swinemünder Zeitung, das dort am meisten verbreitete Lokalblatt, hatte unser Erlebnis in Sperrdruck gebracht, hatte auch gleichzeitig erwähnt, daß der tote Tümmler bei Fischer August Grull gegen eine kleine Gebühr zu besichtigen sei.

August Grull, der höchstselbst auf diesen geschäftstüchtigen Gedanken gekommen war, auf diese Weise aus unserem Erlebnis Kapital zu schlagen, mußte für acht Tage sein feuchtes Gewerbe aufgeben und Schaubudenbesitzer spielen. Der Zulauf war unglaublich.

Auf dem Hofe Grulls lag der Tümmler auf drei leeren Kisten, die mit einer alten Diwandecke drapiert waren. Neben dem Tümmler waren die anderen Schaustücke ausgestellt: die Leine, mit der der Riesenfisch am Wellenbrecher festgebunden gewesen, dann die Äste, mit denen wir im Bauche des Kadavers umhergestochert hatten, und schließlich der Leinenbeutel, der die falschen antiken Münzen enthalten hatte.

Es war selbstverständlich, daß all die Neugierigen, die von nah und fern herbeieilten, um den Riesenfisch anzustaunen, auch zu gern die beiden „Berliner“ sehen wollten, die den Geschwistern Mergentin das dunkle Geheimnis ihrer Fälscherkünste entrissen hatten.

Kein Wunder, wenn der Strom der Neugierigen also von August Grulls Hofraum sich bis vor die Pension Seeblick wälzte und dort oft zu dreißig, vierzig Personen sich vor der Tür staute.

Die meisten der braven Usedomer und Wolliner wurden jedoch enttäuscht. Die beiden Detektive hatten keine Lust, all die Tage am Fenster zu stehen und sich anstarren zu lassen. –

Auch noch andere Folgen zeitigte der Bericht der Swinemünder Zeitung.

Harst erhielt Briefe …

Im ganzen genau ein Dutzend …

Alle von … Usedomern und Wollinern, die uns irgendein „Geheimnis“ zur näheren Prüfung empfahlen oder aber unsere Hilfe in Anspruch nehmen wollten …

So zum Beispiel: Bauer Kurth aus Abbau Bansin waren vierzehn Kaninchen gestohlen worden. Er wünschte den Dieb bestraft zu sehen. – Gastwirt Emil Krull aus Stadt Usedom teilte uns mit, daß in der alten Usedomer Kirche nachts Gespenster umgingen. Wir sollten die Sache doch aufklären. – Gärtner Losche aus Bad Misdroy berichtete Ähnliches: in dem Moor westlich von Misdroy hause einer alten Volkssage nach ein schneeweißer Rehbock, der sich in hellen Mondnächten in ein blondes nacktes Mädchen verwandele. Er selbst habe dreimal von weitem das Mädchen gesehen. Wir möchten diesen Dingen doch auf den Grund gehen …

Und so fort …

Jeder, der federgewandt genug war, vier Briefbogenseiten zu füllen, schrieb an den berühmten Harst …

Und dieser Harst war liebenswürdig genug, jedem auch auf einer Postkarte zu antworten, – daß seine Zeit leider durch anderes zu sehr in Anspruch genommen sei … –

Immerhin: wir hatten unsere Freude an diesen Briefen, bewunderten die schlichte Kunst der Briefschreiber, unsere Neugier reizen zu wollen.

Und dann … dann kam der dreizehnte Bittsteller, wenn ich so sagen darf … Und der kam persönlich.

Das war ein alter würdiger Herr, ein Förster aus der Gegend nördlich von Bansin, so ein rechter Waidmann vom alten Schlage …

Wir hatten gerade im Seeblick wieder sehr gut und reichlich zu Mittag gegessen, als er sich anmelden ließ:

Förster Gundler bittet, Herrn Harst etwas Besonderes erzählen zu dürfen. –

Wir nahmen ihn mit in unser Wohnzimmer, tranken zusammen Kaffee, rauchten meine Zigarren und ließen Gundler erzählen …

„Meine Herren, wie Sie mich hier mit meinem weißen Bart und meinem braunen Gesicht sitzen sehen, bin ich fünfundsiebzig Jahre …“

Wir staunten, und er lächelte …

„Ich bin ein Usedomer Kind, an der Waterkant groß geworden. Die Seeluft erhält frisch, und wenn man wie ich gleich morgens einen großen Doppelkümmel trinkt, dann bleibt auch der Kopf klar und hell …“

Wir hüstelten, und er nickte uns zu – ganz ernst …

„Als ich so ungefähr zwanzig war, meine Herren, da lernte ich auf der Försterei Riebenhorst, die ich jetzt selbst seit Jahrzehnten verwalte. Das Gebiet der Försterei stößt in breitem Streifen bis an die See, und die steilen, bewaldeten Uferabhänge dort nennt man auch die Riebenhorster Hügel …“

Er nahm einen Schluck Kaffee.

„In einer Novembernacht nun hatte ich als Forstlehrling ein paar Wilddieben nachgespürt, die mit Stahlschlingen viel Wild erbeuteten. Ich kam auch bis an den Rand der Steilküste und schaute eine Weile auf das dunkle Meer hinaus, das durch einen Herbstorkan zu Wogenbergen aufgetürmt wurde, wie ich sie nie wieder gesehen habe. Der Sturm wütete bereits seit dem Nachmittag, und zuweilen gingen Regengüsse nieder, die mich längst bis auf die Haut durchnäßt hätten, wenn ich nicht den alten Ölrock meines Vaters, der Steuermann gewesen, über der Joppe getragen haben würde.

Wie ich noch so dastand und mir die Windstöße um die Ohren pfeifen ließ, gewahrte ich in der Brandung, die gegenüber den Riebenhorster Hügeln sich an mächtigen Steinblöcken bricht, ein kleineres Fahrzeug, das mit geknickten Masten dem Strande zutrieb.

Ich sah, daß nur noch ein einziger Mensch an Deck war, eine Frau, die sich an den einen Maststumpf festgebunden hatte.

Damals, meine Herren, hatte ich noch Augen wie ein Falke … Und wenn der Vollmond hin und wieder durch das Gewölk grinste, lag die Brandung und das dem Verderben geweihte Wrack klar und deutlich schräg unter mir …

Daß ich beim Anblick des Weibes, die da dem Tode preisgegeben war, aufrichtiges Mitleid empfand, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

Und doch – ich konnte ihr in keiner Weise helfen. Der Orkan trieb die Wellen bis an den Abhang heran, hatte die Vordünen glatt weggewaschen und nagte an den Lehmmassen der Steilküste, riß große Stücke los und – hätte auch mich beizeiten warnen sollen.

Meine Aufmerksamkeit galt aber so vollständig dem Wrack, das jetzt wiederholt gegen die Steinblöcke prallte, daß ich an mich selbst überhaupt nicht mehr dachte. Und doch stand ich auf einem weit überhängenden Teil des Abhangs, während unter mir die Wogen die Lehmwand immer mehr zernagten …“

Er strich die Asche von seiner Zigarre. Sein hageres frisches Gesicht war düster und wie schmerzlich bewegt …

„Eine traurige Sache ist’s, meine Herren, so wie ich damals zusehen zu müssen, wie ein Mensch kläglich dem Tode ausgeliefert ist …

Ja – ich konnte recht gut erkennen, daß die Frau immer wieder die Arme bewegte. Fraglos hat sie in ihrer Todesangst um Hilfe gerufen … Aber der Orkan übertönte alles. Und das war wohl gut, denn sonst hätte mich das Entsetzen davongescheucht …

Ich blieb stehen. Ich wurde Zeuge, wie eine haushohe Woge das Wrack über die Steinriffe warf und pfeilschnell dem Lande zujagte …

Tobend und donnernd prallte die ungeheure Welle gegen den Abhang – zwölf Meter unter mir …

Krachend schlug das Wrack gegen die Steilwand …

Und da, meine Herren, da hörte ich einen einzigen schrillen Schrei …

Nicht aus dem Munde des Weibes …

Nein – aus meinem eigenen …

Denn urplötzlich sauste ich mitsamt dem ganzen überhängenden Teil des Abhangs, der völlig unterwaschen war, – mitsamt uralten Eichen, Kiefern und Gestrüpp in die Tiefe …

Und – gerade auf das Wrack fiel die gewaltige Erdmasse, begrub es unter sich, türmte einen grünen Hügel darüber, wie … einen Grabhügel …

Ein Wunder war’s, daß ich mit dem Leben davonkam. Ich war durch einen umstürzenden Baum niedergeschlagen worden, erwachte erst am hellen Morgen mitten auf dem Hügel – zwischen wirr durcheinander liegenden Baumkronen.

Der Sturm hatte inzwischen ausgetobt. Die See war zurückgetreten, und ich konnte von dem Grabhügel des Schiffes und der unbekannten Frau unschwer zum Strande hinabklettern und nach der Försterei zurückwandern.

Als ich dort mein Abenteuer erzählte, glaubte man mir nicht. Mein Lehrherr, der Förster Ruff, meinte lachend, ich hätte die Geschichte von dem Wrack des Zweimasters wohl nur geträumt.

Und, ich will’s ehrlich eingestehen, mir selbst kamen allerlei Zweifel, ob ich nicht wirklich nur im Traume das Wrack und die Frau geschaut hätte.

Bis dann nach einem halben Jahr bei einem Frühlingssturm das Meer mit abermals ungeheuren Wellenbergen einen Teil des Wracks, die Spitze, aus dem Grabhügel herauswusch …

Und da stellten dann Fischer, die weit in der Welt herumgekommen waren, aus der Bauart dieses Teiles des Wracks fest, daß das Schiff eine holländische Kuff, ein Zweimastschoner, gewesen sei.

Andere Männer aus der Gegend wieder hatten es nun auf die Eichenplanken und die Inneneinrichtung der Kuff abgesehen, hieben mit Äxten in mühseliger Arbeit ein Loch in die Bordwand und wollten so ins Innere eindringen, denn auf andere Weise war ja an das Wrack nicht heranzukommen. Meterhoch lagen Lehmmassen, Steine, Baumstämme, Buschwerk und noch eine Lehmschicht darüber.

Diese Beutegierigen nun, die da in tagelanger Arbeit die dicken Eichenplanken zersplittert hatten, krochen dann auch mit Laternen in den Wrackrumpf hinein, kamen aber sofort wieder blaß und verstört heraus, da ein furchtbarer Verwesungsgestank, der einem am Fuße der einen Treppe liegenden Haufen von Leichen entströmte, sie rasch wieder zurückgeschreckt hatte. –

Es blieb bei diesem einen Versuch, die Kuff auszuplündern, von der noch niemand Namen und Heimathafen kannte.

Ja, meine Herren, es blieb dabei, weil … die vier Männer, die das Wagnis unternommen, schon am nächsten Tage an der Beulenpest erkrankten und starben …

Merkwürdig war, daß sie niemand weiter ansteckten, daß gerade nur die vier Leute starben … Und die indische Beulenpest ist doch eine der schlimmsten Seuchen.

Kein einziger hat es seitdem gewagt, das Wrack zu betreten, nicht einer … Das halbe Jahrhundert, das seitdem verflossen, konnte an dem Hügel über der Kuff nicht viel ändern. Sträucher und Bäume wachsen jetzt dort oben – gewiß …

Und die Spitze des Wracks ist längst wieder unter Erdmassen verschwunden.

Aber die Kuff selbst ruht noch immer wie ein Geheimnis unter ihrem Grabhügel, zweifellos gut erhalten, denn Eichenholz fault nicht so leicht …

Noch immer weiß niemand, welchen Namen das Schiff trug, woher es kam, was für eine Ladung es führte und wer die Frau gewesen, die als einzige Person an Deck von den Erdmassen mit verschüttet wurde.

Hier im Volke lebt die Erinnerung an die Kuff nur noch als halbe Sage, als die Sage vom Riebenhorster Pestschiff

Und doch – keine Sage, meine Herren. Denn einer, der alles miterlebte, sitzt hier vor Ihnen …“

 

2. Kapitel.

Der Geist der Holländerin.

Förster Gundler schwieg …

Und Harald füllte die Kognakgläschen, sagte leise:

„Ihr Wohl, Herr Förster … – Ich vermute, daß nun der moderne Teil der Geschichte des Pestschiffes sich anschließen wird.“

Gundler trank, hielt Harald das leere Glas hin …

Zwei Beine hat der Mensch – wenn ich bitten darf …“

Und wir tranken diesmal auf – den modernen Teil der Geschichte …

„Denn – nun kommt’s!“ betonte der Förster … „Nun kommt das, was ich bisher noch niemandem anvertraut habe, um – – mich nicht als Gespensterseher auslachen zu lassen …“

Kein Wunder, daß selbst Harst sich jetzt vorbeugte und den Alten erwartungsvoll anschaute …

„Ich erwähnte schon,“ begann Gundler, „daß ich jetzt seit Jahrzehnten als Herr auf der Försterei Riebenhorst sitze. Wenn ich nun bei meinen Gängen durch den Wald bis zum Abhang komme, wo etwa fünf Meter unter dem Rande der Steilwand der Grabhügel der Kuff sich erhebt, dann bleibe ich dort regelmäßig eine ganze Weile stehen und hänge so meinen Erinnerungen nach.

Ja – und auch im Juli dieses Jahres an einem prächtigen warmen Abend gelangte ich so an jene Stelle der Steilküste …

Gerade als die Sonne soeben untergegangen war und das Abendrot noch das Meer und den Himmel und die Segel der Fischerboote draußen rosig färbte …

Meine alte Jägerpfeife hatte ich im Munde, die Büchse über der Schulter und meinen armen klapprigen Jagdhund Treff, der mit seinen fünfzehn Jahren bereits zu den Greisen gehört wie sein Herr, dicht neben mir …

Und blickte hinab zu dem grünen Riesengrab, gedankenverloren …

Dachte mir so, wie schön es doch wäre, wenn man noch einmal wieder jung werden könnte …

Dachte gar nicht an das Wrack …

Und da – heulte plötzlich der Treff neben mir laut auf. Wie Hunde heulen, wenn sie Leichen wittern oder – sonst etwas … –

Ja – sonst etwas, meine Herren …!

Und als mein Treff nochmals herzzerbrechend jaulte und dabei den Kopf nach unten reckte und mit seinen milchigen Augen auf den Hügel hinabstierte, da … sah auch ich … sonst etwas …“

Er richtete sich plötzlich höher auf, der Alte, legte die Hände auf die Knäufe der Seitenlehnen seines Sessels und schaute uns fest an …

„Etwas, meine Herren, was jeder nur zu leicht für … Jägerlatein, für Schwindel halten könnte …

Ich sah auf einem Steine, der aus dem Grün des Hügels herausragte, eine Gestalt sitzen – ein Weib mit weißer Haube, wie die Holländerinnen sie tragen, und unter der Haube hingen die großen Messingplatten, wie sie ebenfalls in Holland Mode sind – die sogenannten Krulletjes …

Aber – was ich unter der Haube sonst noch sah, erschien mir im ersten Moment als – Hirngespinst, als Selbsttäuschung …“

Harald nahm die Zigarette aus dem Munde, beugte sich noch weiter vor und fragte:

„Einen … Totenschädel sahen Sie, nicht wahr?“

Der Alte nickte …

„Ja – einen grinsenden Skelettkopf – so war’s!“

„Sie haben dann doch die Sache untersucht?“

„Gewiß, wenn auch mit einigem Unbehagen, Herr Harst. Ich kletterte an einer weniger abschüssigen Stelle zum Strande hinab, nachdem ich minutenlang die unheimliche regungslose Gestalt betrachtet hatte. Nach zehn Minuten etwa langte ich am Fuße des Hügels an und – der Wahrheit die Ehre! – zauderte eine geraume Weile, bevor ich mich aufraffte und den Hügel hinanklomm …“

„Der natürlich leer war –“

„Ja – die Holländerin war verschwunden … Der Stein war da, auf dem sie gesessen … Und Butterstullenpapier und Eierschalen lagen umher, die von Badegästen hier zurückgelassen waren. Häufig besuchen ja die Fremden den Hügel, wenn ihnen ihre Wirtsleute in Bansin von dem Pestschiff etwas erzählt haben …“

„Und dann …?“

„Dann, Herr Harst, habe ich die Holländerin noch einmal gesehen … vor drei Tagen, so gegen fünf Uhr nachmittags, als es bereits dunkelte …“

„Und – –?“

„Und – der Wahrheit die Ehre! – da bin ich mit meinem Treff davongeschlichen, Herr Harst … Eiskalt war’s mir über den Rücken gelaufen beim Anblick des Skeletts in der holländischen Tracht, und so im stillen habe ich mir gesagt, daß es doch ein merkwürdiger Zufall sei, daß gerade auf dem Grabhügel einer holländischen Kuff, auf der ein Weib den Tod fand, eine – Holländerin sitzt …“

Er – langte nach der Kognakflasche …

„Sie gestatten, Herr Harst … Mir ist so flau im Magen!“

Füllte auch unsere Gläser …

Schweigend tranken wir …

Das Wehen des Überirdischen, Unheimlichen war um uns her … –

Förster Gundler holte nun eine Zeitung aus der Tasche hervor …

„Hier in der „Swinemünder“, Herr Harst, las ich die Geschichte von dem toten Tümmler. Und da habe ich mich denn auf den Weg gemacht und bin zu Ihnen gekommen – als ein alter Mann, der viel Seltsames erlebt hat und der nicht zu jenen Spöttern gehört, die alles Übernatürliche anzweifeln und belächeln. Nein – das tue gerade ich nicht. Denn – ich … leide seit meinem sechzigsten Jahre an Vorahnungen, Herr Harst … Eine unheimliche Gabe ist’s, wenn man so im Traum Dinge erlebt, die nachher – Wirklichkeit werden …“

Er atmete schwer …

„Ich könnte Ihnen fünf Fälle aufzählen, in denen ich den Tod von Bekannten vorausge…träumt habe. Der letzte Fall war der meines jungen Oberförsters, den eine umstürzende Kiefer erschlug … – Nein – doch wohl nicht der letzte Fall …“

Er sprach noch leiser …

Und im stillen Zimmer war noch stärker das unsichtbare Wehen des Unheimlichen, Übernatürlichen …

„Nicht der letzte Fall, Herr Harst … Denn im Traume habe ich vor einem Monat, am 15. September, meinen eigenen … Tod geschaut … durch … die … Holländerin!“

Er fuhr mit der Hand über die Stirn …

Auf dieser Stirn perlte Schweiß …

„Meinen – eigenen – Tod – durch – einen – Messerstich, Herr Harst, – ins Herz – auf dem Grabhügel der Kuff …“

Stille … Schweigen …

Und die schweren stoßweisen Atemzüge des alten Mannes, der sein Schicksal mit dem eines unbekannten Wracks über ein halbes Jahrhundert hinweg verwoben sah …

„Nur ein Traum, Herr Förster!“ suchte Harald dann den in sich Versunkenen aufzumuntern.

„Ein Traum, der – in Erfüllung gehen wird,“ kam die tiefe Stimme des Greises aus dem Sessel … „Sie wollen mich trösten, Herr Harst … Dessen bedarf es nicht. Jeder muß mal sterben, und ich habe dem Tode oft genug ins Auge geschaut … – Nur – nur eins wünschte ich: daß ich wüßte, ob Sie, meine Herren, eine natürliche Erklärung für dieses … dieses Gespenst haben. Gerade Sie beide sind doch Männer, die wohl so ziemlich alles kennenlernten, was die Welt an Ungewöhnlichem bietet … Ich habe ja genug von Ihnen gelesen. Herrn Schrauts Schilderungen Ihrer indischen Abenteuer besitze ich sämtlich. Und in diesen Büchlein betont Herr Schraut doch wiederholt, daß in Indien das Geheimnisvolle sich dem Europäer in so mannigfacher Form aufdrängt, daß ein jeder an den bekannten Spruch: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt“ rasch glauben lernt. – Wie denken Sie beide also über … den Geist der Holländerin?“

Harald blickte mich an …

„Mag Schraut zuerst seine Meinung äußern … Nun, mein Alter, – was hältst Du von dem Gespenst?“

Ich gestattete mir zu lächeln …

„Ein schlechter Scherz!“ erklärte ich. „Von Bansiner Badegästen inszeniert … Ein Totenkopf aus bemalter Pappe – nichts weiter!“

Harald starrte zum Fenster hinaus …

Dort draußen standen gerade wieder einige Neugierige, die von der Besichtigung des toten Tümmlers kamen.

Und starrte so anhaltend auf die Straße hinaus, daß ich unwillkürlich aufmerksam wurde …

Da wandte er den Kopf und sagte:

„Ohne Zweifel ein schlechter Scherz … Mithin ist es auch wohl ausgeschlossen, lieber Herr Gundler, daß Ihr Traum in Erfüllung geht … Dieser Witzbold, der da die Holländerin als Gespenst aufbaut, wird Ihnen kaum auf den Leib rücken … Schlagen Sie sich all diese Gedanken nur aus dem Kopf … Und morgen früh besuchen wir beide Sie auf Ihrer Försterei und werden dann zusehen, ob wir den Witzbold nicht abfassen können …“

Gundler saß gesenkten Kopfes da …

„In Bansin wohnt auch nicht ein einziger Badegast mehr, Herr Harst …“ murmelte er undeutlich. „Und hier aus Heringsdorf oder Neuhof wird doch keiner stundenlang laufen, um … ein Gespenst aufzubauen, wie Sie sich ausdrückten …“

„Es kann ja auch jemand aus der Gegend der Riebenhorster Hügel sein …“

„Die Bauern etwa?! – Herr Harst, die wohnen auch sämtlich eine Meile ab und haben Besseres zu tun … – Ich glaube nicht an einen Scherz …“

„Was sonst, Herr Gundler?! Mag es Unerklärliches geben: Gespenster gibt es nicht! Das ist barer Unsinn! Und das sage ich Ihnen als ein Mann, der schon genug „Geister“ entlarvt hat …“

„Dann – entlarven Sie auch diesen, Herr Harst!“

„Wird geschehen! Schon morgen. Und auch das verspreche ich Ihnen, ein Mann, der nun einmal von Mutter Natur ein wenig mehr Hirn und – geistige Augen mitbekommen hat …“ –

Eine halbe Stunde später verabschiedete Gundler sich von uns in bester Laune. Der Druck von seiner Seele war gewichen. Er freute sich auf morgen … wollte dem „Gespenst“ gehörig ein paar mit dem Krückstock überziehen, wie er lachend betonte.

 

3. Kapitel.

Gundlers Tod.

Und als wir beide nun allein waren, da – kam das wahre Gesicht dieser Geistergeschichte zum Vorschein, da sagte Harald, während er ein Zündholz anrieb und die frische Mirakulum in Brand setzte:

„Abends sieben Uhr brechen wir auf. Dann sind wir um halb zehn etwa an Ort und Stelle. Natürlich im Kostüm … mit ein paar Decken und Proviant, daß wir im Freien übernachten können …“

Und mir zunickend:

„Es war gut, daß Du die Sache als Dummenjungenstreich hinstelltest, mein Alter … Gundler hätte sich die trübsten Gedanken gemacht, wenn Du ihm Deine wahre Ansicht mitgeteilt hättest.“

Und ich …?! Ich – war ehrlich, erwiderte kleinlaut:

„Erlaube, das ist ja meine wahre Ansicht …“

„So?! – Nicht möglich! Und dabei liegt der Fall doch so klar …“

„Erlaube: für mich nicht!“

„Aber ich bitte Dich, lieber Alter: das Gespenst ist ein Schreckmittel für Neugierige. Das Gespenst soll jeden warnen, sich nicht etwa zur Nachtzeit auf den Hügel zu wagen. Das Gespenst ist der Wächter für die, denen wir heute nacht auf die Spur kommen werden …“

„Und das wäre …?“

„Das sind Leute, die vielleicht hier als Sommergäste etwa im Mai oder Juni von dem verschütteten Wrack des Pestschiffes erfuhren, die dann in Holland irgendwie genaue Nachforschungen anstellten, wo die Kuff beheimatet gewesen und was sie geladen hatte. So brachten diese Schlauen heraus, daß es sehr wohl lohne, die Ladung des Wracks zu bergen. Und – das tun sie jetzt an den langen Abenden, in den Herbstnächten, wo der Strand nirgends mehr von Spaziergängern bevölkert ist …“

Fürwahr – klarer und einleuchtender konnte die Lösung kaum sein …!

„Bravo, Harald!“ Und das kam aus ehrlichem Herzen.

Er saß mir gegenüber.

Und schüttelte jetzt langsam den Kopf.

„Ich fürchte, Alterchen, Du nimmst die Sache zu leicht, viel zu leicht. Du darfst nie vergessen, daß ein angetriebenes Wrack herrenlos ist, daß ein jeder in aller Öffentlichkeit davon Besitz ergreifen kann, auch von der Ladung, so wie der Fall hier liegt. Mithin muß es schon einen ganz besonderen Grund haben, daß diese Leute so in aller Heimlichkeit vorgehen. Und weil sie es tun und weil sie sogar das an sich ganz anerkennenswerte Mittel eines Gespenstes der toten Holländerin verwenden, werden sie auch fraglos vor einem Gewaltstreich nicht zurückschrecken. Ungefährlich ist die Geschichte nicht. Und wir beide müssen uns danach richten.“

Drei Züge rauchte er.

Dann:

„Uns danach richten, besonders da ich vorhin dort auf der Straße zwei Herren bemerkte, die mir in dem Blick der Augen mehr als nur Neugier nach Harst und Schraut verrieten …“

„Als Du so anhaltend hinausstarrtest?“

„Ja … Und wenn Gundler nicht bei uns gewesen wäre, würde ich diesen Männern gefolgt sein … Ich wollte Gundler jedoch nicht noch mehr beunruhigen und blieb sitzen. Es waren zwei Herren, die mit ihren bartlosen gebräunten Gesichtern und mit den hängenden Schultern an Seeleute erinnerten, an Kapitäne, Steuerleute, Schiffsoffiziere. Vielleicht waren es Ausländer … vielleicht … Die Ostseebäder wurden ja in diesem Sommer von Fremden überlaufen, die den Sturz der Papiermark gehörig ausgenutzt haben …“ –

Und nun …

Nun war es halb zehn …

Und ein Herbstabend, der die ganze trübe Poesie der absterbenden Natur in sich trug …

Hohler Regenwind pfiff über die See …

Wolken zogen am Himmel hin, schwarze Kleckse, die Mond und Sterne verschluckten und stets nur für kurze Minuten freigaben.

Grollend rauschte die Brandung, und oben am Rande der Steilküste rauschte der Hochwald sein deutsches Lied, wirbelte totes Laub von den Bäumen und flatterte über den hellen Sand des Strandes hin gleich huschenden Ratten …

Oben auch auf dem breiten mächtigen Grabe der Kuff schwangen Eichen und Kiefern im Nachtwinde hin und her.

Und wir beide, wir in unseren Stromerkostümen mit Bündeln auf dem Rücken lagen im Schatten der Steilwand dicht am Fuße des Hügels, waren die letzten fünfhundert Meter mühselig auf allen vieren vorwärtsgekrochen, hatten nichts versäumt, um unsichtbar zu bleiben …

Lagen hier erst kurze Zeit, schöpften Atem mit zurückgebogenem Kopf und starrten empor zu der Kuppe des Grabes des Pestschiffes …

Harald flüsterte:

„Oben bewegt sich etwas … Da – ein Tier …“

Undeutlich nur erkannte ich einen dunklen Schatten.

„Es kann auch ein Mensch sein, und …“

Ich schwieg …

Ein Ton drang an mein Ohr, der mich zusammenfahren ließ …

Ein Heulen – langgereckt – ersterbend in dumpfem Jaulen …

„Ein Hund – ein Hund!“ stieß Harst gepreßt heraus. „Wenn es Gundlers Treff wäre …! Wenn …“

Und – da abermals das klagende Geheul – jetzt ohne Ende schier – die Nerven aufpeitschend, tausend Befürchtungen weckend …

Harst schnellte hoch …

Griff in die Tasche …

Und ich neben ihm – nun auch mit der treuen kleinen Clement in der vor Erregung heißen Hand.

Wir beide herum um den Hügel – nach der Seeseite, wo er am flachsten …

Hier hatten neugierige Badegäste eine Art Pfad ausgetreten. Hier war man mit zehn langen Sprüngen oben unter den Bäumen, die aus den Wurzeln der vor fünfzig Jahren verschütteten wieder emporsprossen …

Und hier auf der flachen Kuppe blitzten unsere Taschenlampen auf …

Knurrend sprang uns ein dunkelbrauner Jagdhund an.

„Zurück, Treff!“ rief Harald befehlend und stieß das zahnlose Maul des alten Tieres beiseite …

Eine leise Stimme von rechts – neben einem bemoosten Riesenstein:

„Hierher … zu – Hilfe!!“

Gundler – – Förster Gundler …

Weiße Lichtkegel bestrahlten die hagere Gestalt, das verfallene Gesicht …

Joppe und Weste hatte der Todwunde aufgerissen, hatte sein Taschentuch auf die Stichwunde gedrückt …

Der Hund heulte …

Wir knieten …

Und aus den halb umflorten Augen des Greises ein dankbarer Blick …

Die Lippen zuckten … In das Konzert der Herbstnacht hinein die geflüsterte Anklage gegen – die Mörder …

„Ich – wollte der – Sache selbst – auf den Grund gehen … Ein Mann stieß mich nieder … Zwei waren es … Dort ist der – der Eingang zum …“

Die Stimme erstarb …

Die Augenlider sanken herab …

Minuten noch, und Gundler war hinüber, woher es keine Rückkehr gibt.

„Tot!“ sagte Harald …

Der Hund heulte …

Mondlicht glitt über die Strandlandschaft, glitt durch die Baumkronen – – auf eine andere Gestalt dort halb unter den Büschen …

Das Gespenst – – die Holländerin – lag im Grase. Die Haube zur Seite gerutscht, den grinsenden Totenschädel enthüllend – auch einen Teil des aus Rohr geflochtenen Oberkörpers …

Eine lächerliche Puppe …

Ein schändlicher Mummenschanz gegenüber der düsteren Macht des Sensenmannes, der hier soeben einen noch so rüstigen Greis hinweggemäht hatte. –

Der Hund heulte …

Brandung rauschte – deutscher Wald sang von der Treue des alten Gundler, von dem Sterben eines Braven.

Unsere Taschenlampen erloschen. Der Mond verkroch sich …

Dunkelheit …

Und wir beide standen zwischen dem Toten und der Puppe und flüsterten …

Ich wollte hinüber nach Bansin, damit die Leiche abgeholt würde.

Harald widersprach.

„Wir bleiben … Die beiden Fremden werden sich nicht mehr zeigen. Sie haben erledigt, was sie hier vorhatten. Wir bleiben und suchen das, was Gundler andeutete: den Eingang!“

Und der Hund heulte …

Heulte, daß es uns durch die Nerven schnitt.

„Tragen wir die Leiche nach unten,“ meinte Harald. „Treff wird sie bewachen …“

Die schauerliche Arbeit war bald getan. Treff schlich hinterdrein … Und sein Heulen und Klagen begleitete uns, wie wir nun wieder den Hügel emporstiegen – immer noch vorsichtig, in der Hand die Waffe, damit niemand uns überraschte …

Oben meinte Harald: „Du beobachtest. Ich suche –“

Und so geschah’s …

Unsere Taschenlampen strahlten auf …

Harst beleuchtete den Boden – Schritt für Schritt …

Beleuchtete die Bäume, die Steine, befühlte die Erde, schob die Grasbüschel auseinander … –

Daß der Eingang zu dem verschütteten Wrack gut verborgen und schwer zu finden sein mußte, sagten wir uns selbst. Und hatten Geduld – übereilten nichts …

Meine Augen glitten andauernd hin und her. Niemand sollte uns hier unvermutet überfallen …

So verging eine Viertelstunde. Die Kuppe des Hügels hatte einen Flächenraum von vielleicht 70 Quadratmeter – bei etwa neun Meter Breite und acht Meter Länge. Und diese Fläche hatte Harald jetzt bereits zum dritten Male erfolglos abgesucht.

Kam zu mir, zuckte die Achseln …

„Ich finde nichts! – Es gibt noch eine Möglichkeit. – Zwischen dem Hügel und der Steilküste liegt eine Spalte von drei Meter Breite … Dort muß sich der Eingang befinden. Komm’ nur mit, mein Alter …“

Und wir standen nun an der steilsten Seite des Hügels. Gelber Lehm bildete hier die Wand, und gelbbrauner Lehm lag uns gegenüber: der Abhang der Küste!

Harst bückte sich, kniete …

Da war ein Strauch, von Brombeerranken dicht durchzogen. Der hing über den Rand hinweg. Harald rüttelte ihn, zog ihn empor, schob sich vorwärts, leuchtete hinab …

„Gefunden! Ein Loch!!“

Und – – im selben Moment hoch über uns ein dumpfer Knall …

Ein Hagel von Lehmstücken kam herab …

Und – eine Hand packte mich …

Ich flog abwärts … Die Hand hielt mich … Kroch … in den engen Gang …

Und hinter mir her mein Retter – trieb mich vorwärts …

„Rasch – ein Erdrutsch … Ein Teil der Steilküste, von …“

Und da kam’s …

Kam über uns mit donnerndem Getöse … Bäume, Steine, Lehmmassen …

Prallten gegen die Kuppe des Hügels, hätten uns zerdrückt, wenn wir auch nur Sekunden später das Innere des Wracks erreicht haben würden …

Hinter uns – schloß sich der enge Gang – wurde zusammengequetscht von der ungeheuren Wucht des Stoßes der fallenden Massen … –

Wir erholten uns. Die zitternden Nerven beruhigten sich …

Wir sahen, daß der Gang durch den Hügel genau auf eine der Bordwandluken des Wrackes zugeführt hatte, und durch diese offene Luke waren wir in eine kleine Kajüte gelangt.

Wir sahen mitten in der Kajüte auf einem zu Zunder zerfallenen Teppich ein Skelett liegen, noch zum Teil bekleidet, – einen Seemann, den blanken Knöpfen nach, die offenbar vergoldet waren. Eine Seemannsmütze lag daneben. Sie war noch gut erhalten. Ein Leinwandstück war in das Mützenfutter eingenäht, und mit schwarzer Tinte, leicht zu entziffern, stand darauf:

van Kaampen,
Amsterdam.

„Das wird uns helfen, die Mörder zu entdecken, die wir im übrigen unterschätzt haben,“ sagte Harald und wischte den Schweiß von der Stirn. „Der Erdrutsch ist absichtlich von den Schuften durch Sprengung verursacht worden, damit wir – für immer verschwinden sollten. Sie waren heute Gundler bis nach Neuhof heimlich gefolgt und haben beobachtet, daß er uns aufsuchte. Nun wollten sie auch uns auslöschen, nachdem sie den Förster abgetan hatten …“

Seine Taschenlampe blieb jetzt plötzlich in derselben Richtung – auf einem altertümlichen Schreibtisch, wie gerade Seeleute sie früher in Kajüten bevorzugten.

Ich schaute hin …

Und ein farbiges Blitzen und Sprühen fesselte meinen Blick … Ein Sprühen wie das eines Tautropfens im Morgensonnenschein …

„Ein – Diamant,“ sagte Harald leise …

Und ging und hob den erbsengroßen Edelstein von der Schreibtischplatte auf …

„Also darum ging es – darum!!“ meinte er. „Edelsteine sind wie das Gold ein Quell alles Schlechten, Wecker aller Begierden …“

 

4. Kapitel.

Das kalte Wasser.

Er steckte den Edelstein zu sich. Dann gingen wir weiter durch das Pestschiff – von Raum zu Raum …

Fanden einen Haufen Skelette – fanden unten im Laderaum Faß an Faß …

Der Geruch verriet’s: Heringe! Eine Ladung Heringe hatte die Kuff! Nichts von Wert … Nur – die Diamanten hatten die Mörder herbeigelockt.

Wir kehrten in die Kapitänskajüte zurück, legten die Gebeine auf eine unserer Schlafdecken und schafften sie in eine Nebenkammer.

Ein kleines Ledersofa in der Kajüte diente uns zum Ausruhen.

Harald begann den Proviant auszupacken. Wir freuten uns, daß wir eine halbe Flasche Kognak nicht vergessen hatten.

Eine ernste Mahlzeit …

Denn wir waren ja eingeschlossen hier im Innern der Kuff. Über uns lagerten meterstarke Erdmassen. Der Gang war nicht mehr vorhanden …

Ernste Mahlzeit in Gesellschaft so und so vieler Skelette.

Und doch war Harald keineswegs besorgt, daß es uns nicht gelingen sollte, wieder – auszubrechen, wie er sagte.

„Nur Arbeit, Schweiß wird es kosten, mein Alter … Wenn wir uns gestärkt haben, fangen wir an – an der richtigen Stelle, und das ist die Spitze des Wracks, wo die Männer vor einem halben Jahrhundert die Planken zerstört haben. Dort kann nur wenig Erdreich uns von der Freiheit trennen.“

So einfach der Gedanke – eigentlich so selbstverständlich … –

Eine halbe Stunde drauf arbeiteten wir uns mit einem Bootshaken und einem Handbeil wie die Maulwürfe durch die Erdschicht durch.

Diese bestand zumeist aus Lehmbrocken, mit Seesand vermischt, aus kleineren Steinen, faulenden Tangpflanzen und Muscheln.

Wenn wir zwei Spaten zur Verfügung gehabt hätten, wären wir in einer Stunde frei gewesen. So aber brauchten wir volle vier Stunden, hatten inzwischen noch zweimal längere Pausen gemacht.

Als der erste frische Luftzug durch die sich schnell erweiternde Öffnung strich, wandte Harald, der mir den Sand zuschob, damit ich ihn nach hinten befördere, rasch sich um …

„Näher heran –“ flüsterte er. „Da – es gibt draußen etwas zu sehen …“

Ich sah … sah nun durch die kaum erst kopfgroße Öffnung den mondhellen Strandstreifen …

Und – – zwei Männer, die mehr nach rechts hin mit den Gesichtern nach dem Hügel hin dastanden …

„Das sind sie!“ lachte Harald lautlos. In diesem Lachen klang eine gefährliche Drohung mit. „Das sind sie – und wir haben sie …! Wahrscheinlich haben sie sich erst noch davon überzeugen wollen, ob wir uns nicht doch etwa gerettet haben, ob wir wieder zum Vorschein kommen würden. Oh – das werden wir …! Aber erst, wenn sie abziehen …“

Nun – wir brauchten nicht mehr lange zu warten …

Die beiden gingen davon – Richtung Bansin, dicht an der See entlang.

Harald stieß die letzten hindernden Erdmassen weg, kroch hinaus … Ich hinterdrein.

Vier Uhr morgens war’s … Harsts Leuchtzifferblatt schimmerte in seiner Hand als grüngelber Kreis.

Er schob die Uhr wieder in die Tasche.

„So – vorwärts! Sie haben genügend Vorsprung!“

Und dann schlichen wir bald neben ihnen hin – sie am Wasser – wir in den Dünen … – gen Heringsdorf.

Durch die Herbstnacht, durch die kühle feuchte Nebelluft der grollenden Ostsee …

Vorbei an den Strandvillen von Heringsdorf, vorbei an der Seebrücke, deren Wellenbrecher dem toten Tümmler als Anker gedient hatte …

Bis zum Nachbarorte Ahlbeck, berühmt durch seine Flundernräuchereien, durch seine idyllische Schlichtheit …

Und hier bogen die beiden, denen wir auf den Fersen waren, rechts ab …

Am Kurhaus gingen sie vorüber, bis zur Parkstraße.

Keine Menschenseele ringsum. Ahlbeck schlief.

Da liegt in der Parkstraße ein kleines Pensionat mit dem stolzen Namen Quisisana …

Qui – si – sana …!

Die wenigsten, die in den Seebädern diesen Namen lesen, wissen, was er bedeutet:

„Hier genest man …“

Und in diesem Hause mit dem verheißungsvollen Spruch über der Tür verschwanden die beiden, benutzten jedoch nicht die Tür, bewohnten Parterrezimmer und hatten den einen Fensterflügel nur angedrückt, stiegen durch das Fenster ein … –

Wir im Schatten eines Hauses auf der anderen Straßenseite … – wir sahen hinter den Vorhängen zweier Fenster Licht aufflammen, sahen Schatten auf diesen hellen Vorhängen, auch den Schatten einer Frau …

„Wir dürfen es schon wagen,“ meinte Harald. „Gehen wir hinüber … Es sind einfache Fenster. Vielleicht erlauschen wir etwas!“ –

Wir drückten uns an die Hauswand …

Horchten – vergebens …

Stimmengemurmel – das war alles …

Und dann – ein Weinen – ein besinnungsloses Schluchzen …

Jammernde Laute …

Männerstimmen … Drohend – bittend … ohne Erfolg …

Harst flüstert:

„Die Frau ist’s … Sie weiß nun, was geschehen … Da – horch …“

Eine helle Stimme – schrill – schreiend:

„Mörder – Mörder!! Oh – das habe ich nicht gewollt – – das nicht! Gott ist mein Zeuge …!“

Dann wurde der Fenstervorhang zurückgerissen …

Nur ein langer Sprung brachte uns in Sicherheit – hinter die Büsche des Vorgartens …

Ein Fenster klirrte … Ein Weib schwang sich hinaus.

Einer der Männer packte sie … Und hinter ihm der andere – keuchend vor Wut:

„So laß doch die Närrin! Sie wird sich schon wieder beruhigen …“

Die Frau riß sich los und stürmte davon – wie gehetzt. Bog nach dem Kurhause ein …

Das Fenster schlug zu …

Wir hinter dem Weibe drein – durch das schlafende Ahlbeck, das nichts von dieser Tragödie ahnte …

Zum Strande hinab lief die Frau … Ihr dunkles Haar hatte sich aufgelöst, flatterte hinter ihr her …

Der Wind zauste an dem hellen eleganten Hauskleid … Und blindlings lief sie … wie gehetzt …

Stand nun dicht am Ufer zwischen zwei Fischerbooten. Hob die Arme wie in stummer Klage gen Himmel …

Warf sich in den kalten, feuchten Sand – wie eine Irre … Wühlte die Hände hinein … Weinte – – schluchzte …

Sprang wieder auf …

Und … begann in die See hineinzuwaten …

Machte halt …

Stand regungslos … –

„Sie wird umkehren!“ flüsterte Harald. „Auf die Weise ertränkt sich niemand … Das eisige Wasser bringt jeden zur Vernunft.“

Wir hockten hinter dem Boote …

Sahen, wie das Weib sich langsam umwandte, wieder trockenen Boden gewann, wieder stehenblieb – hilflos – den Kopf gesenkt, ein Bild ratloser Verzweiflung …

Der Mond schien ihr ins Gesicht. Ein junges, hübsches Gesicht. Vielleicht nichtssagend, jetzt aber belebt durch den Aufruhr einer Seele, die vor dem Verbrechen zurückbebte.

Da war’s, daß Harald sich aufrichtete …

Und das Weib sah ihn, fuhr mit leisem Schrei zusammen …

„Sie haben von uns nichts zu fürchten,“ sagte Harst schnell. „Wir können einen Teil Ihres Jammers abschwächen. Ich bin – – Harald Harst, und das da ist mein Freund Schraut …“

Die Frau regte sich nicht …

Ein tonloses Schluchzen kam über ihre Lippen …

„Wer sind Sie?“ fragte Harald ebenso freundlich, und er zog aus seinem Bündel eine der Schlafdecken heraus. „Bitte – hüllen Sie sich ein. In Ihrem leichten Kleide werden Sie sich erkälten.“

Macht der Persönlichkeit – Haralds Macht über die Menschen …! Auch hier zeigte es sich wieder, wie schnell er das Vertrauen anderer gewann …

„Wer sind Sie?“ Und er führte die Frau hinter eines der Netzhäuschen, nahm noch eine zweite Decke, legte sie um die Schultern der Fremden …

Die Frau weinte leise …

Beruhigte sich … Schaute Harald angstvoll an …

„Und – und der Förster?“ fragte sie stockend …

„Ist leider – tot …“

„O mein Gott!“ Sie lehnte an der Bretterwand, zitterte …

„Wer sind Sie …?“

Keine Antwort …

„Waren Sie in diesem Sommer in Bansin?“

„Ja …“

„Und dort hörten Sie von dem Wrack …?“

„Ja …“

„Erzählten es den beiden Männern …“

„Ja – meinem Verlobten … Ich war Kellnerin in der Splendid-Bar in Bansin …“ Sie raffte sich auf. „Ich will alles sagen, wie es gewesen ist, Herr Harst … Mein Bräutigam war früher Steuermann auf einem Lloyddampfer. Jetzt ist er in Berlin Agent. Auch ich bin Berlinerin. Als er mich im Juni in Bansin besuchte, erzählte ich ihm von dem Wrack, von der holländischen Kuff. Da ist er dann mit seinem Freunde, den ich gar nicht leiden mag, nach Amsterdam gereist. Ihm als früherem Seemann fiel es nicht schwer, insgeheim herauszubringen, was für eine Ladung die Kuff gehabt hatte. Er erfuhr auch, daß eine russische Fürstin, die wegen politischer Umtriebe aus Rußland verbannt worden war, die Reise mitgemacht und eine Menge Juwelen mitgenommen hatte. Die Kuff sollte Heringe nach Riga …“

„Schon gut … – Die Juwelen waren in dem Wrack schwer zu finden. Deshalb hat Ihr Verlobter und dessen Freund das Wrack häufig besucht …“

„Ja … Erst heute entdeckten sie das Versteck der Edelsteine in der Kajüte des Kapitäns …“

„Und wurden vom Förster Gundler überrascht, als sie das Wrack verließen …“

„Ja …“

„Wer stieß Gundler nieder?“

„Trawitz – der Freund Pauls …“

„Und Sie fürchteten, daß auch wir dann durch den Erdrutsch getötet worden sein könnten …?“

„Ja … Trawitz hatte oben am Abhang schon vor Wochen alles für eine Sprengung vorbereitet … für den Fall, daß Gefahr drohe …“

Sie weinte wieder.

Man merkte: das war keine, die log! Die sprach die Wahrheit.

Harsts Stimme war denn auch immer milder geworden …

„Wie heißen Sie, Fräulein …?“

„Hilda Gerling …“

„Sie sind sich wohl darüber klar, Fräulein Gerling, daß Ihr Verlobter bestraft werden wird, wenn er auch nicht der Hauptschuldige ist. – Sein Name, Fräulein?“

„Paul Münzer …“

„Ich würde Ihnen nun raten, wieder in das Pensionat zurückzukehren, Trawitz aber zu verschweigen, daß Sie mit uns gesprochen haben. Ihr Verlobter kann seine Richter erheblich milder stimmen, wenn er uns freiwillig die ganze Beute aushändigt und sich selbst der Polizei stellt. Warnen Sie ihn aber vor jedem Fluchtversuch.“

„Oh – das würde ich niemals dulden, daß er flieht. Ich werde ihm treu bleiben, auch wenn er ins Gefängnis kommt … Der Trawitz ist ein schlechter Mensch … Paul hat …“

Sie schwieg jäh, hob den Arm …

„Dort – das ist er … Er sucht mich …“

Münzer kam näher … Bemerkte uns nicht …

Rief immer wieder den Vornamen seiner Braut … hastete zum Strande hinab …

Und Harst flüsterte rasch: „Gehen Sie zu ihm … Wir haben anderes vor …“

Und er zog mich mit sich fort …

Er, der die Verbrecherseelen kannte, der auch hier den Verrat witterte …

Zur Quisisana eilten wir empor …

Standen am erleuchteten Fenster, dessen einer Flügel halb offen war. Der Vorhang wehte …

Und als er sich wieder hob, sahen wir da drinnen einen Mann am Tische stehen, der in eine Reisetasche hastig allerlei hineinpfropfte …

„Er will – fliehen!“ raunte Harald mir zu. „Den Freund um die Beute betrügen …“ –

Trawitz erschien am Fenster – stieg hinaus, hatte vorher das Licht im Zimmer ausgedreht …

Blickte sich scheu um …

Stellte die Reisetasche nieder, schlug den Mantelkragen hoch und drückte den Hut tief ins Gesicht …

Der Wind traf auch hier die Gartenbäume, spielte mit einer losen Dachrinne wie mit einer Kinderklapper.

Der Mörder bückte sich, wollte die Tasche wieder in die Hand nehmen …

„Ich werde sie Ihnen tragen,“ sagte da jemand hinter ihm …

Und gleichzeitig blitzte in meiner Hand die Taschenlampe auf … beleuchtete Harst, der dem Verbrecher die Clement entgegenhielt …

„Mein Name ist Harst … Das genügt wohl … Gehen Sie voran … Die Polizeiwache liegt im Gemeindehaus …“

Trawitz lachte …

„Verspielt!!“

Das war alles …

Ein kaltblütiger Schurke, – und festen Schrittes ging er vor uns her, bis die – Zelle der Polizeiwache ihn aufnahm, bis Harald ihm hier die in ein Taschentuch eingeknoteten Juwelen aus dem Rocke zog … –

Paul Münzer wurde nicht verhaftet. Er ist später vor Gericht auch billig weggekommen. Die herrenlosen Juwelen (Verwandte der Fürstin waren nicht mehr zu ermitteln) zog der Staat ein. –

Und am Morgen nach dieser Herbstnacht standen wir und mit uns die Gerichtskommission aus Swinemünde vor – zwei Leichen – neben dem Grabhügel des Pestschiffes …

Ein herabfallender Stein hatte auch den treuen Treff erschlagen. Verendet lag er neben seinem Herrn … – –

Das ist die Geschichte des Pestschiffes.

Das ist aber noch nicht das Ende dessen, was wir in Neuhof erlebten.

Neues trat an uns heran …

Eine Seemannstragödie … Neue Menschenschicksale lernten wir kennen, neue Aufgaben führten uns über Länder und Meere bis tief ins Innere des – schwarzen Erdteils – Afrikas …

Davon Näheres im folgenden Band …

Für heute: Auf Wiedersehen!

 

Nächster Band:

Das Erbe des Verschollenen.

 

 

Verlagswerbung:

An unsere Leser!

Die glänzende Erzählerkunst Walter Kabels, welcher doch nun schon seit Jahren tausende Leser an die Detektiv-Abenteuer unseres Harald Harst fesselt, schenkt uns in dem soeben erscheinenden großen Sensationsroman

Der Goldschatz der Azoren

ein neues Werk von so eigenartiger und packender Schönheit, daß auch dieser Roman zahlreiche Freunde finden und die Lesergemeinde der Kabelschen Arbeiten noch vergrößern wird.

Ein ganz eigenartiges Motiv hat sich der Autor für diese Arbeit gewählt: Die Macht des Goldes. Deutsche Männer und Frauen haben während des Krieges in unseren afrikanischen Kolonien einen großen Goldschatz gefunden, den sie dem Vaterlande schenken. Ein deutsches U-Boot nimmt das Gold an Bord, um es nach Deutschland zu schaffen. Im Atlantischen Ozean aber erleidet das U-Boot einen Maschinendefekt, es wird von einem englischen Kriegsschiff verfolgt und in der Nähe der Azoren-Inseln in den Grund gesenkt. Nur ein einziger der Besatzung, der Steuermann Hartwich, kann sich auf die Insel San Miguel retten, wo er drei Jahre lang als Robinson lebt. Als er dann nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückkehrt, findet er sein Vaterland am Boden liegend, das deutsche Volk unsäglich an den Folgen des Krieges leidend. Nun beschließt er den gewaltigen Goldschatz zu heben, um damit die Leiden seiner deutschen Volksgenossen zu lindern. Er trifft mit seinem Jugendfreunde Viktor v. Gaupenberg zusammen, der ein ganz neuartiges Luftschiff konstruiert hat, und mit Hilfe dieses Luftschiffes wollen die Freunde den Schatz bergen. Doch durch einen Zufall haben andere von dem Goldschatz erfahren, die nun mit allen Mitteln versuchen, für sich das Gold zu gewinnen. Und um diesen riesigen Goldschatz entbrennt nun einen Kampf, wie er gewaltiger und packender nicht geschildert werden kann.

Wir alle kennen Walther Kabel aus seinen Harald Harst-Erzählungen und wissen, wie er zu erzählen und zu fesseln versteht. Im „Goldschatz der Azoren“ aber hat er sich selbst übertroffen. Diese Erzählung ist von so eigenartiger und packender Schönheit, daß sich kein Leser ihr entziehen kann.

Gratis und franko

erhält jeder Leser der Harst-Erzählungen das 1. Heft des „Goldschatz der Azoren“. Wir bitten um Einsendung der Adresse, worauf wir sofort vollständig kostenlos das erste Heft zusenden.

 

 

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































74:
75:
76:
77:
78:
79:
80:
81:
82:
83:
84:
85:
86:
87:
88:
89:
90:
91:
92:
93:
94:
95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Die ersten 16 Zeilen des Beginns der Geschichte sind in der Vorlage auf den Anfang der zweiten Seite gerutscht. Text wieder in die richtige Reihenfolge gebracht.
  2. In der Vorlage steht: „schlennigst“.