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Das Rätsel der Spielkarten

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 132:

 

Das Rätsel der Spielkarten

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1924 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Drei Spielkarten.

Vor der Villa des Kommerzienrats Walldorf, die dieser an eine alte Engländerin zum Teil vermietet hat, schlendern wir auf der anderen Straßenseite auf und ab …

Tot und still liegt die vornehme Villenstraße da … Die Augustnacht breitet ihre feuchten Fittiche über die Kolonie der Reichen aus – über den Grunewald …

Wenige Minuten schlendern wir so … Ein Auto naht, hält … Das junge Paar, das soeben von der Hochzeitstafel kommt, betritt das neue Heim im ersten Stock der Villa: Theo von Balkwitz und Erika, geb. Walldorf.

Oben werden alle Räume hell … Werden bald wieder dunkel …

Die Nacht schweigt … Die Liebe feiert ihr schönstes Fest …

„Mögen sie glücklich werden,“ sagte Harald und zieht mich mit sich fort …

In der nahen Bismarck-Allee treffen wir ein leeres Mietauto …

Steigen ein … –

– So etwa schrieb ich am Schluß des vorigen Bandes.

Der Leser besinnt sich: Eva, die Sünde …! Die aschblonde Eva Larda, ein Satan in Weibsgestalt, Abenteurerin[1] ganz großen Stils, Mörderin, ohne Erbarmen … Hatte die Freundin und Helfershelferin beseitigt, hatte die wertvollsten Hochzeitsgeschenke aus der Walldorfschen Wohnung, Uhlandstraße 18, unter unseren Augen gestohlen und die Beute dann im Heim des jungen Paares aus Eifersucht als ehemalige Geliebte Theo von Balkwitz’ nebst anderem als niederträchtige Überraschung aufgebaut …

Nebst anderem: Liebesbriefen von einst, einer verräterischen Photographie und Dokumenten, die Herrn von Balkwitz ruiniert hätten!

Wir waren in der Villa gewesen. Eva war uns entkommen. Und – das andere steckte nun in Haralds Taschen … –

Wir stiegen ein …

Doch halt: schon hier muß ich meine eigenen Worte bemängeln. Wir – – wurden eingestiegen, könnte ich scherzend sagen, wenn die Sache nicht so verdammt ernst gewesen …!

Der nasse Sandsack als Hiebwaffe ist geräuschlos und arbeitet in kräftiger Hand absolut sicher. Hier waren’s zwei Hände und zwei Sandsäcke.

Wahrscheinlich hatten die Kerle sich hinter der Sandsteinsphinx am Ende der Bismarckbrücke verborgen gehalten.

Zwei Hiebe … Und Harst fiel bewußtlos in das Auto hinein … Ich wurde von einem der Kerle aufgefangen.

Das war alles, was meine jäh schwindenden Sinne von der verzweifelten Situation noch erfaßten …

Und das Erwachen?!

Ein Licht stach grell in meine Augen …

An roher Ziegelmauer hing eine Karbidlaterne.

Ein müder, stumpfer Blick ringsum.

Ein Begreifen: feuchte Mauern mit dicken weißen Pilzschichten – kein Fenster, nur eine kleine Tür, von innen mit Eisenplatten belegt, – – und wir beide nebeneinander auf alten, schmierigen Kartoffelsäcken sitzend, an die Wand gefesselt, die Arme kreuzweise über der Brust zusammengeschnürt, die Füße an Eisenhaken gebunden, die zwischen die Fugen des Ziegelbodens gekeilt waren, und … Knebel im Munde, im Genick mit dünner Schnur schmerzhaft fest angezogen … –

Das wütende Bohren und Stechen im Hinterkopf, die Schmerzen in den Augen nahmen urplötzlich derart zu, daß ich wieder in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit zurückglitt …

Immerhin: Harald saß neben mir, und – auch er hatte die Augen offen gehabt! –

Stunden mochten vergangen sein. Ich war eingeschlafen. Erwachte von neuem. Und – stierte wieder in das grelle Licht, kniff die Lider zusammen und schaute nach rechts, wo es dunkler war – auf die Eisenplatten der Tür …

Bis meine Sinne dort etwas anderes feststellten – etwas, das dort nicht hingehörte: in der Mitte ein kleines helles Viereck mit einem Punkt – nein – keinem Punkt, wie ich sehr bald heraus hatte – einem roten Fleck von ganz bestimmter Form, von Herzform …

Und – das Weiße, Helle: eine Spielkarte, die genau in einen Ausschnitt der einen Eisenplatte hineinpaßte …

Ich wurde vollends munter …

Im Nu …

Die Spielkarte, das Herzas …! Die riß alle meine Gedanken aus dem Dunkel der nagenden Schmerzen an die Oberfläche …

Eine Sinnestäuschung? – Nein – nein, die Karte war da … mitten in der kleinen Tür, deutlich zu erkennen …

Was in aller Welt bedeutete das?! Eine Spielkarte?! Und – vorhin war sie bestimmt nicht vorhanden gewesen!

Schärfer wurden meine Blicke …

Unterschieden nun folgendes: das viereckige Loch in der Eisenplatte war doch größer als das Herzas, und dieses war in einem Rahmen von dunkelgrauer Farbe, anscheinend Pappe, irgendwie befestigt …!

Merkwürdig – was sollte die Karte?!

Ich drehte den Kopf nach Harald hin, begegnete seinen Augen … Er nickte mir ernst zu … In dem weißbläulichen Licht der Karbidlaterne sah er blaß und verfallen wie ein Schwerkranker aus …

Dann – – schüttelte er den Kopf. Das hieß: „Auch ich verstehe nicht, was die Karte bedeutet …“ – hob auch noch wie fragend die Schultern … –

Wir saßen so, daß zwischen uns noch etwa fünfzehn Zentimeter freier Raum vorhanden, und wir waren so fest und unverrückbar angebunden, daß es keine Möglichkeit gab, diese Distanz zu verringern und uns zu berühren, was uns doch gestattet hätte, in bekannter Weise zu telegraphieren: Morsezeichen – langen Druck, kurzen Druck …

Mit einem Male hüstelte Harald. Das konnte er trotz des Knebels. Und seine Augen wandten sich der Tür zu.

Ich blickte hin …

Ah – das Herzas war verschwunden …

Eine Treffsieben hatte die Stelle eingenommen …

Ich starrte hin … Das mußte doch eine bestimmte Bedeutung haben … Welche – welche?!

Und Minuten vergingen …

Dann – verschwand die Treffsieben samt dem Papprahmen … Ein viereckiges schwarzes Loch gähnte dort.

Nein – gähnte nicht mehr.

Eine neue Karte erschien: eine Piquesieben!

Seltsam war das … Erst Herzas, dann Treffsieben, jetzt Piquesieben …

Und – diese Piquesieben blieb – blieb, wurde von keiner anderen Karte abgelöst, blieb mindestens eine halbe Stunde …

Dann – – klappte sehr geräuschvoll der eiserne Deckel der kleinen Luke von außen zu …

Riegel kreischten … Ein Mann trat ein, eine uns wohlbekannte hagere Gestalt: der Bettler von der Gedächtnis-Kirche, den Eva Larda uns im Auto entführt hatte, – Evas Spion!

Kam mit einem klobigen Revolver in der Linken, in der Rechten – eine fünfteilige Menage, fünf übereinander gestellte Näpfe, die von einem Bügel gehalten wurden.

Wortlos stellte er die Menage auf den Ziegelboden, schnürte mir den rechten Arm los und reichte mir einen silbernen Eßlöffel, der in Seidenpapier eingewickelt gewesen.

„Beim ersten lauten Ton schieße ich,“ brummte er drohend …

Und – nahm mir auch den Knebel ab.

„Habe keinen Hunger,“ erklärte ich kurz. „Scheren Sie sich zum Teufel!“

Auch Harald schüttelte sehr energisch den Kopf.

Da zog der lange Graubart denn wieder ab – wortlos, warf die Tür zu … Riegel kreischten …

Und ich hatte wieder den Knebel im Munde, war wieder wehrlos, gefesselt – wie vorhin …

Die Karbidlampe brannte mit einem Male schwächer und schwächer …

Erlosch … Der Brennstoff war verbraucht …

Und wir nun im Dunkeln, leicht fröstelnd, Schmerzen in den Schläfen, Brennen im Hinterkopf …

Wir stets wieder versuchend, näher aneinander zu rücken.

Bis wir es aufgaben … Bis ein zufälliger Blick nach der Tür mir ein grünlich leuchtendes Viereck zeigte: eine mit Leuchtfarbe bestrichene Spielkarte – nur an den Rändern – daumenbreit …

Ein Herzas …

Und – es schwand, wurde zur leuchtenden Treffsieben … Schwand abermals nach Minuten, ward zur Piquesieben …

Was sollte das?! Drei Spielkarten – zum zweiten Male!

Und abermals klappte der Metalldeckel dröhnend zu …

Jetzt nichts mehr. Finsternis. Scheußlicher Moderduft. Die Kartoffelsäcke unter uns stanken. Die Pilze an den Mauern hauchten üble Düfte aus …

Ich fror. Ich wußte nun: in Evas Gewalt! Und dachte an – den Pavillon Frou-Frou … Das war vorgestern abend gewesen. Jazzbandlärm, halbnackte Frauen, Kavaliere im Frack … Und jetzt: ein Kellerloch – – Evas Rache!

Die Zeit schlich … Nicht ein Laut drang in unseren Kerker … Nur zuweilen war es mir, als ob über uns dumpfe Schritte erklangen. Ich traute meinen Ohren jedoch nicht: das Klingen, Singen und Brausen des Blutes als Folgeerscheinungen der betäubenden Hiebe war noch zu stark!

Die Zeit schlich …

Meine Gedanken schweiften … – Wo befanden wir uns?! Irgendwo in einem Hause in Berlin?! Waren wir in dem Auto irgendwohin nach außerhalb geschafft worden?! Vielleicht in ein einsames Gebäude, das Eva mit ihren Kumpanen gemietet hatte, – Eva, die Abenteurerin, die das heimliche Doppelleben geführt hatte – als fleißige Zeichnerin und als Hochstaplerin, Münzfälscherin – Mörderin …

Ganz sacht versank mein Denken in das unwirkliche Reich der Träume …

Und – wieder erwachte ich …

Der Kopf war mir noch wüster als bisher …

Schwindelanfälle rissen mich hinab in die Abgründe völliger Willenslosigkeit. Übelkeit saß mir als Knäuel in der Kehle. Und ringsum Finsternis …

Finsternis …

Bis ich spürte: ich saß nicht mehr aufrecht da …

Ich lag – lag lang auf Decken …

Andere Gerüche …

Stallduft … nach Kaninchengehegen, nach Hühnerkäfigen …

Und – – war nicht mehr gebunden. Stützte mich auf die Hände …

Ein – Hahn kräht in allernächster Nähe … Von fern das Tuten eines Autos … Und vor mir – eine schmale helle Ritze, die Umrisse einer Tür …

Ich wollte kriechen, sank zusammen, berührte ein Gesicht.

Und eine hohle Stimme fragte:

„Ist Dir auch so sterbenselend zumute, mein Alter?“

Harald – – Harald neben mir …!!

Dann – Klappern am Türschloß – Kreischen der Angeln …

Tageslicht … Eine rundliche Gestalt …

Ein gellender Schrei …

Mathilde ist’s, die Harstsche Köchin, altes urkomisches Inventarstück des Harstschen Hauses …

Und wir – wir liegen im Stall auf dem Hofe des Harstschen Grundstücks, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10 …

 

2. Kapitel.

Eine gelungene Komödie.

Am selben Tage nachmittags sechs Uhr. Wir haben uns gehörig im weichen Bett ausgeschlafen, haben die Folgen der schweren Gasbetäubung überstanden, haben auch bereits ein leichtes Mittagessen hinter uns und sitzen in Haralds vornehm-schlichtem Arbeitszimmer … Er in der Sofaecke, ich wie immer im Klubsessel.

„Ich hörte, wie das Gas zischend durch die Türklappe eindrang,“ sagt Harst und legt die Zigarette wieder weg. Sie schmeckt ihm noch nicht. „Es war nicht Leuchtgas – etwas anderes … Ich glaubte bestimmt, man wollte uns für immer ersticken. Du schliefst so fest, mein Alter … Ich aber habe alle Stadien der Todesangst durchlebt. Denn – einem solchen unentrinnbaren Verhängnis gegenüber packt selbst den Mutigsten die Todesfurcht …“

Er spricht leise. Das Grauen sitzt ihm noch in der Kehle …

„Welche Frechheit, uns dann hier in unserem Stall abzuladen,“ poltere ich hervor. – Ich schäme mich etwas: ich habe die Todesangst verschlafen!

„Ja – und volle achtundvierzig Stunden sind wir verschwunden gewesen,“ nickt Harst gedankenvoll. „Bechert hat uns gesucht. Die ganze Kriminalpolizei war mobil. Meine arme Mutter verzweifelt … Und alles – um Eva!“

Seine Stimme war hart geworden …

„Alles – um Eva, die wir … finden werden, finden müssen,“ fährt er fort. „Die Zeitungen sind voll von unserem Verschwinden[2] –“

Er nimmt eine Zeitung vom Tische …

Liest vor …

Ich horche auf …:

„Der Diebstahl der überaus kostbaren Hochzeitsgeschenke aus der Wohnung des Kommerzienrats W. ist nun aufgeklärt. Die Geheimtür nach der Wohnung der Tänzerin Felizitas Gondlar, die von Eva Larda beseitigt wurde, ist gefunden worden. Die Geschenke konnten bisher nicht wieder herbeigeschafft werden, zumal Harald Harst mitsamt seinem Freunde doch fraglos in einen Hinterhalt geraten ist …“

Er legt das Blatt weg, schaut mich an …

„Die Geschenke lagen im Salon der Wohnung des jungen Paares,“ sagt er bedächtig. „Sie lagen dort, als wir die Villa verließen, und sie sind wieder weggeholt worden, als wir draußen auf und ab schlenderten …“

Ich bleibe stumm … Mir will es gar nicht in den Kopf, daß die Geschenke wirklich ein zweites Mal gestohlen worden sein könnten …

„Es ist so, mein Alter,“ nickt Harald achselzuckend. „Abermals gestohlen – in wenigen Minuten, kurz nachdem Eva geflüchtet war und kurz bevor das junge Paar eintraf …“

„Eva natürlich wieder …“

„Wer sonst?! – Der, der sie befreite und ihr über den Balkon forthalf, hat mit ihr nicht, wie wir annehmen mußten, das Weite gesucht, sondern …“

Und da – brach er mitten im Satze ab, stand auf, ging zum Schreibtisch und nahm den Telephonhörer von den Stützen …

Rief Freund Bechert an. Kriminalkommissar Fritz Bechert.

Der meldete sich.

„Hallo, Bechert! Da sind wir wieder … Waren eingesperrt, 48 Stunden … Jetzt nur eine Frage: Die Hochzeitsgeschenke sind tatsächlich noch immer – abgängig? – Ja? – Oh – ich frage nur deshalb, weil ich hoffte, man hätte vielleicht inzwischen die Diebin erwischt … Ja – Eva Larda … So, also nichts Neues … Nein, Bechert, heute wollen wir ausschlafen … Kommen Sie morgen vormittag, mein Lieber … Wiedersehen!“ –

Er legte den Hörer weg, kam zum Tisch und trank langsam ein Glas Rotwein. Dann ging er zum Bücherschrank, brachte ein neues Spiel Karten herbei und riß die Umhüllung ab, suchte das Herzas, die Treffsieben und die Piquesieben heraus und legte sie nebeneinander auf die Tischdecke, in der richtigen Reihenfolge: Herzas, Treffsieben, Piquesieben.

„Hm – was hältst Du davon, mein Alter?“ meinte er leise. „Nicht unübel, dieses Rätsel … Die Lösung habe ich bereits …“

Ich fuhr hoch. „Du – Du hast sie …?“

„Ja … Soeben … Als ich so plötzlich schwieg. Eva Larda hat uns schon des öfteren verhöhnt, hat ihre Überlegenheit dick unterstrichen … Die Spielkarten sind ein hohnvolles Rätsel gewesen: Löst es doch, Ihr beide!!“

„Und – die Lösung?“

Er lächelte …

„Ich zeige sie Dir … Ich gehe mit Dir jede Wette ein, daß Eva innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden hinter Schloß und –“

Rrr . r . r . r . r … machte das Telephon – so anhaltend, daß ich hineilte, nur um das Rasseln zu töten …

„Hier Max Schraut … Ah, Sie, Herr von Balkwitz! Ja, wir sind wieder da … Zu uns kommen? Bitte … Und ganz verzweifelt sind Sie? – Kommen Sie nur …“

Ich legte den Hörer auf die Stützen, sagte zu Harald:

„Die Dokumente …! Eva hat sie uns wieder abgenommen … Nun sitzt die Schlinge dem Herrn von Balkwitz abermals an der Kehle!“ –

Theo von Balkwitz, der junge Ehemann, war zwanzig Minuten später bei uns – nicht allein …! Mit seiner Frau!

Und – seltsam genug – die Vernunftehe schien mit einem Male eine wirkliche Liebesheirat geworden zu sein.

Frau Erika hatte mir ja sofort gefallen. Und das Verständnis für ihre seelischen Vorzüge war nun auch offenbar dem bisherigen Lebemann Balkwitz aufgegangen …

Er saß Hand in Hand mit ihr auf dem Sofa … Beide etwas verstört …

„Ich habe meiner Frau alles gebeichtet, Herr Harst,“ begann er mit größter Aufrichtigkeit.

„Und – ich habe verziehen,“ nickte sie schmerzlich. „Oh, wenn nur das Unheil abgewendet werden könnte …! – Gib Herrn Harst den Brief, Theo …“

Und Harald nahm den eleganten Umschlag entgegen, betrachtete ihn …

Als Adresse nur:

Dir!!

„Wie erhielten Sie den Brief?“ fragte er und zog den Bogen heraus.

„Der Brief lag heute früh auf meinem Schreibtisch!“

„Wann fanden Sie ihn?“

„Um neun Uhr kam Erika in das Herrenzimmer … Da sah sie ihn …“

Harald las, und auch ich überflog die wenigen Zeilen:

„Übermorgen, am 23. August, werden die Papiere in Händen des Chefs der politischen Polizei sein. Ich werde sie ihm persönlich überbringen. – Grüße Herrn Harst!! Er soll sich doch ja nicht noch weiter anstrengen!!

Eva.“

Wieder also derselbe Hohn …! –

Harst blieb kalt, lächelte kaum merklich …

„Heute haben wir den 21. August … Noch lange hin zum 23., Herr von Balkwitz!“

„Sie – hoffen also, Herr Harst?“

„Gewiß … – Haben Sie noch Eltern, Herr von Balkwitz? An Ihrer Hochzeit –“

„Oh – sie wohnen droben in Ostpreußen auf einer kleinen Klitsche –“

„Nun – morgen vormittag werden sie hier in Berlin eintreffen. Das heißt: Schraut und ich! Und wir werden als Ihre Eltern bei Ihnen wohnen … Es muß sein. Sie erhalten heute abend noch eine Depesche, in der die lieben Gäste sich anmelden …“

Die verblüfften Gesichter des jungen Paares waren zum Malen …!

Harald setzte ihnen seine Absichten nun genauer auseinander.

„Eva Larda läßt Sie fraglos dauernd beobachten … Und deshalb kann ich diese Spione am leichtesten herausfinden, wenn ich einige Zeit dauernd in Ihrer Nähe bin, Herr von Balkwitz … Weil nun aber zweifellos die Larda auch jetzt schon weiß, daß Sie hier bei mir sind, muß dieser Besuch Ihrer Eltern so natürlich wie möglich inszeniert werden …“

Balkwitz war mit allem einverstanden. – –

Um halb acht brachte dann ein Kriminalbeamter, als Depeschenbote verkleidet, durch Vermittlung Becherts ein durchaus echt wirkendes Telegramm nach der Villenkolonie Grunewald, Gardener Straße 11, erste Etage, wo Balkwitz es auch den beiden Dienstboten zeigen sollte, so hatte Harald gewünscht.

Um halb elf aber schlichen wir beide in tiefster Dunkelheit durch den Gemüsegarten davon. An der nächsten Ecke erwartete Bechert uns mit einem Auto. Wir sprangen hinein, und jeder Verfolger hatte das Nachsehen.

Morgens waren wir in Eberswalde … Und um acht Uhr als Herr von Balkwitz nebst rundlicher Gattin trafen wir auf dem Stettiner Bahnhof wieder ein …

Hiermit begann eine der gelungensten und spannendsten Komödien, die wir je mit Ausdauer und Geschick durchgeführt haben.

Unsere Masken, unsere Kleidung, unsere Koffer – an alles war aufs sorgfältigste gedacht. Die Photographien seiner Eltern, die Balkwitz uns heimlich durch den Depeschenboten hatte zustellen lassen, waren von uns als Vorbilder für unsere Masken benutzt worden. Harst als älterer Agrarier hatte tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem Gutsbesitzer. Und bei mir sorgte ein Kneifer und eine künstlich noch verdickte Nase in gleicher Weise für die notwendige entfernte Ähnlichkeit.

Als wir die Begrüßungsszene auf dem Bahnsteig hinter uns hatten und im Auto saßen, platzte Frau Erika denn auch heraus:

„So etwas hätte ich nie für möglich gehalten! Besonders Sie als Dame, Herr Schraut!! Unglaublich – unglaublich täuschend!“

„Liebe Tochter,“ erwiderte ich würdevoll, „ich war früher jahrelang Schmierenschauspieler, und Charleys Tante war meine Glanzrolle …“

Worauf Harst noch mit Nachdruck sagte:

„Bitte – wir duzen uns immer – immer! – Euer Stubenmädchen, liebe Kinder, ist nicht einwandfrei … Sie könnte horchen. Also – – Vorsicht!“

„Nicht – – einwandfrei?!“

„Nein …! – Bechert hat schon festgestellt, daß dieses Euer neues Mädchen als Taschendiebin berüchtigt ist und in Wahrheit Leonie Restor heißt …“

Und das stimmte. Das hatte Bechert uns schon gestern abend mitgeteilt.

Und – das war die erste Bombe …!

Ganz entsetzt meinte Theo von Balkwitz:

„Also – – eine Spionin der Larda?!“

„Wahrscheinlich,“ nickte der Herr Gutsbesitzer …

 

3. Kapitel.

Der Keller.

Dieser sonnige Tag täuschte noch einmal die ganze Pracht des Sommers vor.

Als wir vor der schmucken Villa hielten, kam das Stubenmädchen Anna (Leonie Restor) herbeigeeilt, um die Koffer ins Haus zu schleppen. Auch der alte grauköpfige Diener der Engländerin, die im Erdgeschoß der Villa wohnte, bot seine Dienste an. Der Mann sprach nur gebrochen Deutsch und schulterte mit anerkennenswerter Geschicklichkeit unseren großen Koffer auf …

„Wie heißt die Miß eigentlich?“ fragte Harald auf dem Wege durch den Vorgarten seinen Herrn Sohn …

„Miß Mary Hatepeor … Sie ist begeisterte Kunstfreundin … Man bekommt sie kaum zu sehen. Zumeist steckt sie in den Museen und Gemäldegalerien …“ –

Die Eltern hatten den lieben Kindern natürlich allerlei von zu Hause mitgebracht: einen riesigen Schinken, Dauerwurst und anderes, – was wir für teures Geld durch Bechert hatten besorgen lassen.

Beim Frühstück bediente die fragwürdige Anna.

Ich fand, daß sie recht verschmitzte Augen hatte. – –

Und abends neun Uhr zogen sich die lieben Eltern dann in das kleine Fremdenzimmer zurück, müde von der Reise und, was mich betraf, sehr gespannt – auf die Nacht!

Harald hatte über das Rätsel der Spielkarten kein Wort mehr geäußert. Als wir nun allein waren, sagte er zunächst mit vorsichtig gedämpfter Stimme:

„Die rotblonde Leonie hat keinerlei Verdacht geschöpft. Ich habe sie genau beobachtet. Bisher haben wir gewonnen.“

„Hm – und die Spielkarten?!“

„Hörtest Du denn nicht, mein Alter?“

„Was?!“

„Nun, die Sache wurde doch schon durch Balkwitz geklärt …“

„Durch – Balkwitz?! – Gestatte: das verstehe ich nicht!“

„Sehr schade … – Hänge ein Handtuch über das Türschloß!“

Und dann begann er diese einzige, in den Flur mündende Tür sehr genau hier von innen zu besichtigen. Sie war eichenholzartig gestrichen.

„Nein – nirgends ein Gucklöchelchen … Jetzt die Wände … In unserer Lage kann man nicht klug genug sein!“

Doch auch die Wände gaben nichts zu beanstanden. –

So gingen wir denn im Dunkeln anscheinend zu Bett.

In Wahrheit kleideten wir uns um … Unsere Koffer enthielten alles Nötige.

Gegen elf Uhr wurde unser Fenster geöffnet. Eine Strickleiter senkte sich hinab und gestattete uns ein bequemes Verlassen unseres Zimmers.

Zwei „Bassermannsche“ Gestalten[3], waschechte Pennbrüder, kletterten nach unten und kauerten jetzt hart an der Hausmauer.

Was Harald vorhatte, ahnte ich nicht einmal. Ich glaubte, wir würden uns vor der Villa auf die Lauer legen und aufpassen, ob etwa Anna-Leonie heimlich Eva Larda irgendwohin Nachricht brachte.

Nichts von alledem …

Harald zog eine Stahlsäge und ein Fläschchen Öl hervor und begann geräuschlos das Gitter des schmalen Kellerfensters dicht neben uns zu zerschneiden.

Eine halbe Stunde verging …

Dann – – ein ganz schwaches Splittern, gerade als drüben auf der Straße eine schrille Autohupe die stille Nacht rebellisch machte …

Wir warteten noch zehn Minuten, ob das Eindrücken des Fensters jemand geweckt hätte.

Inzwischen fragte ich flüsternd:

„Was willst Du dort in dem Keller?“

„Möglich, daß Anna-Leonie sich dort mit dem Diener der Engländerin trifft, mein Alter. Der Diener ist niemals ein Engländer … Sein gebrochenes Deutsch war Mache, war Kunst, schlechte Kunst …“

„Hm – im Keller?! Welch eine Idee!!“ Ich begriff Harald wirklich nicht.

Dann – – stiegen wir ein …

Ein Kohlenraum war’s … Die Tür nach dem Kellergang stand halb offen … Auf Schuhen mit Gummisohlen huschten wir weiter … Harald mit der eingeschalteten Taschenlampe voran …

Der Gang reichte nur bis zur Hälfte der Villa. Die anderen Keller gehörten zur ersten Etage. Dies hier waren die der alten Miß.

Harst blieb stehen …

Der weiße Lichtkegel glitt über eine Holztür mit zwei Riegeln …

Sie waren gut geölt, schwammen in Fett … – Harald schob die Riegel zurück, zog die Tür auf …

Ah – eine zweite Tür … Auch zwei Riegel – – und – – ich fuhr mit dem Kopf nach vorn, stierte geradezu entgeistert auf – ein kleines Klappfenster aus Metall – mitten in der Tür …

Ich war mit einem Schlage im Bilde: wir standen hier – vor unserem Kerker! Hier waren wir gefangen gehalten worden – – hier – im Keller der Miß Mary Hatepeor!!

Ich sah Haralds Schmunzeln …

„Ja, mein Alter, die gute Eva Larda hätte ihrem Spielkartenrätsel doch nicht trauen sollen … Ihren Namen, das heißt den der Engländerin, hatte ich schon durch Kommerzienrat Walldorf erfahren: Ha – te – pe – or …! Und sie zeigte uns erst Herz mit Anfangsbuchstaben H : Ha, dann Treff mit T : Te und schließlich Pique mit P : Pe, – also die drei ersten Silben von Ha – te – pe – or!“

Ich verbeugte mich …

„Allerhand Achtung! Ich wäre niemals auf den Dreh gekommen!“

„Na – wenn nur einer von uns den „Dreh“ gefunden hat …! – So, werfen wir nun noch einen Blick stiller Wiedersehensfreude in unseren Kerker –“

Und da – platzte die dritte Bombe …

Die zweite war das Ha-Te-Pe gewesen.

Nun – die dritte! –

Lieber Leser, wenn Du Deine Phantasie spielen läßt, bevor Du weiterliest, wirst Du vielleicht denken: „Nun werden Harst und Schraut natürlich wieder eingesperrt!“

Fehlgeschossen!

Keine Rede davon …

Rate nur weiter, lieber Leser …

Inzwischen schiebt Harald auch die Riegel dieser Tür zurück, zieht die Tür auf …

Der Lichtkegel gleitet in den Kerker …

Und …

Ja – was geschah denn nun?!

Eigentlich – – nichts!

Nein, wir – sahen nur etwas …

Die Kartoffelsäcke …

Und – auf den Kartoffelsäcken – eine Gestalt – ein Weib …

Wer wohl – – wer?!

Ein gefesseltes, geknebeltes Weib … Eine, die wir nie im Leben hier zu finden vermutet: Frau – Erika von Balkwitz …!

Sie war genau so an die Wand gebunden wie wir damals …

Genau so brutal …

Ihre entsetzten Augen stierten uns aus fahlem Gesicht wie die Gespenster an …

Sie erkannte diese Strolche nicht …

Bis Harald rasch vortrat …

„Mein Gott, Sie – Sie hier, gnädige Frau …“

Und er nahm ihr den Knebel ab, löste die Stricke, half ihr empor …

Halb bewußtlos sank sie ihm in die Arme … zitternd, schluchzend …

Einen ganz leichten Morgenrock trug sie … Und der war stellenweise zerfetzt …

Leichte Morgenschuhe hatte sie an über hauchdünnen Strümpfen …

„Wie konnte das geschehen?!“ fragte Harald, selbst ganz fassungslos …

Frau Erika raffte sich auf …

„Theo … hatte noch zu arbeiten … Ich trat auf den Balkon hinaus – vor dem Salon … Da war plötzlich ein Mann neben mir – würgte mich, drückte mir ein Tuch aufs Gesicht … Hier erst erwachte ich – vor kurzem – eben erst …“

Sie zitterte, schmiegte sich an Harst …

„Fort von hier … Ich – ich werde sonst – ohnmächtig – und –“

Ihr schwanden wirklich die Sinne.

Rasch trugen wir sie hinaus – in den Kohlenkeller … Hoben sie durch das enge Fenster. Und Harst turnte mit ihr im Arm die Strickleiter empor – ich hinterher …

Wir kamen oben noch gerade zur rechten Zeit.

Schläge donnerten gegen die Tür des Fremdenzimmers.

„Ist Erika bei Euch, Papa?“ schrillte Balkwitz’ Stimme.

„Nein … Warte, ich öffne!“

Ich zog die Strickleiter hoch, schloß das Fenster …

Harst ließ Balkwitz ein … Dunkel war’s bei uns …

„Herr von Balkwitz,“ flüsterte Harald, „Ihre Gattin ist hier … Bitte – spielen Sie aber weiter Komödie, als wäre sie spurlos verschwunden … Alarmieren Sie die ganze Villa … – Hier ist Ihre Frau. Sie war geraubt. – Spielen Sie gut …!! Hinaus mit Ihnen!“

Und – die Komödie ging weiter …

Balkwitz zeigte sich leidlich geschickt.

Wir beide hatten derweil, während Frau Erika mit dem Gesicht nach dem Fenster hin dasaß, uns rasch umgezogen. Für die Masken der Eltern war keine Zeit. So schlüpften wir denn in unsere Anzüge – als Harst und Schraut, steckten die Clementpistolen zu uns – Taschenlampen desgleichen.

Und dann wieder hinab auf der Strickleiter …

In den Keller …

Frau Erika zog die Leiter empor …

Wir zur Kellertreppe, zu der Tür, die in den Wohnungsflur der angeblichen Engländerin führte …

Der Dietrich kreischte leise im Schloß …

Auf …

In den Flur …

Dunkel hier …

Weiter …

Lichtschein durch Portieren und matte Glasscheiben …

Stimmen …

Harst legt die Hand auf den Türdrücker …

Ein Lachen drinnen …

Satan Eva!! Eva, die Sünde …

Die Tür geht geräuschlos auf … Die Portieren klaffen nur handbreit …

Eva Larda in einem Sessel … Nicht die alte Engländerin, nein, ein fesches Mädel, sommerlich gekleidet … Und vor ihr ihre Kumpane, die Köchin, der Diener …

Eva lacht wieder …

„Mag er nur suchen …!!“

Haß, Eifersucht gellen in diesen rachsüchtigen Worten …

Der Diener sagt kopfschüttelnd:

„Trotzdem – ein Wagnis …!“

„Wagnis?! Für uns?! Wir sind hier sicher wie in Abrahams Schoß …!“

 

4. Kapitel.

Nochmals die Spielkarten …

„… Abrahams Schoß!“

Das ist kaum verklungen, als eine andere Stimme sich meldet …

„Sie irren, Eva Larda!“

Dann sind wir schon im Zimmer …

Die Pistolen drohen …

Und Harst ruft mir zu:

„Handschellen für die beiden!“

Und Köchin und Diener bieten willig die Handgelenke dar …

Sind viel zu bestürzt, um an Widerstand zu denken …

Müssen nun links an der Wand auf Stühlen Platz nehmen … –

Und Eva?!

Aufrecht sitzt sie da, fahl, versteinert …

Sekunden nur …

Dann schießt ihr das Blut zu Kopfe … Ein Blick trifft Harst – einer jener Blicke, in denen ohnmächtige Wut Mordgier aufflammen läßt …

Wir setzen uns auf das kleine Sofa. Meine Clement ruht entsichert in ruhiger Hand auf dem Schenkel – schußbereit …

Wir sind Herren der Situation …

Das heißt: wir glauben es zu sein!

Eva belehrt uns eines besseren …

Sagt kaltblütig:

„Wenn Sie annehmen, daß ich nun verloren bin, Herr Harst, dann – – irren Sie sich! Noch habe ich die Dokumente, die Balkwitz vernichten können!“

„Jedenfalls haben Sie Frau Erika nicht mehr …“ erwidert Harald ebenso kühl. „Der Keller unten ist leer; Frau Erika ist frei …“

Sie fährt doch zusammen …

Lacht leise, um das Erschrecken zu bemänteln …

„Nun gut, Herr Harst … Das Spiel mag ich verloren haben …“

Und ihre zarte feine Hand greift nach einem Spiel Karten, das auf dem Tischchen liegt.

Breitet die Karten auseinander …

Sagt: „Das andere Spiel verlieren Sie … Sie werden die Dokumente nie finden … Sie sind nicht hier … Und in diesem Moment bereits weiß mein Vertrauensmann, daß er die Papiere sofort der Polizei zustellen soll …“

Sie spricht mit so überlegenem Hohn, daß sie unmöglich lügen kann …

Auch Harst wird stutzig …

Schaut das Weib an …

Sie lächelt – lächelt …

Ihre Hand wendet die Karten um …

Findet das Herzenas …

Und dann – – betastet Harald plötzlich die mit einer feinen Spitzendecke belegte Tischplatte …

„Ah – eine Vertiefung … ein Klingelknopf! Sie – haben geläutet!!“

„Telegraphiert, Herr Harst – ein bestimmtes Zeichen!“

Harald preßt die Lippen zusammen …

„Die Leitung geht unterirdisch zur Nachbarvilla,“ höhnt Eva weiter. „Doch – meinen Freund dort würden Sie nicht mehr finden …“

Im Flur schrillt die Glocke …

„Es wird Balkwitz sein, mein Alter …“ Harst winkt mir zu. „Geh, sage ihm, daß die Komödie zu Ende ist, schicke ihn nach oben …“

Ich gehe … Evas Lachen begleitet mich. Ich höre noch: „Oh – die Komödie ist längst nicht zu Ende!“ –

Balkwitz verschwindet wieder … Ich eile in den Salon zurück …

Und Eva erklärt gerade:

„Lassen Sie uns drei laufen, und die Dokumente sind in Ihrer Hand, Herr Harst …“

Jetzt – jetzt lacht Harald …

„Ich denke, Ihr Vertrauter bringt die Papiere bereits zur Polizei?!“

Aber Eva nickt nur …

„Ich könnte ihn dennoch zurückhalten …“

„Und – wie?!“

„Indem ich ihm folge – ihn abfange –“

„Ach so!! – Halten Sie mich für so unbegabt, Eva Larda …“

Und sie – laut, ganz ernst: „Ja! Für etwas unbegabt – zuweilen …“

Harald zuckt die Achseln.

„Wir werden die Dokumente suchen …“

„Bitte –“

Schlag auf Schlag Rede und Gegenrede, wie blitzende Degenklingen – zwei Fechter, die sich ebenbürtig sind …

Harst will sich erheben …

„Bitte – einen Augenblick noch, Herr Harst … – Die drei Spielkarten – Sie haben das Rätsel gelöst …“

„Allerdings … Hatepe …“

„Danke! – Würden Sie noch ein zweites lösen können?“

Und sie hebt das Herzenas empor, zeigt es Harald …

Im selben Moment haben meine mißtrauischen Augen an den Portieren der Glastür eine Bewegung erspäht …

Meine Clement reckt sich vor …

Ich drohe:

„Hände hoch, der Kerl da …!“

Ein – Herr tritt ein – sehr elegant, Brille … grauer Bart …

Hebt die Arme gehorsam …

Harst springt empor, nimmt sein Taschentuch, will diesem vierten der Verbrechergilde die Hände auf den Rücken fesseln …

Will …

Eva Larda hat da mit kurzer Armbewegung mir … Pfeffer ins Gesicht geschleudert …

Durch die anderen Vorhänge zum Nebenzimmer schnellen sich zwei Gestalten herein …

Ich höre ein Röcheln – einen Fall …

Sehen kann ich nichts …

Ein Hieb gegen die Stirn – und ich rutsche vom Sofa.

Ohnmächtig …

Das Klingelzeichen hatte doch eine andere Bedeutung gehabt …

 

5. Kapitel.

Der Stein mit dem Kreuz.

Vielleicht waren es die brennenden Schmerzen in den Augen, die mich so früh wieder aus der Betäubung erweckten …

Zum Glück hatte ich Evas blitzschnelle Handbewegung nach meinem Gesicht hin richtig erkannt, hatte ebenso rasch die Augen geschlossen. Nur Pfefferstäubchen konnten meine Bindehaut zu diesen Tränenströmen und Schmerzen gereizt haben.

Kurz – ich erwachte …

Ich saß noch auf dem Teppich, war mit der Brust gegen die Beine des Tisches gesunken.

Tastete um mich …

Hätte aufheulen mögen wegen dieser Feuerlohe in meinen Augen …

Vergaß auch dies über der stillen Freude, daß man mir nichts weiter angetan hatte, daß ich – frei war …

Und erhob mich langsam – wie ein Blinder, tappte um den Tisch herum …

Mein Fuß berührte einen am Boden liegenden Körper. Ich bückte mich, fühlte, – es war Harald – bewußtlos …

Dann lauschte ich …

Stille ringsum. Eva und ihre Kumpane mußten geflohen sein …

Natürlich geflohen! Hatten sich gesagt, daß Balkwitz seiner Frau wegen doch sicherlich die Polizei angerufen hatte.

Geflohen – mit den Dokumenten!!

Und dieser Gedanke trieb mich vorwärts …

Ich – rannte gegen eine Säule …

Splitternd und krachend sauste eine große japanische Vase in den daneben stehenden Teewagen …

Ein Lärm, als ob ein ganzer Glasladen in Scherben ging …

Ein Lärm, der im Garten draußen Stimmen aufleben ließ …

Die Flurglocke rasselte … Ich rief – brüllte …

Ein dumpfer Krach … Man hatte die Flurtür gesprengt … Schritte, Stimmen …

Ich erkannte Kriminalkommissar Wächters tiefen Baß …

„Herr Schraut, Sie – Sie?!“

Und dann Fragen – Antworten …

Dann träufelte man mir Olivenöl in die brennenden Augen … Beamte bemühten sich um Harst …

Balkwitz erschien … Die Wohnung der Miß war ein Taubenhaus geworden … Schränke wurden durchsucht. Kluge Hände wühlten nach verborgenen Dingen …

Ich saß im Sessel neben dem Tische, durch dessen eines Bein die elektrische Leitung geführt war. Wächter kam aus Evas Schlafzimmer …

„Herr Schraut, die Hochzeitsgeschenke sind zur Stelle! Ein ganzes Lager von Diebesbeute steckte in einem geheimen Wandbehälter … Eine Falltür geht vom Schlafzimmer in den Keller –“

Mir war das alles herzlich gleichgültig.

„Wie steht’s mit Harst?“

„Oh – er liegt ja neben Ihnen auf dem Sofa, lieber Schraut, hat die Augen schon offen …“

Und dann die liebe, klare Stimme meines alten Harald:

„Ist Balkwitz da?“

„Hier, Herr Harst …“

„Haben Sie etwa verraten, daß wir die Anna-Leonie Restor beargwöhnen …?“

„In keiner Weise –“

„Dann ist es gut … Ich werde den Schwerkranken spielen. Lassen Sie mich nach oben in das Fremdenzimmer – ins Bett bringen … Auch Schraut … Wie spät ist es?“

„Halb zwei …“

„Gut, sehr gut … Dann also nach oben …“ –

Und um zwei Uhr war wieder Ruhe in der Villa … Die Polizei hatte sich entfernt. Wächter wußte nichts von den Dokumenten. Er ließ jetzt den Riesenapparat der Kriminalpolizei spielen, um Evas habhaft zu werden. Er war überzeugt, daß sie nicht entwischen könnte. Die beiden Autos der „englischen Miß“, also Evas, standen unten in der Garage. Die ganze Bande war zu Fuß in wilder Hast geflüchtet, nachdem man uns niedergeschlagen hatte …

Wir beide lagen in den Betten des kleinen Fremdenzimmers. Nicht mehr als die Eltern Balkwitz’, als Harst und Schraut …

Soeben hatte Frau Erika das Zimmer verlassen. Harald wünschte eine starke Tasse Kaffee und hatte ganz leise hinzugefügt:

„Schicken Sie die Anna damit herein, gnädige Frau!“

Meine Augen waren wieder leidlich in Ordnung … Ich blinzelte Harald an …

„Was soll das?!“

„Ein Versuch, mein Alter … Vielleicht trifft meine Vermutung zu …“

„Und die wäre?“

„Bedenke folgendes: Die Dokumente dürften unten in Evas Wohnung verborgen sein – so gut, daß auch die Beamten das Versteck nicht fanden. Eva wieder wird die Papiere bei der überstürzten Flucht kaum mitgenommen haben, weil sie befürchten mußte, abgefangen zu werden.“

„Ah – verstehe! Nicht unmöglich!“

„Vielleicht holt Anna-Leonie die Dokumente noch in dieser Nacht und händigt sie Eva oder einem ihrer Leute aus – vielleicht … Zu diesem Zweck muß sie hier die Balkwitzsche Wohnung verlassen. Wir sind ihr im Wege. Sie weiß, daß Harst und Schraut und nicht die Gutsbesitzer Balkwitz-Eheleute hier abgestiegen sind. Sie wird vorsichtig sein. Mich schätzt sie als den Gefährlicheren ein … Etwas in den Kaffee, – und ich schlafe wie ein Toter … Nicht Gift – bewahre! Ein Tränklein, ein Kügelchen … Solche Leute haben solche Sachen stets bei der Hand!“

All das klang wahrscheinlich. Und die Folge für mich: Jagdfieber, nervöse Erwartung! –

Doch – Anna-Leonie blieb aus. Balkwitz und Frau brachten den Kaffee. Das Mädchen öffne nicht, behaupte, durch die Aufregungen halb krank zu sein und liege in ihrem Mansardenstübchen im Bett.

Harald lächelte …

„Gute Nacht! Geben Sie mir Ihre Flur- und Haustürschlüssel, Herr von Balkwitz!“

„Und – und – die Papiere?!“

„Sollen Sie noch vor acht Uhr morgens haben!“ –

Wir waren allein. Harst schaltete nun auch seine Nachttischlampe aus. Im Dunkeln, nur zuweilen die Taschenlampen vorsichtig benutzend, kleideten wir uns an – ohne jede Eile …

Dann schlichen wir in den Flur …

Die Treppe hinab … Schritt für Schritt … Immer wieder horchend …

Unten im Erdgeschoß, wo der Kellereingang für die Balkwitzsche Wohnung sich befand, standen wir wohl fünf Minuten regungslos …

Dann – in den Keller … Wir hüteten uns, Licht zu machen. Öffneten das Fenster, das dem des Nachbarkellers, wo wir die Eisenstangen herausgesägt hatten, am nächsten lag, und zerschnitten auch hier das Gitter. Nun brauchten wir nur vier Schritt an der Hauswand entlangzukriechen und waren vor dem anderen Fenster, konnten in den Kohlenkeller hinab …

Wieder ging’s Schritt für Schritt weiter … Immer wieder mit Horchpausen … Das Anschleichen Karl Mayscher Indianer war Stümperei im Vergleich zu unserer Lautlosigkeit …

Nun die Kellertreppe …

Schon wollte ich den Fuß dicht hinter Harst auf die unterste Stufe setzen, als ein Geräusch uns schier erstarren ließ …

Dann drängte Harald rückwärts …

„Unter die Treppe, mein Alter …“

So knieten wir denn hier zusammengeduckt hinter einer leeren Kiste …

Stille …

Eine Maus raschelte irgendwo …

Dann wieder dasselbe Geräusch: ein hartes Scharren, Kratzen, als ob zwei Mauersteine gegeneinander gerieben werden …

Jetzt drüben am anderen Ende des Kellerganges ein feiner dünner Lichtstrahl …

Wieder Dunkelheit …

Stille …

Die Maus raschelt neben uns in Ballen von Holzwolle.

Wir warten – warten …

Einmal scheint es mir, als ob ich ganz leichte Schritte höre – ein Tappen nur …

Harst flüstert: „Die Falltür nach dem Schlafzimmer!!“

Ich verstehe: jemand hat die Falltür benutzt, um nach oben zu gelangen – jemand – Anna etwa?!

Harst zieht mich aus dem Versteck hervor – nach vorn – nach links – in ein Gelaß, das mit Kisten halb angefüllt ist. Unsere Lampen blitzen auf, erlöschen …

Die Kisten stehen so, daß sie nach der Decke hin eine Art Leiter bilden. Und oben in der Decke ein Loch, dessen Deckel, mauerähnlich bemalt, nach unten hängt …

Wir steigen die Kistentreppe empor, finden auch den oberen Deckel der Falltür zurückgeklappt – sind in der Miß schlichtem Schlafzimmer …

Schleichen weiter …

Schritt für Schritt … Durch das Eßzimmer – bis zu der Salontür …

Die Tür offen … Die Portieren verschoben …

Ein Blick – –: vor dem Tische am Sofa eine Gestalt – ein Mann …

Gebückt – eine Blendlaterne über die auseinander gebreiteten Spielkarten haltend …

In den Karten wühlend, suchend …

Bis die beweglichen Finger eine Karte finden: Treffas!

Finger einer Frau sind’s … Die Gestalt knabenhaft schlank … Eva – Eva!!

Und tiefer bückt sie sich …

Scheint auf der Rückseite der Karte etwas zu entziffern.

Harst tritt hinter sie …

Reißt ihr die Karte weg … Und meine Lampe flammt auf: das Stubenmädchen ist’s – Anna-Leonie Restor, die Taschendiebin!

Sie stiert uns an …

„Bewache sie!“ sagt Harst …

Er schaltet das Licht ein. Blendend hell wird’s im Zimmer …

Das Mädchen zittert … Ihr Männeranzug sitzt tadellos … Diese Verkleidung trägt sie nicht zum ersten Male.

Harst prüft das Treffas …

„Ah – sehr interessant …“ meint er. „Eva Larda hat für Sie hier einen schriftlichen Befehl hinterlassen …:

„Sechster Stein von der Kohlentür – Schimmelfleck in Kreuzform – Papiere zum Fenster hinaus in die Fliederbüsche links von der Haustürtreppe werfen … – Vorsicht …“

Telegrammstil, trotzdem verständlich,“ nickt er. „Kommen Sie mit, Anna-Leonie …“

Wir gehen in den Keller hinab.

Der Ziegelstein mit dem Schimmelfleck ist bald gefunden, läßt sich herausziehen …

Wir – haben die Dokumente! Ein Stück Wachsleinwand umhüllt die ominösen Papiere … –

Als Harald sie zehn Minuten später Herrn Theo von Balkwitz übergibt, schimmern in dessen Augen Tränen …

Er wendet sich schnell ab, geht zum Kamin … Die Papiere flammen auf …

Und da sagt Balkwitz leise:

„Sie taten es Erikas wegen, Herr Harst … Ich – ich war eine Vernunftehe eingegangen. Nun – nun ist’s doch Liebe geworden … Und diese Liebe haben Sie gerettet!“ –

Anna wird von der Polizei abgeholt. Sie verrät nichts von Evas Tun und Treiben. Sie bleibt verstockt. Nach drei Tagen findet man sie tot in ihrer Zelle …: Herzschlag!

Eva ist spurlos verschwunden …

Die Polizei sucht … Wir beide suchen … Ohne Erfolg …

Am vierten Tage nach jener Nacht morgens um neun Uhr sagt Harald am Frühstückstisch zu mir:

„Hier steht eine recht merkwürdige Geschichte in der Zeitung …

„Die Damenboxkämpfe im Cafee Royal!“

so lautet die Überschrift … Ich wette: da hat Eva ihre zarten Fingerchen mit im Spiel gehabt …“

Und – so geht die Jagd nach Eva Larda weiter …

Kann ich für den zweiten Teil einen besseren Titel finden als:

Die Boxkämpferin

– – ?!

Wohl kaum …!!

 

 

Die Boxkämpferin.

 

1. Kapitel.

Gilda, die Maskierte.

Der Leser wird infolge dieses Titels nicht in den Fehler verfallen und annehmen, daß etwa Eva Larda als Boxkämpferin im Cafee Royal im Berliner Stadtteil Schöneberg aufgetreten ist und daß wir sie dort abfaßten.

Nein – so geschmacklos wäre Eva niemals gewesen!

Anderes ging mit dieser Boxkämpferin vor – ganz anderes.

Zunächst eine Bemerkung allgemeiner Art:

Gewohnheitsverbrecher, die aus dem Zuchthaus, Gefängnis oder aus der Untersuchungshaft entlassen werden und jeglicher Barmittel, guter Freunde oder Freundinnen entblößt sind, pflegen aus Not umgehend „ein neues Ding“ zu drehen und dann stets ohne die übliche Vorsicht und Umsicht. Die Zahl der Übeltäter also, die gleich nach den ersten paar Atemzügen freiheitlicher Luft wieder ins Kittchen wandern, weil die allzeit rührige Polizei sie schleunigst beim Schlafittchen kriegt, ist sehr, sehr groß. Ich betone: deshalb so groß, weil diese eben erst entlassenen Herrschaften aus Not ihr Gewerbe ohne die gehörige Sorgfalt wieder aufgenommen haben! –

Und nun hier der Zeitungsartikel, aus dem Harald beim Vorlesen einzelne Stellen besonders betonte:

Die Damenboxkämpfe im Cafee Royal.

Seit dem 15. August treten im Cafee Royal bekanntlich die zwölf internationalen Sportladys auf, locken allabendlich Hunderte von begeisterten Anhängern der – hm!! – edlen Boxkunst in die weiten Räume des Royal und zeigen beim Lichte von grellen Scheinwerfern ihre in Badeanzügen steckenden jugendlichen Körper in all jenen nervenprickelnden Stellungen, die nun einmal ein Faustkampf mit sich bringt. – International ist die Truppe – ohne Zweifel! Eine Japanerin, eine Chinesin, eine Negerin und sogar eine Türkin zählt mit zu den zwölf. Der Star des Ganzen aber ist Gilda, die Maskierte, wie sie auf dem Programm genannt wird. Diese Gilda, die stets mit einer Seidenmaske vor dem Gesicht auf der Bühne erscheint, hat selbst den Detektivkünsten der findigsten Reporter unseres Blattes getrotzt: niemand weiß, wer sie ist, wo sie wohnt, wie sie in Wahrheit heißt. Der Impresario der Truppe, ein Engländer namens Loog, hat Gilda erst hier in Berlin engagiert als Ersatz für ein abhanden gekommenes anderes Mitglied. Dieses „Abhandenkommen“ soll nicht selten sich ereignen, da die boxenden Damen unter den Zuschauern sehr leicht Freunde finden, die sie der Unbequemlichkeit, den zarten Körper und das zarte Gesicht den Hieben der gepolsterten Handschuhe auszusetzen, gern für einige Zeit entheben: – Liebe!! – Jedenfalls: Gilda, die Maskierte, wahrt ihr Inkognito mit aller List echt weiblicher Vielseitigkeit. Im Cafee erscheint sie tief verschleiert. So tief, daß man vermuten könnte, ein uraltes, häßliches Gesicht verberge sich hinter dem vielfachen Gespinst. Doch: der Körper Gildas straft alle Spötter Lügen! Dieser Körper ist jung, sehnig, wunderbar schön im wechselnden Spiel der Bewegungen! – Wenn man versucht, Gilda nach der Vorstellung zu folgen, wird man genau so nutzlos diese Zeit opfern: Gilda geht tief verschleiert davon, springt dann irgendwo ganz plötzlich in ein Auto, von dem sie erwartet wird, und – – jagt davon.

Gestern nun wurde das Royal gegen zehn Uhr abends der Schauplatz einer merkwürdigen Tragikomödie.

Seit Tagen saßen da jeden Abend zwei ältere Herren dicht an der Bühne – zwei, die man für „biedere“ Bürger halten mußte, denen die Inflation Schlauheit und – ein Konto in der Schweiz beschert hatte, – zwei, die die Damen mit Sekt traktierten und stets eine Prämie von hundert Mark aussetzten, kurz: zwei ganz leidenschaftliche Sportler!

Während nun Gilda, die Maskierte, gegen Suleima, die Türkin, in den Ring trat, überreichte ein Kellner einem der beiden „Raffkes“ einen Briefumschlag. In dem Umschlag steckte ein Zettel, der die beiden Raffkes zu jähem Zorne reizte, obwohl die beiden Sätze:

Bemühen Sie sich nicht weiter! Es hat keinen Zweck!

doch wahrlich nicht beleidigend, höchstens spöttisch waren.

Der Kellner erklärte, Fräulein Linkström, die Schwedin der Truppe, habe ihm den Brief übergeben. Da die splendiden Gäste das Lokal für immer verlassen wollten, da der Geschäftsführer also eine Schädigung der Abnahme der Sektvorräte und der Impresario Loog wieder den Ausfall der Prämien fürchtete, sollte die Linkström Rede und Antwort stehen. Sie war verschwunden. Langsam beruhigten sich die beiden Sportfreunde wieder, und unter dem Jubel der Zuschauer stifteten sie abermals die üblichen hundert Mark. – Die Sache wäre belanglos, wenn nicht unser W.R.-Mitarbeiter noch gestern festgestellt hätte, daß Fräulein Nora Linkström nicht dort wohnte, wo sie angeblich ein möbliertes Zimmerchen gemietet hatte, und wenn nicht aus der Mitnahme ihrer Sportgarderobe und aus dem Verschwinden des goldenen Handtäschchens der Frau des Royal-Besitzers gefolgert werden kann, daß besagte Nora eine recht düstere Figur aus den Tiefen menschlicher Gesellschaft sein muß … Denn ganz zweifellos ist es nur diese Nora gewesen, die das goldene Handtäschchen samt Inhalt von dreihundert Mark mitgehen hieß – nur sie! Außerdem hat Mister Loog diese „Schwedin“ erst vor drei Tagen – auch als Ersatz – engagiert.

Unter diesen Umständen erscheint der Inhalt des Zettels: „Bemühen Sie sich usw.“ etwas rätselhaft …“

Es folgten noch einige witzige Bemerkungen des Verfassers des Artikels, die hier nicht von Interesse sind. –

Harald legte die Zeitung beiseite …

„Nun?!“ fragte er.

„Hm – scheint so, als ob – als ob diese Schwedin durch Zufall ähnliche Worte gewählt hat, wie Eva sie uns wiederholt weihte – aus Hohn!“

Harst nickte. „Es scheint so … Und die Möglichkeit liegt nahe, daß die beiden Raffkes von ihr verkannt worden sind …“

Da begriff ich …

„Sie hielt sie – für die verkleideten Harst und Schraut?“

„Wahrscheinlich … – wahrscheinlich glaubte sie, wir wären hinter ihr her … Vor drei Tagen ist sie engagiert worden … Es – – kann Eva sein, obwohl ich’s nicht für gewiß halte … Jedenfalls ist die Wahl dieser spöttischen Sätze niemals ein Zufall … – Fahren wir ins Royal … Die Geschichte muß geklärt werden. Natürlich in Maske …“ –

Gegen elf Uhr betraten zwei blondbärtige Herren das in der Hauptstraße gelegene Cafee, setzten sich an das eine Fenster und bestellten Bouillon, Brötchen und Likör.

Der verschlafene Kellner war für ein Gespräch leicht einzufangen.

Um halb zwölf kannten wir die Namen der beiden „Raffkes“ und auch ihre gemeinsame Wohnung, beide Junggesellen, Rentner, Besitzer einer jener Villen in der Hauptstraße, die sich einst die berühmten Schöneberger Millionenbauern aufschmettern ließen, als Berlin sich so rapide nach Westen zu ausbreitete und jeder Kartoffelacker eine Lebensrente sicherte. –

Die Herren Grimm und Schulz waren daheim. Die Villa stank nach Geld und Schweizer Wertpapieren. Die Raffkes empfingen uns mit äußerster Zurückhaltung. Wir hatten uns als – Beamte des Wohnungsamtes melden lassen, die bei der Bevölkerung aller Schichten bekanntlich – äußerst beliebt sind.

Als wir die beiden Raffkes erst mal in Wortnähe hatten, lüftete Harald lachend die Maske – halb nur:

„Wir sind Zeitungsreporter, meine Herren … Arme Teufel mit großer Familie … Wir bitten lediglich um Auskunft über das gestrige Vorkommnis im Cafee Royal, das Sie beide gleichsam berühmt gemacht hat …“

Die Herren Speckwänste lächelten geschmeichelt, und fünf Minuten drauf hatten wir den zerknitterten Zettel in der Hand …

„Haben Sie denn der Schwedin so etwas den Hof gemacht?“ meinte Harald lächelnd und schob den Zettel in die Tasche …

„Nee,“ meinte Herr Schulz. „Nich in die Hand! Über so was sind wir raus … Man so’n bißken geschäkert haben wir mit ihr …“

„Hm – eine Photographie von ihr besitzen Sie wohl nicht?“

„Nee – nur von die janzen Mächens … Das heißt: die Gilda ist nicht mit drunter. Nur elfe und der Impresario … Jestern hat er uns die Ansichtskarte verehrt …“

Und Herr Schulz wälzte sich zum Schreibtisch und holte das Bild.

Ein Blick genügte: Nora Linkström war uns fremd!

Wir verabschiedeten uns …

Draußen auf der Straße meinte Harald:

„Lieber Alter, es ist auch nicht die Schrift der Eva … Den Zettel hat doch diese Linkström geschrieben … Trotzdem bleibe ich dabei, daß hier Eva Larda irgendwie beteiligt ist und daß man Grimm und Schulz für uns beide gehalten hat.“

„Hm …“

„Du kannst mit Deinem Grunzen des Zweifelns getrost noch warten … Wir werden ja sehen, wer recht behält … Jedenfalls – jetzt zu Mister James Loog, dem Anglo-Amerikaner …“

Auch dessen Wohnung hatte uns der Kellner verraten – in der Kolonnenstraße unweit des Schöneberger Ringbahnhofs. –

Herr Loog war soeben erst aus den Federn gekrochen. In seinem möblierten Zimmer sah es wüst und schmutzig aus. Er war ein kleiner hagerer Kerl unbestimmten Alters und hatte eine ausgesprochene Gaunervisage.

Diese leuchtete vergnügt auf, als Harald als Reporter ihm andeutete, wir würden für seine Truppe Reklame machen.

Dann begann das Interview …

Harst: „Sie haben also keine Ahnung, wo die Linkström wirklich wohnt?“

Loog: „Nein, leider nicht … Das Frauenzimmer hat uns bloßgestellt, die Canaille! Hat das goldene Handtäschchen gestohlen und noch …“ Dann hüstelte er verlegen.

Harst: „Was denn noch? – Diskretion Ehrensache!“

Loog: „Mir – mir hat die Canaille die Brieftasche gemaust … Gestern – im Künstlerzimmer … Gab mir einen Kuß – und verduftete – das Aas!“

Harst: „Es ist natürlich keine Schwedin …“

Loog: „Bewahre – ’ne Berlinerin … Auch in meinen Adern rollt Berliner Blut … Unter uns gesagt: ich heiße eigentlich Bock und war drei Jahre Gläserspüler in Neuyork …“

Harst: „Sie wissen also gar nichts über die Linkström?“

Loog: „Na – im Vertrauen, meine Herren: sie heißt eigentlich Nora Link … Aber – nur nichts der Polizei verraten! Nur nicht. Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben …“

Harst: „Und die Gilda?“

Loog: „Bei Gott – keinen Schimmer, wer das ist! Aber – mein Star ist’s! Und – fraglos was Besseres – fraglos! Das merkt man …“ – Und gedankenvoll rieb er seine Backe, was darauf schließen ließ, daß Gildas zarte Hand unzarte Zärtlichkeiten dieses kleinen Scheusals gebührend abgewehrt haben mochte.

Loog (fortfahrend): „Sie kriegt ihr Geld – und damit ist’s dann auch aus mit den Beziehungen … Mit den übrigen Mächens redet sie kaum ’n Ton … Aber boxen kann sie – – boxen!! Unglaublich!“

Harst: „Dann danken wir Ihnen, Herr Loog … – Wiedersehen heute abend … Wiedersehen!“

 

2. Kapitel.

Bittere Not …

„Gilda ist – Eva!“ platzte ich heraus, als wir dem Schöneberger Bahnhof nun wieder zuwanderten.

Harst schwieg …

Wir kauften am Schalter Fahrkarten bis Schmargendorf und warteten unten auf dem Bahnsteig auf unseren Zug.

Harst schwieg, rauchte eine Mirakulum, sagte dann plötzlich. „Sicher ist, daß Evas Spione nicht mehr hinter uns her sind. Ich habe genau aufgepaßt in diesen Tagen. Unser Haus wird nicht beobachtet.“

„Nun – und …?!“

„Ich behaupte, die Bande hat sich aus Vorsicht zerstreut – vorläufig. Auch Wächter und Bechert sind ja der Ansicht, daß Eva Larda Führerin einer ganzen Diebs- und Gaunergesellschaft gewesen ist …“

„Nun – und?!“

„Da kann eben diese Nora Link aus Not in Loogs Truppe eingetreten sein. Die Bande ist eben ohne Mittel. Die Beute, die in der Villa, in der Wohnung der „Engländerin“, gefunden wurde, war der Reichtum der Genossenschaft … Vorläufig sind sie arm … Vorläufig arbeitet jeder auf eigene Faust …“

„Also Nora Link Mitglied der Bande?!“

„Ja, … Sie kannte deshalb auch die höhnischen Redensarten, mit denen Eva uns wiederholt erfreut hat. Und weil sie eben Grimm und Schulz für Harst und Schraut hielt, ahmte sie die Meisterin Eva nach! Der Zusammenhang ist klar –“

Unser Zug lief ein …

Wir mußten natürlich in dem Abteil zweiter stehen – in drangvoll fürchterlichster Enge …

Und hier im Zuge, zwischen den Bahnhöfen Ebersstraße und Friedenau-Wilmersdorf, fühlte ich beim Schleudern des Wagens in der kurzen bekannten Kurve eine Hand an meiner Weste …

Eine – kaum merkliche Berührung …

Und – packte zu, umkrallte das Handgelenk des an mich angepreßten Weibes und flüsterte:

„Stecken Sie meine Uhr wieder in die Westentasche zurück!!“

Die hagere, vergrämt aussehende Frau war leichenfahl geworden. In großen dunklen Augen war ein heißes Flehen: Schonen Sie mich!!

Ich gab die Hand frei, knöpfte die Jacke und den leichten Mantel zu und schaute mir die Taschendiebin genauer an.

Ja – vergrämt sah sie aus … Mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein. Das Haar war bereits ergraut …

Ich nickte unmerklich und wandte den Kopf …

In Friedenau-Wilmersdorf stieg ein Fahrkartenkontrolleur ein. Die Taschendiebin zeigte ihre Monatskarte zweiter Klasse vor. Der Kontrolleur prüfte, sagte halblaut:

„Eine plumpe Fälschung … Können Sie sich ausweisen?!“

Alles wurde aufmerksam …

Zitternd öffnete die Frau ihr Handtäschchen – reichte dem Beamten eine polizeiliche Anmeldung und eine Mitgliedskarte der Ortskrankenkasse …

Ich konnte den Namen, die Adresse mitlesen:

Frau Nora Link, Kl. Hamburger Straße 18.

Nora – – Link …!!

Link …!! – Der Name fuhr mir ins Hirn wie ein Wetterstrahl …

Gewiß – es konnte ein Zufall sein! Nora – Link!! Aber auch der Vorname stimmte: Nora – – Nora Linkström!!

Der Beamte notierte …

„Das weitere wird sich finden …“ Er ging ins nächste Abteil.

Schon hielt der Zug auch in Schmargendorf.

„Kommen Sie mit,“ raunte ich der Frau zu. „Und – keine Angst. Nur ein paar Fragen …“

Harst war sehr erstaunt, als ich die Frau dann vor dem Bahnhof heranwinkte.

Hilflos, verzweifelt stand sie vor uns …

Schluchzend flehte sie:

„Schonen Sie mich doch …“

Harst hatte bereits begriffen. Seine grauen Augen ruhten mit gewissem Mitleid auf der Diebin.

Ich flüsterte ihm hastig ins Ohr: „Sie heißt Nora Link! Nora – – Link!“

„Ich las den Ausweis mit,“ nickte er. Und wandte sich der Vergrämten zu:

„Sie machen nicht den Eindruck einer Gewohnheitsverbrecherin …“

Da weinte sie laut heraus …

„Not – Not! Mein Mann seit Monaten krank … Keine Arbeit … Unsere Tochter hat uns verlassen – verdorben, verkommen … Unser kleines Vermögen ist hin … Inflation …“

Sie konnte nicht weitersprechen.

„So – – Ihre Tochter … verdorben?! Durch wen, Frau Link? – Aber kommen Sie weiter … Man wird auf uns aufmerksam.“

Wir schritten über die Brücke.

„Durch – durch eine Freundin natürlich, Herr … Durch eine, die jetzt von der Polizei gesucht wird …“

Wir horchten auf.

„Und wie heißt dieses Weib, Frau Link?“ – Haralds gütiger Ton weckte in der Seele der Gesunkenen Dankbarkeit und Mitteilungsbedürfnis …

„Larda – – Eva Larda, Herr … Vielleicht haben Sie’s in der Zeitung gelesen … Die Larda hat zwei Menschen umgebracht … Und der Detektiv Harst hat sie nicht fangen können … Oh – das ist eine ganz Ausgekochte … Mit Nora war sie zusammen auf der Gewerbeschule … Vor einem halben Jahr hat sie sich an Nora herangemacht … Und eines Tages war Nora weg, … wohnte für sich allein in der Sybelstraße in Charlottenburg … Sie war mündig … Ich konnte ihr nichts verbieten … Und –“

„So, so! – Wo wohnte sie denn zuletzt? Hat sie Sie nie unterstützt?“

„Nie mehr … Mein Mann hat sie rausgejagt … Wie eine Dirne herausgeputzt kam sie zu uns … – Zuletzt – ja, da wohnte sie in der Neuen Potsdamer Straße – die Umfahrtstraße von der Potsdamer zur Lützowstraße. Nummer zwei – fein möbliert …“

„Sie waren also heimlich bei ihr, Frau Link?“

„Ja … Betteln – betteln … Wir hungerten ja! Keine Miete bezahlt, das Gas schon abgesperrt … Vor drei Tagen war ich da – vormittags …“

Ah – also am Vormittag nach jener Nacht in der Villa Balkwitz!!

„Und – Nora half Ihnen?“

„Nein – nein. Sie hatte selbst nichts. Und einen alten Herrn hatte sie bei sich … Oh, ich machte, daß ich wieder wegkam …“

Harst zog seine Brieftasche …

„Hier haben Sie hundert Rentenmark, Frau Link … Ich kenne mich auf Menschen aus. Ich kann mir denken, wie Sie Taschendiebin geworden: erst nur Lebensmittel in Geschäften – und dann der erste schwerere Versuch …! – Weinen Sie nicht … Ich werde mich weiter um Sie kümmern. Keinen Dank … Gehen Sie nur …“

Sie stand – starrte ihn an.

„Mein Gott, gibt’s denn wirklich noch gute Menschen! Mein Gott, ich …“

Da schritten wir eilends davon …

Schwiegen …

Bis Harst sagte:

„Das ist eine Spur, mein Alter … Das ist bestimmt eine Spur! Der alte Herr bei Nora Link kann recht gut Eva gewesen sein. Sie trägt ja mit Vorliebe Herrensachen. Denke an den Pavillon Frou-Frou …“

Oh – ich dachte schon daran … Der schlanke Herr im Frack: Eva! Und die wahnsinnige Jazzbandkapelle – das ganze Weltstadtmilieu … – Im vorigen Band habe ich’s geschildert, im Gestohlenen Auto … –

Wir wurden lebhaft. Wir vergaßen Frau Link. Wir waren nur noch die hartnäckigen, erbarmungslosen Jäger. Und Eva Larda das Wild …

Ein leeres Auto nahte …

Wir hinein: Potsdamer Straße, Ecke Lützow! – Dort stiegen wir aus, mitten im Lärm der bewegten Verkehrsstraße …

Und – aus diesem Lärm mit wenigen Schritten hinein in den idyllischen Frieden der Neuen Potsdamer!

Wer sie nicht kennt, dem rate ich dringend, einmal dort im Bogen durch die Stille dieser weltabgeschiedenen Gärten und Häuser dahinzuwandeln …

Eine Welt für sich …

Eine etwas düstere, träumerische Welt …

Wenn man dort weilt, stellt man sich unwillkürlich vor, daß in diesen Häusern alte würdige Matronen wohnen, deren alte, vertragene Kleider nach Lavendel duften …

Und – hier wohnte Nora Link! Boxkämpferin! Hier …

Wir kamen an Nummer 2 vorüber …

Papptafeln hingen an der Haustür:

Möbl. Zimmer
zu vermieten!

Ja – die möblierten Zimmer waren jetzt im Überfluß zu haben. Jede dritte Familie vermietet. Not schreit an allen Ecken und Enden … –

Ein Dienstmädchen führte einen Schäferhund an einer Leine ins Freie.

Harst sprach sie an …

Ob sie ihm sagen könnte, ob man hier in Nr. 2 ein gutes, sauberes Zimmer bekäme?

Ja – die Generalin im ersten Stock vermietete ja … Jetzt ständen zwei Zimmer leer …

„Wohnen auch Damen dort?“

„Ja … gewiß … – leider!“

Und das Mädchen machte ein sittlich entrüstetes Gesicht.

Ob das wohl Nora galt?! – –

Nachmittags mieteten ein alter Herr und ein dickes Fräulein die Zimmer bei der Generalin Langhoff. Zwei Zimmer, die nebeneinander lagen. Die Verbindungstür war durch Schränke verstellt. Der Herr und das dicke Fräulein kamen mit einer halben Stunde Zwischenraum, kannten sich nicht, waren … von auswärts, nur in Geschäften in Berlin und sahen so unscheinbar wie möglich aus: wir!!

Und neben Haralds Zimmer wohnte in dem dreifenstrigen größten Raume Nora Link …!! –

Noch ein Wort über die Generalin …

Auch eine durch die Inflation geknickte Edelblume … Zwei vergilbte Töchter dazu, die die Hausmädchen spielten.

Not … Not! –

Abends waren wir beide in unsrem eigentlichen Heim in der Blücherstraße. Machten Toilette für das Cafee Royal. Hatten von Nora nichts zu sehen bekommen.

Harst war mit seiner Reportermaske zuerst fertig, saß und studierte die Abendzeitungen …

Dann kam Besuch – ein Klient. Mathilde brachte die Karte herein, meldete an:

Generaldirektor Doktor Benatzki,
Berlin W., Neue Potsdamer Straße 5.

Harald rief mich aus dem Ankleidezimmer herbei.

„Da, mein Alter … Neue Potsdamer!! – Passe auf: der Generaldirektor ist bestohlen worden!“ –

Mathilde ließ den Klienten ein.

Die hagere vornehme Gestalt des bekannten Leiters der großen Autofabriken saß im Klubsessel und meinte:

„Zum ersten Male sehe ich verkleidete Detektive …“

Seufzte …

„Ich komme leider in einer sehr unangenehmen Angelegenheit, Herr Harst …“

„Diebstahl?“

„Nein – denn das wäre zu ertragen … Etwas Schlimmeres …“ Er seufzte wieder. „Kein – kein eigentlicher Diebstahl, Herr Harst … Denn unter nahen Verwandten gibt es strafrechtlich kein Diebstahlsdelikt … – Ich darf auf Ihre Diskretion rechnen …“

„Selbstverständlich!“

„Sie wissen wohl, daß mein einziger Sohn ganz aus der Art geschlagen ist … Er wurde – Journalist …“

„Ja – Sportberichterstatter … und verunglückte beim letzten Autorennen im Frühjahr …“

„Rückgrat – gelähmt …“ Der alte Herr wurde weich, schluckte an Tränen …

„Er – er hat sich – außerdem noch gegen meinen Willen mit – mit einer – einer Varieteedame verheiratet – vor zwei Jahren … Seitdem – kennen wir uns nicht mehr.“

„Wohl mehr Ihre Schuld, Herr Generaldirektor … Vorurteile!!“

„Sie sind bitter offen, Herr Harst … Aber – meine Frau ist in dieser Beziehung –“

„– keine gute Mutter! – Vorurteile! – Und der Diebstahl – oder was es sonst ist?!“

Der alte Herr nickte traurig …

„Alfred lebt in – in den allerdürftigsten Verhältnissen jetzt – weist jede Unterstützung zurück … In der vergangenen Nacht ist nun der ganze Schmuck meiner Frau aus der Schieblade ihres Schreibtisches gestohlen worden – durch Einsteigen … Meine Villa liegt inmitten des großen Gartens in der Neuen Potsdamer Straße … Ich hatte die Kriminalpolizei rufen lassen … Man fand im Garten Spuren sehr winziger Damenschuhe – so winzig, daß – daß ich gleich an Vilma dachte … Das ist – meine Schwiegertochter, Herr Harst … Sie hat auffallend kleine Hände und Füße … Ich schwieg der Polizei gegenüber und bitte Sie nun, in aller Stille den Schmuck wieder herbeizuschaffen und der Frau meines armen Jungen diese zehntausend Mark zu übergeben …“

Harald blieb kühl und förmlich …

„Ihr Verdacht gegen Ihre Schwiegertochter steht doch auf recht schwachen Füßen,“ erklärte er mit feiner Anspielung auf die winzigen Spuren. „Ich müßte doch erst einmal die Beweise herbeischaffen, daß dieser Verdacht wirklich begründet ist, bevor ich mich mit Ihrem Ansinnen an Ihre Schwiegertochter wende …“

„Nur sie kannte die Schieblade, Herr Harst. Es handelt sich um ein Geheimfach.“

„So – und woher kannte sie das Geheimfach?! War sie jemals in Ihrem Hause …“

„Nein, das nicht … Alfred wird es ihr erzählt haben.“

„Also – leere Vermutungen! Was war Ihre Schwiegertochter beim Varietee?“

„Reckturnerin und Seiltänzerin …“

„Hat die Kriminalpolizei sonst noch etwas ermittelt? Wie ist der Dieb ins Haus gelangt?“

„Eine sehr alte Kastanie steht unweit der östlichen Wand. Ein Ast reicht bis zu dem Balkon, der zum Damensalon gehört. Diesen Baum hat die Diebin erklettert, ist so auf den Balkon gelangt und hat die Scheiben der Balkontüren eingedrückt.“

Harald überlegte …

Und fragte plötzlich weit interessierter:

„Liegt die Ostwand der Villa nicht nach der Lützowseite der Straße zu?“

„Ja …“

„Wo steht der Schreibtisch?“

„Links neben der Balkontür.“

„Versperrt die Kastanie die Aussicht nach den Häusern an der Lützowseite?“

„Nicht ganz, Herr Harst … Aber – Verzeihung – wohinaus wollen Sie mit diesen Fragen?“

„Ich wollte nur die Möglichkeit feststellen, daß jemand aus einem der obersten Stockwerke dieser Häuser vielleicht einmal Ihre Frau Gemahlin mit einem Fernglas beobachtet hat, wie sie den Schmuck weglegte … – Waren Sie in den letzten Tagen auf einem größeren Fest, wo Ihre Gattin Schmuck trug?“

„Ja – allerdings … vorgestern auf dem Wohltätigkeitsfest im Zoo …“

„Und nach dem Feste hat Ihre Gattin den Schmuck doch wieder weggepackt …“

„Ja … Aber – aber diese – diese Möglichkeit …“

„… ist wertvoller als Ihr Verdacht, Herr Generaldirektor. – Gut, ich übernehme den Fall … Die Diskretion ist gegenseitig … Ihr Geld stecken Sie bitte wieder ein. Die Diebin ist nicht Ihre Schwiegertochter.“

Herr Benatzki schaute Harald verwirrt an …

„Verzeihung, Herr Harst, ich bin an Ihre ganze Art noch nicht gewöhnt … Ich habe sehr viel von Ihnen gehört, und deshalb …“

„Entschuldigen Sie schon: wir müssen aufbrechen, Herr Generaldirektor … – Noch eine Frage: Um was für Schmuckstücke handelt es sich?“

„Eine Kette aus fünfzig Perlen mit Platinschloß und Brillanten. Ein Platinarmband mit achtundvierzig erbsengroßen Brillanten, ein Paar Brillantohrringe, sechs Ringe, eine mit Smaragden besetzte goldene Uhr und eine Haarspange aus Gold mit sechs Perlen und sechs Brillanten … Außerdem noch eine zweite Uhr mit ganz schwerer langer goldener Kette …“

„Danke – auf Wiedersehen, Herr Generaldirektor … – Honoraranzahlung? Ganz nach Belieben …“

Und Herr Benatzki legte zögernd tausend Mark auf den Tisch …

„Genügt es, Herr Harst?“

„Ja – als Gesamthonorar … Ich hoffe, Sie werden die Sachen bald zurückerhalten.“

Immer noch etwas verwirrt verabschiedete sich dieser Großfürst der Industriellen, der doch ein Sklave seiner Frau, einer schlechten Mutter, zu sein schien …

 

3. Kapitel.

Gildas Verfolgung.

Wir verließen durch den Gemüsegarten das Harstsche Familienhaus. Die windstille klare Nacht dieses späten Sommertages ausgangs August umfing uns mit den dumpfen Düften des nahenden Herbstes.

Die Erde atmete Feuchtigkeit aus … Wie ein Lied von Welken und Vergehen zog’s durch die Natur.

Wir wanderten an den Laubenkolonien entlang – gemächlich, wir zwei – Reporter.

„Das war ein Blick in eine Familientragödie,“ meinte Harald in bezug auf Benatzkis. „Wie unendlich viele Mütter opfern doch den Sohn diesen kindischen Vorurteilen …! Als ob eine Varieteekünstlerin nicht auch eine gute Gattin werden kann! Gewiß – es wird selten geschehen. Das Zigeunerleben von Stadt zu Stadt, von Theater zu Theater, der ganze Verkehr und diese Pest der Agenten zieht ein gewisses Dirnentum groß … Doch – Dirnen gibt es überall. Ich würde kaum ein Mädchen aus Berlin W. heiraten!“

Er warf seinen Zigarettenstummel weg, fügte hinzu:

„Frau Vilma Benatzki ist niemals die Diebin …! Den Gedanken hat sicherlich die Frau Schwiegermutter ausgeklügelt: kleine Füße – also Vilma!! Natürlich Vilma!! – Solch ein Unding! Der Sohn lehnt stolz jede Unterstützung ab, und seine Frau wird stehlen gehen! Als ob ein Eindringen in eine Villa ein Kinderspiel wäre!!“

Er ereiferte sich …

Und ich meinte vorsichtig: „Frau Link ist auch entgleist!“

„Gewiß – weil sie nicht mehr aus noch ein wußte!“

Wir bogen in die nächste Straße ab, bestiegen dann eine Elektrische und waren gegen neun Uhr in der Hauptstraße in Schöneberg.

Harald steuerte auf die hier haltenden Mietautos zu, trat an das letzte der Reihe heran.

„Hier haben Sie zunächst zwanzig Mark,“ sagte er zu dem jungen Chauffeur. „Sie fahren jetzt bis zum Cafee Royal und warten dort vor dem Nebenhause. Sobald mein Freund und ich das Cafee verlassen, was noch gut eine Stunde dauern kann, kommen Sie hinter uns her, stets so dicht, daß wir sofort in den Wagen springen können. Ich komme zu Ihnen nach vorn. Es handelt sich darum, ein anderes Auto nicht aus den Augen zu verlieren …“

„Wird jemacht … Verstehe … Die Herren sind von der Polizei …“

„Irrtum, mein Lieber … Zeitungsreporter sind wir!“ –

Im Cafee Royal Hochbetrieb …

Als wir eintraten, ließ ein Bauchredner auf der Bühne seine Puppen zweifelhafte Witze reißen. Das Publikum johlte …

Wir fanden noch an einem Tische Platz, an dem ein Liebespärchen saß. Er noch ganz grün, sie fraglos in den Dreißigern … Und „sie“ warf uns grimme Blicke zu, als wir ohne weiteres uns setzten.

Ringsum Großstadtmischmasch – so ziemlich alle Stände vertreten. Neben dem jungen Arbeiter, der heutzutage abends genau so seine braunen Jimmyschuhe und Krempelhosen spazieren führt wie einst die Ladenjünglinge, saß der brave Spießer, der kleine Beamte, der fragwürdige Lebemann und – Damen aller Schattierungen.

Eine Soubrette, deren Mangel an Stimme nur noch durch den Mangel an Bekleidung übertroffen wurde, sang Gassenhauer …

Vorn – ganz vorn hockten unsere beiden Raffkes, die fälschlicherweise von Nora Link für Harst und Schraut gehalten worden waren … Und an ihrem Tische drei der Boxerinnen mit Bubiköpfen … beim Sekt … –

Ein Tänzerpaar erschien …

Das war eine Erquickung nach den Zoten des Komikers, der soeben unter Beifallsgetrampel verschwunden. Das war Grazie, das waren junge geschmeidige Gestalten …

Mäßiger Beifall nachher …

Harst sagte sehr laut: „Viel zu schade für dieses Publikum!“

Endlich – endlich der Herr Impresario Loog-Bock …

Ansprache … Die „Damen“ marschieren auf die Bühne – voran die Maskierte …

Ich schaue – schaue …

Ein wundervoller Körper … Etwas Verächtlich-Stolzes in der Kopfhaltung … –

Harst bezahlt schnell unsere Zeche, damit wir sofort wieder aufbrechen können …

Herr Loog-Bock brüllt in den Raum, daß heute drei Paare kämpfen …

Gilda ist nicht dabei – marschiert wieder mit den übrigen ab …

Und wir schnell zur Garderobe, holen unsere Mäntel.

Ich bin im Fieber …

Gilda hat aschblondes Haar! Eva auch! Und auch die Größe stimmt …

Wir sind auf der Straße …

Warten vor dem Seiteneingang, stehen da und plaudern scheinbar harmlos … –

Sie kommt – ganz dicht verschleiert, geht langsam nach der Potsdamer Straße zu davon …

„Ist sie …?!“ frage ich nochmals …

„Nein!“ Und Harst winkt dem Chauffeur. Das Auto rollt an …

Weiter und weiter geht’s … Bis zur Grunewaldstraße …

Hier biegt Gilda ab. Wir auf der anderen Seite ebenso.

Und – wieder biegt sie ab: nach rechts in die Elßholzstraße hinein, wo das Kammergericht seine lange Front und seine Seitengärten ausbreitet, wo die Zugänge zum Kleistpark sich befinden …

Wir rücken näher …

„Sie wird im Kleistpark untertauchen,“ meint Harald unruhig. „Trennen wir uns … Ich bleibe hinter ihr. Du läufst rechts um das Kammergericht herum …“

Gilda hat sich bisher nicht ein einziges Mal umgeschaut. Ihr dunkler leichter Seidenmantel läßt die zierlichen Enkel[4] und Füße frei …

Ich verschwinde – trabe um das große Gebäude herum.

Und – sehe vor dem Eingang des hier untergebrachten Postamtes Harst mit – Gilda stehen, – – sprechen …

Komme wie zufällig näher …

Tue so, als ob ich das Postamt betreten will …

Und höre eine schöne, klare Frauenstimme leicht erregt sagen:

„Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, mein Herr, werden Sie mich nicht weiter verfolgen …“

Harst darauf: „Wenn Sie mir sagen, wer Sie sind, gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich schweigen werde. Mein Name ist – Harald Harst, der Detektiv Harst!“

Er lüftet den Hut, verbeugt sich höflich.

Gilda ist leicht zusammengezuckt, beachtet mich gar nicht.

„Beweisen Sir mir, daß Sie Harst sind … Herrn Harst würde ich vertrauen …“

Er löst den Bart, nimmt wieder den Hut ab …

„Meine Nase ist unverkennbar,“ meint er mit heiterer Selbstironie. „Und dies hier“ – er deutet auf mich – „ist mein Freund Schraut …“

Ich reiße den Filz ab, dienere …

Gilda zögert noch …

Harald sagt fast herzlich: „Haben Sie Vertrauen zu uns! Wir werden Sie nicht verraten. Wir sind lediglich Nora Linkströms wegen im Cafee Royal gewesen.“

Sie senkt den Kopf. Die stolze Haltung schwindet …

Da fügt Harst hinzu:

„Als Sie vor der Bühne die kleine Treppe vorhin hinabgingen, stolperten Sie etwas. Und um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, griffen Sie nicht nach dem Samtstrick des Geländers, sondern hoben in sehr charakteristischer Bewegung die Arme – wie eine Drahtseilkünstlerin, wenn sie ohne Balancierstange arbeitet …“

Pause …

Ich hielt den Atem an …

„Gnädige Frau, Sie sind Vilma Benatzki, die Gattin des unglücklichen Sportberichterstatters, und aus Not treten Sie im Royal auf … Gnädige Frau, bitte – das Auto dort bringt Sie heim …“

Und – ganz Weltmann – reichte er der völlig Sprachlosen den Arm und geleitete sie zum Kraftwagen …

Leise nannte sie nur noch ihre Adresse: eine Straße im finstersten Osten Berlins!

Dann – – glitt das Auto davon … –

So – – ist Harst …

* * *

Wir kehren heim nach der Blücherstraße, um uns wieder in die Mieter der Generalin Langhoff zu verwandeln. Jedes Wort zwischen uns wäre nach diesem Erleben eine Entweihung dessen, was wir dieser Frau entgegenbringen: Hochachtung, Bewunderung!

Not – Not! Was hat die Not nicht alles hervorgezaubert: Talente, kaufmännische Genies, Erfinder! Einstige Millionäre stehen an Straßenecken und verkaufen Würstchen; Arztfrauen desgleichen! (Ich könnte Namen nennen.) Ein Oberst tritt in einem Kabarett als Blitzdichter auf, ein Oberstleutnant fertigt künstlerische Wachsköpfe an, wohnt – im Keller … – Ein Rechtsanwalt bei einem Kollegen gewöhnlicher Schreiber …

Deutschland verarmt … Der Steuerfiskus ein Moloch, der alles verschlingt …

Man darf nicht daran denken, wo alles dies halb erpreßte Geld hinfließt.

Und diese Frau – maskiert als Boxkämpferin jeden Abend zehn Mark Gage erhaltend – diese Frau … soll gestohlen haben …!!

Frau Generaldirektor Benatzki, ob Du wohl mit all Deinen Vorurteilen fähig wärest, Deinen Mann zu ernähren?! – Wohl kaum … – –

Wir stehen im Ankleidezimmer inmitten der Überfülle von Licht, und aus Max Schraut wird wieder das dicke Fräulein Martha Schrott, die angeblich in Stralsund ein Wollwarengeschäft hat …

Einzeln verlassen wir das Harstsche Haus durch den Gemüsegarten. Einzeln finden sich die neuen Mieter der Generalin wieder in der Neuen Potsdamer Straße Nr. 2 ein – drei Treppen, drei Berliner Treppen, also ehrlich vier Treppen …

 

4. Kapitel.

Als Harst gähnte …

Als ich mein Zimmer betreten und Hut und Mantel abgelegt hatte, schaltete ich das Licht wieder aus und ging mit meinem guten Fernglas ans Fenster …

Drüben der große Garten – die Villa … Im ersten Stock zwei Fenster erleuchtet … Eine Balkontür – große Glasscheiben, die schon wieder erneuert sind.

Die Vorhänge sind nicht geschlossen. Ich kann an dem mächtigen Kastanienbaum, dessen Krone in der Dunkelheit wie ein schwarzer unförmiger Ball schwebt, vorüber in den Damensalon der Frau Direktor schauen …

Ich starre hin … Hoffe Gestalten zu sehen … Nein – nichts … Dann werden die Fenstervorhänge mit einem Male von unsichtbarer Hand zugezogen … Nur noch matthelle Vierecke schimmern drüben …

Und da – geschieht’s …

Da stellt sich der Beweis, daß Eva Larda auch jetzt Siegerin bleiben will, in brutalster Form ein …

Von meinem Zimmer geht auch eine durch die hohe Waschtoilette und geraffte bunte Decken verbaute Tür in das der Nora Link …

Oh, ich hätte nicht so vertrauensselig sein sollen! Wir beide hätten nach all dem Vorgefallenen vorsichtiger sein müssen. Wir kannten doch Eva, ihre Vielseitigkeit, ihre nimmermüden Spione. Wir hatten uns darauf verlassen, daß die Bande auseinander getrieben sei. Selbst Harald.

Und jetzt – kein Geräusch hatte mich gewarnt – von hinten wie die Fangarme eines Riesenkraken, eines Tintenfisches der tiefsten Meerestiefen, muskulöse Hände, die meine Handgelenke packen, meine Kehle umspannen, mich niederreißen …

Ein feuchtes Tuch auf dem Gesicht …

Drei japsende Atemzüge … Ein Gurgeln, das ein Schrei werden sollte, und – – das Chloroform tut seine Schuldigkeit …

Ein Schwindel … Das Gefühl dann, als ob mein Körper, ohne Gewicht plötzlich, zum endlosen Äther emporgetragen würde …

Bewußtlos …

Trotz allem noch ein letzter banger klarer Gedanke, ein letztes williges Arbeiten des Hirns: Ob es Harald ebenso ergehen wird?!

Nichts mehr nun …

Stundenlang … Nichts …

Bis mein kreisendes Blut das eingeatmete Gift wieder ausgestoßen hat …

Bis ich fühle, daß ich – friere …

Friere …

Und die Augen öffne … Vor mir ein helles, längliches Viereck sehe: ein offenes Fenster …! Und weiter fühle, daß mein Rücken unerträglich schmerzt …

Minuten wieder … Ich atme tief die kühle Luft des heraufdämmernden Morgens ein. Ich rieche den Herbstduft eines sterbenden Gartens …

Mein Hirn arbeitet. Die Augen schweifen …

Es ist das Zimmer bei der Generalin Langhoff … Das Fenster steht wirklich weit offen … Und ich liege davor auf dem Teppich, liege auf etwas Hartem, das meinen Rücken malträtiert, wälze mich zur Seite: Das Fernglas ist’s!

Versuche aufzustehen, taumele zu dem verschossenen Plüschsessel, sinke hinein …

Minuten wieder – in halber Ohnmacht … Feuerräder vor den Augen, den rebellischen Magen zur Ruhe zwingend, Kampf gegen Übelkeit …

Allmählich erhole ich mich …

Meine einzige Sorge ist Harald … Wenn man mich auch geschont hat: ihn wird Eva Larda es entgelten lassen, daß sie ihren sicheren Schlupfwinkel in der Balkwitz-Villa im Grunewald und die ganze Beute so und so vieler Raubzüge verloren hat …

Ich raffe mich auf …

Wir hatten ja vereinbart, daß die durch Schränke verstellte Verbindungstür unverschlossen bleiben sollte, damit wir jederzeit zueinander könnten.

Ich werfe einen Blick in den Spiegel der Waschtoilette. Meine Perücke hat gut gehalten, ist kaum verschoben … Ich bin noch immer das dicke Fräulein Martha Schrott …

Dann – ein zweiter Blick nach meinem Koffer: erbrochen – der unverfängliche Inhalt, der mein wahres Geschlecht nicht verraten konnte, weit umhergestreut …

Was mag Eva dort gesucht haben?! Geld etwa …?! Geld?!

Und – ein dritter Blick nach dem schlichten Damenhandtäschchen dort auf dem Tische, das mit zu meiner Maske gehört …

Geöffnet das Täschchen … Die Börse liegt daneben. Zweihundert Mark enthielt sie … Leer ist sie jetzt …

Also auch noch beraubt, bestohlen!! – Der Ärger erfrischt mich. Ich rücke den Schrank beiseite. Die Tür ist frei. Sie schlägt nach meinem Zimmer hin … Und ich presse die Schulter gegen den anderen Schrank in Haralds Zimmer …

Sorge, Angst treiben mir das Blut ins Gesicht …

Wie werde ich Harald finden – wie?!

Und mit leisem Quietschen gleiten die Füße des Schrankes über die Dielen …

Ein anderer Ton mengt sich in das mißtönende Quietschen: ein endloses, herzhaftes Gähnen …!

Dann – –:

„Schon munter, mein Alter …?!“

Und ich – – stiere auf das Bett …

Im Bett sitzt Harald, gähnt wieder …

Meint nun kopfschüttelnd:

„Hm – was gibt’s denn?! Es ist ja erst halb sieben.“

Ich komme näher …

„Spielst Du Komödie?!“ flüstere ich, denn draußen im Flur arbeitet eine der vergilbten Generalstöchter mit Besen und Scheuertuch, wie ich höre …

Harst stutzt …

„Was ist Dir zugestoßen?“

Ich berichte fliegenden Atems …

Dann meint er sehr gedehnt: „Du – der Überfall galt nicht Max Schraut! Niemals! Man wollte die Geschäftsinhaberin aus Stralsund berauben, bei der man größere Summen vermutete … Natürlich Eva!!“

Im Nu ist er aus dem Bett …

Zieht sich schleunigst an …

„Wir müssen jetzt die Generalin und ihre Töchter einweihen,“ erklärt er sehr bestimmt. „Dieses Eindringen bei Dir erscheint mir etwas rätselhaft … Wenn Eva Larda sich wirklich heimlich bei der Nora Link aufhält, wenigstens nachts, dann – dann …“

Er schüttelt wieder den Kopf, blickt vor sich hin … Irgend etwas bei seinen Kombinationen gefällt ihm nicht. Der begonnene Satz bleibt unvollendet …

 

5. Kapitel.

Ein Menschenfreund.

Fünf Minuten drauf im Wohn- und Eßzimmer der Generalin … Vier hagere Frauengestalten um uns her. Ängstliche, erstaunte Blicke, die besonders mir gelten …

„Ja, gnädige Frau,“ wiederholt Harald, „das ist tatsächlich mein Freund Max Schraut … Hier ist mein Ausweis …“

„Oh – ich zweifle nicht mehr, Herr Harst!“

„Dann gestatten Sie einige Fragen. Bei Ihnen wohnt ein Fräulein Nora Link …“

„Ja – seit sechs Wochen. Sie ist Kleberin bei einer Filmfabrik und ein sehr solides junges Mädchen …“

„Ihr Verkehr?“

Die Generalin ereifert sich:

„Herr Harst, sie hat wenig Verkehr. Zuweilen kommt ein alter Filmoperateur zu ihr … Ein ganz harmloser buckliger Sechzigjähriger …“

„Das Zimmer hat Flureingang, gnädige Frau?“

„Ja … Aber …“

„Und Sie könnten wohl kaum kontrollieren, ob besagter alter Herr nicht auch bei der Link nächtigt …“

„Nächtigt?! Oh – – das – das …“

„Schraut und ich werden jetzt mal Fräulein Link besuchen … Fürchten Sie nichts, gnädige Frau … Wir werden alles Aufsehen vermeiden … Und auch Sie werden, bitte, vorläufig schweigen …“ –

Als wir im Hausflur standen, als Harst gegen die äußere Tür des Zimmers pochte, meinte er flüsternd: „Für alle Fälle – halte die Clement bereit …!“

Abermals pochte er … Niemand meldete sich. – Da legte er die Hand auf den Drücker …

„Offen …!!“

Er erschrak selbst darüber …

Und in dem schmalen Zwischenraum der beiden Türen standen ein Paar zierliche braune Schuhchen …

Etwas Weißes blinkte in dem einen Schuh – ein Zettel.

Harald bückte sich …

Und – dies hier auf dem Zettel war Evas Schrift – Eva Lardas höhnischer Gruß an uns …

„Diesmal hätten Sie sich beinahe nicht umsonst bemüht – beinahe nicht! Ich danke Herrn Schraut, der mir durch sein intensives Hinüberstarren nach der Villa mancherlei verriet … Ich hielt ihn wirklich für eine brave Stralsunderin. Das Fernglas gab mir zu denken. Daher – verschwinde ich … – Schonen Sie Nora Link. Sie eignet sich doch nicht recht für meinen Geschäftsbetrieb. Wiedersehen!

Eva.“

Harst schaute mich an. „Schade, mein Alter … Sehr schade! Aber ich mache Dir keinerlei Vorwürfe … Wir – kriegen sie schon!“

Er öffnete auch die zweite Tür …

Die Fenstervorhänge waren geschlossen. Erst als das Licht aufflammte, sahen wir … Nora Link – auf dem Diwan – wie leblos … –

Sie war nur betäubt. Sie kam auch sehr bald zu sich. Beichtete sofort alles, nachdem Harst ihr unsere Begegnung mit ihrer Mutter geschildert hatte.

Das hübsche frische Mädchen weinte bitterlich. Der Gedanke, daß ihre Mutter, von allen Hilfsmitteln entblößt, zur Diebin geworden, wühlte ihre Seele bis in die tiefsten Winkel auf, wo noch mancherlei Gutes, Unverdorbenes schlummerte.

Wir hatten uns zu ihr an den Diwan gesetzt, hörten nun, daß Eva Larda in die Villa Benatzki eingestiegen war und daß Nora hatte – Schmiere stehen müssen. Eva hatte auch all die letzten Nächte hier bei Nora Link zugebracht. Sie hatte dieser gegenüber die beiden Morde abgeleugnet und Nora auch vollständig zu umgarnen gewußt. In der vergangenen Nacht war Nora dann über allerlei Geräuschen im Zimmer munter geworden, hatte sich auf dem Diwan liegend und noch völlig angekleidet Eva gegenüber gesehen, die offenbar soeben zwei fremde Herren in das Zimmer eingelassen hatte. Ihre Schlafsucht nach dem noch spät abends zusammen mit der verkleideten Eva genossenen Glase Rotwein erschien ihr jetzt in wahrer Bedeutung: Die Freundin hatte sie betäuben wollen, um freie Hand zu irgendeinem Unternehmen zu haben, das sie nie gebilligt hätte …

Unter häufigem Schluchzen und mit längeren Pausen erzählte sie dies alles im Tone tiefster Reue …

Haralds zarte, menschenfreundliche Art gab ihr immer mehr die Gewißheit, daß für sie noch eine Umkehr auf diesem dunklen Pfade möglich sei …

„… Als Eva mir nun erklärte, sie wolle das daneben wohnende dicke Fräulein ausplündern, sah ich das Unheil für mich voraus … Ich flehte Eva an, auf mich Rücksicht zu nehmen … Die Polizei würde sich einmischen, und ich, die man ohnedies wegen meiner – Verfehlungen im Cafee Royal suchte, würde dieses Obdach verlieren und – verloren sein … Bevor ich noch recht wußte, was geschah, hatten dann schon die beiden Männer sich über mich geworfen … Ich atmete Chloroform ein – wollte um Hilfe rufen … – Mehr weiß ich nicht …“

„Und – Sie hielten die beiden Herren im Cafee Royal für uns beide, schickten ihnen deshalb den Zettel …“

„Ja …“ – Sie weinte wieder …

Was Eva Larda mit den Juwelen der Frau Benatzki angefangen, konnte sie nicht angeben. – –

Harst als Menschenfreund, als versöhnendes Moment: ein Typ für sich! – Ich freue mich, hier berichten zu können, daß es ihm auch gelang, die böse Fahrkartengeschichte im Interesse Frau Links vollkommen aus der Welt zu schaffen. Nora Links Name wurde im Zusammenhang mit dem Juwelenraub bei Benatzkis nie genannt. Die Besitzerin des Cafee Royal erhielt ihr Handtäschchen und ihr Geld zurück, und die vier Langhoffs wieder haben nie eine Sterbenssilbe verraten. Heute sitzt Nora in einem großen Kontor und arbeitet fleißig wie ein Bienchen …

Und Benatzkis?! – Nun – wir waren in der Villa … Wir sahen die Frau Generaldirektor. Ihre Juwelen konnten wir ihr noch nicht übergeben – noch nicht, aber etwas anderes gaben wir ihr zurück: den Sohn!! – Als Harst ihr erzählte, in welcher Weise Frau Vilma den Kranken und sich ernährt hatte, schmolz selbst das Eis vom Herzen dieser vorurteilsvollen Frau … –

Der Leser mag nicht enttäuscht sein, daß der Fall Benatzki hier nur eine teilweise Erledigung gefunden hat … Die Juwelen eroberten wir – eine richtige Eroberung! Wie wir eroberten, das ist ein Thema für sich … Und wie wir mit Eva Larda abrechneten, kann hier auch nur angedeutet werden: gar nicht! Eva … verschwand für immer … Nichts blieb von ihr übrig … Nur ein Häuflein Asche … Vielleicht hat noch nie eine Verbrecherin einen so grauenvollen und doch so schmerzlosen Tod gefunden wie sie – grauenvoll!! Und wenn ich dies im nächsten Band nun der Öffentlichkeit mitteile, lüfte ich damit den Schleier eines in der gesamten Presse vielerörterten Rätsels …

 

Nächster Band:

Die Diamanten des Bettlers.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band


























108:
109:
110:
111:
112:
113:
114:
115:
116:
117:
118:
119:
120:
121:
122:
123:
124:
125:
126:
127:
128:
129:
130:
131:
132:
133:
134:
135:

Die Motorjacht ohne Namen.
Der Kampf gegen Lionel Barring.
Das Geheimnis der Tokkara-Höhle.
Die große Null.
Das Geheimnis des Bosporus.
Anna Karstens Amulett.
Der Mann mit dem Glasauge.
Der Kopf des Maharadscha.
Die Treppe des Todes.
Dr. Groupys Verhängnis.
Das Geisterschiff.
Der Tennisschläger der Rani.
Der Mann am Kreuze.
Tawa Burru, der Verrückte.
Das Piratendorf.
Die Hexenküche.
Das Geheimnis von H. O. 3.
Die Gräfin mit den Kormoranen.
Der Bouillonkeller 113.
Der tote Tümmler.
Das Erbe der Verschollenen.
Das Geheimnis der Dabri-Fälle.
Die Faktorei auf der Toteninsel.
Das gestohlene Auto.
Das Rätsel der Spielkarten.
Die Diamanten des Bettlers.
Die Photographien d. Sennor Trimaldo.
Der Kokain-Klub.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Abenteuerin“. Zwei Vorkommen ersetzt.
  2. In der Vorlage steht: „Verschwieden“.
  3. Gemeint ist hier das geflügelte Wort: „Spät kam ich an, durchwanderte aber noch die Straßen und muß gestehen, daß mich die Bevölkerung, welche ich auf denselben, namentlich in der Nähe des Sitzungslokals der Stände, erblickte, erschreckte. Ich sah hier Gestalten die Straße bevölkern, die ich nicht schildern will.“ Siehe auch Wikipedia: Bassermannsche Gestalten.
  4. Vorspringender Knochen am Fußansatz.