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Das gestohlene Auto

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 131:

 

Das gestohlene Auto.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1924 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die schwarz Verschleierte.

Das – gestohlene Auto …

Gewiß kein Titel, der irgendwie Erfindungsgeist verrät.

Nein, ein sehr alltäglicher Titel, denn in Berlin, kann man sagen, wird jede Woche ein Auto – geklaut … mindestens!

Wenn aber ein Harald Harst sich mit einem gestohlenen Auto beschäftigt, so muß das schon eine ganz besondere Bewandtnis haben, denn für gewöhnlich gibt mein Freund Harald sich mit – alltäglichen Dingen nicht ab …

Das weiß ich, Max Schraut, am allerbesten, und das wissen auch unsere Freunde und meine Leser, denen ich im übrigen hier nochmals für die vielen Zuschriften hinsichtlich des „Toten Tümmlers“, Band 127, danke. Leider muß ich aber in Bezug auf diese Zuschriften mit einigem Recht bezweifeln, daß das Geheimnis des Tümmlers tatsächlich von so vielen Lesern rechtzeitig durchschaut worden ist. – Hand aufs Herz, meine Damen und Herren: sollten Sie alle wirklich so bald auf Alterspatina gekommen sein?! Ich – – glaube das nicht ganz. Entschuldigen Sie schon … Ich kann es nicht glauben. Denn sonst liefen ja in Deutschland Genies wie Harald Harst zu Dutzenden herum! –

Und hieran anschließend abermals eine Preisfrage: Wer errät dieses Geheimnis hier schon vor den letzten Seiten? Wer findet aus sich selbst heraus den Zusammenhang zwischen den drei so verschiedenartigen Vorfällen, die unser Abenteuer mit dem gestohlenen Auto einleiteten? – Ich bemerke hierzu, daß ich die Lösung fein angedeutet habe – ganz fein …! Und wer mir beweist, daß er ohne Harsts Hilfe diesen Dingen auf die Spur gekommen ist, der wird als Dank für seine Geistesarbeit unser Doppelbild zugesandt erhalten, das im übrigen gegen Einsendung von 1,60 Mark an den Verlag jederzeit zu haben ist.

Und nun – – Vorfall Nummer eins …

September war’s … An einem Vormittag … Und ich in übelster Laune … Hatte ich doch morgens in der Stadt Zigarren gekauft, dabei hundert Rentenmark gewechselt und nachher unter den Wechselscheinen eine falsche Zehnbillionen-Banknote entdeckt – nachher!

Und als ich dann von unserem Heim Schmargendorf, Blücherstraße 10, den Zigarrenhändler angeläutet hatte, war der Mann noch grob geworden …

Worauf Harald mich ausgelacht hatte …

„Alterchen, man sieht sich bei den jetzigen Zeiten Geldscheine sofort an und recht genau! Mögen Dich die falschen Zehnbillionen für immer als ernste Mahnung begleiten! Stecke die Banknote in ein Extrafach Deiner Brieftasche – und ärgere Dich nicht mehr!“

Er saß am Schreibtisch und sah die mit der zweiten Postbestellung eingetroffenen Briefe durch …

Fügte fast in einem Atem hinzu:

„Max Schraut – hier ist Arbeit für uns!“

Ich wollte den unechten Schein gerade zerreißen, schob ihn nun aber doch in meine Brieftasche …

Harst las bereits vor:

„Potsdam, den 11. September d. J.

Grünstraße 16

Sehr geehrter Herr!

Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen hier etwas mitteile, das mir äußerst merkwürdig vorkommt. Hier bei mir wohnte seit Jahren die verwitwete Generalin von Borgberg, eine sehr feine, alte Dame, die infolge Familienzwistigkeiten ganz allein dastand. Seit Monaten hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Vorgestern verstarb sie plötzlich an demselben schweren Herzleiden, das sie in letzter Zeit an das Haus gefesselt hatte. Die Generalin ist siebzig Jahre alt geworden und … – Doch ich will mich kürzer fassen. Jedenfalls: sie starb vormittags gegen elf. Um vier Uhr nachmittags war sie bereits eingesargt. Ich habe das alles allein besorgt, da sich ja doch keiner ihrer an anderen Orten ansässigen Angehörigen darum gekümmert hätte.

Die Tote war in ihrem Erdgeschoßzimmer aufgebahrt worden. Mein Häuschen hier steht mitten in einem Garten. Um elf Uhr abends – es regnete vorgestern stark – hörte ich von meinem Schlafzimmer aus allerlei verdächtige Geräusche. Ich weckte mein altes treues Hausmädchen, und wir stellten dann fest, daß die Leiche aus dem Sarge verschwunden war. Eins der Fenster des Zimmers hatten wir halb offen gelassen und die Laden nur angelehnt. Durch dieses Fenster waren offenbar Leute eingestiegen, wie erdige Spuren auf den Dielen und dem Teppich verrieten.

Da Luise, mein Mädchen, nicht allein zur Polizei gehen wollte, kleideten wir beide uns vollständig an und verließen dann das Haus, schlossen hinter uns ab und eilten zur Polizeiwache am Nauener Tor. Die Grünstraße liegt in der Nähe der russischen Kolonie.

Kaum waren wir aber die Grünstraße ein paar Meter hinabgeschritten, als wir unter einer Laterne ein wimmerndes, verschleiertes, gut angezogenes Mädchen fanden, das uns mindestens eine halbe Stunde Zeit kostete, denn wir konnten die doch fraglos Schwerkranke nicht im strömenden Regen auf dem Pflaster liegen lassen.

Das Mädchen, das wir ins Haus geführt hatten, benahm sich so seltsam, daß wir zeitweise glaubten, sie rede irre. Als ich ihr Rotwein eingeflößt hatte, erholte sie sich langsam und verlangte nachher, ich sollte ihr Geld schenken, damit sie nach Berlin zurückkehren könnte. Ich tat es. Wir waren froh, als sie sich wieder entfernte, denn sie war auch Luise geradezu unheimlich erschienen. Bemerken will ich noch, daß ihr dichter schwarzer Schleier von dem Gesicht nichts erkennen ließ und daß sie nicht zuließ, daß ich den Schleier höher als bis zur Nasenspitze emporschob.

Nachher begleiteten uns dann zwei Polizeibeamte von der Wache wieder nach Hause …

Und da, Herr Harst, – stellen Sie sich unsere Überraschung vor! – da … lag die Generalin Emilie von Borgberg wieder friedlich im Sarge!

Die Polizeibeamten lächelten zweifelnd, als wir immer wieder versicherten, die Leiche sei tatsächlich verschwunden gewesen. Sie gingen davon, und Luise und ich schlossen jetzt alle Fenster und Fensterladen und riegelten uns in meinem Schlafzimmer ein.

Am anderen Morgen, also heute morgen (ich schreibe dies abends sieben Uhr) betraten wir mit einigem Zögern das Totenzimmer. Doch – nichts war in der Nacht geschehen. Und übermorgen am 12. wird die Generalin nun beerdigt werden. Inzwischen habe ich an drei von ihren Verwandten depeschiert, die denn auch zu dem Begräbnis sich einfinden werden.

Die Polizei hat heute vormittags nochmals einen Beamten geschickt. Wir konnten dem Herrn nur wiederholen, was wir bereits gestern behauptet haben: die Leiche war gestohlen worden, ist dann aber wieder in unserer Abwesenheit zurückgebracht worden.

Und da frage ich mich nun, Herr Harst: Wozu dies?! Wozu hatte man die Tote für kurze Zeit weggeschafft?! – Ich finde keine Erklärung dafür.

Sollte die Angelegenheit Sie interessieren, so bin ich zu jeder näheren Auskunft jederzeit bereit.

Hochachtungsvoll

Frau Anna Mudry,

Kunstmalerin.“

„Na?!“ meinte Harald sehr gedehnt und legte den Brief beiseite. „Was hältst Du davon, mein Alter?“

Und sein hageres, durchgeistigtes Gesicht war wie die Verkörperung intensivster Gedankenarbeit.

„Das verschleierte Mädchen dürfte Deine Frage sehr genau beantworten können,“ erwiderte ich sehr bestimmt.

„Bravo!! Ich verstehe: Das Mädchen – – war bestellte Arbeit!“

„Allerdings … Sie sollte Luise und die Mudry lediglich einige Zeit beschäftigen, damit die beiden nicht allzu schnell die Polizei holen könnten …“

„Bravo! – Und weiter?“

„Die Leichendiebe sahen dann ein, daß sie die Tote doch nicht ungefährdet wegbringen könnten und – verzichteten auf den Raub!“

„Hm – hm!“

„Gefällt Dir die Lösung nicht?!“

„Nein – gar nicht!“

„Dann nenne mir eine bessere …“

„Das kann ich nicht – noch nicht … Wir werden aber dem Begräbnis morgen beiwohnen und heute mal die Grünstraße uns ansehen …“

„Also zur Mudry gehen …“

„Nein … Was könnte sie uns noch mitteilen! Ihr Brief ist doch recht eingehend. Höchstens …“

Und da schwieg er.

Da – begann … Vorfall Nummer zwei …

Das Tischtelephon schlug an.

Sein schrilles Stimmchen hatte uns schon so mancherlei Merkwürdiges angekündigt …

Noch nie – etwas Derartiges …

Und Harst langte nach dem Hörer …

„Hier Harald Harst …“

Lauschte dann …

Ich beobachtete sein Gesicht …

Es nahm einen überaus gespannten Ausdruck an …

Und nun fragte er – er, so wie er zu fragen weiß …

„Wann war das? – Bitte – recht genaue Zeitangabe. – Einen Augenblick, ich will mir’s notieren: also um zwölf Uhr nachts am 10. September … – Wie bitte? – Gut – also am 11. September kurz nach 12 Uhr nachts wurden Sie im Walde zwischen Neubabelsberg und Wannsee von einer verschleierten Frau angerufen, die mitten auf der Chaussee lag … Sie hielten Ihr Auto an, und die Frau richtete sich langsam empor und … – wie bitte? – gut – die Frau schlug Ihnen blitzschnell mit irgendeinem harten Gegenstand gegen die Schläfe. Als Sie wieder zu sich kamen, war Ihr Auto verschwunden samt der Verschleierten … Und dann – langsam bitte –, dann benachrichtigten Sie sofort die Polizei in Wannsee … – Beschreiben Sie mir nun den Kraftwagen ganz genau … Dunkelbraun – hinten Klappverdeck, ein großer Koffer hinten aufgeschnallt … Danke! – Und nochmals Ihren Namen und Adresse …: Richard Kolz, Kaufmann, Berlin W., Berchtesgadener Straße 94. – Ob ich die Sache übernehmen will? Gewiß – gern … – Noch eine Frage – ein paar Fragen … Erstens: Trug die Frau einen schwarzen Schleier? – Ja? … – Und dann: Was enthielt der Koffer? – Er war leer? – Gut … – Und drittens: Wußte irgend jemand, daß Sie, Herr Kolz, nachts allein von Potsdam nach Berlin fahren würden? – Nur Ihre Bekannten in Potsdam? Wer sind diese Bekannten …? – Langsam … Also Doktor Ernst Greiger, seine Gattin und – – bitte, wer noch? – Gut – also die Tante der Frau Doktor Greiger … – Halten Greigers Dienstboten? – Nein …? – Danke! – Ich gebe Ihnen Nachricht, Herr Kolz, sobald ich irgend etwas ermittelt habe. – Halt – noch etwas: Wo wohnen Greigers in Potsdam? – Grün…straße … 18 … Danke! Wohl eine Villa? Ja? – So, und nun Schluß, Herr Kolz, und … die Hauptsache: zu niemandem ein Wort davon, daß Sie sich mit mir in Verbindung gesetzt haben …“

Er legte den Hörer weg …

Schaute mich an … Mit einem Blick – einem Blick …!!

Und ich flüsterte, während mir die Aufregung wie ein Kloß in der Kehle saß:

„Grünstraße 18!! Ob das ein Zufall ist?“

Er hob die Schultern …

„Alterchen, wir wollen uns den klaren Blick nicht trüben lassen … Jede Kombination wäre müßig – zwecklos … – Nach Tisch fahren wir gen Potsdam …“

 

2. Kapitel.

Das Auto.

Es war ein Glück, daß wir zu unseren Masken älterer würdiger Spießbürger Ledermäntel gewählt hatten … Denn der sonnige Septembertag zeigte nachmittags ein höchst unfreundliches Gesicht, und als wir so gegen acht Uhr vor der Villa Greiger in der Grünstraße standen, tröpfelte es recht erheblich …

Die Villa lag hinter Fliederbüschen und Kastanienbäumen halb versteckt.

Eine sehr bescheidene Villa … Ein schadhafter Holzzaun dazu … Verwahrlost alles. Das hatten wir schon bei Tageslicht festgestellt.

Drei Fenster im Hochparterre waren erleuchtet.

Und als wir so noch auf der anderen Straßenseite geduldig wie stets dastanden und warteten, ob sich nicht vielleicht einer der Bewohner der Villa zeigen würde, hörten wir die rostigen Türangeln des Haupteinganges kreischen.

Ein breiter Lichtschein …

Er verschwand wieder …

Die Tür war geschlossen worden, und ein Mann kam nun auf die Zaunpforte zu, ein noch junger Mensch in Chauffeurtracht …

Mißtrauisch blickte er sich draußen um. Wir waren durch die dicken Platanen gedeckt, die hier so würdig den Bürgersteig begrenzen …

Und – folgten dem Manne …

Bis zur Straßenbahn – bis zur Haltestelle, wo der Chauffeur einen Wagen nach Charlottenhof bestieg.

Wir – auch – den Vorderperron …

Und so fuhren wir bis zur Bahnstraße … Begleitet von den Klängen des Glockenspiels der Garnisonkirche …:

„Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ …“

Und wir – auf den Spuren irgendeines Verbrechens!

Wir bestimmt hoffend, daß dieser schlanke Chauffeur uns noch Wichtiges verraten würde. –

In der Bahnstraße stieg er aus …

Rechts das Gitter eines endlosen Parkes, links einzelne Villen und Häuschen, deren Gärten an den Bahndamm stießen.

Die Lichterreihe eines D-Zugs flog vorüber. Der Speisewagen dicht besetzt. Schlanke Weinflaschen auf den Tischchen …

Und wir – über eine Mauer turnend … Wir einen uralten Birnbaum erkletternd – hinüberspähend in den Hof eines winzigen, windschiefen Häuschens, das vielleicht noch den Philosophen von Sanssouci gekannt hatte …

Denn – dieses Häuschen hatte der Chauffeur betreten, hatte die plumpe Haustür aufgeschlossen …

Wir – warteten …

Stallungen, uralt, ein hoher Zaun sperrten den Hof nach allen Seiten ab …

Die Hinterfront des Häuschens sahen wir …

Licht hinter zwei Fenstern … Schatten auf den Vorhängen …

Warteten …

Wohl eine Stunde …

Es goß … goß …

Die Blätter tropften … Unsere Mäntel troffen … Wir – hofften …

Und Harst flüstert:

„Der Hof hat ein breites Einfahrttor dort neben dem Häuschen … Und dort in dem Stalle hätte ein Auto Platz …“ –

Seltsam: auch hier plötzlich das Kreischen von Türangeln.

Auch hier ein breiter Lichtstreifen.

Zwei Gestalten treten in den Hof, der Chauffeur und ein junges Weib in einer Art Dirndlkleid.

Langsam kommen sie auf die breite Stalltür zu.

So wie Menschen, die eine schwere Bürde drückt.

Der Mann schließt die Tür auf, schiebt dann – ein Auto ins Freie.

Und – Spiel des Zufalls! – da hört der Regen auf. Da grinst der Mond durch die Wolken.

Die beiden stehen neben dem Wagen, hinten, wo ein Koffer aufgeschnallt ist, ein großer Koffer.

Ich – – halte den Atem an.

Es ist – das gestohlene Auto!

Ohne Zweifel! –

Dann betastet der Chauffeur das Kofferschloß.

Die Frau beugt sich vor.

Und – – beide prallen zurück. Der Kofferdeckel ist hochgeschnellt. Der Oberkörper eines Menschen fällt halb heraus – eines weißbärtigen Mannes.

Chauffeur und Frau sind zu Salzsäulen geworden. Dann – will die Frau entsetzt flüchten.

Ein Zuruf. Sie dreht sich um, hebt wie verzweifelt die Hände.

Der Chauffeur steht vor ihr, redet auf sie ein.

Der Mond leuchtet. Die Frau weint.

Wie – Nachtspuk das alles. Unwahrscheinlich – rätselhaft. –

Beide ziehen den Toten nun vollends heraus, schleppen ihn in den anderen Stall, kommen zum Auto zurück.

Langsam schwindet die Mondeshelle wieder. Wolken kriechen vor die silberne Scheibe.

Ein Motor faucht. Das große Hoftor knarrt. Der Wagen mit dem Chauffeur gleitet davon. Der Himmel weint – es gießt wieder.

Nachtspuk – Nachtspuk. –

Wir warten.

Die Frau ist längst im Hause verschwunden.

Dann – hinab vom Baume, hinüber über den morschen, glitschigen Zaun – in den Hof – in den alten kleinen Stall.

Die Tür nur verriegelt.

Innen Kaninchenduft. Unserer Taschenlampen weiße Lichtfinger tasten über den Kopf einer weißen Ziege hin, die über ihre Box hinweglugt – über Kaninchenkästen, in denen die Bewohner dicht am Gitter kauern.

Und – über eine große Futterkiste mit mehligem Deckel, den Harst nun anhebt.

Eine wollene Decke – Umrisse eines menschlichen Körpers …

Ich – fasse zu – – behutsam.

Das Totengesicht schaut uns an.

„Hm – merkwürdig!“ flüstert der Freund.

„Inwiefern?“

Da – faßt er zu.

Bart, Perücke lösen sich.

Unter der Perücke – dünnes graues Frauenhaar.

Ein Weib – eine alte Frau – mindestens eine Sechzigjährige – hager, faltig das starre Antlitz.

Und – noch merkwürdiger: Harald bückt sich, befestigt Bart und Perücke wieder, schlägt den Deckenzipfel über das fahle Gesicht. –

Wir verschwinden, wie wir gekommen.

Erreichen die Bahnstraße, wandern Potsdam zu.

Ich – – begreife nicht recht, frage zögernd:

„Weshalb?“

„Weshalb wir nicht geblieben sind? – Mein Alter, weil wir bei Greigers jetzt einsteigen werden. Deshalb!“

„Und – was hältst Du von alledem?“

„Weiß nicht. Du etwa?“

„Nein!“ –

Halb elf ist’s, als wir wieder in der Grünstraße sind. Und nicht lange stehen wir vor der Greigerschen kleinen Villa, da kommen von der Haustür her zwei Herren durch den Vorgarten bis zur Pforte, – ein schlanker, ein behäbiger, von meiner Figur.

Ein Name dringt bis zu uns hinüber, bis hinter die Platanen:

„Gute Nacht, lieber Kolz!“

„Gute Nacht! Nochmals – mein Beileid! – Gute Nacht!“

Und Kolz, unser Klient, wandert die Straße hinab.

„Hm!!“ macht Harst da neben mir. „Hm – ob er jetzt etwa sein Auto wiederfinden wird?! – Folgen wir ihm.“

Wir gehen hinter ihm drein, kommen in die Brandenburger Straße.

Und hier vor dem Kaffeehause dicht hinter dem Tore bleibt Kolz plötzlich stehen.

Er als bestohlener Autobesitzer hat natürlich auf jeden Kraftwagen geachtet. Und – hier steht ein Auto dicht an der Bordschwelle – im Regen – beleuchtet durch die Helle der Schaufenster des Kaffeehauses.

Wir merken es Kolz an: er ist sprachlos! Er erkennt seinen Wagen! – Tritt näher, schaut hinein, geht um das Auto herum, schüttelt den Kopf – ganz fassungslos.

Harst zieht mich weiter.

Auch wir bleiben stehen, tun so, als ob wir das Kaffeehaus betreten wollten.

Da wendet sich Kolz um.

Wir sehen sein Gesicht zum ersten Male – das eines Mannes, der offenbar Sympathie verdient, – ein gutes Gesicht.

Er grüßt, sagt:

„Würden die Herren mir vielleicht einen Gefallen tun und einen Schupobeamten holen? – Mir ist vorgestern nacht mein Auto gestohlen – schon mehr geraubt worden. Und nun steht es hier auf der Straße –“

Er ist noch immer ganz vertattert.

Dann greift er in die Tasche, holt ein Portefeuille hervor, zeigt uns seinen Fahrerschein.

Harst erklärt: „Gewiß – wir holen einen Beamten – sehr gern!“

Und wir gehen weiter.

Da meint Harald leise: „Kolz ist jedenfalls nicht mit im Spiele. Wir können ihm vertrauen. Und wenn wir jetzt den Beamten gefunden haben, werden wir Kolz einweihen.“ –

Zehn Minuten später besteigt Kolz sein Auto. Der Beamte hat ohne weiteres gestattet, daß er das gestohlene Auto wieder als sein Eigentum betrachten kann.

Wir haben den Verhandlungen vor dem Kaffeehause beigewohnt. Bevor Kolz nun davonfährt, raunt Harald ihm noch zu: „Halten Sie hier am Bahnhof. Ich bin Harald Harst!“

Der behäbige Kaufmann ruckt wie erschrocken zusammen.

Faßt sich schnell. Begreift. Fährt, grüßt. Und wieder zehn Minuten darauf drücken wir ihm die Hand.

Das Auto steht im Halbdunkel des Baumschattens. Harald beginnt vorsichtig zu fragen. Verrät im übrigen nichts – gar nichts.

Und Richard Kolz antwortet. Eine harmlose Seele, – merkt nicht, wie sich alles um Doktor Greiger dreht. –

Doktor Ernst Greiger ist Privatgelehrter und ein Schulfreund von Kolz, erfahren wir so. Kinderlos verheiratet seit acht Jahren. Hat jetzt schwer zu kämpfen. Sein Vermögen ist hin. Die Inflation verschlang es. Und nun hat er auch noch Trauer bekommen. Seine Tante, ein Fräulein Emmi Marx, ist vorgestern nacht plötzlich verstorben, kurz nachdem Kolz das Ehepaar noch besucht hatte, – an demselben Abend, als er dann auf der Chaussee von der Verschleierten überfallen wurde.

Und – da füge ich in Gedanken hinzu: Und als die Leiche der Generalin von Borgberg gestohlen und wieder zurückgebracht wurde!! –

Schließlich wird Herr Richard Kolz aber doch stutzig.

„Herr Harst, weshalb interessieren Greigers Sie so sehr?“ fragt er argwöhnisch.

Harald überhört das.

„Sie haben wohl heute bei Greigers Ihren Beileidsbesuch gemacht, Herr Kolz?“

„Ja. – Aber weshalb …“

„Und man hat Ihnen da auch wohl die Leiche des alten Fräuleins gezeigt?“

„Nein. Sie war noch nicht eingesargt. Greigers erwarteten den Sarg. Der Lieferant hat sich verspätet. Greiger hat einen Bekannten mit einem Handwagen nach dem Sarge geschickt, um Geld zu sparen.“

„Bekannten?“

„Einen Chauffeur, der augenblicklich stellungslos ist.“

„So, so!“

„Verzeihen Sie, Herr Harst. Weshalb fragen Sie nach alledem?“

„Weil – ich noch mit einem anderen Fall beschäftigt bin.“

Das besagte gar nichts.

„Herr Kolz, Sie dürfen Greigers gegenüber auch jetzt noch nicht erwähnen, daß wir uns kennen,“ fügte er hinzu.

„Ganz wie Sie wünschen!“

„Und auch niemand anderes gegenüber. – Gute Nacht, Herr Kolz!“

Händedrücke …

Und Richard Kolz blieb zurück, tausend Fragen auf den Lippen. Wir sahen ihm das an.

Ich selbst: zehntausend Fragen auf den Lippen.

Und – Harst stumm wie ein Fisch.

 

3. Kapitel.

Der Sarg.

Drei Viertel zwölf …

Still und einsam liegt die Grünstraße da. Der Regen tropft aus dem Geäst der mächtigen Platanen herab auf unsere Mützen und Lodenmäntel.

Ein – Handwagen kommt die schräge Straße heraufgerumpelt, geschoben von einem einzelnen Manne.

Und je näher der Handwagen rattert, desto deutlicher erkennen wir den schmucklosen schwarzen Sarg und – den jungen Chauffeur mit dem blonden Bärtchen.

Vor der kleinen Villa hält der Wagen. Der Sarg ist mit Stricken befestigt und mit einem Fetzen Leinwand bedeckt.

Die Tür der Villa kreischt. Aber kein Lichtschein fällt in den Garten.

Zwei Gestalten erscheinen – nein, drei: ein Mann, zwei Frauen. Die vier nun, der Chauffeur mit dabei, heben den Sarg mit auffallender Hast vom Wagen und schleppen ihn ins Haus.

Schleppen! Nicht – tragen!

Schleppen ist mehr. Schleppen verrät Schwere.

Und – der Sarg muß sehr, sehr schwer sein.

Die Tür kreischt.

Gleich darauf holt der Chauffeur den Handwagen in den Garten.

Wieder kreischt die Tür. Drei Fenster werden hell. Die Vorhänge sind geschlossen.

Und – wir beide umschleichen das Haus – – zweimal.

Oben ein Balkon.

„Ich werde hinaufturnen,“ flüstert Harald. „Du paßt auf der Straße auf.“

„Nimm mich lieber mit.“

„Nein. Oder getraust Du Dich, dort an der Regenrinne geräuschlos hochzuklettern?!“

Ich verzichte. Mein Bäuchlein hat mich schon oft behindert.

So stehe ich denn wieder auf der Straße hinter der Platane.

Warte – sorge mich um Harald.

Eine halbe Stunde.

Dann verläßt der Chauffeur die Villa, geht davon – gebückt – schleppt eine unsichtbare Last.

Noch zehn Minuten: Harald!

Er schiebt seinen Arm in den meinen.

„Genug für heute. Wir bekommen noch den letzten Zug nach Berlin.“

Stumm ist er wieder. Raucht im Taxameterauto, das uns zum Bahnhof bringt, stumm eine seiner Mirakulum.

Im Zuge die zweite. Leer ist das Abteil zweiter. Und dann überwinde ich mich und frage:

„Nun?!“

Er scheint zu erwachen.

„Sie – packten Steine in den Sarg, die sie in alte Zeitungen gewickelt hatten, die vier.“

„Und –?“

„Sprachen sehr leise miteinander.“

„Du verstandest nichts?“

„Nichts!“

„Der Sarg war aber doch offenbar nicht leer, als der Blonde ihn brachte.“

„Er war leer, als ich ihn durch das Schlüsselloch sah. Ich weiß nicht, was darin gewesen sein kann. Ich ahne es nicht im entferntesten.“

„Und – was jetzt?!“

„Morgen oder besser heute mittag wird die Generalin begraben. Wir werden dabei sein. Und nachher werden wir den Sarglieferanten der Greigers auskundschaften. Ich fürchte aber, all das wird uns nicht viel helfen, falls –“

„Nun, falls –?“

„– der Chauffeur uns nicht etwas verrät.“

Dann wieder eine Weile Stille.

Ich weiß jetzt wenigstens etwas ganz bestimmt: diesmal tappt auch Harald völlig im Dunkeln!

„Wie sahen die beiden Frauen aus?“ frage ich, als der Zug Neubabelsberg verläßt.

„Beide hübsch. Schwestern offenbar!“

Und er schaut mich an: „Sag selbst, mein Alter, ist das nicht ein mehr als seltsames Problem?!“

„Ohne Zweifel!“

„Eine tote Generalin wird gestohlen. Eine Verschleierte spielt eine Rolle. Ein Autobesitzer wird niedergeschlagen. Eine Verschleierte spielt dabei die Hauptrolle. Die tote Generalin liegt wieder friedlich im Sarge. Und zwei Häuser weiter stirbt eine andere alte Dame – angeblich. Und diese Dame findet ein Chauffeur im Koffer des geraubten Autos tot und als Mann verkleidet und –“

„Und –?“

„– und – zwar – ermordet!“

Ich fuhr hoch.

„Wie das?! Ermordet?!“

„Ja!“ Er nimmt die fünfte Mirakulum. „Ermordet durch – Gift!“

Ich schüttele nur den Kopf.

„Als ich mich über die Tote beugte, und Perücke und Bart wieder befestigte,“ spricht die Stimme neben mir schwer und gedankenvoll, „da – roch ich es. Blausäure – Bittermandelgeruch!“

„Hm – vielleicht – Selbstmord.“

„Wohl kaum. – Wenn ich nur wüßte, wie die Tote in den Koffer gezwängt wurde und wann!“ Er redet wie zu sich selbst. „Ein so undurchsichtiges Spiel habe ich noch nie mitgemacht. Und dann – die Generalin! Neue Fragen entstehen da – dutzendweise! Alterchen, Alterchen, das ist eine harte Nuß, eine seltene Nuß!“

„Ohne einen glücklichen Zufall werden wir kaum weiterkommen.“

„Zufall?! – Wir werden ans Ziel gelangen durch ganz schematische Arbeit. Eins nach dem andern!“

Wieder versinkt der Freund im stürmischen Ozean seiner Gedanken.

Und als wir dann im Auto vor unserem Heim anlangen, steht da schon ein anderes: das dunkelbraune mit dem Koffer! Vorn sitzt Herr Richard Kolz.

„Endlich!“ ruft er. „Endlich! Ich muß Sie unbedingt noch sprechen, meine Herren!“

„Wir erwarten Sie. Bringen Sie nur erst Ihr Auto nach Hause!“ –

In Haralds Arbeitszimmer summt die Teemaschine.

Wir stärken uns, sind wieder Harst und Schraut.

Behagen liegt über dem stilvollen, eleganten Raum. Der Klubsessel schmiegt sich an meine Glieder. Der Tee duftet.

Harst ißt die fünfte Ölsardine.

Sagt unvermittelt: „Kolz hat uns die Schwester der Frau Doktor unterschlagen. Kolz ist mit dem Herzen beteiligt. Das Weib ist auch pikant und rassig. Er hat Geschmack!“

Das war so recht Harald Harst.

Ein paar Sätze: neue Perspektiven! –

Kolz kam. –

Bevor ich nun fortfahre, eine Bemerkung für die gründlichen Leser: Der dritte Vorfall, man merke auf, ist der Transport des Sarges, an dem vier Menschen schleppten! – Vielleicht rät jetzt schon einer meiner Freunde das Richtige.

Vielleicht …

Oder – – auch nicht! –

Kolz kam.

Saß dann im anderen Klubsessel, rauchte eine Importe, trank Tee.

Druckste – druckste. Redete von allerlei, nur nicht von dem, was ihn bewegte. Bis Harald meinte:

„Wie heißt die Schwester der Frau Doktor, Herr Kolz?“

Und da wurde Richard Kolz feuerrot und stierte Harst völlig entgeistert an.

Stammelte: „Ah – – Sie wissen schon –?!“

„Ja – wie Sie hören, Herr Kolz. Wie heißt die junge Dame?“

„Eva Larda.“

„Larda?!“ Harst denkt nach. Fragt wieder:

„Sie – lieben Fräulein Larda?“

Kolz nickt fast verschämt, platzt dann heraus: „Und gerade weil ich mich in allernächster Zeit mit Fräulein Eva verloben werde, möchte ich doch zu gern erfahren, ob etwa gegen Greigers –“

Verstummt infolge Haralds Handbewegung.

„Verloben Sie sich vorläufig noch nicht, Herr Kolz!“

Das unglückliche, verwirrte Gesicht des braven Kaufmanns rührt Harald.

„Lieber Herr Kolz, es schwebt da eine Angelegenheit, die erst geklärt werden muß. Wenn Sie mir Ihr Wort geben, nichts zu verraten und sich nichts anmerken zu lassen, will ich –“

„Sie haben mein Wort!“

„– will ich Ihnen zum Beispiel mitteilen, daß die Tante Greigers –“

„Verzeihung – die Tante der Frau Doktor. Übrigens nur eine Patentante –“

„– daß dies alte Fräulein Marx sich heute abend oder besser gestern abend in Ihrem Koffer als verkleidete Leiche befand!“

Kolz wurde fahl. Seine Augen traten aus den Höhlen.

Auf ihn, einen Menschen, der bisher stets nur mit Schafwolle en gros gehandelt und der den Weltkrieg im sicheren Bureau mitgemacht hatte, wie er soeben ehrlich eingestanden, mußten diese Sätze Haralds tatsächlich wie Keulenschläge wirken.

„Mein Gott! Nicht möglich!“ gurgelte er hervor.

„Es ist so, lieber Herr Kolz. Und diese Tote liegt oder lag doch jedenfalls noch vor kurzer Zeit in der Futterkiste des Kaninchenstalles jenes Chauffeurs, den Sie als augenblicklich stellungslos bezeichneten.“

„Emil Bahr?! Kaninchenstall?! Futterkiste?!“ Er lallte noch immer.

„Also Emil Bahr heißt der Mann. – Verheiratet?“

„Ja – ganz jung verheiratet!“

Harald deckte nun die Karten völlig auf.

„Herr Kolz, hier – trinken Sie diesen Kognak. Tun Sie es! Ich habe Ihnen noch mehr mitzuteilen. – So, nun ein anderes Gesicht, Herr Kolz – und ein Mann sein!! Emil Bahr hat mitgeholfen, Ihr Auto zu stehlen!“

Kolz hatte jetzt unendlich traurige Augen. Er ahnte wohl, daß es mit seinem Liebestraum aus sei – vollständig aus …

Und – blieb stumm.

„Wir haben Ihr Auto bei Bahr auf dem Hofe gesehen,“ fügte Harald hinzu. „Und Bahr war es, der den Wagen vor das Kaffeehaus gebracht hat. – Nun noch eine einzige Frage: Damals abends, als Sie nach dem Besuch bei Greigers auf der Chaussee überfallen wurden, – waren da beide Schwestern zu Hause, Herr Kolz?“

Noch jammervoller blickte Richard Kolz drein, schüttelte den Kopf.

„Nur – nur eine. Fräulein Eva – war – im Theater.“

„So, so – Theater! Allerdings Theater, Komödie – auf der Straße! – Seit wann wohnt Fräulein Larda bei Greigers?“

„Nur – nur zum Besuch ist sie wieder da – seit vier Tagen. – Wie – wie meinen Sie das mit – mit dem Theater, Herr Harst?“

Und Harald beugte sich zu ihm hin und legte ihm die Hand wie begütigend auf den Arm.

„Herr Kolz, die Frau, von der Sie niedergeschlagen wurden, war – Fräulein Larda!“

Nur ein Ächzen kam über Richard Kolz’ Lippen.

Er tat mir unendlich leid. Ich merkte, daß er bis ins tiefste Innere getroffen war, daß all sein Glaube an die Menschheit und die Frauen insbesondere in ihm zusammenbrach.

Tonlos murmelte er – geistesabwesend:

„Daher – daher auch – auch – dieses Gefühl, als müßte ich die Frau kennen! Daher –!!“

Harald schenkte ihm noch einen Kognak ein.

„Trinken Sie! – – So … – Wo ist die Larda daheim?“

„In – Stettin.“

„Beruf?“

„Künstlerin – Zeichnerin. Sie entwirft für eine große Fabrik Spitzen- und Gardinenmuster.“

„Wie lange kennen Sie die Larda?“

„Seit einem Jahr.“

Pause …

Richard Kolz lächelte jetzt unendlich schmerzlich vor sich hin …

Und Harald wieder: „Ich rate Ihnen, sofort eine Geschäftsreise von längerer Dauer anzutreten, Herr Kolz. Greigers benachrichtigen Sie lediglich durch eine herzlich gehaltene Postkarte von Ihrer Abreise, schreiben auch unterwegs zuweilen an sie. Diese – Heuchelei ist unbedingt notwendig. – Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Kolz, daß ich bisher nicht recht weiß, was dort in der Villa Greiger eigentlich vorgeht. Gewiß ist nur das eine: die Leute sind – Verbrecher! Es können vielleicht noch Tage vergehen, bevor ich das Nest dort ausheben kann. – Gute Nacht. Nehmen Sie sich das alles nicht zu sehr zu Herzen. Seien Sie froh, daß Sie einem Verlöbnis entgangen sind, durch das Ihnen doch fraglos nur furchtbare Enttäuschungen beschert worden wären.“

 

4. Kapitel.

Die Maschine.

Ja – Tage vergingen. – Harald hatte in dieser Beziehung recht gehabt.

Fünf Tage. Und – wir kamen keinen Schritt vorwärts.

Herr Kolz war in Holland. Wir hatten sowohl dem Begräbnis der Generalin als auch dem des Fräulein Emmi Marx beigewohnt – von ferne – wie zufällig als … älteres Ehepaar. Ich habe ja schon so oft – Charleys Tante gespielt.

Zwei sehr bescheidene Begräbnisse.

Kaum ein Dutzend Teilnehmer bei jedem. Immerhin: wir sahen Herrn Doktor Greiger bei Tageslicht.

Kein Männergesicht, das einem Kenner gefallen konnte. Bartlos, mager, fahl, sehr unruhige Augen. –

Außerdem hatten wir aber auch in diesen fünf Tagen – die Nacht zum Tage gemacht, hatten nachts stets abwechselnd die Greigersche kleine Villa und Bahrs Häuschen beobachtet – auch ohne jeden Erfolg.

So dämmerte denn der sechste Tag herauf. Wir schliefen bis elf Uhr vormittags. Und als wir am Frühstückstisch saßen, brachte die alte Köchin Mathilde einen Brief von Freund Fritz Bechert, Kriminalkommissar, Perle der Verbrecherfänger.

„Ah – die Antworten, die Auskünfte,“ meinte Harald freudig. „Endlich – endlich!“

Ich machte ein etwas erstauntes Gesicht.

„Vorleben der vier Beteiligten, mein Alter,“ warf Harst kurz hin, schnitt den Brief auf. „Mit solchen Dingen wird Bechert schneller fertig. Ihm steht die Riesenmaschine der Kriminalpolizei zur Verfügung. Und er ist ja stets gefällig, selbst wenn er nicht weiß, um was es sich handelt –“

Dann las er vor – das Unwichtige fortlassend:

„Ernst Karl Gustav Greiger, Dr. phil., Chemiker, 36 Jahre alt. – Vorstrafen: 1909: acht Monate Gefängnis wegen Unterschlagung, 1911: ein Jahr Gefängnis wegen Untreue, 1914: zwei Jahre Gefängnis wegen Diebstahls. – Außerdem dreimal in Untersuchungshaft und aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.“

„Ganz nett!“ meinte Harald ironisch. „Der biedere Richard Kolz würde aus allen Himmeln stürzen – noch mehr als jetzt schon! – So, hier nun Doris Larda, verehelichte Doktor Greiger:“

„Dritte Tochter des Schaubudenbesitzers Wilhelm Larda. – Vorstrafen: 1907: mit vierzehn Jahren wegen Teilnahme an Bandendiebstahl in Zwangserziehung; 1908: aus Anstalt entwichen; 1909: in Breslau Artistin und Taschendiebin – zwei Monate Gefängnis, erneut in Zwangserziehung; 1911: Helferin beim Bund für Mutterschutz – Unterschlagungen, Diebstähle – ein Jahr Gefängnis; 1914: zusammen mit ihrer Schwester Eva wegen Teilnahme an Bandendiebstahl (Eisenbahnraub) zwei Jahre Gefängnis; 1917: Ehe mit Dr. Greiger. Seitdem nichts Nachteiliges bekannt geworden.“

„Hm – auch ganz hübsch!“ sagte ich jetzt. Und Harald las weiter:

„Eva Larda, 1908 mit sechzehn Jahren in Zwangserziehung wegen Betrügereien, Diebstahls, unsittlichen Lebenswandels; 1910 nach tadelloser Führung Anstellung bei Pastor Schmieder als Kindermädchen, stiehlt die Altargeräte – zwei Jahre Gefängnis. Seitdem nichts Nachteiliges bekannt geworden. Lebt in Stettin als Zeichnerin, guter Ruf, begabt und fleißig.“

„Beinahe noch die beste des Dreiklees,“ meint Harald. „Halt – hier noch ein Nachsatz Becherts:

„Lieber Harst, da ist doch in Potsdam letztens die merkwürdige Geschichte mit der Leiche der Generalin von Borgberg vorgekommen. – Was halten Sie davon? Ob da nicht mehr dahintersteckt als man denkt?!

Gruß

Bechert.“

Er schlägt auf den Strauch, der gute Fritz,“ lächelte Harald. „Er hat stets einen feinen Riecher gehabt. Natürlich weiß er, daß Greigers Grünstraße 18 und Frau Mudry, die Hauswirtin der Generalin, Grünstraße 16 wohnt. – Ja – er schlägt auf den Strauch … Und – ganz umsonst! Ich könnte ihm nichts, so gut wie nichts außer den uns bisher bekannten Tatsachen angeben! Aber – jetzt, mein Alter, jetzt, wo wir über das Vorleben der Greigers und der Jungfrau Eva so gut Bescheid wissen, werden wir den – Stier bei den Hörnern packen! Die Sache muß erledigt werden. Und zwar zunächst bei Emil Bahr.“

„Wo die Tote geblieben ist?“

„Auch das. – Ich behaupte, das Ehepaar Bahr hat die Leiche, ohne zu ahnen, wer es in Wahrheit gewesen, im Garten verscharrt.“

„Das hast Du schon einmal ausgesprochen. Ich glaube nicht recht daran. Mir erscheint es doch recht zweifelhaft, daß Emil Bahr nur halb eingeweiht gewesen sein soll.“

„Jeder Streit darüber wäre bei dieser ungeklärten Sachlage zwecklos. Ich erinnere nur daran, daß Greiger den Sarg nicht in Potsdam, sondern im dicht benachbarten Nowawes gekauft hat, wie wir leicht festgestellt haben, und daß er den Sarg ganz allein mit dem Handwagen abholte und jede Hilfe bei dem Transport, die der Tischlermeister ihm anbot, abgelehnt hat.“

„Gewiß. Und – was besagt das?!“

Harald hob die Schultern.

Aber – mitten in dieser Bewegung, die seine völlige Machtlosigkeit gegenüber diesen verworrenen Tatsachen andeuten sollte, ging eine jähe Veränderung in seinem Gesicht vor sich.

Die Schultern sanken.

Seine Lippen wurden schmal – die Haut über den Backenknochen straffte sich.

„Der – Weg!“ murmelte er. „Der – Weg! Das kann es sein.“

„Was heißt das?“

Er sprang schon auf. „Fahren wir nach Nowawes – sofort! Mir läßt das doch keine Ruhe. Frage nichts. Du wirst’s schon merken!“ –

Und eine Stunde später, kurz nach zwölf Uhr, waren wir, wieder im Habit braver Kleinrentner, bei Tischlermeister Fellow.

Der kannte uns schon. Wir hatten ihm ja ein Schränkchen abgekauft und bezahlt, wollten es erst später holen lassen. Und jetzt kaufte Harald, angeblich in Charlottenhof wohnend, noch zwei Rohrstühle, kam auf Schleichpfaden dann wieder auf das Sarggeschäft zu sprechen – auf Chauffeur Emil Bahr.

„Nein,“ erklärte Meister Fellow, „der Handwagen war leer, als Bahr den Sarg mitnahm.“

„Und – welchen Weg schlug er mit dem Wagen ein?“

„Es gibt von hier nur einen nach Potsdam hinein: an der Bahn entlang, dann am Bahnhof durch die Unterführung.“ –

Und diesen selben Weg schlenderten wir jetzt hinab.

Erst kurz vor Potsdam, kurz vor der Unterführung blieb Harald vor dem Schaufenster der Niederlage einer Maschinenfabrik stehen und zündete sich umständlich eine Zigarette an.

„Was soll das eigentlich?!“ fragte ich leicht gereizt.

Und er: „Warte, bitte!“

Er betrat das Geschäft.

Ich sah durch das Schaufenster, wie ein Kontorfräulein ihn empfing und dann auf eine Maschine in einer Ecke deutete. –

Nach fünf Minuten war er wieder bei mir.

Aus seinem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen.

„Nun?!“ meinte ich drängend.

„Es stimmt, mein Alter. Bahr war an jenem Abend hier. Hatte alles mit dem Vertreter der Maschinenfabrik vereinbart – ganz harmlos. Tat so, als ob er denselben Weg nicht habe zweimal machen wollen. Log, daß der Sarg nach Charlottenhof gebracht würde.“

„Und –?“

„Und packte die Maschine in den Sarg, die angeblich per Fuhrwerk weiter nach der Stadt Werder geschafft werden sollte.“

„Was für eine Maschine?“

„Hm – er ist Chemiker und –“

„Nun – und –“

„Bist Du wirklich noch nicht im Bilde?“ – Wir hatten jetzt die Unterführung hinter uns.

„Bedauere –“

„Na – dann bedauere ich ebenfalls. Du bist doch Detektiv, Alterchen. Wenn Du an Ernst Greiger und an Eva Larda genügend – genügend denkst, mußt Du schon auf das Richtige stoßen!“

Ich sann nach. Ich gab mir wirklich alle Mühe.

Und – – der Leser wird es fraglos ebenfalls tun! – Ich war damals abgespannt. Die durchwachten Nächte rächten sich. Sonst hätte ich den Kern des Ganzen schon an jenem Mittag gefunden.

Ich hütete mich, noch weiter in Harald zu dringen. Ich kenne ihn. Und so saß ich ihm denn in einer bescheidenen Kneipe nachher beim Mittagessen gegenüber und – grübelte, grübelte. –

Den Nachmittag verlebten wir im Park von Sanssouci.

Abends aber – gegen neun Uhr …

………

 

5. Kapitel.

Die Werkstatt.

… Gegen neun Uhr standen wir in der Bahnstraße unweit des windschiefen Häuschens des Chauffeurs Bahr.

Sahen Bahr sein Heim verlassen. Seine junge Frau hatte ihn bis auf die Straße begleitet, schien ihn zurückhalten zu wollen.

Und dann – wir hinter ihm drein, bis wir merkten, daß er der Grünstraße zustrebte.

Kehrt also. Und in Hast zurück.

Harst zog am Messinggriff der Türglocke. Eine schrille alte Klingel keifte im Flur.

Und dann eine helle Stimme:

„Was wünschen Sie?“

„Wir kommen wegen des Chauffeurpostens, um den Ihr Mann sich beworben hatte.“

Und – das half.

Die Frau öffnete, ließ aber die Sperrkette vorgelegt, hielt mit der Linken die Petroleumlampe hoch.

„Ich bin der Prokurist Güdring,“ sagte Harald wieder auf gut Glück.

Unsere Gesichter schienen das Mißtrauen Frau Bahrs zu besiegen.

„Bitte –“

Wir traten ein, saßen dann im Hinterstübchen neben der Nähmaschine und einem Berg Babywäsche am Tische. Errötend räumte das blitzsaubere Frauchen dieses aussichtsreiche Linnen weg.

Die – Ärmste! – Und wir hier als – Zerstörer ihres Glücks!

Ich merkte Harald an, wie schwer es ihm wurde, dieser fleißigen zukünftigen jungen Mutter gegenüber hart und unbarmherzig zu sein.

Er schaute sich um, nickte Frau Bahr zu – zögerte.

Seine Herzensgüte überwand das Schwierige. Er nahm ihre Hand.

„Liebe Frau Bahr, erschrecken Sie nicht. Haben Sie mal den Namen Harald Harst gehört?“

Und die Frau – – starr – – blaß:

„Mein Gott! Sie sind – der Detektiv!“

„Ja. Und Sie müssen jetzt ganz ehrlich sein. Dann wird alles gut werden. – Heißt Ihr Mann wirklich Bahr?“

Jähe Röte. Stammeln …

„Nein … – O mein Gott, – – schonen Sie ihn!“

„Er heißt – Larda, nicht wahr?“

„Ja …“

„Und weshalb nennt er sich Bahr?“

Sie zauderte.

„Er ist vorbestraft … Es stimmt doch?“ meinte Harald da ebenso zart. „Und weil diese Vorstrafen ihm den Beruf als Chauffeur unmöglich gemacht hätten, hat er –“

Sie nickte eifrig.

„Das ist recht von Ihnen, liebe Frau Bahr. Nur nicht lügen! – Und jetzt etwas Ernsteres. Wie war das damals doch mit dem Auto?“

Da schlug sie die Hände vor das Gesicht.

Weinte – weinte.

Harald wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte. „Weshalb wurde das Auto Herrn Kolz geraubt? Sollte etwa Fräulein Marx damit in aller Heimlichkeit weggeschafft werden?“

„Ja. Aber – dann starb sie!“

Harald war genau so überrascht wie ich. Also das lebende alte Fräulein hatte verschwinden sollen – – merkwürdig!

Doch – Harsts Gesicht wurde urplötzlich wie von innerer Helle durchstrahlt.

Er atmete tief auf. „Jetzt – – weiß ich alles!“ sprach er mehr zu sich selbst – „alles! – Frau Bahr, wo haben Sie die Leiche des fremden alten Herrn gelassen, die Sie und Ihr Mann in dem Koffer fanden?“

Hinter den Händen ein neues Wimmern.

„Im – Garten – ver…graben!“

„Und Ihr Mann kannte den Herrn nicht?“

„Nein – nein! O mein Gott, – er hat ihn nicht getötet. Er war ja genau so erschrocken wie ich.“

„Schändliches Spiel!“ murmelte Harald. „Die eigenen Schwestern …!!“

„Ihr Mann ist jetzt bei Greigers?“

„Nein – nein. Er darf nicht mehr hingehen. Ich habe es ihm verboten. Er – er ist – heimlich fischen gegangen – mit einem Bekannten. Wir – wir sind ja so in Not!“

Sie log nicht. Man fühlt das, wenn jemand lügt und wenn man nur einigermaßen Menschenkenner ist.

Harst drückte ihr die Hand.

„Schweigen Sie! Ich meine es gut mit Ihnen. Ihrem Manne soll nichts geschehen.“ –

Dann wanderten wir durch die kühle Septembernacht der Grünstraße zu. Wir beide – schweigend. Und ich doch mit vielen Fragen auf den Lippen.

Trafen einen Schupobeamten. Harald sprach mit ihm, zeigte ihm seine Legitimation. Der Beamte eilte zur Wache.

Vor Nummer achtzehn kurzes Beobachten. Die kleine Villa lag in Dunkel da. Kein Fenster erleuchtet …

Wir turnten über den Zaun, zogen die Lodenmäntel aus.

Harald voran – die Regenrinne hoch. Vom Balkon warf er mir die Leine zu.

Und von hier auf das Dach – zur Bodenluke. Sie war unverschlossen. –

Zehn Minuten darauf hatten wir festgestellt, daß das Haus anscheinend leer war.

„Der Keller!“ flüsterte Harald.

Verschlossen die feste Tür. Zwei Schlösser davor … Patentdietrich half.

Schritt für Schritt die Ziegeltreppe hinab …

Lauschen – lauschen. Auch hier Totenstille! Unheimliche Stille!

Taschenlampen flammen auf … Kellergang – vier Brettertüren – muffige Luft.

Weiter – von Tür zu Tür. Gelasse mit Preßkohlen, Gerümpel. Sonst nichts.

Bis Harald die Fliesen des Bodens beleuchtet, niederkniet – weiterrutscht – bis zur Rückwand des Ganges, einer rohen Ziegelmauer. Und auch hier leuchtet, fühlt, tastet – den Kopf hebt, mir zunickt. Und sein Finger fährt in den Mauerfugen entlang, beschreibt ein Viereck – – die Umrisse der schlau angelegten Tür – findet den kleinen versteckten Haken – reißt die Tür auf …

Qualm schlägt uns entgegen. Feuer flackert in dieser mit Brettern abgestützten Erdhöhle. Papier brennt. Eine Druckmaschine mit elektrischem Antrieb blinkt im roten Glanz der aufflammenden Vorräte falscher Banknoten.

Doch – niemand hier – niemand!

Im Nu ersticken wir die Glut. Ich hebe den angekohlten Druckbogen empor: falsche Fünfzigrentenmarkscheine! Und – – begreife endlich, wenn auch noch nicht alles.

Stimmen im Keller …: Polizei!

Draußen hat man das Ehepaar Greiger erwischt … Aus der Falschmünzerwerkstatt führte noch eine Tür und ein Gang in den Stall. –

Im Eßzimmer der Villa hebt sich vollends der Vorhang. Harst spricht …

„Greigers stahlen die Leiche der Generalin für zwei Stunden, damit der vorsichtigerweise aus Nowawes herbeigerufene Arzt den Tod – des alten Fräulein Marx bescheinigen sollte, was er auch ahnungslos tat. – Fräulein Marx wieder war zunächst damit einverstanden, daß sie angeblich als tot beerdigt würde. Nachher weigerte sie sich, mit dem gestohlenen Auto sich wegschaffen zu lassen – irgendwohin. Da – vergiftete man sie. Und – nur der Maschine wegen, nur des Sarges wegen, der es ermöglichen sollte, die Maschine unbemerkt ins Haus zu bringen – nur deshalb! Um den Sarg und die Maschine drehte sich alles. Ist es so, Doktor Greiger?“

Der saß leichenblaß da – mit gesenktem Kopf. Schwieg. Und seine blonde Frau desgleichen. –

So endet der erste Teil des gestohlenen Autos …

Der zweite – – ein anderes Bild, ein anderer Titel, ein Titel, der nicht so anspruchslos ist:

Eva, die Sünde …

Denn – – Eva Larda ist entwischt. Eva Larda schreibt an uns …

 

 

Eva, die Sünde …

 

1. Kapitel.

Der Sündenpfuhl …

Etwas, das Musik sein soll, martert unsere Ohren mit groteskem Lärm.

Jazzbandkapelle …

Zigarettenrauch, süßlich und schwer, schwimmt in der Luft, mengt sich widrig mit modernen Wohlgerüchen.

Bloße Frauenschultern leuchten matt als Sockel zu lebensgierigen Gesichtern.

Halbwelt – Verbrechen – stumpfsinniges Behagen übersatter Männer.

Zwischenein die halb verlegenen typischen Agrariervisagen, gesund, hochmütig, – Besucher der Weltstadt, die überall zu treffen sind.

Zwischenein ein paar Familien der guten Gesellschaft, die von der Neugier hier in den Pavillon Frou-Frou getrieben worden sind.

Und wir oben auf der schmalen Estrade am winzigen Tischchen in der Maske der Herren der Scholle, – Monokel im Auge, blasiert und doch so gesund aussehend, blondbärtig, feste Scheitel, – – nichts fehlt an der Maske.

Unten tanzen die Paare nach dem wüsten Getöse der scheinbar unzurechnungsfähigen Kapelle.

Bitte: Musik – – heute ist das Musik! –

Harald schenkt das Sektglas voll.

Beugt sich zu mir hin:

„Sündenpfuhl!“

„Allerdings – und was sollen wir hier eigentlich?!“ –

Drei Tage sind ja seit jener Nacht verflossen, als Eva Larda entwischte.

Doktor Greiger und Frau haben übereinstimmend angegeben, daß der ganze Plan einer Errichtung einer Falschmünzerwerkstatt von Eva Larda ausgegangen, daß sie sich erboten, die Druckplatten für die Banknoten zu stechen und daß sie dann auch Fräulein Marx vergiftet und den Gedanken, die Leiche verkleidet Emil Bahr-Larda in die Hände zu spielen, ausgeführt habe … – nur sie allein! Sie sei die Anstifterin, sie sei – ein Satan von Weib – die verkörperte Sünde! –

Und ähnlich hatte auch Emil Larda sich über diese seine Schwester geäußert. Er war nicht verhaftet worden. Das hatte er Harald zu danken.

Die Leiche des alten Fräuleins, ausgegraben und seziert, hatte den Beweis für Giftmord erbracht. Nun war die Kriminalpolizei hinter Eva her – und wir auch!

Und doch wußte ich nicht, weshalb wir heute abend ausgerechnet hierher in den Pavillon Frou-Frou gegangen waren. Nichts wußte ich – nichts. Harald mußte irgendeine Spur der Entflohenen entdeckt haben. Aber wie er diese Fährte gefunden und wann, das war mir unbekannt. Meine Fragen hatte er nur mit einem Achselzucken beantwortet. –

Fast Mitternacht war’s jetzt. Seit anderthalb Stunden machten wir diesen Hexensabbat hier mit.

Seit anderthalb Stunden beäugte ich jedes der hier anwesenden Weiber, jede der wenigen Damen und Frauen mit den Blicken des Detektivs: unauffällig und doch geradezu entkleidend, – suchte hier die eine, die Sünde: Eva Larda!

Wir hatten sie nie gesehen. Nur Bilder von ihr in der kleinen Villa der Grünstraße. Auch das genügte. Wir waren ja keine Neulinge in den vielfachen Künsten, ein Gesicht zu zerlegen und Merkmale herauszufinden, die anderen entgingen.

Eva war nicht hier. Jeden Eid hätte ich darauf geleistet.

Harald schob mir mein frisch gefülltes Sektglas hin.

„Trink nur,“ raunte er. „Sie ist da!“

„Unmöglich!“

Er trank so recht mit dem wohligen Behagen eines, dem keine Sorge die Stirn umwölkt.

„Sie ist da!“ Er stellte das Glas wieder hin. „Suche nicht nach ihr. Sie sitzt hinter Dir. Du müßtest Dich umdrehen …“

Ich begann zu fiebern.

Und stand nach einer Weile auf, schlenderte die Estrade entlang. Meine Blicke glitten rundum – scheinbar gleichgültig.

Ich sah nichts. Betrat die Bar, die nur durch bauschige, mattviolette Seidenvorhänge abgetrennt war. Verlangte einen Kognak, lehnte mich an den hohen Bartisch.

Hatte Harald mit mir einen Scherz gemacht? – Es war ja ausgeschlossen, daß Eva an einem der Tischchen dort sitzen sollte.

Ein Herr schlug die Vorhänge zurück, musterte mich, ging vorbei, lehnte dann neben mir.

Näselte: „Absinth – Gorgonzola – halb und halb.“

Ich glaubte mich verhört zu haben. Absinth und Gorgonzola – – Käse?! – Allerdings – hier in dieser Bude modernen Irrsinns war alles möglich – auch Absinth und Käse zusammengerührt als Mischtrank! – Ich drehte mich neugierig um. Wollte doch sehen, ob es stimmte.

Der schlanke Herr schlenderte schon wieder davon. Und der Mixter grinste und tippte, mich anlächelnd, gegen seine Stirn.

Ich aber starrte wieder auf den Briefumschlag, der nun hier auf dem dunklen Marmor des Tisches mir entgegenleuchtete.

Auf – die Adresse – mit Bleistift gemalt – sehr dick:

Herrn H. Harst.

Und dieser Harald Harst kam jetzt hastig herbei. Schaute sich suchend um. Dann mich wütend an …

Ich hielt ihm den Brief hin.

Der Mixter lachte meckernd, dachte wohl an irgendein galantes Spiel.

Harald nahm den Brief, riß den offenbar soeben erst zugeklebten Umschlag auf und zog einen Zettel hervor – ein Stück von einer der Büttenpapierspeisekarten des Sündenpfuhls.

Ich schaute ihm über die Schulter.

Las mit:

„Geben Sie sich keine weitere Mühe! – Eva.“

Nichts mehr als das.

Also Hohn – Spott!

Harst schob den Zettel in die Tasche, winkte.

Wir gingen auf die Estrade, nahmen den Kellner, der den überschlanken jungen Herrn bedient hatte, beiseite.

„Der Herr gab Ihnen zwei Fünfzigrentenmarkscheine, wie ich sah. Würden Sie mir die mal zeigen? – Ich bin – Harald Harst!“

„Ah – gewiß, Herr Harst – gern!“

Harald prüfte die Banknoten.

„Beide falsch. Hier haben Sie andere. Schweigen Sie!! – War der junge Herr schon früher mal hier?“

„Mitunter.“

„Hat er unter den – hm – unter den „Damen“ Bekannte?“

Der Kellner überlegte.

„Ja … die kleine Fiffi vom Film war öfters mit ihm zusammen.“

„Ist diese Fiffi heute hier?“

„Nein, Herr Harst. Übrigens wohnt sie Uhlandstraße 18 im Gartenhaus: Felizitas Gondlar!“

„Danke …“ –

Wir zahlten, gingen …

Draußen auf der breiten Prachtstraße des Kurfürstendamms atmete ich erleichtert auf. Das Geratter der Straßenbahn war doch wenigstens natürlicher Lärm … Jazzband war Irrsinn …

Hier draußen wurde mir auch erst recht klar, was wir soeben erlebt hatten, – daß dieser überschlanke Herr im Frack, diese so durchaus mondäne Erscheinung, eine Verbrecherin ganz großen Stils sein mußte.

„Doppelleben – als fleißige Zeichnerin und als hypermoderne Glücksjägerin,“ sagte Harald da, als hätte er meine Gedanken erraten.

Und winkte ein Auto herbei.

„Chauffeur, Uhlandstraße 13 …“

Ich wußte: er wollte die doch wenig aussichtsreiche Fährte zu der Halbweltdame Felizitas Gondlar verfolgen! Denn Fiffi vom Film …?! Das ist doch nur Deckschild, diese Filmstatisterei!

Der Kraftwagen rollte sanft und hastig.

„Wie bist Du gerade auf den Pavillon Frou-Frou gekommen?“ fragte ich Harald jetzt. Und nun würde er antworten.

„Durch eine Garderobenmarke, die zu einem Papierkügelchen zerknittert in Evas Sportpaletot steckte. Ich habe ja ihre Sachen gründlich durchsucht.“

„Und noch mehr gefunden?“ meinte ich gespannt.

„Ja. – Ich hätte ja sofort diese nach dem Pavillon Frou-Frou führende Spur aufnehmen können. Aber ich wollte Eva Larda eine Atempause gönnen. Dann hoffte ich eben, sie bestimmt anzutreffen. – Wir werden sehr vorsichtig sein müssen, mein Alter. Schon der eine Umstand, daß sie uns trotz unserer Junker-Verkleidung erkannt hat, beweist, daß sie …“

Pause …

Ich sollte den Satz beenden. Und ich, Max Schraut, überlegte. Bis ich dann herausplatzte:

„… daß sie uns sehr genau kennen muß, daß sie uns – beobachtet hat – schon vor dem heutigen Abend.“

„Fraglos. Gerade sie als Zeichnerin von Talent hat Blick für Gesichter und Gestalten. Es wird einen harten Kampf geben.“

„Und – was fandest Du noch in ihrer Garderobe?“

„Etwas sehr, sehr Merkwürdiges, das geradezu ungeahnte Aussichten eröffnet.“

„Bitte, also –?“

„Hm – nicht in ihrer Garderobe, mein Alter … In ihrem Koffer. Zwischen einem ganz neuen Batistwäschestück. Eine – Zeichnung. Wollte ich sie Dir hier beschreiben, so würdest Du daraus kaum klug werden.“

„Aber Du könntest doch immerhin –“

„Ein – Grundriß eines Gebäudes, verborgen in der Skizze eines Kiefernwaldes und eines Sees –“

„Also – gleichsam Vexierbild?“

„Ja …“

Da hielt das Auto schon. Wir stiegen aus. Harald bezahlte, hatte aber die Augen überall.

Der Chauffeur fuhr davon.

„Getrennt,“ sagte Harst. „Jeder eine Seite. Ich links, Du rechts. Vorsicht!“

Bis zu Nr. 18 waren es kaum fünfzig Meter.

All diese „vornehmen“ Mietkasernen hier glichen wie ein Ei dem andern. Bei allen dieselben krampfhaften Versuche der Architekten, einen geschmackvollen Baustil vorzutäuschen.

Und so auch Nr. 18.

Ich ging vorüber, dicht an der Haustür. Ein Ehepaar, dick und behäbig, schritt gerade die erste Marmortreppe bei Nachtbeleuchtung empor. – Neben der breiten Haustür die andere: für die Menschensorte zweiter Klasse, Nebeneingang genannt, – für die weniger Bemittelten, die Ringer ums Dasein … –

Still war die Straße im übrigen.

Wind fuhr entlang, rüttelte die spärlichen Bäume … Blätter fielen, flatterten … Herbst meldete sich. Er kommt in der Großstadt früher als anderswo. Benzingestank tötet die grünen Vöglein an den Zweigen.

Und von drüben ein ganz leiser Pfiff.

Ich ging hinüber.

Unter einer Straßenlaterne stand der Freund. Seine Augen starrten nach oben – nach Nr. 18 zurück. Sein Gesicht war trotz des falschen Bartes wie ein Signal: Achtung!

„Was gibt’s?“ flüsterte ich.

„Komm!“

Und er zog mich zehn Schritt zurück – in den Schatten einer tiefen Haustür.

„Vierter Stock rechts!“ sagte er gedämpft.

 

2. Kapitel.

Evas Künste …

Dort oben alle Fenster erleuchtet.

Dort oben auf weißen Vorhängen huschende Schatten.

Meist ganz verschwommen. Zuweilen nur klarer wie Silhouetten. Wenn die Betreffenden dicht an den Fenstern stehenblieben, konnte man aus diesen Schattenbildern die Art der Abendbekleidung erkennen: Damen in Gesellschaftsroben, Herren im Frack.

„Großes Fest,“ flüsterte Harald.

Wenn man genau hinhörte, konnte man Geigentöne unterscheiden, die Begleitung eines Klaviers und das weiche Schluchzen eines Cellos.

„Was geht es uns an?!“ meinte ich nach einer Weile.

„Bitte – ganz links!“

Da war offenbar ein einfenstriges Zimmer. Und da war eine einzelne Silhouette. Ein Herr, der mit dem Rücken nach dem Fenster hin regungslos an einem Tischchen lehnte.

Regungslos …

„Nun?!“ meinte Harst gedehnt, und selbst in diesem einen Wort war das Jagdfieber wie das Schwirren einer Bogensehne.

Mir war’s, als bekäme ich einen Hieb vor die Stirn.

„Herr Gott – – die Figur!! Eva – –!!“

„Eva, die Sünde!“

„Dann – zur nächsten Polizeiwache … Wir haben sie …!“

„Stopp … Bitte!“

Und in meinem Versteck der Türnische erhielt ich den – zweiten Hieb vor die Stirn.

Die überschlanke Gestalt dort oben hatte soeben den erhobenen Arm zur Seite bewegt und – einen Telephonhörer weggelegt, – hatte – telephoniert.

Wandte sich jetzt um …

Schlug den Vorhang zurück.

Öffnete beide Fensterflügel, beugte sich ganz weit hinaus.

Eine helle Stimme kam durch das Schweigen der Nacht – durch den breiten Kanon der Mietkasernen bis zu uns.

„Geben Sie sich keine weitere Mühe … Ich bin überall!“

Eva …!

Evas neuer Hohn!!

Oben klappten die Fenster.

Die Gestalt verschwand. Und Harald sagte seufzend: „Wir sind beobachtet worden – auch jetzt … Man hat Eva gewarnt. – Ich wußte ja, daß dies keine alltägliche Abenteurerin und Mörderin ist!“

„Zur Polizei!“ rief ich atemlos. „Ich laufe hin. Der ganze Häuserblock kann im Nu umstellt sein. Sie kann nur über die Dächer flüchten!“

Fieber jetzt auch in meinen Adern. Das Wild war es wert. Eine Eva Larda verdiente das.

Klappernde Hufe da. Zwei berittene Schupobeamte.

Harst ihnen entgegen …

Fragen – – Antworten …

Die Beamten traben davon … Der Name Harst hat gewirkt.

Und wir als Posten vor Nr. 18 – auf verlorenen Posten!

Daß eine Eva uns hier nicht in die Arme laufen wird, wissen wir …

Im Treppenhaus flammt das Licht auf.

Ein Diener, offenbar Lohndiener, geleitet fünf Gäste hinab. Schließt die Tür auf.

Lachen … Stimmen … Zwei Herren, drei Damen. Und noch eine Dame dann. Um das aschblonde Haar und Gesicht einen dünnen Spitzenschal. Brillanten im Haar … Auf nackten Schultern schimmern Perlenschnüre … Ein loser seidener Abendmantel wird vom Winde hochgefegt. Eine kostbare Abendrobe mit schillernden Stickereien. Zierliche Lackschühchen, hauchdünne Strümpfe …

Und ebenso die anderen drei – dieselbe Eleganz – dieselbe reizvolle Lässigkeit in Anzug und Bewegungen.

Wir – wir auf verlorenem Posten sehen, wie diese vierte den anderen, die ein Stück voraus sind, grüßend zuwinkt.

Ein Privatauto jagt herbei …

Bremst … Ein sehr elegantes Kabriolett …

Die Dame leichtfüßig hinein … Ein winziges Taschentüchlein verliert sie …

Das Auto rast davon …

Und – – das war ein Vorgeschmack von dem, was wir später noch mit Eva erleben sollten …

Unwillkürlich schauen wir dem Auto nach.

Seltsam: keine Nummer! – Das fällt mir sofort auf.

Und dort liegt das feine Spitzentaschentüchlein …

Mit merkwürdigem Auflachen springt Harst wie ein Panther auf das Tüchlein zu – wieder zur Laterne.

Der Lohndiener steht noch in der Tür, schöpft frische Luft.

Und zwei auf verlorenem Posten betrachten das Tüchlein.

Schade – es ist verdorben. Violette Tintenschrift quer über den zarten Stoff – verlaufene Schrift:

„Geben Sie sich doch weiter keine Mühe!!“

– – Das war der Vorgeschmack …

Und der Lohndiener, neugierig geworden, kommt näher.

Harst fragt:

„Kam die Dame, die im Auto davonfuhr, auch von der Gesellschaft dort oben?“

„Nein …“

„Sie winkte doch aber den anderen Herrschaften zu …“

„Ja – das wunderte mich,“ nickte der alte klapprige Diener. „Verzeihung – was ist’s mit der Dame?“

„Nichts. Sie hat nur dieses sehr kostbare Tüchlein verloren. Man könnte es ihr wieder zustellen.“

„Bedauere. Ich kenne sie nicht. Bei Herrn Kommerzienrat Walldorf war sie jedenfalls nicht. Ich weiß auch nicht einmal, aus welcher Wohnung sie gekommen sein mag.“

„Wohl große Fete da oben?“

„Polterabend, mein Herr … Die einzige Tochter …“

„So, so … – Bitte, nehmen Sie nur … Geld kann heute jeder brauchen … Sie werden sich erkälten … Gute Nacht!“

Der Alte dankt gerührt.

Die Haustür knallt zu. Und müde steigt der Lohndiener die Marmortreppe hinan …

Ist kaum verschwunden, als drei, vier Radler nahen: Schupobeamte …

Der vorderste ein Reviervorstand, ein blutjunger Oberleutnant.

Harst berichtet, zuckt die Achseln …

„Wir konnten nicht ahnen, daß in wenigen Minuten ein Weib aus dem Frack in ein Damenabendkostüm schlüpfen kann …“

Der junge Beamte ist die Höflichkeit selbst.

„Ich bitte Sie, nichts zu unternehmen,“ meint Harald nachher. „Sie können das schon verantworten …“

„Geht beim besten Willen nicht,“ entschuldigt sich der liebenswürdige Herr. „Selbst Ihnen gegenüber ist’s unmöglich, Herr Harst. Ich muß der Kriminalpolizei Meldung erstatten. Meine Leute werde ich zurückziehen. – Gute Nacht!“

Wir sind wieder allein vor Nr. 18 …

Auf – verlorenem Posten.

Wirklich allein?! Und die Spione Evas, von denen sie so tadellos bedient wird?!

Harst faßt mich unter. Sagt: „Wir werden’s bald merken, wer hinter uns her ist. Gehen wir!“

Wir schlendern zum Kurfürstendamm zurück. Den Boulevard hinab – zur Gedächtniskirche. Kurz vor ein Uhr ist’s. Aus den Kaffeehäusern Musik. Die uns Begegnenden alles Bewohner von Berlin W. Ein Krüppel sitzt an einem Vorgartengitter und singt mit krächzender Stimme ein Lied von der Armut.

Parfüm umduftet uns. Diese einzelnen Frauengestalten, die hier auf den Pfaden der Venus wandeln, lassen einen Kometenschweif aufdringlicher Wohlgerüche hinter sich.

Vollgepfropfte Autobusse dröhnen vorüber. Arbeitsfeld der Taschendiebe …

Melancholisch stehen die Bäume da. Auf dem Reitweg in der Mitte ein später Reiter …

Berlin W… –

Wir biegen um die Kirche herum. Im Romanischen Cafee, seit einigen Jahren Treffpunkt der Künstler und Ersatz für das durch den Krieg abgewürgte Cafee Größenwahn, noch vollster Betrieb …

Harald steuert auf die Drehtür zu.

Wir treten ein … Qualm – Stimmengewirr.

Gehen zum Büfett. – Harst spricht mit dem Geschäftsführer. Der bringt uns in den Hauptflur, schließt die Haustür auf:

„Bitte, Herr Harst!“

Und wir schleichen nun jeder für sich weiter.

An der Kirche, dem Kaffeehaus gegenüber, steht ein Mann im schäbigen Radmantel, am Riemen einen flachen Kasten mit Zündholzschachteln – einer jener unzähligen verkappten Bettler – – scheinbar.

Aber wir wissen: der Mann war vor vier Minuten noch nicht an dieser Stelle! – Von zwei Seiten nähern wir uns …

Und – – ein Kabriolett, ein dunkles Auto, saust heran, verlangsamt die Fahrt. Im Innern blitzt zweimal eine Taschenlampe auf … Der hagere bärtige Bettler ist mit zwei Sätzen im Auto …

Wir sehen noch einen nackten Frauenarm im weiten Ärmel eines Abendmantels schimmern …

Wie eine Vision rast das Auto dem Tiergarten zu – am Zoologischen Garten entlang …

Ein – zweiter Vorgeschmack von Eva Lardas Künsten.

„Es hat keinen Zweck so,“ sagt Harald bissig. „Los – zu Freund Bechert. Daheim sind wir nicht sicher genug, dort würden wir dauernd beobachtet werden …“

 

3. Kapitel.

In Fiffis Haus.

Kriminalkommissar Fritz Bechert wohnt in der Nähe jenes Riesenbaus am Alexanderplatz, der die ungeheure und so tadellos arbeitende Maschinerie der Berliner Polizei beherbergt.

Im Auto sind wir hingefahren, haben jetzt die Gewißheit, daß niemand mehr auf unserer Fährte. – Bechert ist soeben erst heimgekehrt. Seine Nachtglocke ruft ihn hinab, und er begrüßt uns mit ein wenig müdem Gesicht.

Wer da glaubt, daß ein Berliner Kriminalkommissar nur acht Stunden arbeitet, irrt gewaltig. Für diese Herren gibt es keinen Normaltag.

Wir sitzen in Becherts behaglichem Arbeitszimmer. Er hat gerade Abendbrot essen wollen. Wir tafeln zur Gesellschaft mit, und Harst erzählt.

„Große Nummer – fraglos!“ nickt Bechert in Bezug auf Eva Larda.

Dann holt Harst die Zeichnung hervor, die Bleistiftzeichnung: Kiefernwald und See, märkische Landschaft. – Wir beugen uns über das Quartblatt … Niemals hätte ich herausgefunden, daß die schlanken Kiefernstämme in schlauester Weise die Skizze, den Grundriß eines Hauses, verbergen.

Ohne Zweifel ist’s ein Grundriß. Die Türen und Fenster sind in üblicher Weise angedeutet, und sogar ganz winzige Zahlen stehen daneben – Länge und Breite der Räume, ferner einzelne Buchstaben, die Harst jetzt erst mit einer Lupe herausfindet.

„Hm – doch kein Haus, eine Wohnung!“ meint er gedehnt. „Hier offenbar vier Vorderräume: S: Salon, H: Herrenzimmer, D: Damensalon, M kann nur Musikzimmer sein. – Dann nach hinten zu noch vier Zimmer, ein endloser Flur und die Küche und so weiter. Also – acht Zimmer!“

Er spricht immer nachdenklicher.

Dann steht er mit einem Male auf, ist am Schreibtisch, blättert im Telephonverzeichnis, nimmt den Hörer ab:

„Bitte Uhland einhundertzwoundsiebenzig …“ – Und wendet sich an Bechert: „Sie gestatten, daß ich Ihren Titel und Namen – mißbrauche …“

„Bitte!“ –

Wir merken: er spricht mit Kommerzienrat Walldorf.

„Hier Kriminalkommissar Bechert. Bitte, erschrecken Sie nicht, Herr Kommerzienrat. Es handelt sich lediglich um eine harmlose Auskunft … Vor Ihrem Hause wurde vor einer Stunde etwa eine Dame beobachtet, die vorher in der Verkleidung eines Herrn an Ihrem Feste teilgenommen hatte. – Nein, durchaus nicht unmöglich … Ich bitte natürlich dienstlich um allerstrengste Verschwiegenheit gegen jedermann … Der Herr telephonierte gegen halb eins in Ihrem Herrenzimmer, das doch – nur ein breites Fenster hat … – Wie bitte?! Wer war das? Baron von Semarsött, ein Schwede? Er hat Sie gebeten, telephonieren zu dürfen – ja, verstehe! – Er kam sehr spät – ganz recht, nach zwölf … Und – er ging ohne Abschied sehr bald wieder? – Wo wohnt der Baron? – So, nur zum Besuch hier? Und – ein Freund Ihres Schwiegersohnes? – – Nein, der Baron kommt natürlich nicht in Betracht … Trotzdem – wollen Sie, bitte, unbedingt Diskretion bewahren … – Noch eine Frage: Findet die Hochzeit gleichfalls in Ihrem Hause statt? – Ah – nur Haustrauung mit Souper im engsten Kreise … Danke verbindlichst … – Schluß!“

Er legte den Hörer weg und kam zum Tische zurück, setzte sich …

„Als Baron Olaf Semarsött hat unsere Eva sich dort eingeführt,“ meinte er mit leicht gerunzelter Stirn und mehr wie zu sich selber sprechend. „Ein Freund des Regierungsassessors von Balkwitz ist’s, dieser – Baron! Des Bräutigams! Toll … toll!“

Und zu Bechert: „Sind die Walldorfs reich?“

„Ungeheuer reich und – geizig. Die Tochter Erika ist dreißig geworden, ohne einen Nehmer zu finden. Jetzt hat Balkwitz angebissen, der ein Jahr jünger als seine Erkorene ist. Am Stammtisch hat Rat Günther vorgestern noch über diese Heirat hergezogen.“

„Geizig …“ wiederholte Harst sinnend. „Hm – Geizig …“

„Ihre Villa im Grunewald haben Walldorfs an eine Engländerin vermietet – ein Skandal!“ flocht Bechert ein. „Das junge Paar wird nun freilich gleichfalls dort wohnen – vier Zimmer im ersten Stock …“

Harald schien gar nicht mehr hinzuhören, starrte auf die Zeichnung.

Bis Freund Bechert fragte: „Was halten Sie von alledem, Harst?! Wie kommt Balkwitz zu dieser merkwürdigen Bekanntschaft?!“

Harald blieb stumm …

Schenkte sich einen Kognak ein … Trank …

„Bechert, Schraut und ich müssen uns so tadellos maskieren, daß einer den anderen nicht erkennen würde,“ sagte er dann genau so geistesabwesend. „Sie haben ja alles nötige Rüstzeug hier. Vorwärts!“

Und dieses Vorwärts – in ganz anderem Tone – war wieder jener Harst, der bereits den Gegner durchschaut hatte.

„Was – – glauben Sie?“ forschte Bechert eindringlich. „Harst, reden Sie! Sie – haben jetzt einen Faden gefunden, der in das Labyrinth läuft –“

Harald, die Schultern hebend: „Vielleicht – die Hochzeitsgeschenke, lieber Bechert –“

„Ah – und die Wohnungsskizze?!“

„Ja – die mag Eva jetzt nicht mehr nötig haben … – Vorwärts!“ – –

Halb drei nachts …

Eine Nacht, die jetzt Wolkenschleier über das Firmament gebreitet hatte.

Und zwei Männer in der totenstillen Uhlandstraße – beide bucklig, abgerissen, nicht ganz Strolche, aber doch Gestalten, denen jeder ausweicht. Fuselduft umgibt sie. Aus bärtigen Gesichtern starren blaurote Nasen …

In der Haustürnische von Nr. 15 stehen sie – Nebeneingang … Ein Dietrich arbeitet in dem Schloß … Sie verschwinden im Hause … Sind fünf Minuten drauf bereits oben auf dem flachen Dach, turnen weiter, kommen nach Nr. 18 …

Wir – wir natürlich …

Und wozu?! Nun, Fiffi galt der ungewöhnliche Besuch.

Auch hier sprengen wir die Dachluke, die von innen verschlossen ist. Das will verstanden sein. – Und dann hinab – bis wir im vierten Stock, Seitenflügel, vor der Tür der Felizitas Gondlar, Tänzerin, angelangt sind. Im Dunkeln – nur bei kurzem Aufleuchten der Taschenlampen – auf Gummisohlen, zerfetzten alten Turnschuhen aus Becherts Maskenvorrat.

Felizitas Gondlar,
Tänzerin.

– Das klingt so ehrlich, so bieder …

„Und – was nun?!“ frage ich … Will noch etwas mehr flüstern – will andeuten, daß die Gondlar ein Sicherheitsschloß und fraglos eine Sperrkette hat.

Mir vergeht das Flüstern …

Ein Stöhnen irgendwoher. Ein leises qualvolles Stöhnen …

„Hörst Du?!“ Und Haralds Hand umkrallt meinen Arm.

Wir lauschen … Und wieder dieselben schwachen, schmerzerfüllten Töne …

Haralds Lampe dreht sich. Der Lichtkegel fällt auf das Türschloß …

„Dort!“ raunt er mir zu. „Leuchte!“

Er schiebt das Lämpchen in die Tasche. Der Patentdietrich gleitet ins Schlüsselloch – in das des Schneppers. Ein Knack … Die Tür geht nach innen auf …

Und – dicht an der Tür – ganz dicht – zwei … blutüberströmte Wesen auf dem grünen Läufer des Wohnungsflurs, ein Hund, ein Terrier, mit eingeschlagenem Schädel und – ein rotblondes üppiges Weib im stahlblauen, goldbestickten Kimono – das Gesicht wie ein großer Blutfleck …

Wir beide starr … Wir beiden doch gewiß gewöhnt an Szenen voller Schrecken, schlichen an den Leibern vorbei, nachdem ich die Tür zugedrückt hatte …

Harst kniete …

Erhob sich wieder. „Ihr Todesröcheln hörten wir … Fiffi ist tot …“

Er schaltete das elektrische Licht im Flur ein. Beugte sich nochmals herab, berührte die Pupille des armen Weibes, prüfte nochmals den Puls …

„Tot!“

Und ging durch die halb offene Tür in das Schlafzimmer der Ermordeten, folgte so der Blutspur, die von diesem Zimmer bis in den Flur lief: so weit hatte das Mädchen sich noch geschleppt, war im Schlafzimmer mit einer Hantel niedergeschlagen worden, die noch auf dem Bett lag – auf diesem üppigen, wollüstigen Lager inmitten aller Wohlgerüche Arabiens – unter der flachen, leuchtenden Alabasterschale, die wie ein blasser Mond über dem Bette hing …

Und – noch anderes auf dem Bett: ein Frackanzug – ein Herrenfrackanzug – hingeworfen in aller Hast offenbar. Auf dem Fell vor dem Bett ein Oberhemd, Kragen, weißer Selbstbinder …

„Hier hat Eva sich umgekleidet,“ sagte Harald dumpf. „Und der Mord – ihr Werk! Damit Fiffi nichts verraten könne!“

„Entsetzlich!“ Und das kam bei mir aus grauenerfülltem Herzen. –

Drei Zimmer hatte die Wohnung, drei Schmuckkästchen. Fiffi mußte eine sehr saubere Person gewesen sein.

In dem kleinen Salon fanden wir den Damenschreibtisch durchwühlt. Alle Schubfächer waren herausgezogen … Papiere, Briefe und anderes lagen auf dem Boden verstreut.

„Auch Eva!“ sagte ich leise.

Harald schaute mich an, schüttelte den Kopf. „Nein, mein Alter … Das kann nicht gut sein … Niemals Eva – niemals! Sie hätte keine Zeit dazu gehabt, als sie sich hier so in Windeseile in die elegante Frau verwandelte … Und wenn sie später nochmals hier gewesen wäre, würde sie wohl dafür gesorgt haben, daß – Fiffi nicht mehr – stöhnen konnte …“

Mir lief’s kalt über den Rücken.

„Wer sonst?!“ fragte ich scheu …

„Weiß nicht. Weiß es wirklich nicht.“

Er setzte sich in den Schreibsessel. Über uns strahlte die elektrische Kristallkrone …

Und mit jener automatenhaften Bewegung, die stets eigen, wenn er einem Problem in Gedanken nachspürte, holte er ein Pappschächtelchen Zigaretten aus der zerlumpten Jacke hervor und – rauchte … Keine Mirakulum. Ein billiges Kraut, das zum Kostüm paßte …

Sann vor sich hin und ließ doch die Augen umhergleiten – hierhin, dorthin …

Bis er sich jäh erhob und die eine Schieblade des Schreibtisches vollends herauszog …

„Da – ein Fingerabdruck auf dem roten Mahagoniholz. Ein selten klarer Abdruck … Das gibt für Doktor Wächter Arbeit!“

Doktor Wächter war einer der Kommissare der Mordkommission … –

Zehn Minuten blieben wir hier. Meines Erachtens zwecklos. Und Harst stumm wie ein Fisch.

Dann – – Rückzug über die Dächer. Hin zur nächsten Revierwache, wo Harald telephonierte … Er allein. Ich war draußen auf der Straße geblieben. Ein Schupobeamter kam … Und dann – schliefen wir die Nacht – den Rest der Nacht in einer der Arrestantenzellen, nachdem Harald noch persönlich mit Doktor Wächter allerlei verabredet hatte.

500 Goldmark Belohnung!

Mord!!

In der vergangenen Nacht ist die Tänzerin Felizitas Gondlar, die in ihren Kreisen Film-Fiffi genannt wurde, in ihrer Wohnung, Uhlandstraße 18, Gartenhaus rechts, vier Treppen, gegen drei Uhr morgens durch einen zufälligen Besucher ermordet aufgefunden worden. Der unbekannte Täter hat als Waffe eine der schweren Hanteln der Gondlar benutzt.

Alle Personen, die imstande sind, – und so weiter.

An allen Anschlagsäulen leuchteten diese Plakate mit ihrem auffallend knappen Inhalt.

Und in der Tauentzienstraße standen mittags gegen elf Uhr zwei Männer in schäbigen Anzügen, beide bucklig und schnapsnasig, und studierten dieses Plakat. Der Größere nickte, flüsterte: „Sehr gut hat der Wächter das gemacht. Das besagt gar nichts …“

Sie gingen weiter, bestiegen die Straßenbahn und waren um zwölf Uhr bei Fritz Bechert.

„Alles besorgt,“ begrüßte Bechert uns. „Wächter läßt Ihnen bestellen, lieber Harst, daß der Kommerzienrat die Lohndiener um zwei Uhr erwartet. Die von gestern sind – erkrankt, daher die Ersatzmänner.“ Er lächelte etwas und deutete auf die etwas speckigen Frackanzüge mit Kniehosen, die auf dem Sofa lagen.

„Und der Fingerabdruck?“ fragte Harald gespannt.

„Sie haben recht gehabt. Eine sehr schweißige, weinfeuchte Hand …“

„Klebrig dazu – Sekt!“ nickte Harald.

„Ja – Sekt!“ –

Wir aßen mit Bechert zusammen Frühstück. Er hatte es wie immer eilig. Nachher waren wir allein in seiner Wohnung und machten Toilette – äußerst sorgfältig, denn die beiden neuen Lohndiener durften Harst und Schraut auf keinen Fall ähnlich sehen. All die vielen Kniffe der Verkleidungskunst wandten wir an, die uns längst bekannt waren. Harald hatte immer wieder etwas zu bemängeln.

In zwei schlichte alte Lodenmäntel gehüllt verließen wir kurz nach ein Viertel zwei Becherts Wohnung und waren Punkt zwei wieder – in Fiffis Haus.

 

4. Kapitel.

Die Hochzeitsgeschenke.

Der Kommerzienrat ließ sich in keiner Weise anmerken, daß er sehr wohl wußte, wer wir waren.

Die Festtafel im großen Salon war bereits gedeckt. Das Essen lieferte ein bekannter Stadtkoch, der mit zwei Gehilfen schon in der Küche wirtschaftete.

Wir konnten uns in den meisten Zimmern frei bewegen, da selbst die Schlafzimmer ausgeräumt worden waren. – Im Damensalon war ein Altar aufgebaut. Hier sollte die Trauung stattfinden. Die Geschenke wieder waren in dem bisherigen Mädchenstübchen der Braut ausgestellt – auf drei langen Tischen. Dieses Zimmer war das letzte des Seitenflurs und lag noch hinter der Küche. Wir warfen einen Blick hinein. Die hagere Kommerzienrätin besichtigte gerade einige der überaus kostbaren Schmucksachen, winkte uns …

„Kommen Sie nur,“ sagte sie sehr von oben herab.

Und wir Diener dienerten unterwürfig – staunten, lobten …

Staunten ehrlich … –

Ich will mich kürzer fassen …

Als wir gegen halb vier im großen Salon allein waren, meinte Harald hastig: „Die Geschenke zu stehlen, würde lohnen … Wir werden gut aufpassen … Ich bleibe dabei: es geht um die Geschenke! Die Skizze der Wohnung kann nur den Zweck haben, dem Dieb die Orientierung zu erleichtern.“

„Wer hat die Skizze angefertigt – für Eva Larda – – wer?!“ – Ich fragte sehr gedehnt … Mir wollte es durchaus nicht in den Kopf, daß es um die Geschenke ginge.

„Derselbe, der in der Wohnung der Tänzerin den Schreibtisch durchwühlt hat,“ erwiderte Harald …

Da – trat der Kommerzienrat ein, schloß die Tür, eilte auf uns zu …

Ein Mann mit dem frischen Gesicht eines auf See ergrauten Schiffskapitäns, ein Mann, der sich emporgearbeitet hatte, der einst an der Drehbank gestanden …

„Meine Herren, haben Sie noch besondere Wünsche?“ flüsterte er, und in den harten Augen war ein unruhiges Flackern. „Sie können sich denken, wie uns der Mord dort im Gartenhaus die ganze Feststimmung verdorben hat … Aus welchem Grunde sind Sie eigentlich hier, Herr Harst?“

„Der – Hochzeitsgeschenke wegen …“

„Ah – fürchten Sie, daß …“

„Ich fürchte … Ich werde daher den Gästen die Überkleider auf der Diele abnehmen und die Tür bewachen. Mein Freund Schraut soll zuweilen in das Geschenke-Zimmer einen Blick werfen.“

Der Kommerzienrat nickte.

„Die Stabjalousien dort sollen herabgelassen werden,“ ordnete Harald weiter an. „Und die Tür muß offen bleiben. Schraut wird schon aufpassen …“

„Wie Sie wünschen, Herr Harst …“ –

Die ersten Gäste erschienen – auch der Bräutigam – ein schlanker, ein wenig sehr verlebter Herr mit Monokel …

Mir gefiel dieser Theodor von Balkwitz nicht. Als ich ihm meine Verbeugung machte, nahm er keinerlei Notiz davon.

Dreißig Personen waren geladen … Hochfinanz, Industrie – alles bekannte Namen.

Die Trauung begann … Ein Künstlerquartett sang … Harmoniumklänge …

Ich hatte soeben wieder in das Geschenke-Zimmer hineingeschaut und war nun vorn bei Harald auf der Diele.

„Es passiert sicherlich etwas,“ murmelte Harald nervös. „Wenn ich nur wüßte, wie – wie Eva Larda als Baron Semarsött es angestellt hat, so blitzschnell von hier in die Wohnung der Ermordeten, ihres Opfers, gelangen zu können … Bedenke: sie war doch bereits nach etwa vier oder fünf Minuten als Dame auf der Straße, als sie das Fenster geschlossen hatte …“

Er starrte vor sich hin …

Das Harmonium brauste in feierlichen Tönen … Eine Sängerin sang das bekannte Lied „Wo Du hingehst, da will auch ich hingehen …“

Und wieder die tiefe Stimme des Geistlichen …

Und da – Haralds Hand, die mich mit fortriß …

Den langen Flur hinab, durch die Pendeltür – in den Hinterflur …

Leichte Bratendünste hier …

Und – Harst stößt die Tür jenes wertvollen Zimmers auf …

Kerzen flackern … Elektrisches Licht wirft weiße Strahlen – – auf leere Schmucketuis …

Leer – – leer …!

Alles, was nicht viel Raum beansprucht, ist gestohlen worden …

Alles – für Tausende von Mark, auch das Brillantarmband, das der Bräutigam geschenkt … auch die goldenen alten schweren Likörgläser.

Und wir beide stehen in der Tür und sind – wieder auf verlorenem Posten.

Scheinbar! – Bis ein Blick in Haralds Gesicht mich anderes lehrt …

„Zehn Minuten früher! Warum nicht zehn Minuten früher!“ murmelt er.

Ich – begreife nicht.

Er zieht die Tür langsam zu, drängt mich hinaus … schließt ab … Steckt den Schlüssel zu sich …

Gegenüber diesem Zimmer liegt die kleine Plättstube.

Sie ist jetzt voller Möbel. Harst zwängt sich hinein, winkt mir …

Und hier zieht er die Zeichnung aus der Tasche … Die märkische Landschaft …

Hält sie mir hin, deutet auf den verborgenen Grundriß der Wohnung, auf das Viereck, das diese Plättstube vorstellt und auf ein kleines Kreuz an der einen Linie, die die eine Wand darstellt, deutet weiter auf – – den großen, weißen, halb in die Mauer eingelassenen Wäscheschrank und sagt:

„Dieses Kreuz ist der Schrank … und der Weg hinüber zur armen Fiffi … Die beiden Wohnungen stoßen hier aneinander.“

Jetzt – – begreife ich! Den Weg ist Eva gestern nacht gegangen – den Weg ging der Dieb vor wenigen Minuten!

„Komm,“ meint Harald. „Verhüten wir noch Schlimmeres …“

„Was denn?!“

Er schüttelt den Kopf.

„Laß nur, mein Alter. Ich bin schon gestraft genug … Daß ich auch nicht auf den Gedanken kam! Er lag so nahe!“ –

Und wenig später wir beide und der Kommerzienrat in aller Stille im Geschenke-Zimmer vereint …

Walldorf bleich, doch gefaßt …

„Wie war das möglich, Herr Harst?“ fragt er gepreßt.

„Darüber zu anderer Stunde, Herr Kommerzienrat … Verraten Sie sich nicht … Schweigen Sie … Will jemand die Geschenke sehen, so sagen Sie, die Sachen wären bereits eingepackt …“

„Meine Frau –“

„Muß sich gleichfalls beherrschen. Ich versichere Ihnen, daß der ganze Raub wieder herbeigeschafft werden wird.“ –

Und fünfzehn Minuten später bedienen wir beide bei Tisch … Wir Diener, die mit Prädikat „Sehr gut“ die Dienerschule durchgemacht haben …

Die Kommerzienrätin beherrscht sich tadellos. Das Brautpaar ist noch ahnungslos … Herr von Balkwitz trinkt für meinen Geschmack zu hastig … –

Während einer Festrede stehen Harald und ich wieder im Flur, haben ein paar Minuten Zeit …

Harst zieht eine Menükarte aus der Tasche.

„Die, die vor dem Brautpaar an dem Pokal lehnte,“ raunt er mir zu. „Und – da – ein paar Fingerabdrücke.“

Und – – eine Lupe erscheint – ein Blättchen Papier: der von der Kriminalpolizei vergrößerte Fingerabdruck von der Schieblade: schweißiger sektfeuchter Finger!

Harst vergleicht mit Hilfe der Lupe …

„Leider stimmt’s!!“

Und – in dem Moment fallen für mich die Schleier: Herr Theo von Balkwitz war in der Nacht ebenfalls in Fiffis Wohnung – durch den Wäscheschrank der Plättstube!

Im großen Salon drei Hochs auf das junge Paar …

Und wir – wir beide hier vor der Tatsache, daß Balkwitz – – ein Verbrecher – zum mindesten derjenige, der Eva Larda die Skizze lieferte, der fraglos weiß, was und wie gestohlen werden sollte!!

Ein – – ein schier unmöglicher Gedanke … Und doch sprechen die Tatsachen für all dies Unglaubliche! –

Wir müssen wieder hinein in den Salon … Ich schaue die Braut an. Keine Schönheit, aber ein gütiges, kluges Gesicht. Bedauern krampft mir das Herz zusammen. Und – Balkwitz trinkt die schweren Weine wie Wasser, um sich zu betäuben …

Wir beide servieren Gang auf Gang …

Eine Künstlerkapelle spielt ganz diskret … Ein Hauch von Würde und Vornehmheit liegt über dieser Hochzeitsfeier …

Und – – der junge Ehemann und Eva, die Sünde, – wie stand’s um die beiden?! –

Gegen halb acht wird endlich in den Nebenräumen der Mokka gereicht, jetzt durch die beiden Hausmädchen …

Im Hinterflur treffen wir Balkwitz.

„Auf ein Wort, Herr von Balkwitz,“ sagte Harald kurz. „Folgen Sie mir … Ich bin Harald Harst – Detektiv Harald Harst …“

Der Mann hat unerhört viel getrunken, ist trotzdem nüchtern …

Und taumelt gegen die Wand …

„Verloren!“ lacht er bitter auf, gewinnt wieder die Herrschaft über seine Nerven zurück. Und – folgt uns – in das ausgeplünderte Geschenke-Zimmer. Harst schließt hinter uns ab.

Balkwitz ist gelb im Gesicht …

„Sie kennen Eva Larda?“ fragt Harst.

„Ja … Sie war meine … Geliebte!“ Sehr ehrlich und freimütig klang das.

„Haben Sie ihr eine Skizze dieser Wohnung angefertigt?“

„Ich mußte …! Die Larda hat mich in der Hand – politische Dinge! Meine Karriere ist hin, wenn sie mich verrät …“

„Wußten Sie, daß die Geschenke gestohlen werden würden?“

„Ja – das war ihre Rache, sagte sie, weil ich sie aufgegeben.“ – Er lügt nicht. Ich fühle das.

„Und was wollten Sie in der vergangenen Nacht bei der Tänzerin?“

„Ich suchte nach jenen Dokumenten, die mich so ungeheuer bloßstellen können. Die Larda war mit Fiffi eng befreundet …“

„Und – hat sie ermordet …“

„Das wußte ich nicht, Herr Harst. Ich war ja nur im Salon der Tänzerin. Und die Geheimtür, die Eva Larda und Fiffi angelegt haben, mündet in der Wand … Ich hoffte eben, Fiffi würde die Larda begleitet haben und die Wohnung sei leer.“

„Hm – und der Baron Semarsött, den Sie hier bei Walldorfs einführten?“

„Bitte – ich lüge nicht. Ich weiß, daß nur volle Ehrlichkeit mich vielleicht noch retten kann. – Auch das hat dieses Weib von mir erzwungen, Herr Harst, auch das! Ich – bin eben völlig in ihrer Hand! Natürlich habe ich nie im entferntesten vermutet, daß sie selbst – zur Mörderin werden kann! Sie hat mir hoch und heilig versichert, daß sie die alte Dame dort in Potsdam nicht vergiftet hat … – Bedenken Sie meine Lage, Herr Harst: ich mußte ja gehorchen, und …“

„Wo wohnte die Larda in der Maske des schwedischen Barons?“

„Das weiß ich nicht. Sie hatte Hotel Adlon angegeben, aber das war gelogen …“

Harst nickt. „Herr von Balkwitz, ich will Sie schonen, weil ich Ihnen glaube. Gehen Sie –“

Er schließt die Tür auf …

Eine halbe Stunde später sehe ich ihn mit dem Kommerzienrat auf der Diele flüstern …

 

5. Kapitel.

Bemühen Sie sich … nur weiter!!

Ich könnte hier noch manche interessante Einzelheit bringen. Der mir zu Gebote stehende knappe Raum verbietet es.

Um neun Uhr etwa entließ der Kommerzienrat die beiden Lohndiener – uns beide, drückte uns heimlich die Hand. „Auf Wiedersehen, meine Herren … Hoffentlich finden Sie den Dieb!“ –

Wir verlassen das Haus und gehen durch strömenden Regen die Uhlandstraße hinab …

Sturmwind peitscht uns die nassen Schnüre ins Gesicht. Wir schlagen die Lodenmäntelkragen empor … Bis ein leeres Auto naht. Harald flüstert dem Chauffeur etwas zu. Und drinnen im Auto frage ich: „Wohin?“

„Zu Bechert!“

Harst schüttelt die Tropfen vom Mantel, nimmt eine Zigarette, raucht und sagt zwischen zwei Zügen:

„Dies Weib ist ein Satan … Sie muß Balkwitz wirklich geliebt haben … Eifersucht steckt hinter alledem!“

„Fraglos!“ – Ich nehme eine der Importen von der Hochzeit und rauche auch. Es ist ein gutes Lohndienerrecht, Zigarren zu – stibitzen.

Ich achte nicht auf den Weg, den der Chauffeur einschlägt.

Dann hält der Wagen. Wir hinaus. Harst bezahlt. Ich sehe sofort: das ist eine Villenstraße – ein Villenvorort.

„Wo sind wir?“

„Grunewald, mein Alter … Gardener, Ecke Lemmingstraße … Gardener Nr. 11 – das ist die Villa des Kommerzienrats.“

„Hm – und …?!“

„Wir werden dort eindringen … erste Etage – in die Wohnung des jungen Paares, das sehr bald eintreffen dürfte. Die Dienstboten kommen erst morgen früh. Ich habe Walldorf ausgefragt.“

„Hm – – und …?“

„Ich denke, Eva wird aus Eifersucht dem jungen Paar noch eine andere Überraschung bereitet haben …“

„Ah – nicht unmöglich!“

„Also – los denn! Hunde sind nicht da. Die alte Engländerin, die unten wohnt, hat nur eine bejahrte Köchin und einen ebenso alten Diener.“ –

Wir stehen vor dem hohen Gitterzaun von Nr. 11 …

Dunkel alles … Der Regen rieselt nur noch, – so schwach, daß man die Tröpflein hätte zählen können. Immerhin – droben am Firmament hängen noch die schweren, schwarzen Tücher der Wolken und sperren jeden Sternenstrahl ab. Diese Finsternis der lauen, stürmischen Nacht begünstigt unser Vorhaben. Im Nu sind wir über den Zaun. Im Nu an dem glasdachüberwölbten Seiteneingang der Villa, der zu der Wohnung des jungen Paares emporführt. Grüne Girlanden umschlingen diese Tür. Rosen und Nelken duften – und im Schloß arbeitet lautlos Haralds Patentdietrich.

Dann ein unhörbarer Ruck …

Offen – –! Hinein – –! Und ebenso geräuschlos schließt sich die Tür.

Ein winziger dünner Lichtstreifen gleitet zwischen Haralds Fingern hindurch – erlischt … Links eine beläuferte Treppe … Sie knarrt nicht … Wie Gespenster hasten wir nach oben, – und wieder der dünne Lichtstrahl, wieder eine Tür, mit einem Messingschild: „v. Balkwitz“ …

Wir beide stutzen … Diese Tür ist nur angelehnt.

Nur – angelehnt!! Das heißt, es befindet sich jemand in der Wohnung – – jemand: Eva Larda – – vielleicht!

Im Dunkeln raunt Harald: „Hinein – und dann abschließen! Dann haben wir sie!“

Er scheint in keiner Weise zu zweifeln, daß Eva der Eindringling ist …

Türangeln und Schloß müssen tadellos geölt sein… Kein Laut verrät uns …

Wir stehen im Wohnungsflur – horchen …

Die Aufregung sitzt mir im Nacken wie ein beißendes Prickeln … Mein Herz pocht – schneller – schneller …

Und die Augen, immer mehr an die Finsternis sich gewöhnend, unterscheiden vor uns einen langen matten Streifen: eine zweihandbreit offene Tür!

Der dicke Läufer dämpft jedes Geräusch der gleitenden Füße …

Harald schiebt den Kopf durch die Türspalte, drückt die Tür gleichzeitig noch mehr auf. Ein Windstoß umheult die Villa …

Auch ich sehe – – sehe hinein in einen Salon, sehe einen Tisch, vor dem mit dem Rücken nach uns hin ein – Mann steht … In der Linken eine Karbidlaterne mit einer Blechblende, die halb zugeschoben ist …

Das Licht fällt auf den runden Salontisch … Und auf diesem Tische funkelt und gleißt es in allen Farben … Da liegen auf dunkler Sammetdecke – – all die Hochzeitsgeschenke – die ganze Beute …

Da steht aber auch eine Photographie, eine Vergrößerung: Eva Larda zärtlich umschlungen von Theo von Balkwitz! Und vor diesem umfangreichen Bilde liegen, rot umschnürt, Päckchen von Briefen: Liebesbriefe, – – und noch ein Päckchen Papiere, an denen ein Papierschildchen befestigt ist.

„Die Geheimnisse des Herrn v. Balkwitz.“

… Fraglos die Dokumente, die den Assessor so schwer bloßstellen könnten!

Und all das: die Idee eines weiblichen Satans, eine scheußlich-gemeine Überraschung für Balkwitz’ junge Gattin und ihn selbst, entsprungen einem von Eifersucht zerfressenen Weiberhirn! –

Und wie wir noch so stehen und die überschlanke Gestalt da beobachten, scheint plötzlich eine Regenflut gegen die durch Vorhänge verhüllten Fenster zu prasseln …

Oder – ist’s nicht der Regen?! War’s nur – eine Hand voll Sand vielleicht, der so jäh und kurz gegen das Glas knatterte?!

Eva ist zusammengezuckt … Harst legte ihr schon die Hand schwer auf die Schulter …

Sie – fährt herum … Ihre Handgelenke liegen bereits in den Muskelschraubstöcken Harstscher Finger …

„Binden!“ sagt er nur, und auch ich packe zu …

Kein Wort fällt … Wir sind brutal, ohne Mitleid. Gardinenschnur fesselt Eva, die Sünde, auf eins der zierlichen Salonstühlchen.

Wir gehen rasch in das Herrenzimmer hinüber. Harst telephoniert an die Polizei in Grunewald, hat sofort Anschluß …

Und als wir nach kaum vier Minuten den Salon wieder betreten, ist – – der Stuhl leer … Die Türfenster zum Balkon stehen weit offen … Die Gardinenschnüre liegen zerschnitten am Boden … Und auf dem goldlackierten Stühlchen ein Zettel:

„Bemühen Sie sich – nur weiter!!“

Hohn – blutiger Hohn!

Harst stößt hervor: „Es – war nicht der Regen … Es war Sand – ein Signal. Das Weib hatte Hilfe in der Nähe!“

Er geht zu dem seltsamen Gabentisch …

Ein Blick …

„Ah – sie hat die Dokumente in der Eile vergessen, – ein Glück!“

Und er knüllt die große Photographie zusammen, steckte die Briefpäckchen und Papiere zu sich …

„Gehen wir, mein Alter … Man wird diesen Gabentisch für einen schlechten Scherz nehmen … Und wir werden schweigen … Gehen wir … Das junge Paar muß sehr bald eintreffen!“

Wir schließen die Balkontüren, sehen noch auf dem Parkett die großen sandigen Spuren von Männerschuhen und – denken an den Zündholzverkäufer von der Gedächtniskirche … –

Vor der Villa auf der anderen Straßenseite schlendern wir auf und ab …

Wenige Minuten … Ein Auto naht, hält … Balkwitz hilft seiner jungen Gattin aus dem Wagen … Sie verschwinden im Hause … Oben werden alle Räume hell. Werden bald wieder dunkel …

Die Nacht schweigt … Die Liebe feiert ihr schönstes Fest …

„Mögen sie glücklich werden,“ sagt Harald und zieht mich mit fort …

In der nahen Bismarck-Allee treffen wir ein leeres Mietauto …

Fahren heim …

Nein – wollen nach Hause … Fühlen uns Sieger – und hatten doch wieder auf verlorenem Posten gestanden – doch wieder …!

Davon – – das nächste Mal … Von Eva, der Sünde, und von uns, den – Gefangenen einer unerbittlichen Gegnerin …

 

Nächster Band:

Das Rätsel der Spielkarten.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































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vergriffen.
Zwei Taschentücher.
Die Jagd auf einen Namen.
Die Augen der Jolante.
Der Fluch eines Geschlechts.
Die verschwundene Million.
Die Festung des Ali Azzim.
Die tote Lady Rockwell.
Der Fakir von Nagpur.
Der blinde Brahmane.
Das Auge der Prinzessin Singawatha.
Das Löschblatt von Amritsar.
Die leuchtende Fratze.
Schattenbilder.
Der Löwe von Flandern.
Der ewige Jude.
Das Armband der Lady Mellville.
Die Rätselbrücke.
Der Einsiedler von Tristan da Cunha.
Das Siegellacktröpfchen.
Die Gesellschaft der roten Karten.
Die Uhrkette des Bill Hamilton.
Der Tempel der Kali.
Nur ein Tintenfleck.
Der Stern von Siam.
Eine leere Streichholzschachtel.
Der sprechende Kopf.
Das Geheimnis des Scheiterhaufens.
Die Gefangene von Trawalkor.
Die Eishöhle in Nepal.
Der Mord im Warenhause.
Der Spielklub W W.
Ein gefährlicher Auftrag.
Der sterbende Fechter.

– Preis pro Band 20 Pf. –

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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.