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Die Buschklepper der Thar-Wüste

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 84:

 

Roland, der Zwerg[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Der Eckturm.

Der Leser mag eine Landkarte Vorderindiens zur Hand nehmen. Im nordwestlichen Teile des Riesenreiches Indien wird er auf der Karte einen großen, unbesiedelten, also fast gänzlich leeren Fleck finden: die Thar-Wüste!

Nur eine einzige Eisenbahnlinie durchschneidet diese Sand und Felseinöde von Nord nach Süd. Die Hauptstation dieser Strecke ist die Stadt Bikaner.

Zwei Kameltagesritte von Bikaner nach Südwesten hin liegt ein winziges Städtchen, Tallamara mit Namen, bekannt durch seine Kamelzüchterei und durch die nördlich der Stadt in einem Tale auf mächtigem Granitwürfel sich erhebende uralte, aber von dem Kamelzüchter Hektor Olgerdyn modern umgebaute Radschputenburg Tallamara (Talla Mara, Adlerhorst).

Den einzigen Zugang zu dieser Burg, deren Umfassungsmauer an den Ecken vier schlanke Türme hat, die wieder von den drei dicken Burgtürmen überragt werden, bildet eine eiserne Hängebrücke, die von der westlichen hohen Talwand in einer Höhe von dreißig Meter zum Burgtor hinüberführt. –

Das imposante Bauwerk mit seinen blinkenden Fensterreihen, seinen kupfernen Dächern, zierlichen Erkern und phantastischen Steinfiguren war soeben der Schauplatz des Vorspiels eines ernsten Dramas gewesen: Hektor Olgerdyn, der Kamelzüchter von Tallamara, war von meinem Freunde, dem Liebhaberdetektiv Harald Harst, als gemeiner Karawanenräuber entlarvt worden und hatte zusammen mit seinem Genossen, dem verbrecherischen Arzte Doktor Albert Greebrac, die Flucht ergriffen.

Wir, Harst und ich, sein steter Begleiter, standen am Fenster des Arbeitszimmers Olgerdyns und schauten den beiden nach, wie sie in wilder Hast über die Brücke stürmten, deren zierliche Eisenkonstruktion auch den Beifall des anspruchsvollsten europäischen Ingenieurs gefunden hätte.

„Willst Du sie entkommen lassen?“ fragte ich Harald etwas erstaunt. „Bedenke, daß Detektivinspektor Lockpor bereits von Dehli nach hier unterwegs ist, um die beiden Verbrecher zu verhaften. Wie willst Du es Lockpor, unserem alten Bekannten, gegenüber vertreten, daß Du ihre Flucht nicht hindertest?!“

Ich hatte den Satz kaum beendet, als ein Zwischenfall eintrat, den wir niemals erwartet hätten.

Olgerdyn hatte drüben auf der Höhe der Talwand haltgemacht, hatte uns am Fenster des Oberstocks bemerkt und drohend die Hand erhoben.

Er stand neben einem einzelnen dicken, krummgewachsenen Baume, bückte sich jetzt und schien am Fuße des Baumes etwas zu suchen.

Dann ein dumpfer Krach.

Die Fenster klirrten; ein paar Scheiben barsten.

Dort, wo die Hängebrücke an der Talwand verankert war, erhob sich eine Staubwolke, flogen Sträucher, Felsstücke und Steine in die Luft.

„Die Brücke!“ rief Harald und umklammerte meinen Arm. „Da – er hat sie gesprengt! Das Talende der Brücke sinkt!“

Ich starrte wie gebannt auf dieses Schauspiel.

Mit einem furchtbaren Knall schlug jetzt das herabfallende Ende unten auf die Talsohle auf.

Ein neuer Krach – eine seltsame Vermengung von nervenaufpeitschenden Geräuschen, und auch das hochstehende, an dem Würfelfelsen verankerte Ende brach ab, und die ganze Brücke kippte nach Süden zu um.

Jede Verbindung mit dem Tale, mit der Außenwelt, war vorläufig abgeschnitten.

Im rötlichen Glanz des Abendhimmels lag die Hängebrücke als ein wüstes Gewirr von Eisenschienen dort unten auf dem dunklen, kahlen Gestein.

Einige Meter weiter nach links, und sie wäre gerade auf das Hauptstallgebäude der Züchterei, deren Baulichkeiten sich im Tale um den Granitwürfel gruppierten, gestürzt.

Wir sahen, wie die Angestellten Olgerdyns, sämtlich zum Stamme der Radschputen gehörig, herbeigeeilt kamen, wie sie den Eisentrümmerhaufen umstanden, lebhaft, ganz gegen ihre sonstige Art, miteinander sprachen und dann zur Talwand emporblickten, wo ihr Herr noch immer neben dem verkrüppelten Baume verharrte und regungslos zu uns hinüberschaute.

Er schien sich von seiner Burg, seinem stolzen Besitz, nicht trennen zu können.

Greebrac war längst verschwunden. Wahrscheinlich holte er ein paar Reitdromedare zur Fortsetzung der Flucht in die wilde, öde Thar hinein. Dort fühlten die beiden sich fraglos am sichersten. Dort, wo Olgerdyn die Handelskarawanen ausgeplündert hatte, kannte der seltsame Mann, Räuber und großzügiger Kaufmann zugleich, ohne Zweifel genug Schlupfwinkel.

Jetzt wandte auch er sich um und schritt eilends davon, bog um ein paar Felsblöcke und entschwand ebenfalls unseren Blicken.

„So,“ meinte Harald, „nun wird sich sofort herausstellen, wie die zahlreiche Dienerschaft der Burg sich uns gegenüber verhält. Ein Teil der Leute, die ja alle, wie bekannt, mit größter Hingabe Olgerdyn zugetan sind, ist ganz sicher in seine Geheimnisse eingeweiht. Die Radschputen sind ein äußerst kriegerischer, stolzer Volksstamm von alters her, sind früher berüchtigte Räuber gewesen und haben wohl mit Freuden wieder in aller Heimlichkeit das Handwerk ihrer Vorväter ergriffen. Es dürfte sich empfehlen, daß wir uns schleunigst in einen der Ecktürme der Mauer zurückziehen, wo wir uns einschließen können. Dort will ich Dir auch mitteilen, weshalb ich Greebrac und Olgerdyn entweichen ließ.“

Wir nahmen unsere Pistolen und eilten in den Flur hinaus.

Auf der Haupttreppe, die auf den Vorplatz mündete, begegneten wir Olgerdyns Diener Robert Scamarack, einen älteren, bartlosen Engländer mit undurchdringlichem Gesicht.

Robert war sehr bleich. Seine farblosen Augen musterten uns mit einem schwer zu enträtselnden Ausdruck.

„Master Harst, die Brücke ist –“

Wir waren schon an ihm vorüber, hörten nichts mehr, stürmten durch die offenstehende Flügeltür und liefen auf den südlichen Eckturm zu.

Die schmale, eisenbeschlagene Tür war zum Glück nicht verschlossen. Der Schlüssel steckte von außen.

Wir versperrten die Tür hinter uns, ließen den Schlüssel von innen im Schloß und blieben tief aufatmend stehen.

Ringsum tiefe Dunkelheit. Wir kannten die Burg erst seit heute, hatten sie vor kaum einer Stunde betreten. Wir wußten nur, daß sich in den Ecktürmen der Umfassungsmauer Büroräume befanden, denn Olgerdyns Züchterei erforderte einen großen Verwaltungsapparat –

Haralds Taschenlampe flammte auf.

Vor uns lief eine steile Steintreppe im Zickzack empor. Hier unten im Erdgeschoß des Turmes gab es lediglich eine Anzahl Kisten und Fässer, kein einziges Möbelstück.

Harst untersuchte die Fässer. Sie enthielten Maschinenöl, Petroleum und Zement.

„Schichten wir sie vor der Tür auf,“ meinte er. „Ich rechne damit, daß Lockpor morgen abend eintrifft. Bis dahin müssen wir uns hier verteidigen, falls nötig. Auf Hilfe von den Einwohnern der Stadt ist nicht zu rechnen. Olgerdyn beschäftigt gegen dreihundert Leute, und es gibt keinen Radschputen, der nicht Waffen besitzt.“

Das waren ja wenig rosige Aussichten!

Doch – was half’s. Ich packte mit zu und in wenigen Minuten hatten wir vor der starken Tür eine nur schwer wegzuräumende Barrikade errichtet.

Dann schritten wir die Treppe hinan.

Das Turmgemach des ersten Stocks mit drei vergitterten Bogenfenstern enthielt nichts als Büromöbel: zwei Schränke, zwei Tische, fünf Stühle und drei Regale.

Eine Treppe höher, dicht unter dem flachen Dach, wohnte offenbar einer von Olgerdyns Beamten. Dieser Raum, zu dem eine Wendeltreppe hochlief, war als Wohn- und Schlafzimmer bescheiden ausgestattet.

In der Decke dieses Gemachs bemerkten wir eine viereckige Falltür. Man konnte also auf das Dach hinaufgelangen. –

Wir blickten durch die schmalen Fenster in den Hof der Burg hinab. Nichts regte sich dort. Kein Mensch war zu sehen.

„Stille vor dem Sturm!“ meinte Harst. „Robert Scamracks Gesicht gefiel mir nicht. Der Kerl hat eine Visage, die an einen Giftmörder gemahnt.“

Dann schauten wir zum anderen Fenster nach der zertrümmerten Brücke und den Radschputen aus.

Die Leute waren sämtlich verschwunden.

„Auch[2] sehr bedenklich!“ sagte Harald sinnend. „Freilich – es wäre ja eigentlich eine ungeheure Dummheit von den Menschen, wenn sie ihre Mittäterschaft durch ein feindseliges Verhalten uns gegenüber verraten würden. Aber –“

Er schwieg.

Vom Hofe her eine Stimme, die des Dieners Robert.

„Mr. Harst – Mr. Harst!“

Harald trat an das Fenster heran, zeigte sich aber nicht, sondern rief zurück:

„Hallo – was gibt’s?“

„Ich wollte nur fragen, weshalb Mr. Olgerdyn die Burg verlassen hat und was geschehen ist. Der Einsturz der Brücke hat alle Telephondrähte zerrissen. Ich habe vergebens die Stallungen unten angeläutet.“

„Aha!“ meinte Harald leise zu mir, „die Bande will die Harmlosen spielen!“

Und dann gab er Scamarack Antwort:

„Was geschehen ist, werden Sie später erfahren. Wir beide bleiben hier im Turm, bis Detektivinspektor Lockpor mit einer Abteilung berittener Polizei hier eintrifft. Packen Sie Eßwaren und Behälter mit Trinkwasser in ein paar Körbe. Wir werden aus dem Fenster des ersten Stocks Leinen hinablassen und die Körbe hochziehen.“

„Sehr wohl, Mr. Harst. Wird sofort alles besorgt werden, obgleich ich nicht verstehe, weshalb die beiden Herren nicht lieber –“

„Das ist unsere Sache!“ rief Harald sehr energisch.

Dann nichts mehr. Scamarack hatte sich entfernt.

„Eine sehr ungemütliche Geschichte,“ sagte Harst und setzte sich auf einen der Rohrstühle.

„Allerdings!“ nickte ich. „Und – weshalb lag Dir nichts daran, Greebrac und Olgerdyn hier festzuhalten? Du hättest es doch tun können.“

„Gewiß. Ich wollte es jedoch nicht.“

Er zog eine Zeitung aus der Tasche seines Sporthemdes hervor, besser – nur ein Stück einer Zeitung.

„Dieses Blatt habe ich in Dehli im Hotel Imperial zu mir gesteckt, nachdem Olgerdyn uns dort besucht hatte,“ erklärte er. „Schon damals vor vier Tagen hegte ich gegen Olgerdyn Verdacht. Ich durchblätterte, wie Du weißt, die letzten Nummern der Dehli-Post und fand dies hier –“

Er hielt mir das Stück Zeitung hin und deutete auf eine besonders fett gedruckte Überschrift.

 

2. Kapitel.

In die Thar hinein.

Diese Überschrift lautete:

Eine Jagdgesellschaft in der Thar umgekommen.

Der darunter stehende Artikel handelte von dem Verschwinden Lord Allan Breßforts, seiner Gattin und des Majors Ernest Pancroof von der indischen Kolonialarmee in der Thar-Wüste.

„Die genannten drei Personen,“ hieß es dort weiter, „waren vor drei Wochen mit fünf Radschputen und vier Dienern von Ghoshgarh[3] aus aufgebrochen, um in den Bergen von Kanod Bergziegen zu jagen. Lord Breßfort gehört zu den reichsten Aristokraten Englands und befand sich mit seiner sportliebenden Gattin, einer geborenen Miß Pancroof, auf der Hochzeitsreise. Die fünf von dem Lord als Führer angeworbenen Radschputen, langjährige Karawanenbegleiter, kennen die Thar in allen Teilen so gut, daß man kaum annehmen kann, die Jagdgesellschaft sollte sich verirrt haben und durch Wassermangel umgekommen sein. Man wird vielmehr mit irgend einem Naturereignis, etwa mit einem Sandsturm, zu rechnen haben, denn eine vor anderthalb Wochen aus der Thar in Bikaner angelangte Karawane wurde südlich der wilden Kanod-Berge ebenfalls durch einen solchen Sandsturm in die größte Gefahr gebracht. Die von Ghoshgarh aus abgeschickten Streifpatrouillen vom 3. Kamelreiterkorps haben nicht die geringste Spur von den Verschwundenen entdeckt. Major Pancroof, Kommandeur der in Ghoshgarh stehenden Abteilung dieses Korps, war ebenfalls eifriger Jäger und wußte in der Thar gut Bescheid –“

Der Rest des Artikels enthielt nichts Wichtiges.

Ich gab Harald das Blatt zurück.

„Ich glaube Deine Gedanken halb und halb erraten zu haben,“ meinte ich. „Du nimmst an, daß Olgerdyn die Jagdgesellschaft überfallen hat.“

„Ja. Lord Breßfort ist unermeßlich reich, und ein Mann von der Geldgier Olgerdyns ist nicht wählerisch, wird auch zum Erpresser eines Lösegeldes. Es sollte mich nicht wundern, wenn nicht plötzlich in Ghoshgarh bei Pancroofs Kameraden ein Brief eintrifft, in dem die Erpresser sich melden – natürlich unter xbeliebigen Namen.“

„Hm – und der Zusammenhang zwischen der Tatsache, daß Du Olgerdyn und Greebrac entwischen ließest, und diesem Verschwinden der zwölf Personen?“

„Dieser Zusammenhang besteht darin, daß ich durch Olgerdyns und Greebracs Spuren Lord Breßfort zu finden hoffe.“

„Ah – trotzdem wir jetzt hier eingeschlossen sind?!“

„Allerdings. Denn – wir werden noch in dieser Nacht entweichen. Das Wohngemach oben enthält genug Decken, um daraus Stricke zu drehen.“

„Verstehe: Du willst Dich in das Tal hinablassen.“

„Gewiß. Dann werden wir uns Reittiere, Wasserschläuche und Gewehre beschaffen und wieder einmal Karl Mays Romantik höchstselbst durchmachen: Wüstenritt, Verfolgung – und so weiter.“ –

Vom Hofe her abermals Robert Scamaracks Stimme:

„Mr. Harst – bitte, die Körbe sind bereit!“

Zehn Minuten später hatten wir Trinkwasser und Lebensmittel in Hülle und Fülle.

Mir kamen die Eßvorräte sehr gelegen. Ich hatte Hunger. Während ich eine Konservenbüchse öffnete, stieg Harald die Treppe in das Erdgeschoß hinab.

Ich aß mit gutem Appetit. Es verging eine Viertelstunde und mehr. Harst kehrte nicht zurück. Er hatte die Tür des Turmgemaches hinter sich ins Schloß gedrückt, als er hinabging. Erst hatte ich noch allerhand Geräusche von unten gehört. Er wollte ja die Barrikade verstärken.

Jetzt vernahm ich keinen Laut mehr. Und plötzlich befiel mich eine ungewisse Angst. Ich stand schnell auf, schaltete meine Taschenlampe ein (das Turmgemach hatte elektrische Beleuchtung wie die ganze Burg) und folgte Harald.

Im Erdgeschoß schaute ich mich umsonst nach ihm um.

Er hatte auch die Kisten noch auf die Fässer gestellt und – wo war er jetzt?!

Ringsum kahle Mauern, Granitquadern. Nur vor der Tür der Stapel Kisten und Fässer.

Wo war Harst?!

Eine einzige Möglichkeit gab es, sein Verschwinden aufzuklären: ich mußte die Steinwände genau untersuchen! Es mußte hier eine Geheimtür geben!

Ich fand sie auch. An der Ostseite, wo die Umfassungsmauer der Burg mit der Turmwand zusammenstieß, waren vier der Steinquadern sehr geschickt in einen eisernen Rahmen eingefügt und ließen sich nach außen aufdrücken, bewegten sich wie eine Tür in dicken, rostigen Angeln.

Dahinter lag ein kaum mannshoher, schmaler Gang, der in der Mauer entlanglief.

Eine dicke Schicht von Staub bedeckte den Boden. In dieser lockeren Staubdecke sah ich die Spuren von Männerschuhen: hier war Harald weiter auf Entdeckungsreisen ausgegangen!

Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ihm folgen?! Durfte ich den Turm unbewacht lassen?! Würden der Diener Robert und die übrigen Leute der Burg uns wirklich unbehelligt lassen?

Ich kehrte also zunächst nach oben in das Bürozimmer zurück, schaltete das Licht aus und spähte in den Hof hinab. Unten alles still wie bisher. Die Dunkelheit hatte rasch zugenommen.

Dann überlegte ich mir, daß die Geheimtür und der Gang fraglos seit Jahrzehnten, der Staubschicht nach zu urteilen, nicht benutzt worden waren. Olgerdyn kannte dieses Geheimnis der alten Radschputenburg wahrscheinlich gar nicht. Er hatte ja nur die Burg selbst in den oberen Teilen umbauen lassen.

Wenn ich die Lebensmittel und das Trinkwasser mitnahm, waren wir in den unterirdischen Räumen, die es hier fraglos gab, sicherer als hier im Turme und konnten vielleicht auch irgendwie von dort ins Freie gelangen.

Ich packte alles in zwei Decken, schulterte das Bündel und ließ nun das Licht brennen.

Nachdem ich die Geheimtür wieder zugedrückt hatte, begann ich die Wanderung ins Unbekannte hinein.

Der Gang mündete in den östlichen Eckturm. Ich mußte diesen also im Erdgeschoß durchschreiten und nach einer zweiten Geheimtür in der Nordmauer suchen.

Dieser Turm war verschlossen und unten gänzlich leer. Meine Annahme, Harald hätte denselben Weg gewählt, bestätigte sich. Ich fand die zweite Geheimtür, den Zugang zu der Fortsetzung des Weges in der hohlen Mauer. Ich war hier jedoch noch keine zehn Schritt vorgedrungen, als der Gang plötzlich aufhörte.

Das Licht der Taschenlampe fiel auf den Boden, auf Haralds Spuren und – auf eine viereckige Eisenplatte mit einem Ringe.

Ich lüftete sie. Es kostete Anstrengung genug, sie hochzukippen.

Darunter ein unregelmäßiger Schacht, offenbar eine natürliche Felsspalte des Granitwürfels, auf dem die Burg stand.

In dieser Spalte lief eine Treppe abwärts. Nach vierunddreißig Stufen hörte die Spalte auf und ich befand mich in einer Höhle, die schräg nach Norden zu abfiel. Sie war kaum fünf Meter breit. Auch hier Haralds Spuren, die mir die Richtung wiesen.

Die Höhle verengerte sich. Ein neuer Schacht, eine neue Treppe.

Und dann – dann kahles Gestein ringsum. Aber auf dem Boden lag das Zeitungsblatt, in Pfeilform geknifft. Am Rande stand:

Warte hier!

Also hatte Harald damit gerechnet, daß ich ihn suchen würde.

Ich setzte mich, legte das Bündel neben mich.

Eine volle Stunde verstrich.

Nun ein scharrendes Geräusch.

Und dort, wohin der Papierpfeil gezeigt hatte, bewegte sich ein Teil des Gesteins.

Dort wieder eine Geheimtür – ins Freie, in ein hohes Dornengestrüpp, das am Fuße des Burgfelsens wuchs.

Harald trat tief gebückt ein, winkte.

„Komm’!“

Er, der kräftigere von uns schulterte jetzt das Bündel. Draußen Abenddunkel, ein Kamelgehege mit jungen Tieren.

Wir schlichen weiter – bis an die westliche Talwand.

Niemand begegnete uns. Wir erklommen die Anhöhe, durchquerten eine Schlucht, kamen in die Wüste, auf steinbesäten Boden.

Vor uns eine Reihe von Hügeln und ein einsames Licht. Harst blieb stehen.

„In jener Hütte befinden sich Greebrac und Olgerdyn,“ flüsterte er. „Zwei Reitdromedare und zwei Lastkamele sind hinter der Hütte angebunden. Sie wollen um Mitternacht aufbrechen. Ich entdeckte die Hütte, als ich für uns beide Reittiere heimlich aus einem Gehege holte. Auch Sättel, Zaumzeuge und zwei Gewehre habe ich gestohlen – aus der Wohnung eines Aufsehers. Was Greebrac und Olgerdyn sprachen, konnte ich nur zum Teil verstehen. Wichtig war, daß Lord Allan Breßforts Name dreimal erwähnt wurde und daß ich nun weiß, wo die Patentzeichnungen Doktor Murphisons, denen wir jetzt schon eine Woche lang nachjagen (Vergl. Bd. 83a „Das Patent des Doktor Murphison“) sich befinden. Greebrac hat sie noch immer bei sich. – So – weiter nach links. Dort in einer kleinen Schlucht stehen unsere Reitkamele. Ich habe die besten Tiere ausgesucht –“ –

Anderthalb Stunden später ging der Mond auf.

Inzwischen hatte Harald mir noch mitgeteilt, daß er sich, was das Schicksal der Jagdgesellschaft des Lords betreffe, doch geirrt zu haben scheine.

„Leider sprachen Olgerdyn und Greebrac sehr leise,“ hatte er gesagt. „Olgerdyn äußerte einmal wörtlich: „Der Geschichte dort mit Lord Breßfort muß nun ein Ende gemacht werden!“ Was Greebrac erwiderte, war noch unklarer: „Das kostet viel Blut. Sie sind zäh!“ – Ich finde mich da nicht zurecht, mein Alter. Es scheint so, als ob Breßfort den Schurken entschlüpft ist und sich irgendwo verteidigt, also belagert wird.“

„Das ist wohl ausgeschlossen,“ erklärte ich. „Die Patrouillen des Kamelreiterkorps hätten dies wohl gemerkt – durch den Knall von Schüssen wären sie auf die nach Deiner Ansicht Umzingelten aufmerksam geworden.“

„Ganz recht. Und dennoch: was heißt das: „Es kostet viel Blut. Sie sind zäh!“ – Deute mir diese Sätze besser, wenn Du es kannst!“

„Vielleicht sollte Breßfort einen Brief des Lösegeldes wegen an irgend jemand schreiben und hat sich bisher geweigert. Man will ihn nun vielleicht mit dem Tode bedrohen. So mag Greebracs Äußerung zustande gekommen sein.“

Harald, der andauernd nach der Hütte hinübergespäht hatte, die im Mondenschein als hellerer Fleck etwa fünfhundert Meter nach rechts zu erkennen war, rief jetzt erregt:

„Sie brechen auf! Aber – da haben sich noch vier Begleiter eingefunden. – Sechs Gegner also! Etwas viel!“

Ich erhob mich. Auch ich sah die sechs Kamelreiter und die beiden Lasttiere. Sie ritten gerade über einen Hügelkamm – nach Westen zu, also in die ödesten Teile der Thar hinein.

„Die Romantik beginnt,“ sagte Harald. „Wir bleiben nicht hinter, sondern neben ihnen. Das ist sicherer.“

 

3. Kapitel.

Als Fährtensucher.

Wir waren an das Reiten im Kamelsattel gewöhnt. Auch nach Tallamara waren wir ja hoch zu Kamel gelangt.

Haralds kundiger Blick hatte wirklich erstklassige Tiere ausgewählt. Da die sechs Verfolgten mit Ihren bepackten Lastdromedaren nur Trab reiten konnten, hatten wir sehr bald links von ihnen ihren Vorsprung eingeholt.

Wir hüteten uns, ihnen allzu nahe zu rücken. Es genügte ja auch, wenn wir sie hin und wieder zu Gesicht bekamen.

So ging es fortgesetzt in gerader Richtung nach Westen zu. Längst lag der fruchtbare Teil der Wüste mit seinen Viehweiden, die Gegend um Tallamara, hinter uns. Als der Morgen graute, mußten wir den Zwischenraum zwischen uns und dem Reitertrupp erweitern, um nicht bemerkt zu werden.

In der Ferne tauchten jetzt vor uns die ersten kahlen Bergkuppen auf. Die Unwirklichkeit dieser wildzerklüfteten Höhenzüge der Thar übertrifft noch an schauerlicher Düsterheit und Unfruchtbarkeit die Gebirgszüge der Sahara.

Die sechs Reiter hatten morgens bei Sonnenaufgang die ersten Vorhügel erreicht und verschwanden in den Felsmassen. Jetzt mußten wir doch notgedrungen ihre Fährten suchen und auf ihren Spuren bleiben. Wir warteten eine halbe Stunde. Dann ritten wir auf die Stelle zu, wo wir die sechs zuletzt gesehen hatten.

Aber – bald kam die bittere Enttäuschung: Im Sande der Wüste war die vielfache Fährte scharf ausgeprägt. Auf dem schwarzen Felsboden des Tales, in das die sechs eingebogen waren, ließ sich nichts mehr erkennen – nichts! Anfangs fanden wir noch ein paar von den Hufen zermalmte Steinchen. Dann suchten wir zwei Stunden und entdeckten nichts – nichts!

Ich schaute Harald ratlos an.

„Sie rechnen ja damit, verfolgt zu werden,“ meinte er. „Deshalb sind sie vorsichtig gewesen. Ein Mann wie Olgerdyn, der ein Jahrzehnt heimlich den Buschklepper der Thar gespielt hat, kennt alle Schliche und Listen. Trotzdem: wir werden die Spuren finden! Natürlich haben sie nach altem Rezept die Hufe der Tiere mit Decken umwickelt. Es soll ihnen nichts helfen. Wir werden uns hier nicht weiter abmühen. Frühstücken wir zunächst, dann aber umreiten wir den Höhenzug und wenn es einen ganzen Tag dauern sollte.“

Ich war nicht sehr hoffnungsfroh. Ich ahnte weitere Schwierigkeiten. Und – ich hatte recht damit!

Als wir um die Mittagszeit bei sengender Hitze mit müden Tieren den südlichsten Teil der Bergmassen erreicht hatten, stießen wir auf die Fährte von vier Kamelen.

Harald stieg ab und untersuchte die Spuren, sagte dann:

„Ich wette, sie haben sich getrennt. Drei sind nach anderer Richtung mit dem einen Lastkamel weitergeritten, die anderen drei mit dem zweiten Packtier haben wir hier vor uns. Rasten wir dort im Schatten der Felsen. Ich werde dieser Fährte eine Strecke zu Fuß folgen.“

Harst kehrte nach einer halben Stunde zurück. Seinem Gesicht sah ich an, daß Hektor Olgerdyns Schlauheit uns eine neue Nuß zu knacken gegeben hatte.

„Die vier Fährten trennen sich dort hinten in einem steinigen Tale abermals,“ erklärte er und setzte sich neben mich. „Wenn unser Wasservorrat nicht lediglich drei Tage reichen würde, wäre das alles nicht weiter schlimm. So aber müssen wir mit jeder Minute geizen –“

Nachdenklich begann er etwas Büchsenfleisch zu essen.

Dann – ganz plötzlich eine hastige Handbewegung. Er warf die leere Büchse fort.

„Mein Alter, wir müssen nun jeder allein weiter diesen beiden Fährten nach. Merke Dir eins: achte auf die Stellen, wo die Reiter abgestiegen sind. Entdeckst Du die Schuheindrücke von Stiefeln mit Hacken, so handelt es sich um Olgerdyn und Greebrac. Die – vier anderen waren ja Eingeborene, waren Radschputen. Wir beide werden uns schon wieder zusammenfinden.“

Gegen drei Uhr nachmittags sagten wir uns in dem steinigen Tal lebewohl. Noch ein Händedruck, und ich sprengte nach Süden zu, während Harald nach Norden davonritt.

Die Spuren vor mir waren leicht zu erkennen. Mein Reittier, gut ausgeruht, schlug jenen flüchtigen Trab ein, dem ein Pferd nur galoppierend gewachsen ist. Das Tal senkte sich, ging in die sandige Wüste über. Die Fährte bog allmählich mehr nach Osten um. Nach einer Stunde abermals ein tiefes Tal und glatter Felsboden, vereinzeltes Steingeröll und ärmliche Wüstenpflanzen.

Und hier – hier auf dem nackten Gestein waren die beiden Reiter abgestiegen. Hier wandte ich nun all meinen Scharfsinn an; hier entdeckte ich im frischen Kamelkot zwei Abdrücke verschieden großer Stiefelabsätze. Also – zwei Europäer, die Gesuchten!

Aber – dann hörte jegliche Fährte wieder auf.

Meilenweit zog sich das Tal hin mit zahllosen Nebentälern. Überall kahler Fels. Nirgends eine Fährte oder etwas, das als Fährte zu deuten war.

Ich führte mein Tier am Zügel und ging tief gebückt – suchte – suchte –

Nichts – nichts! Ich war förmlich verzweifelt. Noch ein paar Stunden, dann kam die Nacht, dann verloren wir kostbare, unwiederbringliche Zeit!

Plötzlich hinter mir Hufschläge – ein lauter Ruf.

Es war Harst.

„Ich habe sie vor mir,“ berichtete ich fliegenden Atems.

„Die, denen ich gefolgt war, sind zwei Radschputen,“ sagte er und ließ sein Tier niederknien. „Es ist dies wirklich Karl Mays Indianerromantik fast, die uns alle als Jungen in Bann geschlagen hat.“

Er war hier in Gottes freier Natur ein ganz anderer. Er lebte hier in kurzem förmlich auf. Aus dem eleganten Weltmann und grüblerischen Detektiv wurde ein froher Steppenbewohner mit blitzenden Augen und fast kindlichem Lachen.

Er lachte tatsächlich.

„Die beiden Verbrecher glauben die Sache sehr schlau angefangen zu haben,“ fuhr er fort. „Sie irren sich. Wir werden dieses Talgebiet nach Norden zu umkreisen. Nach den Fährten zu suchen hat keinen Zweck. Wir können so das schnellste Tempo einschlagen.“

Wir taten es – taten es mit überraschendem Erfolg: bereits nach einer Viertelstunde stießen wir auf die Spur eines einzelnen Reiters, die noch recht frisch war. Der Reiter hatte sich nach Norden gewandt – wieder auf jene Berge zu, wo uns die Fährte vormittags verloren gegangen war.

„So – nun vorwärts!“ rief Harald. „Nun ist es klar, daß Greebrac und Olgerdyn sich später wieder vereinen werden!“

Wir blieben also auf dieser Spur, gelangten kurz vor Dunkelwerden fast genau an dieselbe Stelle, wo wir mittags gelagert hatten. Vor uns türmten sich wieder düster und rätselvoll die gewaltigen dunklen Bergmassen auf.

Die Fährte des Reiters – inzwischen war er zweimal abgestiegen und zweimal hatten wir die Eindrücke von Stiefelabsätzen bemerkt – führte in einem sandigen, steilen Tale aufwärts. Da der Betreffende – ob Greebrac oder Olgerdyn, konnten wir nicht wissen – den Spuren nach keine Viertelstunde Vorsprung hatte, ließ Harald mich mit den Tieren zurück und erklomm allein die nördliche Talwand, verschwand zwischen zwei steilen, engpaßähnlichen Felswänden.

Nach einer halben Stunde kehrte er zurück.

Er – lächelte wieder!

„Ein Radschpute!“ sagte er kurz. Er lagert drüben. „Aber – ein Radschpute mit Reitstiefeln, die ihm unbequem geworden sind. Er hat sie neben sich gestellt. Du siehst, dieser Buschklepper Olgerdyn ist mit allen Hunden gehetzt! Er will uns dumm machen. Er weiß, daß wir sehr bald hinter ihm her sein werden.“

„Wie – und Du bist dabei so ruhig?!“ meinte ich kopfschüttelnd.

„Gewiß. Der Radschpute fühlt sich ganz sicher. Daß wir ihm bereits im Nacken sitzen, kann er nicht im entferntesten ahnen. Morgen mag Olgerdyn und seine Bande uns hier vielleicht erwarten. Heute niemals.“

„Und wenn der Kerl jetzt seinem Tiere die Hufe wieder umwickelt und dann mit bloßen Füßen ohne eine Spur zu hinterlassen –“

„Oh – das hat er schon getan. Die Hufe seines Dromedars sind umwickelt. Er wird auch sehr bald aufbrechen – ohne Frage. Mag er! Wir finden ihn schon noch – und ebenso Olgerdyn und die übrigen, die auf Umwegen wohl ebenfalls hier wieder zusammenkommen.“

Ich konnte nur abermals den Kopf schütteln.

Harald nickte mir pfiffig zu.

„Es erschien nämlich plötzlich noch ein zweiter Radschpute in der Schlucht,“ fügte er hinzu. „Ein bis auf die Zähne bewaffneter Bursche, der den linken Arm freilich in einer Schlinge trug, weil, wie er dem Kameraden mitteilte, eine Kugel ihm durch den Unterarm gegangen war. Der Kamelreiter hatte vorher ein – bengalisches Zündholz in Brand gesetzt, mit grüner Flamme. Und dieses Signal wurde, bevor der braune Bandit auftauchte, von der Höhe einer entfernten Bergterrasse in gleicher Weise beantwortet.“

Über diese Mitteilung war ich mit Recht geradezu sprachlos.

„Sollte etwa Lord Breßfort hier –“

Er ließ mich nicht ausreden.

„Die Kugel ist aus Breßforts Büchse gekommen. Der Radschpute mit dem durchschossenen Arm sagte es dem andern.“

Nun begriff ich alles: Der Lord und seine Begleiter befanden sich wirklich in der Nähe! – Das Abenteuer wurde aufregender.

„Wir wollen irgend ein gutes Versteck für unsere Tiere suchen, bevor es ganz dunkel ist,“ meinte Harald nun. „Folge mir! Wir müssen uns mehr nach Nordwest, mitten in die Berge hinein, wenden.“

Bei schnell zunehmender Dämmerung bogen wir in eine langgestreckte Schlucht ein, erkletterten dann linker Hand eine in Terrassen ansteigende Wand und gelangten, als wir um eine schmale Ecke bogen, neben der ein Abgrund in blauschwarzer Finsternis gähnte, in einen von hohen Wänden eingeschlossenen kleinen Talkessel.

„Hier bleiben wir!“ entschied Harald. „Wenn wir den schmalen Steig an der scharfen Biegung dort mit Felsstücken verrammeln, ahnt niemand, daß man hier in einen so tadellosen Schlupfwinkel –“

Er schwieg.

Ich griff unwillkürlich nach der Doppelbüchse.

Ein seltsamer Ton durchzitterte das enge Tal.

„Was war das?“ flüsterte ich atemlos.

„Still!“

Auch Harst hatte seine Büchse schußfertig gemacht.

 

4. Kapitel.

Gefunden.

Und abermals durchzitterte der unheimliche, klagende Laut die Stille des kleinen Felsenkessels.

„Ein Kind!“ flüsterte ich.

Meine Worte wurden übertönt von einem jämmerlichen Aufheulen.

„Ein Hund,“ sagte Harald rasch. „Es ist ein Hund! Besinne Dich: in dem Artikel der Dehli-Post war am Schluß noch erwähnt, daß Major Pancroof seinen Foxterrier „Maniter“ mit auf die Jagdexpedition genommen hätte. Vielleicht –“

Da – abermals das klagende Jaulen.

Harald warf mir den Zügel seines Reitdromedars zu, schritt nach rechts hinüber, wo an der steilen Felswand eine Geröllhalde wie ein mächtiger Schuttberg lag.

Ich folgte ihm. Ich war gespannt, was wir finden würden.

Nochmals – nochmals das heisere, klägliche Heulen.

Und dann – wir blieben gleichzeitig stehen – dann schlug uns ein betäubender Verwesungsgeruch ins Gesicht.

„Eine Leiche – der Major wahrscheinlich!“ meinte Harald leise.

Ich band die Zügel der Kamele zusammen. Ich wollte dabei sein, wenn Harst den Schuttberg überklettert hatte.

Und zwischen Felswand und dem Steingeröll fanden wir so dicht vor einer grottenartigen Einbuchtung wirklich eine stark verweste Leiche, daneben einen zum Skelett abgemagerten, hochbeinigen Foxterrier, der bereits so matt war, daß er sich kaum noch kriechend bewegen konnte.

Als er uns erblickte, als Harst ihn freundlich mit „Maniter“ anrief, stieß der Hund ein markerschütterndes Geheul aus.

Harst deutete auf ein paar Knochenreste in der Nähe.

„Der Fox hat sich von Bergratten genährt,“ sagte er. „Es muß hier aber auch Wasser in der Nähe geben.“

Er nahm das treue Tier, das die Leiche seines Herrn nicht verlassen hatte, in die Arme und trug es nach der gegenüberliegenden Felswand. –

Die Untersuchung des in einen Jagdanzug gekleideten Toten ergab, daß der Major durch einen Lungenschuß getötet worden war. Neben ihm lag noch unversehrt seine Winchesterbüchse. Wir nahmen ihm alles ab, was er bei sich trug: Revolver, Jagdmesser, Brieftasche und anderes. Dann häuften wir große Steine um die Leiche auf, bauten so ein flaches Grab und füllten die Ritzen mit Steingrus aus. Bald wölbte sich ein vollständiger Hügel über dem Toten.

„Er ist fraglos verwundet worden und hat sich noch bis hierher geschleppt,“ meinte Harald während der peinvollen Arbeit.

Dann durchsuchten wir die Grotte. Hier fanden wir des Majors Tropenhelm und am Rande einer Felsspalte, aus der uns feuchtkühle Luft entgegenwehte, einen Aluminiumbecher.

Die Felsspalte war eine natürliche Zisterne. Das Wasser darin erwies sich trotz leichten Natrongehalts als durchaus trinkbar. –

Der Foxterrier war völlig ausgehungert, erholte sich aber schnell, nachdem er eine kräftige Mahlzeit erhalten hatte. Nach zwei Stunden war er bereits so gestärkt, daß er eilends zum Grabe seines Herrn zurücktrabte. Er blieb dort jedoch nur kurze Zeit, kam dann zu unserem Lagerplatz zurück und legte sich neben Harald nieder, der ihn auch gefüttert hatte. Durch allerlei Zeichen gab er zu verstehen, daß er nunmehr Harst als seinen neuen Herrn anerkannte.

Gegen elf Uhr ging der Mond auf. Wir hatten etwa zwei Stunden geschlafen und fühlten uns jetzt frisch genug, den nicht ganz ungefährlichen Kundschaftergang zu wagen.

Den Hund banden wir neben unseren Reittieren fest. Harald streichelte ihm den Kopf und legte seine Brieftasche neben ihn, nachdem er sie ihn hatte beschnuppern lassen.

„Er weiß nun, daß wir wieder kommen,“ meinte er. „Er wird sich nicht losreißen.“

Wir nahmen unsere Büchsen mit. Im letzten Augenblick hatte Harald seine Doppelflinte des Aufsehers aus Tallamara noch mit der Repetierbüchse des Majors vertauscht. – „Sieben Schuß sind besser als zwei!“ sagte er.

Wir fanden die Stelle, wo der Radschpute gelagert und der andere sich zu ihm gesellt hatte, ohne besondere Schwierigkeit. Dann wollten wir jene ferne Steilwand erreichen, auf deren oberstem terrassenartigen Vorsprung Harald das zweite grüne Licht gesehen hatte.

Harst schritt stets voran. Wo wir Deckung fanden, gingen wir aufrecht. Mußten wir Stellen passieren, die im hellen Mondlicht dalagen, krochen wir auf allen Vieren.

In dieser Weise versuchten wir es wohl zwei Stunden lang, einen Zugang zu jener jetzt vom Nachtgestirn beschienen Felsterrasse zu finden.

Es gab keinen Zugang. Wenigstens keinen solchen, der nachts zu finden war.

Still, einsam und großartig in seiner magischen Beleuchtung durch den Mond lagen die zerklüfteten Berge da. Nirgends auch nur das geringste Anzeichen, daß Menschen in der Nähe waren.

Der Berg, an dessen Ostseite die Terrasse lag, stellte, wie wir bald erkannten, eine ungeheure sechseckige, abgestumpfte Pyramide dar. Diese Pyramide von gut vierhundert Meter Höhe suchten wir nun auch nach Norden zu umschreiten.

Schluchten, Täler, Geröllhügel passierten wir. Wir rissen uns die Hände blutig; wir fühlten die Beinmuskeln unter der ungeheuren, ungewohnten Anstrengung förmlich erstarren. Aber Harst kannte keine Rücksicht auf unsere Körper.

So erreichten wir schließlich ein ausgedehntes Felsplateau nördlich des Berges, der sich offenbar von keiner Seite ersteigen ließ.

Der kaum spürbare Nachtwind kam von Osten und wehte über die Hochebene hinweg.

Wir lagen jetzt hinter ein paar Steinen, um etwas auszuruhen.

Da – ich roch deutlich den beizenden Qualm von trockenem Kamelmist.

Als ich Harald darauf aufmerksam machte, meinte er nur: „Den Qualm merkte ich schon vor fünf Minuten. Ich hoffe, er wird uns zu dem Lagerplatz unserer vielbegehrten Freunde Olgerdyn und Greebrac führen.“ –

Wir setzten also unseren Weg kriechend über das Plateau fort – dem Winde entgegen.

Der Qualm wurde stärker, der Geruch immer deutlicher. Wir näherten uns einem Feuer.

Noch war nichts zu sehen. Eine Reihe enormer Felsnadeln begrenzte das Plateau nach Nordost. Sie sahen aus wie zu Stein erstarrte Riesentannen. Es war ein förmlicher Wald derartiger Felsgebilde.

Harst, der wieder ein paar Schritt voraus war, bog nach Norden ab. Als wir die ersten Felsnadeln erreicht hatten, bemerkten wir einen rötlichen Lichtschein. Er kam aus einer Schlucht jenseits dieses erstarrten Waldes.

Wir schoben uns jetzt mit allergrößter Behutsamkeit vorwärts. Es war ja auch anzunehmen, daß die Thar-Banditen Wachtposten ausgestellt hatten. Das Mondlicht störte und hinderte uns, zwang uns zu allerlei Umwegen.

Dann winkte Harald mir zu. Ich kroch neben ihn.

„Dort links steht ein Posten,“ sagte er, indem er mir die Worte ins Ohr raunte.

Auch ich bemerkte den Mann jetzt. Er lehnte an einer der vordersten Felsnadeln etwa zwanzig Schritt nach Osten zu.

Wir brauchten ihn nicht mehr zu fürchten. Wir hatten jetzt die Schattenseite der westlichen Schluchtwand dicht neben uns. Noch wenige Meter, und wir lagen am Rande eines kleinen Abhangs. Gerade unter uns vier Feuer, darum vierzehn Männer, von denen drei Europäer waren: Olgerdyn, Greebrac und der Diener Robert. Mehr im Hintergrund standen vier große braune Zelte. Dahinter eine ganze Menge Dromedare.

Die drei Weißen saßen an dem Feuer, das dem Abhang am nächsten war. Über der Glut hing ein Aluminiumkessel. Olgerdyn und Greebrac rauchten Zigarren. Robert schüttete gerade Tee in den Kessel.

Die Radschputen an den anderen Feuern waren sämtlich ausgesucht kräftige Gestalten, alle bewaffnet mit Gewehren und Revolvern.

Greebrac unterhielt sich leise mit dem Kamelzüchter. Nur hin und wieder war ein Wort zu verstehen.

Dann sagte Olgerdyn scheinbar ungeduldig:

„Es wird gelingen, wenn nur der Wind an Morgen umspringt. Zumeist geht er nach Südost herum. Warum sollte er es heute nicht tun?! Dann treibt er den Qualm durch den Gang hinein, und sie werden sich ergeben müssen. Das kostet kein Blut! Breßfort wird seine Frau nicht ersticken lassen.“

Greebrac zuckte die Achseln und schwieg.

Dann zupfte Harst mich am Ärmel. Wir krochen zurück, umschlichen den Posten wieder und lagen nun etwa achtzig Meter vor dem Felsnadelwalde zwischen Steinblöcken.

„Hast Du gehört? Sie wollen den Lord ausräuchern. Wir werden ihnen den Spaß verderben,“ flüsterte Harald. „Ohne Zweifel haben sie auch dort, wo der Lord belagert wird, Posten aufgestellt, die sie doch ablösen müssen. Dieser Ablösung werden wir folgen.“

Es war jetzt zwei Uhr morgens.

Sehr bald zeigte es sich, wie richtig Harst das Kommende vorausgesagt hatte: fünf Radschputen erschienen und schlenderten recht sorglos an uns vorüber über das Plateau auf den Pyramidenberg zu.

Der Mond hatte sich hinter den Berggipfeln versteckt. Die Radschputen fühlten sich ganz sicher, dachten gar nicht daran, sich umzuschauen.

Sie klommen einen schmalen Pfad empor, den wir kaum am Tage als gangbaren Weg erkannt hätten, betraten eine tunnelartige Höhle, zündeten hier ein paar Pechfackeln an und gelangten über die zweite Bergterrasse in eine neue Höhle, die steil aufsteigend auf der Ostterrasse mündete.

Als auch wir hier oben ankamen, wo Harald das grüne Lichtsignal bemerkt hatte, hörten wir laute Stimmen. Die zerklüftete Rückwand der Terrasse öffnete sich hinter einer kulissenartig vorgeschobenen Steinmauer zu einer neuen Höhle mit sehr hohem und breitem Eingang.

Wir hatten uns kaum in die nächste Spalte klemmen können, als die abgelösten fünf Radschputen die Terrasse verließen.

Wir warteten noch eine geraume Weile.

Dann krochen wir in die Höhle hinein. Um uns her tiefste Finsternis. Es ging ziemlich steil abwärts. Ein fühlbarer Luftzug strich durch diese Grotte. Nach drei kurzen Biegungen ein schwacher Lichtschimmer vor uns.

Und nun – nun enthüllte uns der flackernde Schein qualmender Fackeln, die in die Ritzen der Wände gesteckt worden waren, das Geheimnis dieses Ortes: dort vor uns verengerte sich die Höhle bis auf vielleicht anderthalb Meter. An dieser Stelle war sie mit Felsblöcken verrammelt. Und hier hockten auch hinter aufgeschichteten Steinwänden die fünf Wächter.

 

5. Kapitel.

Vergeltung.

Sie hatten ihre Gewehre griffbereit neben sich, saßen mit untergeschlagenen Beinen da und würfelten.

Harald raunte mir zu: „Wir dürfen nicht lange warten. Halte Dich bereit!“

Ich entsicherte die Büchse.

„Sobald auch nur einer der Buschklepper nach der Waffe greift, schießt Du,“ fügte er noch hinzu.

Dann, und die Kerle flogen wie die Gummibälle hoch:

„Hände hoch! Hier Polizei!“ rief Harst absichtlich mit überlauter Stimme.

Die fünf gehorchten zögernd.

Dann meldete sich hinter der Felsbarrikade eine andere Stimme:

„Hallo – hier Allan Breßfort!“

Harald drohte wieder: „Wer die Arme sinken läßt, erhält eine Kugel!“

Dann nach der Barrikade hin: „Hier Harald Harst, Mylord. Räumen Sie getrost die Felsstücke weg.“

Schon polterten die obersten Steine herab. Dann kamen vier Männer über den Felshaufen gestiegen: der Lord und drei Inder, keine Radschputen.

Im Nu waren die fünf Buschklepper gebunden.

Wir hatten Breßfort kräftig die Hand geschüttelt. Seinen Dank wehrte Harald ab.

„Es gibt noch mehr zu tun, Mylord,“ meinte er. „Sind Ihre drei Diener bewaffnet?“

„Gewiß. Auch meine Frau. Ich habe Ihnen viel zu erzählen, Mr. Harst. Eine so ungeheuerliche Schurkerei wie –“

„Später – später!“ fiel Harald ihm ins Wort. „Wird Ihre Gattin genügen, die fünf Radschputen zu bewachen?“

„Gewiß. Da ist sie schon –“

Eine blonde schlanke Frau in einem englischledernen Jagdkostüm mit Kniehosen war über die Barrikade gesprungen. –

„Mylady müssen also hier bleiben,“ sagte Harald nach kurzer Begrüßung. „Wir sind jetzt sechs Männer. Das genügt, die Buschklepperbande festzunehmen.“

Lady Daisy Breßfort, die ebenso frisch wie ihr Gatte aussah, nickte.

„Aber gewiß, Mr. Harst. Ich hole nur meine Büchse.“

Sie[4] war im Augenblick zurück.

Harst drängte zur Eile. Wir sechs begannen den Rückweg nach dem Lager der Tharräuber.

Allan Breßfort fand jetzt Zeit, uns kurz seine Erlebnisse zu schildern.

Die fünf Radschputen, die er als Führer in Ghoshgarh angeworben gehabt hatte, waren nichts anderes als Banditen gewesen, die die ahnungslose Jagdgesellschaft zwar erst nach den Kanod-Bergen, dann aber bis hier in die Nähe des Hauptschlupfwinkels der Buschklepper unter allerlei Vorwänden gebracht hatten, wo sie dann den Lord eines Nachts überfielen und zwar in dem westlichen Tunnel des Pyramidenberges. Außer den fünf Führern beteiligten sich dabei noch vier andere Radschputen. Die geplante Überrumpelung mißglückte jedoch, da der Major Pancroof schon vorher Verdacht geschöpft hatte. So kam es, daß der Lord, seine Gattin und drei Diener unverwundet durch den Tunnel auf die oberste Ostterrasse und durch die Höhle weiter in das Innere des Berges gelangten, der sich zu ihrem Erstaunen kraterähnlich ausgehöhlt zeigte, also einen Talkessel mit nach innen etwas vorgeneigten Wänden bildete.

Und hier in diesem Krater fanden sie nicht nur eine Zisterne, sondern auch mehrere Zelte und Lebensmittel aller Art vor.

Der energische Lord hatte sofort den schmalen Zugang zu diesem Schlupfwinkel durch Kugeln verteidigt, hatte ihn verrammelt und jeden weiteren Angriff blutig abgeschlagen. Da die Banditen von oben in den Krater nicht hinabgelangen konnten, mußten sie sich auf eine Belagerung beschränken.

Volle 25 Tage hatten die fünf Personen so in dem Talkessel ausgeharrt, hatten bestimmt auf endliche Befreiung gehofft. –

Als Harald nun erwähnte, daß wir des Majors Leiche gefunden hätten und auch den treuen Maniter, wurde der Lord sehr still. Ihm schien seines Schwager Tod recht nahe zu gehen. –

Wir näherten uns dem Plateau. Harald und einer der indischen Diener des Lords schlichen jetzt voraus, um den Wachtposten vor der Schlucht lautlos zu überwältigen.

Es gelang auch. Der Diener holte uns dann herbei.

Alles schien nach Wunsch zu gehen. Aber – Maniter verdarb uns den vollen Erfolg.

Er hatte sich losgerissen, kam gerade bellend auf unserer Fährte über das Plateau gejagt, als Harald die Buschklepper anrufen wollte.

Das Gebell des Hundes scheuchte den allein noch am glimmenden Feuer sitzenden Greebrac auf. Er ahnte wohl, daß es hier nur eine Möglichkeit der Rettung gab: die Flucht!

Er stürmte in den Hintergrund der Schlucht, feuerte dabei seinen Revolver ab.

Aus den Zelten tauchten die Radschputen auf.

Olgerdyns Stimme erklang.

Haralds Drohung, jeden Versuch der Gegenwehr durch Schüsse zu vereiteln, kam zu spät.

Uns, die wir vor der Schlucht gedeckt lagen, pfiffen Kugeln um die Ohren.

Lord Breßfort feuerte zuerst.

Auch er hatte eine Repetierbüchse. Und – er schoß gut trotz des schlechten Lichts.

Dunkle Gestalten suchten die Rückwand der Schlucht zu erklimmen.

Auch die drei Diener schossen jetzt.

Die Dromedare der Buschklepper rissen sich los, galoppierten hin und her. –

Der Tod Major Pancroofs wurde blutig gerächt. Nach zehn Minuten ergaben sich die noch lebenden vier Radschputen.

Auch Hektor Olgerdyn, der berühmte Kamelzüchter von Tallamara, lag mit Kopfschuß neben einem toten Dromedar.

Aber – Greebrac und Robert Scamarack waren entwischt – als einzige! Daran war Maniter, der Foxterrier, schuld. Und doch sagte niemand dem Tiere ein böses Wort. Die Treue, die er seinem Herrn bewiesen hatte, machte alles gut. –

Die vier lebenden Radschputen mußten dann bei Tagesanbruch die Leichen beerdigen. Um sechs Uhr früh waren wir wieder in dem Talkessel des Pyramidenberges.

Lady Breßfort entlockte die Nachricht von dem Tode ihres Bruders heiße Tränen.

Wir beide überließen es ihrem Gatten, sie zu trösten, holten unsere Reittiere aus dem anderen Tale herbei und wurden abermals von Maniter hin und zurück begleitet, der sich von Harst nicht mehr trennen wollte.

Bereits um acht Uhr vormittags brachen dann das Ehepaar Breßfort und die drei Diener mit den neun Gefangenen, die auf ihre Reittiere gefesselt wurden, nach Tallamara auf, wo sie spätestens gegen fünf Uhr nachmittags eintreffen mußten.

Wir gaben ihnen ein Stück das Geleit. Lord Breßfort hatte Maniter am Sattelknopf an langer Leine festgebunden. Wir konnten den Foxterrier bei der weiteren Verfolgung Greebracs nicht brauchen.

Der Abschied von dem Ehepaare war überaus herzlich. Breßfort wollte sich nach Lucknow begeben, wo seine Gattin eine Freundin, Miß Bennerton, besuchen wollte, die in dem folgenden Band noch eine Rolle spielt, was wir damals freilich nicht voraussehen konnten. Er bat uns, mit ihm in Lucknow wieder zusammenzutreffen. Harst versprach es auch.

Dann ritt der Trupp nach Westen zu in die sonnbeschienene Thar hinein, entschwand bald unseren Blicken.

Wir kehrten um und besuchten nochmals den Schlupfwinkel der Buschklepper, um unsere Wasserschläuche aus der Zisterne zu füllen.

Harald hatte dem toten Olgerdyn die Brieftasche abgenommen. Während ich die Schläuche füllte, hielt er auf der Ostterrasse Wache, da wir ja damit rechnen mußten, daß Greebrac und Robert Scamarack versuchen würden, uns hinterrücks zu überfallen.

Als ich mit vier Wasserschläuchen schwer beladen, draußen auf der Terrasse erschien, hielt mir Harald ein Blatt Papier hin.

„Da – dies fand ich in Olgerdyns Brieftasche,“ sagte er.

„Etwas Wichtiges?“ meinte ich ohne besonderes Interesse.

„Das wird sich erst herausstellen. Es ist ein sehr merkwürdiger Brief. Du kannst ihn nachher lesen.“

Ich ging und holte die übrigen vier Schläuche.

Harald hatte den Brief noch immer in der Hand.

„Eine geheimnisvolle Geschichte,“ sagte er sinnend. „Jetzt wollen wir erst einmal diesen ungemütlichen Platz verlassen und zusehen, ob Greebrac und Scamarack vielleicht aus den Bergen bereits in die Ebene geflüchtet sind.“ –

Was der Brief enthielt und wie wir Roland den Zwerg kennen lernten, wie auch Haralds Vorsicht gegenüber der verbrecherischen Schlauheit Greebracs versagte, – all das in dem folgenden Abenteuer.

 

 

Die Buschklepper der Thar-Wüste

 

1. Kapitel.

Der kleine Kamelreiter.

Wir lagerten gegen elf Uhr vormittags auf der Schattenseite einer kleinen Felsgruppe südlich der Berge, da Harald es für nicht ratsam hielt, inmitten der unübersichtlichen Anhöhen den versäumten Nachtschlaf nachzuholen. Die Felsgruppe war von den letzten Ausläufern des Bergzuges etwa eine Viertelmeile entfernt, lag auf einem Hügel und bot den Vorteil eines weiten Rundblickes über die Sandwüste.

Unsere Suche nach Greebracs und Scamaracks Spuren hatten wir sehr bald aufgegeben. Wir hätten ja, wenn wir sorgfältig sein wollten, die ganze Bergkette umrunden müssen, und dazu waren wir zu müde.

Wir hatten eins der Zelte aus dem Krater mitgenommen und es im Schatten der Felsen aufgestellt.

Während wir jetzt frühstückten, holte Harst wieder den Brief hervor.

„Lies ihn nicht mit den Augen, sondern mit dem Verstande,“ sagte er. „Ich will einmal Ausschau halten, ob sich etwas Lebendes zeigt.“

Er erkletterte einen der Felsen. –

Ich las folgendes:

Agra, den 7. Januar 19…

Mr. Hektor Olgerdyn

Tallamara.

Ihr Angebot vom 2. des Monats hat mich sehr überrascht. Ihre Andeutungen sind mir ziemlich unverständlich. – Sie wollen aus meiner geringen Größe Kapital schlagen, wollen meine akrobatischen Fähigkeiten besser bezahlen als jeder andere? Ich soll lediglich durch eine enge Felsspalte kriechen und dafür 50 000 Rupien erhalten?!

Entschuldigen Sie, Mr. Olgerdyn: daraus werde ich nicht klug! – Sie schreiben mir weiter, daß ich nichts fragen dürfe, sondern lediglich tun müßte, was Sie verlangen. Handelt es sich wirklich nur um eine kurze Reise in die Thar-Wüste hinein?

Das Reisegeld, das Sie Ihrem Schreiben für die Fahrt bis Tallamara beigefügt haben, sende ich anbei zurück. Ihr Angebot ist mir zu geheimnisvoll. Wenn ich auch Artist bin: ich liebe nur reinliche Geschäfte. – Auf mein strengstes Stillschweigen können Sie sich verlassen.

Ergebenst
Roland Hartleport,
zur Zeit Alhambra, Agra.

All dies stand auf der Vorderseite des Bogens.

Als ich ihn nun umdrehte, fand ich auf der Rückseite folgende Bleistiftnotiz:

11. Januar 100 000 R. geboten,
18. Januar 50 000 voraus
26. einverstanden.

Da kam Harald schon wieder herabgeklettert.

„Keine lebende Seele weit und breit,“ meinte er. „Na – was sagst Du zu dem Brief?“

„Hm – ich denke, der Inhalt ist völlig klar.“

„So?! Ich finde ihn sehr unklar.“

Er öffnete eines der Zigarettenpäckchen, die Lord Breßfort ihm geschenkt hatte, da Haralds Zigarettenvorrat längst verbraucht war.

Mit dem Behagen des leidenschaftlichen Verehrers papierumhüllter Tabakröllchen sog er den Rauch dann ein und fügte hinzu:

„Unklar ist meines Erachtens der Zweck dieses beabsichtigten Engagementsvertrages. 50 000[5] Rupien sind ein nettes Stück Geld. Ein Mann wie Olgerdyn opfert sie nur, wenn er weiß, daß er dadurch mindestens das zehnfache verdient. Also sollte – na, was sollte Roland Hartleport, übrigens ein recht bekannter Name in der Artistenwelt?“

„Er sollte durch eine Felsspalte kriechen – falls das kein schlechter Witz von ihm ist!“

„Im Gegenteil – von Witz kann hier keine Rede sein. Auf der Rückseite des Briefes steht ja, von Olgerdyns Hand geschrieben, daß er am 11. Januar sein Angebot auf 100 000 Rupien erhöht, am 18. Januar 50 000 vorausbezahlt und daß Roland Hartleport am 26. das Angebot angenommen hat.“

„Ah – also ist das seltsame Geschäft perfekt geworden –“

„Ohne Zweifel. Du rühmst ja stets mein Gedächtnis für Kleinigkeiten in allen Tonarten. Auch Roland Hartleport ist eine solche „Kleinigkeit“, nämlich zur Zeit der kleinste Mann der Welt. Er mißt nur 98 Zentimeter, ist nebenbei ein vorzüglicher Parterreakrobat, Schlangenmensch und Jongleur. Die zweite „Kleinigkeit“, an die mich sein Name erinnert, ist folgende. In den Zeitungen Bombays – wir weilten ja Februar gerade in Bombay – war zu lesen, daß „der kleinste Mann der Welt“, der bis zum 31. Januar für die Alhambra in Agra engagiert gewesen war, sein neues Engagement am Varietee Gulden-Hall in Bombay nicht angetreten hätte und daß er unbekannt wohin von Agra abgereist wäre. Der Direktor der Gulden-Hall, las ich eine Woche später in demselben Blatt, hatte daher gegen Hartleport eine Klage wegen Kontraktbruchs angestrengt. Hartleport war jedoch unauffindbar. Sein größeres Gepäck lagerte freilich noch auf dem Bahnhof in Agra. Diese letzte Notiz mag etwa am 25. Februar erschienen sein. Dann ging nochmals eine kurze Nachricht, Hartleport betreffend, durch die Zeitungen, und zwar vor etwa fünf Wochen. Darin hieß es, daß Roland Hartleport jetzt von seiner in London lebenden Schwester gesucht würde, die auch die indischen Behörden dieserhalb um Unterstützung ihrer Bemühungen gebeten hätte. Hiermit endet meine Weisheit über Roland den Zwerg. Oder besser: sie endete, denn jetzt hat der Brief die Frage wieder aufgerollt, wo der kleinste Mann der Welt wohl geblieben sein könnte. – Wie denkst Du darüber?“

„Man könnte doch nur ganz leere Vermutungen aufstellen,“ meinte ich ausweichend.

Harald nahm die zweite Zigarette. „So?! leere Vermutungen?! Lieber Alter, reime Dir die Sache mal folgendermaßen zusammen. – Wir wissen, daß Olgerdyn jahrelang der Anführer einer Buschklepperbande war, die zahlreiche Karawanen ausgeplündert hat. Bei einem dieser Überfälle auf eine Karawane mag einer der Mitreisenden, der Kostbarkeiten, sagen wir Edelsteine, bei sich hatte, entflohen sein. Der Betreffende wurde verfolgt und gelangte auf der Flucht in eine bergige Gegend, kroch in eine Felsspalte hinein, wurde hier von den Räubern entdeckt und warf seine Diamanten, um sie den Banditen zu entziehen, in eine noch engere Felsspalte hinein, die für einen Erwachsenen unpassierbar ist und die auch nicht durch Wegsprengen des Gesteins geöffnet werden konnte. Der Mann selbst wurde dann von den Buschkleppern ermordet. Olgerdyn aber wollte gern den in der Felsspalte unerreichbaren Schatz heben. Als findiger Kopf kommt er auf den Gedanken, den Zwerg Roland Hartleport damit zu betrauen, die Edelsteine aus der Spalte herauszuholen. Er bietet ihm schließlich 100 000 Rupien, und Hartleport nimmt an, trifft sich mit Olgerdyn, erledigt seine Aufgabe und – wird beseitigt. So spart Olgerdyn die 100 000 Rupien und ist trotzdem in Besitz der Juwelen gelangt. Da Roland sein Versprechen, über das ganze Geschäft tiefstes Schweigen zu bewahren, gehalten hat, gilt er nunmehr als verschwunden.“

„Eine Theorie, die vieles für sich hat,“ nickte ich zustimmend. „Vorhin sagtest Du doch, daß der Brief unklar sei. Wie reimt sich das mit dieser Theorie zusammen?“

Harald lächelte fein. „Diese Bemerkung sollte nur ein Ansporn für Dich sein, mir zu beweisen, daß der Brief sich leicht und logisch ergänzen ließe. Nein – es gibt hier keine Unklarheiten mehr. Es handelt sich lediglich um die Frage, ob Hartleport wirklich tot ist. – So, jetzt will ich abermals von oben Ausschau halten. Du kannst Dich niederlegen und schlafen. Zwei Stunden bewillige ich Dir.“

Er hatte dann jedoch kaum die Spitze des einen Felsens erklommen, als er auch schon rief:

„Ein Kamelreiter auf unserer Fährte von Norden her! Er ist noch weit entfernt. Wenn ich nur ein Glas hätte! In dieser flimmernden Wüstenluft ist nichts zu erkennen.“

Meine Müdigkeit war verflogen. Sehr bald lag ich neben Harst auf dem sonndurchglühten, abgeplatteten Felsen.

Der Reiter tauchte soeben wieder aus einer Talsenkung auf, kam näher und näher.

„Das ist gar kein erwachsener Mann,“ meinte Harald bedächtig. „Das ist ein Kind –“

„Ja – ein reiner Knirps. Und vom Reiten hat er wenig Ahnung,“ fügte ich hinzu.

Plötzlich preßte Harst meinen Arm.

„Du – es gibt fürwahr merkwürdige Zufälle im Leben! Der Reiter ist ein Zwerg! Es muß Roland Hartleport sein!“

„Unmöglich. Solche Zufälle –“ – Ich beendete den Satz nicht. Meine Augen warnten mich, vorschnell zu behaupten, daß es solche Zufälle nicht gäbe.

Ja – das war kein Kind! Das war ein winziges, bartloses Männlein mit faltigem, bartlosem Gesicht, gekleidet in einen vielfach zerrissenen Sportanzug, auf dem Kopf aber einen Tropenhelm, der die ganze Gestalt noch putziger erscheinen ließ.

Es mußte Roland der Zwerg sein – mußte! Wer wohl sonst?

„Es ist unglaublich, daß er uns jetzt gerade in den Weg läuft, wo wir von ihm gesprochen haben,“ meinte ich nun.

„Es ist ver…“ – Das weitere, was Harald murmelte, verstand ich nicht.

Der kleine Kamelreiter war inzwischen auch bereits bis auf fünfzig Schritt der Felsgruppe näher gekommen, hielt sein Dromedar an und blickte nach uns hinüber.

„Warten wir ab, wie er sich benimmt,“ flüsterte Harald da. „Jedenfalls tun wir vorläufig so, als wüßten wir nicht, daß wir Roland Hartleport vor uns hätten.“

Mir kam dies recht überflüssig vor. Doch Harst hat ja stets mit allem irgend einen verborgenen Zweck im Auge.

 

2. Kapitel.

Der kühle Tee.

„Gestatten Sie, daß ich bei Ihnen lagere?“ rief Roland jetzt herüber. Sein tiefer Baß wirkte überaus komisch.

„Gewiß!“ erklärte Harald. „Kommen Sie nur, Master. Wir haben sogar ein Zelt zur Verfügung.“

Wir kletterten von dem Felsblock herab. Der Kleine rutschte dann auf sehr gewandte Art aus dem Sattel, musterte uns kurz, legte zwei Finger an den schmierigen Tropenhelm und stellte sich vor:

„Roland Hartleport ist mein Name – Artist!“

Seltsam: Harald deutete auf mich und sagte:

„Hier mein Freund Scropp. Ich selbst heiße Robert Horster. Wir sind Touristen, Deutschamerikaner aus Walkersville. Seien Sie uns willkommen, Mr. Hartleport.“

Weshalb dieses Verschweigen unserer wahren Namen?! Traute Harald dem Zwerge nicht? Aus welchem Grunde wohl? –

Wir ließen uns vor dem Zelt nieder. Wir boten Roland etwas zu essen an. Er schien tüchtig ausgehungert zu sein. Während er sich mit Heißhunger über den Inhalt einer Konservenbüchse hermachte, erzählte er uns unaufgefordert folgendes:

„Sie werden sich wundern, was ich hier so allein mitten in der Thar-Wüste treibe,“ begann er. „Leider bin ich, was den Grund meiner Reise in diese Einöde betrifft, zum Schweigen verpflichtet. Ich will nur andeuten, daß ich hier geschäftlich zu tun hatte. Die Sache zerschlug sich jedoch, und auf dem Rückwege wurde ich von räuberischen Radschputen vor etwa zweiundeinhalb Monaten gefangen genommen, ausgeplündert und bis –“ – er machte eine kurze Pause – „bis vorgestern in einem einzelnen Gehöft weit drüben nach Norden zu gefangengehalten. Vorgestern gelang es mir endlich zu entfliehen. Ich stahl ein Reitkamel, Sattel und Zaumzeug, zwei Wasserschläuche und einige Hirsebrote und ritt nach Süden zu davon. Ein Sandsturm verwehte meine Fährte zum Glück. Sonst hätten die Radschputen mich wahrscheinlich wieder ergriffen. Vorhin stieß ich dann auf Ihre Spuren und folgte diesen. Ich möchte[6] nach bewohnten Gegenden zurückkehren. Ich bin ganz ohne Waffen und fürchte mich, allein noch weiter die öde Steppe zu durchqueren.“

Ich hatte sofort das Gefühl, diese Schilderung seiner Erlebnisse entspräche durchaus nicht der Wahrheit. Aber – weshalb log er?! Und wo kam er in Wirklichkeit her?

Harald nickte dem Kleinen nun freundlich zu und meinte, er könnte so lange bei uns bleiben, als er nur wollte. „Wir haben uns hier mit ein paar Bekannten verabredet,“ fügte er hinzu. „Wir möchten Bergschafe jagen. Unsere Freunde sind jedoch scheinbar falsch geritten. Wir müssen sie nachher suchen.“

Die weitere Unterhaltung drehte sich um das Räuberunwesen in der Thar, wobei Harald auf des Majors Winchesterbüchse deutete, die Lord Breßfort ihm geschenkt hatte, und lachend erklärte, mit so einer Repetierbüchse sei man hier so sicher wie in Abrahams Schoß. –

Wenn ich nur begriffen hätte, was diese Komödie sollte! Weshalb sollten wir die Touristen spielen?! Weshalb sollte Roland nicht erfahren, daß wir Harst und Schraut waren?

Ich[7] mußte mich deshalb auch mit größter Vorsicht an dem Gespräch beteiligen, durfte mich nicht verraten und tappte also völlig im Dunkeln.

Endlich erhob Harst sich dann und erklärte, wir beide wollten einmal von einer noch höheren Sanddüne aus nach unseren Jagdfreunden Ausschau halten.

„Geben Sie derweil auf unsere Tiere acht, Mr. Hartleport,“ bat Harald noch.

Dann nahmen wir unsere Büchsen und schritten in die Wüste hinaus.

Harst begann denn auch sehr bald:

„Nun wirst Du über mich herfallen und fragen: weshalb, wozu, warum – und so weiter! Du kannst Dir all diese Fragen schenken, denn ich kann Dir lediglich das eine sagen: der Blick, mit dem Roland Hartleport uns bei der Begrüßung musterte, war nicht so, als wenn man Wildfremde prüfend taxiert. Nein, in diesem Blick lag das – ich möchte behaupten feindselige Interesse an Personen, von denen man bereits etwas gehört hat, die einem beschrieben worden sind und die man nun vor sich sieht. – Daß mich dieser Ausdruck seiner Augen sehr in Erstaunen setzte, kannst Du Dir denken.“

„Hm – aber Du befahlst mir doch bereits vorher, als wir noch auf dem Felsen lagen, so zu tun, als ob wir nicht wüßten, daß wir –“

„Allerdings,“ unterbrach er mich, „das wünsche ich, um mich nachher an der Überraschung des Kleinen zu weiden, wenn wir ihm sein Abenteuer mit dem Engagement bei Hektor Olgerdyn erzählen würden. Der Zweck, den ich anfänglich damit verfolgte, war also ein gänzlich harmloser. Die Sache änderte sich erst, als ich Rolands Blick richtig einschätzte: er ist gegen uns irgendwie voreingenommen! Mehr noch, er sieht in uns Feinde! Und daß dies so ist, bewies er selbst durch die Schilderung seiner Erlebnisse. Er hat uns in manchen Punkten ohne Zweifel die Unwahrheit gesagt. Ich behaupte: er ist gar nicht entflohen! Er zögerte merklich, als er den Zeitpunkt seiner Flucht angab. Jeder Mensch, der derartiges hinter sich hat, jeder, der so aufregende Stunden als Verfolgter durchgemacht hat, wird niemals so vollständig jede Einzelheit umgehen, wie er es tat. Seine Schilderung war so gehalten, daß er sich, falls wir nachher nach Einzelheiten fragten, nicht in Widersprüche verwickeln konnte.“

„Nun gut – das mag alles sein. Wo kam der Zwerg her?“

„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur eins: wir müssen ihm gegenüber vorsichtig sein! Der kleine Mensch behagt mir nicht!“

Wir hatten die höchste Sandkuppe der näheren Umgebung unseres Lagerplatzes erreicht. Sie war von der Felsgruppe etwa tausend Meter entfernt.

Mehr zum Schein blieben wir eine Weile stehen. Ich grübelte fortgesetzt über dem Rätsel, Roland Hartleport genannt, nach.

Auch Harald schwieg. Er hatte schon wieder eine Zigarette im Mundwinkel.

Dann stieß er plötzlich ein erstauntes: „Ah – was bedeutet das nun wieder?!“ aus.

Und fügte sofort hinzu: „Drehe Dich unauffällig um und blicke nach unserem Lager hin.“

Ich tat es. Ich sah nichts Auffälliges.

„Was gibt’s denn?“ fragte ich achselzuckend.

„Ein Taschenspiegel!“

Diese knappe Antwort erforderte erst einiges Nachdenken. – Taschenspiegel?! Was sollte das?!

Nochmals schaute ich den zu den Felsen hinüber.

„Gehen wir!“ sagte Harald hastig. „So komm doch! Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen.“

Er zog mich halb nach Osten zu dem[8] Hügel hinab. Die Felsgruppe erhob sich im Westen. Wir waren jetzt also gegen Sicht vom Lager aus gedeckt.

„Was sollte der Taschenspiegel?“ meinte ich etwas ungeduldig.

Harald wandte sich halb um, schaute mich an.

„Roland lag auf dem kleineren Felsen hinter den Steinbrocken und ließ die Sonne auf einen Spiegel fallen. So etwas nennt man – Lichttelegraphie!“ sagte er mit ernstem, versonnenem Gesicht.

„Lichtsignale?! Und – für wen?“ fragte ich ungläubig.

„Wenn wir das wüßten! Gewiß, es bestände die Möglichkeit, daß der Kleine ganz zu Olgerdyn übergegangen ist und daß er jetzt mit Greebrac und Robert Scamarack gemeinsame Sache gegen uns gemacht hat, das heißt also, daß die beiden Verbrecher ihn zu uns geschickt haben. Sehr vieles spricht dafür – sogar zu vieles fast! Aber anderseits erscheint es auch wieder so ziemlich ausgeschlossen, daß der Zwerg sein immerhin friedliches und einträgliches Artistendasein freiwillig aufgegeben haben sollte, um hier in der Thar mit Buschkleppern sich auf Abenteuer einzulassen, die ihm den Tod am Galgen einbringen können. Nein – freiwillig ist er niemals über zwei Monate hier in der Thar geblieben. Er ist hier festgehalten worden. Und – dann kann er jetzt auch nicht von zwei Verbündeten des Mannes, der ihn in die Thar lockte und ihm die 100 000 Rupien nachher nicht ausgezahlt hat, etwa als Spion benutzt worden sein – gegen uns beide! Nein, all das reimt sich nicht zusammen. Es muß da noch eine andere Lösung geben – muß! Ich finde sie nur nicht.“

„Leicht kann sie auch nicht sein,“ nickte ich kopfschüttelnd. „Dieser Roland ist ein kleines großes Rätsel.“

„Mit – Handspiegel!“ murmelte Harst, in Nachdenken versunken. „Wem galten die Lichtblitze, die ich bemerkte – wem nur?!“

Dann – lief es wie ein Aufleuchten über sein schmales, braunes Gesicht hin. Die halb geschlossenen Augen öffneten sich.

„Mein Alter – jetzt habe ich die Lösung!“ sagte er lebhaft. „Und – es ist ohne Zweifel die richtige. Das Feindselige in Rolands Blicken, dem wir dem Äußern nach fraglos genau beschrieben worden waren, sein Auftauchen hier, die Art und Weise seiner Flucht, die Lichtsignale: alles paßt zu dieser Theorie! – Kehren wir zum Lager zurück. Ich werde die Sache mit Hartleport sofort in Ordnung bringen. Du wirst sehen, daß aus Roland mit dem feindseligen Blick ein ganz anderer wird. Frage nichts weiter. Weshalb willst Du Dich eines kleinen Genusses berauben, den Dir meine Aussprache mit dem Zwerge sicherlich bereiten wird.“

Die Sonne brannte unerträglich heiß hernieder. Ich war froh, daß ich wieder in den Schatten der Felsen gelangte.

Als wir dort ankamen, lag Hartleport dicht an den Steinblöcken und schien zu schlafen, erwachte jedoch, als ich die im Sande vergrabene Flasche mit Tee wieder heraus wühlte, um mit dem auf diese Weise ein wenig abgekühlten Getränk unsere Becher zu füllen. Wir hatten durch das Waten im Sande Durst bekommen.

Hartleport gähnte und setzte sich aufrecht.

„Zigarette gefällig?“ fragte Harald ihn und nahm den ersten Schluck.

„Danke,“ erwiderte Roland kurz. Das klang recht unfreundlich.

Harst lächelte fein.

„Was ist denn eigentlich aus Ihrem Geschäft mit Hektor Olgerdyn geworden, Mr. Hartleport?“

Der Kleine preßte die Lippen zusammen und schaute Harald finster an, – sagte gar nichts.

Der Tee war wirklich angenehm kühl. Harst trank den Becher leer und stellte ihn in den Sand.

Dann fügte er hinzu: „Mr. Hartleport, die beiden Männer, von denen Sie in der verflossenen Nacht oder heute früh befreit worden sind, haben Sie grob angelogen. Die beiden haben Sie angeblich zufällig gefunden – oder besser den Ort, wo Sie festgehalten wurden, haben sich Ihnen als Harst und Schraut vorgestellt und Sie bewogen, uns beiden sich hier anzuschließen, uns, angeblich zwei Verbündeten des Buschklepperanführers Olgerdyn. – Ist es nicht so?“

Der Zwerg war unruhig geworden. Die Blicke, die er jetzt fortgesetzt über uns hinstreifen ließ, waren so merkwürdig im Ausdruck, daß ich daraus nicht klug wurde.

Auch ich hatte meinen Becher geleert. Mit einem Male verschwamm mir alles vor den Augen.

Ein Schwindel packte mich. Mein Körper wurde zum Kreisel.

Waren das die Folgen der Hitze? Hatte ich mich vorhin zu lange der prallen Sonne ausgesetzt?

Der Anfall ging vorüber. Aber ich fühlte, daß mein ganzer Körper mit kaltem Schweiß bedeckt war.

Auch Harst hatte seltsam verglaste Augen; auch sein Gesicht sah plötzlich fast erdfahl aus.

Da rief er schon, und seine Stimme schnappte vor Erregung über:

„Um Gott, Hartleport, haben Sie etwa den Tee während unserer Abwesenheit vergiftet?“

Der Kleine schnellte hoch.

Ein Griff – er hatte unsere Gewehre, rannte davon.

Harald sprang auf, taumelte, schlug lang hin, raffte sich empor.

Dann schrie er mir etwas zu.

Ich begriff sofort, schob Zeige- und Mittelfinger in den Mund – so tief ich konnte, zwang den Magen, seinen Inhalt zu entleeren.

Ich kämpfte dabei fortgesetzt gegen Ohnmachtsanwandlungen an, bis ein neuer Schwindel mich scheinbar in einen meilentiefen Abgrund riß – bis mir die Besinnung schwand.

 

3. Kapitel.

Greebracs Rache.

Ich erwachte erst am folgenden Abend: Mir war sterbenselend zu Mute. Ich konnte kaum die Lider heben. Fortgesetzt quälte mich ein starker Brechreiz. In meinem Hirn bohrten die wahnsinnigsten Schmerzen.

Jemand beugte sich über mich.

„Ah – auch schon munter!“ höhnte eine Stimme.

Es war Greebrac – Doktor Albert Greebrac.

Meine trägen Gedanken sammelten sich. – Greebrac?! Was war doch eigentlich geschehen?

Langsam kam mir die Erinnerung.

Hartleport – die vergrabene Teeflasche – Gift –. Und nun – gefangen, in Greebracs Gewalt!

Ich schloß die Augen.

Da sagte eine andere Stimme, die des Zwerges, der tiefe Baß:

„Geben Sie ihm doch einen Schluck Rum, Mr. Harst.“

Mr. Harst –?! – Was sollte das? War Harald denn frei? War er etwa nicht gefesselt, wie ich, waren ihm die Arme nicht auf der Brust kreuzweis zusammengeschnürt?

„Meinetwegen. – Auf einen Schluck kommt es nicht an,“ erwiderte nicht Harald, sondern Greebrac.

Und da – da lebte mein Gedächtnis vollständig wieder auf! Da wußte ich, was Harst in den letzten Minuten, bevor der Tee wirkte, zu Roland gesprochen hatte: daß Greebrac und Scamarack sich Hartleport gegenüber als Harst und Schraut ausgegeben hatten, daß sie den Kleinen so für sich gewonnen hatten!

Ich spürte den scharfen Geruch von Rum unter der Nase. Man hob mir den Kopf hoch, und Roland sagte:

„Trinken Sie, Scamarack!“

Ah – also Robert Scamarack sollte ich sein!

Und – ich trank.

Es half auch. Mir wurde besser, ich fühlte mich kräftiger.

Ich schlief wieder ein. Dann rüttelte mich jemand.

Ich riß die Augen auf.

Über mir der ausgestirnte Nachthimmel. Vor mir ein Lagerfeuer, zwei Männer, auf Decken liegend, dahinter die Umrisse von Reitkamelen, Felsen, ein paar Palmen.

Der mich geweckt hatte, war Roland.

„Mr. Scamarack,“ sagte er, „Harst will mit Ihnen sprechen.“

Ich richtete mich mühsam auf.

Und da sah ich, daß Harald ebenfalls schon aufrecht dasaß, zwei Schritt rechts von mir.

Hartleport ging zum Feuer zurück und legte sich nieder.

„So, dann können wir ja beginnen,“ meinte Albert Greebrac mit kurzem Auflachen. Er drehte den Kopf nach Roland hin. „Es wird für Sie einige Überraschungen geben, Hartleport –“

„Bin neugierig, Mr. Harst! Ich wüßte nicht, welche?“

„Hören Sie nur zu. Nachdem Sie so etwa vor zwölf Wochen mit dem jetzt erschossenen Olgerdyn sich unweit Tallamara getroffen hatten und Olgerdyn mit Ihnen und zwei Radschputen seiner Bande bis zu einem bestimmten Höhenzuge in der Thar geritten war, hatten Sie gegen Olgerdyn Verdacht geschöpft und belauschten einmal ein Gespräch zwischen ihm und den Radschputen. Da wurde Ihnen klar, daß Sie zwei flache Kistchen mit Goldbarren aus einer jedem Erwachsenen unzugänglichen Felsspalte herausholen, nachher aber – beseitigt werden sollten. Sie taten nun das einzig Richtige: Sie entflohen! Aber Olgerdyn holte Sie ein und ließ Sie in der Nähe seines Schlupfwinkels, eines kraterähnlichen Felskessels, in einer nur von oben zugänglicher kleinen Höhle einsperren und dauernd durch einen seiner Leute bewachen.“

„Weshalb das alles, Mr. Harst?“ meinte Roland erstaunt. „Das habe ich Ihnen ja gestern früh erst erzählt.“

„Oh – lassen Sie nur. – Olgerdyn hoffte, Sie durch diese Gefangenschaft mürbe und gefügig zu machen. Sie zeigten aber eine bewundernswerte Ausdauer. Gegen elf Wochen saßen Sie dort in der kleinen Höhle. Dann gelang es Harst und Schraut –“

„– Also Ihnen beiden, meinen Rettern –“

„Lassen Sie nur! – Es gelang also Harst und Schraut, Olgerdyn einzukreisen. Seine Bande wurde halb aufgerieben. Zwei Europäer entkamen jedoch. Diese wußten, wo in einem fernen Seitentale noch eine Anzahl Reitdromedare weideten. Sie holten sich zwei der Tiere, nachdem sie genau beobachtet hatten, daß Harst und Schraut sich von Lord Breßforts Trupp wieder getrennt und im Südosten sich gelagert hatten. Sie holten die Reittiere und holten Sie, Hartleport, aus dem Felsenkerker heraus –“

Roland war wie ein Blitz hochgefahren.

„Ah – soll das ein Scherz sein?“ stammelte er.

„Nein – das ist bitterer Ernst!“ hohnlachte Greebrac. „Sie haben sich eben von mir und Scamarack einwickeln lassen! Wir spielten Ihre Retter. Ihr Wächter war entflohen. Wir sagten Ihnen, wo Greebrac und Scamarack lagerten, zwei Freunde Olgerdyns. Wir waren für Sie zwei Berühmtheiten: Harst und Schraut! – Setzen Sie sich wieder, Sie blöder Narr, oder mein Revolver geht los!“

„Schändlich – schändlich!“ keuchte der Kleine in maßlosem Grimm.

Sein Blick flog über uns hin. „Meine Herren, ich bin das Opfer zweier Schurken geworden, die mich verleiteten, Ihnen ein Schlafmittel –“

Das gröhlende Gelächter der beiden Verbrecher übertönte seine Worte.

„Ja – Sie sind das Opfer eines Mannes geworden,“ rief Greebrac dann fast stolz, „der letzten Endes doch etwas klüger als Harst ist! Sie werden jetzt den dritten im Bunde abgeben! Fessele ihn, Robert! Und wenn dann die beiden Berühmtheiten versorgt sind, werden wir ihn zwingen, doch in die Felsspalte zu kriechen und das Gold herauszuholen!“

Scamarack erhob sich faul.

Zwischen den beiden standen zwei Rumflaschen, denen sie bereits eifrig zugesprochen zu haben schienen.

Greebrac hatte den Revolver lose in der rechten Hand. Daß der Zwerg entfliehen könnte, damit rechnete er offenbar nicht.

Aber Roland Hartleport war trotz seiner Kinderfigur ein ganzer Mann.

Plötzlich griff er in den schwelenden Kamelmist hinein.

Ein Funkenregen flog Greebrac ins Gesicht.

Dann schnellte sich der Kleine gegen Scamaracks Füße, brachte ihn zu Fall, erklomm die Talwand mit wahrer Affengeschwindigkeit und – war vorläufig gerettet.

Albert Greebracs Flüche änderten an der Sache nichts. Bevor er auf die Beine kam und sich die Augen gereinigt hatte, bevor er Harsts Winchesterbüchse in der Hand und seinem Genossen zugerufen hatte, uns zu bewachen, – bevor er selbst auf die Höhe der Talwand gelangt war, hatte Hartleport längst einen Vorsprung gewonnen, der hier inmitten der nächtlichen Bergwelt eine Verfolgung ziemlich aussichtslos machte.

Zwei Stunden vergingen. Dann kehrte Greebrac allein zurück.

Still, mit unheimlicher Ruhe, nahm er wieder am Feuer Platz. Scamarack wagte nichts zu fragen. Eine Weile brütete der andere so vor sich hin.

„Hole einen Spaten aus dem Krater,“ sagte er dann zu Scamarack, der sich auch sofort schweigend entfernte,

Wir beide saßen noch nebeneinander. Daß wir von diesem mit Wut förmlich angefüllten Menschen, den wir nun schon seit Wochen von Ort zu Ort gehetzt hatten, das Allerschlimmste zu erwarten hätten, sagte ich mir selbst.

Und doch – es kam noch schlimmer!

Kein Wort sprach Greebrac zu uns.

Der Diener Robert erschien nach zwanzig Minuten mit einem Spaten.

„Aufbrechen!“ befahl Greebrac. „Die beiden werden an die Sättel gehängt.“

Wie zwei Bündel schnürten sie uns in der Weise fest, daß wir an den Leibern der Tiere ganz zusammengekrümmt hingen.

Der Morgen graute. Greebrac lenkte durch eine Schlucht nach Westen zu in die offene Wüste hinaus. Die Dromedare gingen mit der doppelten Last nur Schritt. In einem tiefen, felsigen Bodeneinschnitt umwickelte Greebrac den Tieren die Hufe. Nach anderthalb Stunden, meist über harten Boden und stets in wechselnder Richtung, – dann näherten wir uns wieder einer Hügelkette. In einem sandigen Tale, das sich tief in die Berge hineinzog und eine spärliche Vegetation besaß, machte unser schweigsamer Feind halt.

Wir wurden roh auf den Boden geworfen.

Dann deutete Greebrac auf ein paar armselige Palmen, an deren Fuß einige Wüstenpflanzen sich angesiedelt hatten.

„Grabe zwei mannstiefe Löcher, Robert!“

Scamarack nahm den Spaten und entfernte sich. –

Wollte man uns hier etwa wie tolle Hunde niederschießen? Sollten wir dann gleich verscharrt werden?

Ich blickte Harald an. Er hatte die Augen geschlossen.

Hatte auch er jede Hoffnung aufgegeben? Sagte er sich dasselbe wie ich: daß uns niemand hier finden könnte, daß die beiden Verbrecher jede Spur vermieden hatten und dazu noch kreuz und quer geritten waren! Wie sollte Hartleport, auf den allein wir als Helfer vielleicht rechnen konnten, dieses Tal erreichen?! –

Greebrac hatte die Kamele an eine Palme gebunden, hatte wieder zur Rumflasche gegriffen. Er saß im Schatten der Talwand. Wir lagen in der prallen Sonne.

Hunger, Durst, ungewisse Angst, sengende Hitze quälten mich.

Auch ich schloß die Augen.

Blitzartig tauchte ein Bild vor mir auf: wie wir damals vor etwa zwei Jahren an der Küste Südarabiens auf einen schmalen Felsgrat gefesselt worden waren, auch in glühender Sonnenhitze, rechts und links von uns ein Abgrund, und wir beide langgereckt an einem dicken Tau.

Auch damals glaubte ich wie schon so oft, daß unser letztes Stündlein geschlagen hätte.

Und heute?! – Würde uns Greebrac erschießen? Trank er sich Mut dazu an? Mußte er, der gebildete Mann doch erst in seiner Seele durch den Alkohol die Stimme des Guten völlig zum Schweigen bringen? Lebte in ihm doch noch etwas von jenen weicheren Regungen, die bei jedem Menschen, selbst dem vertiertesten, irgendwie einmal erwachen? –

„Fertig!“ rief Robert Scamarack herüber.

„Trage sie dorthin!“ rief unser Feind zurück.

Scamarack schleifte erst mich und dann Harald zu den Sandlöchern hin.

Dann nahm Greebrac den Spaten, stützte sich leicht darauf und sagte in gemacht gleichgültigem Tone:

„Mr. Harst, besinnen Sie sich, daß ich Ihnen in Dehli einst drohte, ich würde Sie in der Thar verschmachten lassen, falls Sie mir weiter nachstellten? – Nun ist es so weit. Sie haben das Schicksal herausgefordert. Wir werden Sie beide bis zum Halse eingraben, werden vor Ihnen einen unserer Eßnäpfe, mit Wasser gefüllt, hinstellen, damit der Anblick des Wassers ihre Qualen erhöht. Sie verdienen diesen Tod! Sie haben mich bis hierher gejagt, von Stadt zu Stadt, haben mir alles genommen: das Weib, das ich liebte, meine Reichtümer – alles! Ich besitze nur noch diese Patentzeichnungen Doktor Murphisons.“

Er warf ein kleines Bündel Papiere in den Sand.

„Sie sind jetzt wertlos für mich. Ich kann sie nicht verkaufen. Ich würde mich dabei der Gefahr aussetzen, verhaftet zu werden. – Sie sollen diese Zeichnungen mit in Ihr Grab nehmen. Und wenn einmal ein Zufall Menschen hier vorüberführt, wenn Ihre Totenschädel die Neugier wachrufen und man Ihre Gebeine ausgräbt, wird vielleicht von diesen Zeichnungen noch so viel übrig sein, daß man ermittelt, nur Harst und Schraut können an dieser Stelle ihre letzten Seufzer ausgehaucht haben. – Robert – zuerst den Schraut!“

Scamarack packte mich; ich rutschte in die Grube.

Sand flog mir in die Augen; Sand umgab mich bald – bis zum Halse.

Auch Harald ließ schweigend alles mit sich geschehen.

Dann holte Scamarack den Napf mit Wasser.

Dann – verbeugten die beiden Schurken sich vor uns, schritten ihrem etwa zweihundert Meter entfernten Lagerplatz zu.

Die Palmen gaben keinen Schatten. Unsere Sportmützen hatte Greebrac ins Gestrüpp geworfen.

Unbarmherzig brannte die Sonne auf unsere unbedeckten Köpfe hernieder – so unbarmherzig, daß ich genau wußte: noch eine Stunde, und in Euren Adern rast Fieberglut! Nach drei Stunden habt Ihr sicherlich ausgelitten.

Harald wandte den Kopf. Sein traurig-ernster Blick ruhte lange auf meinem schweißfeuchten Gesicht.

Dann drehte er den Kopf wieder geradeaus.

Mir war’s, als hätte er so von mir Abschied genommen – wortlos, ergeben in sein Schicksal.

Wortlos, weil auch er keine Hoffnung hatte, wir könnten gerettet werden.

Wieder schloß ich die Augen. In meinen Ohren sang das Blut. Es pochte in den Schläfen. Heiße Schauer gingen mir über den Leib. Meine rechte, der Sonne zugekehrte Gesichtsseite brannte bald wie Feuer. Die Stiche im Hinterkopf steigerten sich, wurden zum bohrenden, andauernden Schmerz.

Von den Füßen kroch mir langsam eine eisige Kälte den Körper hoch. Sie löste die Hitzeschauer ab. Die Schweißabsonderung hörte auf. Mein Kopf schien in Flammen zu stehen; mein Leib gehörte mir nicht mehr, war ein Eisblock, eine tote Masse.

Und vor den geschlossenen Augen tanzten feurige Sonnen. Raketenbündel.

Dann – ein Schrei entrang sich meiner Kehle – ein irrsinniger Schrei.

Ich riß die Augen auf.

„Gnade – Gnade – eine Kugel!“ brüllte ich zu den Schurken hinüber.

Scamarack winkte mit der Rumflasche.

Ich stierte hin.

Sollte es denn möglich sein, daß es solche Bestien in Menschengestalt gab?! Sollten wir wirklich hier so jammervoll umkommen?!

Ein trockenes Schluchzen würgte mir in der Kehle.

Und Scamaracks Stimme:

„Prosit – es lebe das Leben!“

„Schuft – Mörder!“ heulte ich.

Ein Lachen war die Antwort.

Die Anstrengung der Kehlmuskeln hatte die Schmerzen noch erhöht. Mit einem gurgelnden Seufzer sank mir der Kopf vornüber. Für Minuten verlor ich das Bewußtsein.

 

4. Kapitel.

Maniter.

Überlauter Donner, förmliche Kanonensalven weckten mich.

Nein – kein Donner! Nur das siedende Blut in meinem Kopf erzeugte diese Gehörtäuschung.

Ich wollte schreien, brüllen, um Gnade winseln.

Ich bekam keinen Ton mehr über die Lippen. –

Und Harst – Harst?

Nur ein leises Stöhnen vernahm ich in den kurzen Pausen, wenn das Getöse in meinen Ohren schwieg. Nur ein Stöhnen – nichts weiter.

Meine umschleierten Blicke suchten das Lager unserer bestialischen Feinde.

Undeutlich sah ich die beiden Dromedare, die Gestalten Greebracs und Roberts.

Sie schienen zu schlafen. Sie hatten wie wir seit mehr als achtundvierzig Stunden kein Auge zugetan, hatten sich nur durch den Rum auf den Beinen gehalten.

Sie schliefen.

„Leb’ wohl – mein – Alter!“ quälte Harald mühsam hervor. „Wir – werden – gerächt – werden! Hartleport wird – Freund Lockpor – alles –“

Da – er schwieg – er schwieg –

Und dann ein tiefer Atemzug, – noch leiser:

„Maniter – der treue Maniter!“

Was sollte das?! Redete Harald irre?

Maniter, der Foxterrier? Wie kam Harald plötzlich auf den Namen des Hundes? –

„Maniter – wenn er – nur nicht bellt!“ Ganz verändert war Haralds Stimme.

Da drehte ich den Kopf nach links.

Eine irre Hoffnung belebte mich. Meine Blicke wurden klar.

Ich hielt den Atem an: Maniter, eine lange Leine hinter sich herschleifend, jagte heran – auf unserer Fährte.

Noch fünfzig Meter – noch dreißig.

„Wenn – er – nur nicht – bellt!“ flüsterte auch ich.

Die Zunge gehorchte mir wieder.

Harald rief den Hund leise an:

„Maniter – still – keinen Laut! Maniter – Ruhe!“

Der Foxterrier war schon vor ihm. Leckte ihm das Gesicht, winselte – bellte nicht!

Und – und beschnupperte unsere Köpfe dann nach Hundeart, legte sich, starrte seinen neuen Herrn an, sprang auf, begann – zu graben.

Die Vorderpfoten warfen den losen Sand nach hinten. Die Hinterbeine drückten ihn mehr zurück.

Wer jemals beobachtet hat, wie schnell selbst ein kleinerer Hund im Dünensand ein tiefes Loch ausscharrt, der wird mir ohne weiteres glauben, daß Maniter in kaum fünf Minute Harsts Oberleib vorn bis zu den Hüften freigelegt hatte.

Dann warf Harald sich nach vorwärts, zog auch die Beine heraus, wälzte sich zu mir, bis ich mit den Zähnen an die Knoten der Stricke herankonnte, die seine Arme auf der Brust festhielten.

Die Knoten lösten sich.

Harst hatte die Hände frei, machte sich auch die Schlingen der Füße los.

Taumelnd schritt er dem Lagerplatz zu.

Und – kam mit dem Spaten, unseren Büchsen und einem Wasserschlauch zurück.

Goß mir den halben Inhalt über den Kopf, gab mir zu trinken, trank selbst.

Maniter leckte die Schale leer, warf sich im Schatten des Gestrüpps nieder und ruhte sich aus.

Der Spaten machte auch mich frei. Aber – ich sank neben dem braven Hunde in den Sand.

„Ich hole einen zweiten Wasserschlauch,“ sagte Harald. „Da – nimm Deine Büchse – für alle Fälle –“

Er hob sein Winchestergewehr auf, probierte, ob der Lademechanismus in Ordnung war.

Dann ging er wieder davon.

Und brachte den zweiten gefüllten Schlauch.

Auch Maniter erhielt seinen Teil. Immer wieder streichelten wir unseren vierbeinigen Retter.

„Er hat sich losgerissen und ist unserer Fährte gefolgt,“ meinte Harald. „Major Pancroof hatte ihn stets mit auf die Jagd genommen. Da hat Maniter die feine Witterung –“

Ein heiserer Wutschrei vom Lagerplatz her.

Greebrac war erwacht, hatte sich aufgerichtet.

Harst sprang empor.

„Weg von den Tieren, Greebrac!“ rief er.

Der Verbrecher verschwand schon hinter den Dromedaren.

Peng – peng – peng – knallte blechern die Repetierbüchse.

Aber Haralds sonst so sichere Hand versagte heute.

Greebrac schwang sich bereits von Fels zu Fels die Talwand empor.

Sein trunkener Gefährte war nun ebenfalls auf den Beinen.

„Hierher, Scamarack!“ befahl Harst drohend.

Der Kerl wollte ebenfalls hinter die Dromedare entwischen.

Wieder das blecherne Peng.

Scamarack warf die Arme in die Luft – stürzte vornüber. –

Eine Stunde später war der Tote dort verscharrt, wo wir beide hatten sterben sollen: Schicksalsfügung!

Dann eilten wir in die Wüste hinaus. Greebrac zu verfolgen, wäre zwecklos gewesen.

Bellend umsprang Maniter in ausgelassener Freude unsere Reittiere. Wir ritten nicht weit – bis in ein tiefes Felsental, dessen Westseite Schatten und Kühle spendete.

Hier schliefen wir bis tief in die Nacht, schliefen sorglos. Maniter wachte; Maniter hätte niemand herangelassen. –

Als Harst mich weckte, war es zwei Uhr morgens.

Wir aßen und tranken. Dann brachen wir auf.

Der Morgen dämmerte.

Ein fahles Licht lag über den Sanddünen der Thar. Dann stieg die Sonne empor, in Dunst gehüllt, schüttelte die trüben Schleier ab und warf ihre Strahlenbündel über die weite Einsamkeit hin, in der wir drei dahintrabten.

Wir umritten die Hügel, in denen Greebrac uns entkommen war, bis wir auf die Fährte eines einzelnen Mannes stießen, eines Fußgängers.

Die Spuren kamen von Osten.

„Roland Hartleport!“ meinte Harald. „Die Größe der Fährten deutet nur auf ihn. Er muß es sein.“

Wir folgten den Spuren bis in die Hügel, bis in die kahlen Berge.

Wir klommen höher und höher, führten die Tiere am Zügel. Maniter, die Nase am Boden, war stets ein Stück voraus. Er hatte schnell begriffen, daß er uns helfen sollte, auf dieser Fährte zu bleiben. Nun leitete er uns, – und er tat es sicherer und schneller als wir höchstorganisierten Wesen der Schöpfung mit unseren doch so stumpfen Sinnen.

Höher und höher – bis zu einer der mächtigsten Kuppen.

Hier hatte Roland wohl Ausschau gehalten. Hier blickten auch wir suchend in die Runde.

Unter uns – rings um uns lag das Panorama der Wüste: Sanddünen, dunkle Einschnitte, dunkle Bergzüge. Kein Lebewesen. Nur in der Luft ein Adler – regungslos, wie an einem Faden hängend.

Harald zeigte nach Osten, wo sich, kaum zwei Meilen entfernt, ein düsterer Gebirgsstock auftürmte.

„Dort liegt der Pyramidenberg und das Kratertal. Ich erkenne die Konturen der Südausläufer wieder. Und –“

Da schwieg er – starrte mehr nach Norden.

„Was gibt’s?“ fragte ich schließlich ungeduldig.

„Siehst Du die beiden Punkte dort?“ meinte er hastig. „Gib genau acht. Sie bewegen sich kaum merklich.“

Ich mußte eine Weile suchen.

„Ah – jetzt habe ich sie!“

„Zwei Leute zu Fuß!“ sagte Harald. Und er betonte das „zu Fuß“ so sehr, daß ich unwillkürlich an Roland dachte, der ebenfalls zu Fuß hierher gewandert war.

Ein Gedanke dann.

„Etwa Greebrac und Hartleport?“ fragte ich zögernd.

„Wahrscheinlich. Und Roland als Gefangener. Sind sie es, dann wird Greebrac den Zwerg dorthin führen, wo die Goldbarren liegen. – Weiter also!“

Und Maniter lief wieder voran, lief durch Täler und Schluchten, bis auf ein kleines Plateau, wo zwischen Felsblöcken die Reste eines Lagerfeuers glimmten und wo in dünnen Sandwehen die Spuren zweier Leute sich abzeichneten: eines Mannes und eines Kindes scheinbar! Also: Greebrac und Hartleport.

„Lassen wir ihnen etwas Vorsprung,“ meinte Harald. „Greebrac soll sich ganz sicher wähnen.“

Wir nahmen hier die zweite Tagesmahlzeit ein.

Jetzt erst durchblätterte Harst das Bündel Zeichnungen, das Greebrac ihm in die Innentasche der Jacke geschoben hatte, bevor wir eingegraben wurden.

Eingegraben! Wie unendlich weit schien jene furchtbare Viertelstunde bereits in das Reich der Vergangenheit zurückgeglitten zu sein! Fast war’s schon wie etwas Unwirkliches, nie Gewesenes.

Aber – dort zu unseren Füßen lag Maniter und ließ sich das Konservenfleisch schmecken.

Wohl ihm! Uns schmeckte es nicht mehr. Es roch wie ranziger Talg. –

Eine Stunde Rast – dann Aufbruch, dann wieder auf der Fährte weiter – bis in die Sandwüste hinab.

Schnurgerade lief die Doppelspur auf den Nordteil des Gebirges zu. Greebrac verstand es, die Richtung einzuhalten.

Bald bogen wir weit nach links ab, ritten parallel zu der Fährte, überholten die beiden Wanderer unweit der ersten felsigen Anhöhen und sprengten ihnen voraus etwa dem Punkte zu, wo sie die Berge erreichen mußten.

 

5. Kapitel.

Die Felsspalte.

Nachmittags drei Uhr.

Die Sonne war hinter Dunstmassen verschwunden. Wir lagen auf der Südseite eines breiten, flachen Tales, das, allmählich ansteigend, im Hintergrunde von mächtigen Felskegeln begrenzt wurde. Unsere Reittiere standen weiter nach Süden in einer Schlucht. Steingeröll deckte uns. Maniter, den Harst an der Leine hatte, schlief zwischen uns.

Von Westen her kamen die beiden erschöpften Wanderer das Tal entlang.

Roland der Zwerg ging voran. Die Hände waren ihm lose auf dem Rücken zusammengebunden.

Albert Greebrac stolperte hinterdrein, den Kopf gesenkt, in der schlaff herabhängenden Hand einen Revolver. Eine andere Waffe besaß er nicht.

Endlos langsam schleppten sich die beiden vorwärts.

Als sie vorüber waren, folgten wir ihnen, indem wir uns nach Möglichkeit mehr rechts hielten.

Greebrac schien das Gelände gut zu kennen.

In einem Nebentale weiter östlich suchte er mit seinem Gefangenen eine natürliche Zisterne auf.

Hier lagerten sie eine Stunde.

Am Himmel ballte sich Gewölk zusammen. Ein Gewitter drohte, eines jener meist regenlosen Gewitter der Thar.

Es wurde, obwohl erst vier Uhr nachmittags, dunkler und dunkler.

Wir mußten, als Greebrac aufbrach, näher heran.

Er wandte sich nach Südost, überquerte mit Hartleport eine Hochebene, gelangte in ein enges Tal.

Dann begann das Unwetter.

Dunkle Nacht – Bündel von Blitzen – tausendfältig verstärkter Donner in den tiefen Tälern.

Ein kurzer Wolkenbruch jetzt. Es goß wie in Strömen. Keine Hand vor Augen war mehr zu sehen.

Und da – verloren wir die beiden aus dem Gesicht; da versagte auch Maniters feine Nase.

Wir wurden bis auf die Haut durchnäßt.

Ebenso plötzlich kein Tropfen mehr – Stille, Risse in der schwarzen Wolkenglocke und Sonnenschein, glitzernd in kurzlebigen Pfützen.

Wo waren Greebrac und Hartleport geblieben?

Wir standen noch in demselben Tale, wo wir sie zuletzt gesehen hatten. Wir standen ratlos. Drei Seitentäler zweigten sich vor uns ab.

„Wir müssen suchen,“ meinte Harald. „Nimm Maniter. Ich werde ein Stück vorausgehen.“

Im zweiten Seitental, eng, tief, düster und auf der Sohle mit Geröll bedeckt, nach Süden zu ein großer terrassenartiger Vorsprung.

Harst hatte sich gerade noch niederwerfen und mir zuwinken können: dort oben befand sich Greebrac, fesselte Roland den Zwerg gerade an einen großen Stein, schnürte ihn darauf fest, das Gesicht nach oben.

Dann verschwand er.

Harald erhob sich, entsicherte die Winchesterbüchse.

Weiter – rechts eine geneigte Wand empor, über ein kleines Plateau, dann nach links.

Nun hatten wir die Terrasse erreicht, nun sahen wir Roland – und er sah uns.

Wir duckten uns hinter Felsstücke, warteten.

Wenn wir die Felsspalte entdecken wollten, wo die beiden Goldkisten lagen, mußten wir Hartleport noch eine Weile in der peinvollen Lage belassen. Greebrac würde ihn dann losbinden, würde ihm wohl mit dem Tode drohen.

Wir warteten. Die Sonne sank tiefer.

Eine Viertelstunde verstrich.

Dann – dann ein dumpfer Schrei, nur vernehmbar in der tiefen Stille dieser Bergeinsamkeit, ein Schrei, der aus dem Innern der Erde zu kommen schien.

Sekundenlang nichts.

Nun wieder der Schrei – noch lauter – anhaltender.

„Hilfe – Hilfe – Hilfe!“

Harst sprang auf.

„Schneide Hartleport los,“ sagte er.

Dann befreite er Maniter von der Leine, eilte auf die Rückwand der Terrasse zu, bog um einen Vorsprung. –

Hartleport faßte meine Hand.

„Mr. Schraut, können Sie mir verzeihen?“ stammelte er. „Der Elende hatte es ja so schlau verstanden, mich zu belügen –“

„Vergeben – vergessen! – Kommen Sie!“ – Ich drückte seine Rechte, nickte ihm zu.

Abermals der dumpfe Hilferuf.

Wir eilten Harald nach. Wir standen hinter dem Vorsprung in der Terrassenwand eine breite Kluft.

Maniter bellte darin. Und Harst rief uns in der Dunkelheit zu:

„Wir brauchen Licht!“

Roland riß ein paar armselige Stauden aus. Ich half. Wir banden sie zusammen. Aber sie brannten nicht. Es waren Salzsträucher, dazu noch regenfeucht.

Harald trat zu:

„Greebrac ist in die Spalte hinabgestürzt, offenbar mit dem Kopf zuerst. Er kann weder vor- noch rückwärts. Er hat sich festgekeilt. Er wird sich wohl zu weit über die Spalte gebeugt haben. Wir können ihm kaum helfen.“

Und wieder der Hilferuf des Elenden – heiser – von Todesangst durchbebt.

Wir tasteten uns im Dunkeln in der Kluft weiter bis an den Rand der Spalte.

Harst rief hinab:

„Wir werden versuchen, Sie herauszuholen, Greebrac.“

„Also Sie – Sie!“ tönte es aus der Tiefe zurück. „Mr. Harst, haben Sie Erbarmen mit mir! Ich bin abgeglitten, ich stecke kopfabwärts zwischen den Steinwänden, kann mich nicht rühren!“

„Geduld, Greebrac! Was in unserer Macht steht, wird geschehen, Sie zu befreien.“ –

Nichts – nichts stand in unserer Macht. Harst versuchte hinabzuklettern. Hartleport versuchte dasselbe. Uns fehlte eine lange Leine.

Ich holte die Dromedare herbei. Wir banden die Zügel zusammen, zerschnitten die Decken, drehten Stricke.

Auch dieses Tau reichte nicht aus.

Greebracs Rufe wurden schwächer und schwächer.

Die Nacht kam.

Plötzlich eine grelle, schauerliche Lache aus der Felsspalte – das Gelächter eines Wahnsinnigen.

Dann irres Gebrüll, entsetzlich mitanzuhören:

„Gold – Gold – dort unten. Ich sehe es – Millionen – Millionen! Gold – ich werde es heraufbringen! Ich krieche tiefer – tiefer! Ich zerbeiße die Felsen, fresse sie auf –! Gold – Gold – alles mein!“

Und so ging es fort – sinnlos, aberwitzig, die Gedanken eines kranken Hirns. –

Um Mitternacht schoß Harst bei Mondlicht ein Bergschaf.

Der Knall lockte Freunde herbei, die bereits nach uns gesucht hatten: Lockpor und fünf Soldaten des Kamelreiterkorps aus Bikaner!

Nun gelang es endlich, dem wieder völlig verstummten Greebrac Schlingen um die Füße zu werfen.

Er wurde hochgezogen – als Leiche. –

Am Morgen begruben wir ihn. Dann begann Rolands freiwillige Arbeit: ihm glückte es, die beiden Kisten zu bergen.

Sie enthielten je zwanzig Goldbarren, hatten einen Wert von anderthalb Millionen Rupien. –

Am Abend trafen wir in Tallamara ein.

Die Hängebrücke zur Radschputenburg hinüber war durch einen Notbau aus Eisen und Holz ergänzt worden. Wir wohnten in der Burg, wir beide, Lockpor und Roland. Hier erholten wir uns schnell von all den ungeheuren Strapazen.

Die Erben jenes ermordeten Kaufmanns, dem die Goldkisten gehört hatten, schenkten Hartleport eine Viertelmillion Rupien. Das, was sie uns als Ehrengabe zugedacht hatten, überwies Harald dem Lepraheim bei Dehli.

Die Buschklepper der Thar waren jetzt völlig aufgerieben. Seitdem hat man nur noch ganz selten etwas von Überfällen auf Karawanen gehört. –

Eine Woche blieben wir in der Burg Tallamara.

Dann traf Lord Breßforts Depesche aus Lucknow ein.

Hierüber später Näheres.

 

Nächster Band:

Das blinde Hindumädchen.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































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38:
39:

vergriffen.
Zwei Taschentücher.
Die Jagd auf einen Namen.
Die Augen der Jolante.
Der Fluch eines Geschlechts.
Die verschwundene Million.
Die Festung des Ali Azzim.
Die tote Lady Rockwell.
Der Fakir von Nagpur.
Der blinde Brahmane.
Das Auge der Prinzessin Singawatha.
Das Löschblatt von Amritsar.
Die leuchtende Fratze.
Schattenbilder.
Der Löwe von Flandern.
Der ewige Jude.
Das Armband der Lady Mellville.
Die Rätselbrücke.
Der Einsiedler von Tristan da Cunha.
Das Siegellacktröpfchen.
Die Gesellschaft der roten Karten.
Die Uhrkette des Bill Hamilton.
Der Tempel der Kali.
Nur ein Tintenfleck.
Der Stern von Siam.
Eine leere Streichholzschachtel.
Der sprechende Kopf.
Das Geheimnis des Scheiterhaufens.
Die Gefangene von Trawalkor.
Die Eishöhle in Nepal.
Der Mord im Warenhause.
Der Spielklub W W.
Ein gefährlicher Auftrag.
Der sterbende Fechter.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, allerdings gibt es hier eine Besonderheit: Die Überschriften der beiden Geschichten sind miteinander vertauscht, so daß die Reihenfolge eigentlich korrekt ist. Überschriften entsprechend der Vorlage so belassen.
  2. In der Vorlage steht: „Ach“.
  3. In der Vorlage steht: „Ghosgarh“ – Fünf Vorkommen auf „Ghoshgarh“ geändert.
  4. In der Vorlage steht: „Er“.
  5. In der Vorlage steht: „50 00“.
  6. Die folgende Zeile ist doppelt. Weiterhin wurde am Anfang dieser Zeile das überflüssige Wort „Sie“ entfernt.
  7. In der Vorlage steht: „Im“.
  8. In der Vorlage steht: „den“.