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Der Giftpfeil des Wedda

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 81:

 

Der Giftpfeil des Wedda

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Lydia und die Katze.

Miß Honoria Myntor, der wir das Erbe ihrer Tante Maria Myntor glücklich gegenüber den Anschlägen eines schlauen Verbrechers gesichert hatten, wie ich im vorigen Band erzählt habe, war eine sehr liebenswürdige und aufmerksame Wirtin. Sie hatte nicht eher geruht, bis wir ihre Einladung, ein paar Tage ihre Gäste zu sein, angenommen hatten. Das seltsame Haus, das sie in Bombay bewohnte, hatte sie gleichfalls von ihrer Tante geerbt. Es war einst ein Hindutempel gewesen und dann zum palastartigen Europäerheim umgebaut worden. Es lag auf den Westabhängen der Malabar Hills inmitten eines großen romantischen Parkes, der nicht weniger als zwölf Terrassen hatte und bis zum Meere hinab reichte.

Es war am 14. Februar, als Harst beim Frühstück auf der Westterrasse Miß Honoria fragte, ob Albert Dracon (das war ja der Name des großen Verbrechers, der Honoria um die Erbschaft hatte betrügen wollen) ihr gegenüber, als sie beide noch Freunde gewesen, jemals ein Mädchen namens Lydia und den Küstenort Battikaloa auf Ceylon erwähnt habe.

„Kurz vor seinem Tode,“ fügte Harald erklärend hinzu, „hat Dracon uns noch gesagt, daß er eine Bitte hätte: „In Battikaloa wird Miß Lydia –“ – Mehr konnte er nicht über die bereits erkaltenden Lippen bringen. Deshalb möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie, Miß Honoria, irgend eine Lydia kennen, die zu Dracon in irgend welchen Beziehungen gestanden hat.“

Miß Myntor schüttelte den Kopf.

„Ich besinne mich nicht, Mr. Harst. Wer weiß, wann und wo der elende Dracon diese Lydia gekannt hat, und wer weiß, was er Ihnen anvertrauen wollte.“

Harald schob die hauchdünne chinesische Teetasse zurück und griff nach einer Zigarre in die silberne Schale.

„Wie würden Sie denn, Miß Honoria, den Satz „In Battikaloa wird Miß Lydia –“ beenden?“ fragte er.

„Aber ich bitte Sie, wie soll man das wohl ergänzen?“

„Nun – zunächst sollte wohl auf das „Lydia“ als Vorname noch der Vatersname folgen, dann notwendig das zu „wird“ gehörige Verbum, etwa – „gefangen halten“, also „wird gefangen gehalten“. Es ist nämlich schwer, ein Verbum zu finden, das man außer diesem hier einfügen könnte.“

„Allerdings,“ meinte sie nachdenklich.

Mich interessierte dieses Gespräch genau so stark wie Miß Myntor, da Harald mir gegenüber Dracons letzte Äußerung bisher nicht weiter erwähnt hatte.

Jetzt betrat Jane Busselt, die alte Wirtschafterin Lady Myntors, die Terrasse. Sie hatte ihrer verstorbenen Herrin über zwanzig Jahre treu gedient und war stets mit zur Familie gerechnet worden.

Da richtete Honoria sich in ihren Sessel auf und rief:

„Janes Erscheinen erinnert mich daran, daß hier im Hause einst eine Lydia gelebt hat. – Sagen Sie, liebe Jane, hieß Ihre Enkelin nicht Lydia?“

Die grauhaarige Matrone nickte traurig.

„Ja, Lydia Ramand hieß sie. Meine einzige Tochter war mit einem Doktor Ramand verheiratet. Nach dem Tode der Eltern, die gleichzeitig starben, nahm ich Lydia zu mir.“

Jane Busselt rückte sich einen Sessel an den Tisch.

Harst schaute Honoria bedeutungsvoll an und legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen.

Ich merkte: Harald wollte Miß Myntor einen Wink geben, vor Jane nicht von Dracons letzten Worten zu sprechen.

Der alten Frau war Honorias Frage jedoch bereits aufgefallen. Sie schaute ihre neue Herrin wie prüfend an und meinte:

„Wie sind Sie jetzt gerade auf meine Enkelin gekommen, Miß?“

Honoria war keine Schauspielerin, wurde etwas verlegen und erwiderte viel zu hastig, um überzeugend zu wirken:

„Oh, mir fiel Lydia gerade so ein, liebe Jane –“

Die Matrone blickte zu Harst hinüber.

„Hat Miß Myntor Ihnen etwas von dem merkwürdigen Tode des Kindes erzählt, Mr. Harst?“ fragte sie gespannt.

„Nein. Aber Sie könnten es mir berichten, Mistreß Busselt. Alles was merkwürdig ist, höre ich gern. Falls Sie dadurch jedoch trübe gestimmt werden sollten, verzichte ich natürlich.“

„Jeder Schmerz wird durch die Zeit geheilt, Mr. Harst. Ich hätte Ihnen jenes traurige Ereignis ohnedies einmal mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich werde das Gefühl nicht los, als sei mit Lydias Tode ein besonderes Geheimnis verknüpft.“

Sie seufzte, schaute sinnend über den gedeckten Frühstückstisch hinweg in den klaren, sonndurchglühten Tropenhimmel und begann dann:

„Meine Enkelin wäre jetzt zweiundzwanzig Jahre alt. Vor acht Jahren starb sie. Sie war ein reizendes Kind, hatte blonde Locken und ein feines, kluges Gesichtchen mit sehr ausdrucksvollen dunklen Augen. Lady Myntor liebte die Kleine über alles. Lydias schönstes Vergnügen war nun, in den weiten Kellerräumen dieses ehemaligen Hindutempels die dort noch zurückgebliebenen alten Götzenstatuen, Tempelgeräte und Waffen zu besichtigen. So und so oft bat sie entweder Lady Myntor oder mich, eine Laterne zu nehmen und mit ihr in die Jahrhunderte alten Gewölbe hinabzusteigen. Sie selbst durfte dort niemals allein hinab, obwohl sie schon als Dreizehnjährige überaus verständig war. Lady Myntor hatte es eben verboten, und Lydia hat es lange Zeit auch nie gewagt, diesem Verbot zuwider zu handeln. Vierzehn Tage vor ihrem vierzehnten Geburtstag überraschte ich sie dann, wie sie die Schlüssel zu den Gewölben heimlich in Lady Myntors Schreibtisch, wo sie stets eingeschlossen waren, zurücklegte. Als ich ihr vorwarf, sie sei wohl allein in dem Keller gewesen, leugnete sie, machte Ausflüchte und wurde dabei so verwirrt und so rot, daß ich ihr auf den Kopf zusagte, sie lüge. Seltsamerweise beharrte sie jedoch bei ihrem zwecklosen Leugnen. Dies war um so unbegreiflicher, als sie sonst niemals bei einer Unwahrheit von mir ertappt worden war. Mich kränkte ihre Unaufrichtigkeit sehr, und ich fragte mich schon damals, was wohl das Kind veranlaßt haben könnte, ohne Begleitung die Gewölbe zu besuchen.“

Harald, der rechts von Honoria mit dem Rücken nach dem Garten saß, hob jetzt die Hand und brachte Jane so zum Schweigen.

„Einen Augenblick,“ sagte er. „Ich möchte das Gehörte erst im Gedächtnis etwas befestigen.“

Er kniff auch wie in scharfem Nachdenken die Augen fast ganz zu und blickte so zu der weißen Leinwand der schrägen Markise empor, die etwa drei Viertel der Terrasse als Sonnenschutz überspannte.

Nach einer Weile bat er Jane dann, fortzufahren.

„Zwei Tage nach diesem Vorfall,“ erzählte die Matrone weiter, „war Lydia verschwunden. Wir vermißten sie gegen sechs Uhr nachmittags. Mir fiel sehr bald ein, daß sie vielleicht wieder in die Gewölbe hinabgestiegen sein könnte. Als Lady Myntor nachsah, ob die Schlüssel im Schreibtisch lägen, waren sie nicht da. Wir eilten also die Treppe hinab, fanden den Haupteingang zu den Kellern jedoch verschlossen. Es steckte auch von innen kein Schlüssel im Schloß. Trotzdem ließ Lady Myntor einen Schlosser holen und die Tür öffnen. Wir durchsuchten alle Räume. Von Lydia nirgends eine Spur. – Um acht Uhr abends rief die Lady die Polizei und ihren Rechtsbeistand, den Mr. Grosby, zu Hilfe.“

Ich will gleich an dieser Stelle einfügen, daß Albert Dracon der Stiefsohn Grosbys war.

„Grosby brachte noch den jetzt als gefährlichen Schurken entlarvten Dracon mit,“ fuhr Jane Busselt fort. „Dracon galt damals noch als ein ehrenwerter junger Mann, wenn er auch bereits manchen leichtsinnigen Streich verübt hatte. Er war mit Lydia sozusagen befreundet, und sie bildete sich etwas darauf ein, daß er sie schon so halb als Dame behandelte. Die Polizei, Grosby, Dracon und wir durchstöberten jetzt nochmals das ganze Haus, auch die Keller. Selbst Mr. Boßwell, unser Bombayer Detektivinspektor, beteiligte sich dabei. Aber – es blieb alles umsonst. Es wurde Mitternacht. Wir fanden Lydia nicht –“

Sie seufzte abermals, die alte, würdige Frau, und rief dann in steigender Erregung:

„Oh, welch furchtbare Nacht war es damals doch! Um ein Uhr morgens legte ich mich weinend und völlig erschöpft auf mein Bett. Ich hatte schon damals dieselben beiden Zimmer, die ich noch heute bewohne, hier im Erdgeschoß nach hinten heraus neben der Küche. Ich konnte natürlich nicht einschlafen. Nein, ich lag völlig munter da. Plötzlich, es mag gegen drei Uhr morgens gewesen sein, glaubte ich Hilferufe zu hören, ganz ferne, verschwommene Rufe. Ich sprang empor und betrat den Flur, lauschte hier.

Nichts – nichts.

Wieder legte ich mich nieder; wieder glaubte ich die Hilferufe zu vernehmen.

Und wieder eilte ich in den Flur, horchte.

Da weckte ich denn Lady Myntor. Sie kam mit in mein Schlafzimmer. Aber – alles blieb still.

„Jane, Sie werden sich nur eingebildet haben, daß jemand rief,“ sagte Mylady schließlich und begab sich in ihre Räume zurück.

So dämmerte der neue Tag herauf.

Er verging. Lydia war nicht zu finden.

Und wieder kam die Nacht. Wieder lag ich lauschend da. Wieder die fernen, fernen Rufe.

Aber jetzt war ich nicht ohne einen Verbündeten mit jüngeren Ohren, als Lady Myntor und ich sie besaßen. Ich hatte den Diener Makri, einen erst fünfunddreißig Jahre alten Hindu, in einem nahen Zimmer für die Nacht untergebracht, holte ihn und bat ihn, genau achtzugeben, ob er etwas hörte.

Nein – Makri vernahm nichts – gar nichts, obwohl er stundenlang horchend dasaß. -

Nun glaubte ich bestimmt, ich müßte mich getäuscht haben.

Und die dritte Nacht kam. Unwillkürlich lauschte ich wiederum mit angespanntester Aufmerksamkeit. Und wieder täuschten mich meine überreizten Nerven.

Dann die vierte Nacht.

Und da – da kein Laut mehr.

Am fünften Tage fand sich Mr. Boßwell ganz von selbst bei uns ein und erklärte, er wolle die Kellergewölbe doch nochmals durchsuchen. Womöglich gäbe es dort Geheimtüren oder dergleichen, durch die Lydia in uns noch unbekannte Räume geraten sei.

Ja, Mr. Harst, – ja, Mr. Boßwell war leider, leider einen Tag zu spät auf den Gedanken gekommen, auf solche Geheimtüren hin die Keller zu prüfen –“

In ihren Augen schimmerten jetzt Tränen.

„Boßwell entdeckte im oberen Kellergeschoß – die Gewölbe haben zwei Stockwerke – wirklich zwei Steinquadern, die als Geheimtür gearbeitet waren und sich leicht nach innen aufdrücken ließen, wenn man einen kleinen, kaum sichtbaren Riegel an der Wand zurückschob. Hinter dieser Türöffnung lag eine Steintreppe, die in zwei kleine leere Gewölbe führte. Auf der Treppe, auf den untersten Stufen, fanden wir meine bewußtlose Enkelin. Und neben ihr hockte, völlig abgemagert, eine Katze –“

Gerade an dieser packenden Stelle fiel Harald der Matrone wieder ins Wort.

„Gestatten Sie, Mistreß, ich möchte mir einiges notieren,“ sagte er, riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche heraus und schrieb eine Weile, reichte mir das Blatt und meinte:

„Da – ich denke, dies sind die Hauptsachen.“

Ich begriff sofort: es war nichts als eine wichtige Mitteilung für mich!

Ich las denn auch folgendes:

Wir werden belauscht. Es liegt jemand im offenen Fenster des Flurs der ersten Etage, das sich gerade über der Markise befindet. Der Betreffende hat sich so weit zum Fenster hinausgelehnt, daß sein Kopf, der dicht über der Leinwand sich befindet, einen schwachen Schatten auf die weiße Leinwand wirft. Ich möchte feststellen, wer es ist. Ich werde Dich daher auf unsere Zimmer schicken, damit Du mir Zigaretten holst. Nimm aus dem Koffer 3 den hellbraunen Puder und bestreue damit die unteren Stufen der Haupttreppe, die der Betreffende auf dem Rückwege passieren muß. Er soll nicht merken, daß wir auf ihn aufmerksam geworden sind.

Inzwischen hatte Jane Busselt weiter erzählt:

„Die Katze und zwei leere Näpfchen mit winzigen Speiseresten erklärten alles. Lydia hatte die Katze vor vier Wochen krank im Parke gefunden und gesund gepflegt. Sie liebte Tiere über alles. Lady Myntor jedoch haßte Katzen und hatte verlangt, daß das Tier, als es wieder bei Kräften war, verschenkt würde. Lydia hatte denn auch behauptet, die Katze einem unbekannten Manne übergeben zu haben. In Wahrheit hatte sie das Tier in die beiden geheimen Kellerräume gebracht und hier gefüttert. Aus irgend einem niemals aufgeklärten Grunde hatte sie dann, wie Mr. Boßwell annahm, die Geheimtür von innen damals nicht wieder öffnen können und war vor Schreck hierüber ohnmächtig geworden, muß auch sehr lange bewußtlos gewesen sein, sonst hätte sie sich ja gemeldet als wir die Gewölbe absuchten –“

„Einen Moment, Mistreß,“ rief Harald da scheinbar ganz erregt durch diesen Bericht. „Ich pflege, wenn ich etwas so Spannendes höre, gern meine eigenen Zigaretten zu rauchen. Schraut wird so liebenswürdig sein, und mir mein Zigarettenetui holen.“

„Sehr gern,“ meinte ich, erhob mich rasch und eilte durch die Vorhalle in den Flur und nach rechts in unsere Zimmer.

Dann handelte ich genau nach Harsts Anweisung, bestäubte die braungebeizten Stufen ganz leicht und war sehr bald wieder auf der Terrasse.

„Bitte, hier ist Dein Etui, Harald.“

„Danke. Es ist alles in Ordnung.“

Ich verstand ihn: der Lauscher hatte keinerlei Argwohn geschöpft und war auf seinem Horcherposten geblieben.

 

2. Kapitel.

Die drei Verdachtsmomente.

„So, Mistreß, nun bitte weiter,“ sagte Harst und blies ein paar Rauchringe.

„Es gibt nicht mehr viel zu berichten,“ meinte die Matrone und trocknete die tränenfeuchten Augen. „Ich fühle, daß mich all diese Erinnerungen doch sehr angreifen. Ich möchte mich daher ganz kurz fassen. Lydia starb zwei Tage später an Entkräftung, ohne die klare Besinnung auch nur einen Augenblick zurückerlangt zu haben. Sie wurde hier im Parke in dem pavillonähnlichen uralten Steinhäuschen beigesetzt, weil sie es stets so sehr als Spielraum geliebt hatte!“

Mistreß Busselt schluchzte jetzt in ihr Taschentuch hinein.

Als sie sich wieder beruhigt hatte, fragte Harst:

„Weshalb glauben Sie nun, daß bei alledem irgend ein Geheimnis mitspielt?“

„Ja, das ist schwer zu beantworten. Es ist das mehr Gefühlssache, Mr. Harst. Freilich, auch Mr. Boßwell hat stets betont, daß er einfach nicht begreife, daß Lydia die Geheimtür nicht hätte öffnen können, deren Mechanismus ihr doch vertraut gewesen, da sie die Katze ja schon vorher wahrscheinlich jeden Tag besucht und gefüttert habe.“

„Hm – ich kann nichts Unerklärliches dabei finden,“ erwiderte Harald nun recht laut und bestimmt. Daß diese Worte von dem Lauscher vernommen werden sollten, unterlag für mich keinem Zweifel. „Nein, Mistreß, es ist doch sehr wahrscheinlich, daß ein solcher Jahrhunderte alter Mechanismus einmal versagt und nachher doch völlig einwandfrei zu arbeiten scheint. Außerdem: weshalb sollte wohl jemand Ihre Enkelin dort eingesperrt haben?! – Nein, wirklich Mistreß, Sie müssen solchen Grübeleien nicht nachhängen. Ich glaubte, Ihre Schilderung würde irgendwie geheimnisvoll endigen. Dies ist nicht der Fall.“

Die Matrone nickte. „Ich werde es nicht mehr tun, Mr. Harst. Ich wollte ja auch nur deshalb Ihre Meinung hören, damit ich mir diese Gedanken, als könnte hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, aus dem Kopf schlage. Ich danke Ihnen vielmals. Wenn ein Mann wie Sie keinen Argwohn schöpft, dann –“

„Nein, nein, von Argwohn oder dergleichen kann keine Rede sein, Mistreß. Und wenn ich Sie nun bitte, Schraut und mir nachher die Schlüssel zu den[1] Gewölben auszuhändigen, so geschieht es nur, weil ich mir die alten Statuen und Gerätschaften ansehen möchte. – Haben die Gewölbe mehrere Zugänge?“

„Zwei nur, Mr. Harst. Einen vom Seitenflügel, der nie benutzt wurde, und den Haupteingang im hinteren Mittelflur.“

Dann lenkte Harald das Gespräch auf andere Dinge.

Ich hatte meinen Sessel etwas gedreht und beobachtete verstohlen den oberen Markisenteil.

Ich sah denn auch den schwachen Schatten, der sich hin und wieder bewegte.

Ja – es war ein Mensch. Und – dieser Horcher verschwand jetzt. Ich glaubte das Kreischen eines Fensterriegels zu hören. Der Mann hatte also das Fenster geschlossen. Unser jetziges Gespräch war ihm uninteressant.

Ein Mann war es, nicht etwa eine der Dienerinnen Miß Honorias, denn der Lauscher hatte, wie der Schatten verriet, ein Turbantuch um den Kopf getragen. Es mußte also entweder ein fremder Inder oder der Gärtner oder einer der fünf Diener gewesen sein.

Harst stand plötzlich auf.

„Die Damen entschuldigen uns,“ sagte er. „Wir wollen noch vormittags in die Stadt. Auf Wiedersehen.“

Im Flur paßte ich dann auf, daß niemand Harst beobachtete, wie er nun die Stufen prüfte und nachher den Puder mit dem Taschentuch wegwischte.

In unserem Wohnsalon flüsterte er mir zu:

„Kein Wort hier von alledem!“ Und fügte laut hinzu:

„Mistreß Busselt sollte lieber keine Geheimnisse aus durchsichtigen Tatsachen herauskonstruieren wollen. Der Tod ihrer Enkelin enthält sehr viel tragische Momente, weiter aber auch nichts. Am tragischsten ist vielleicht, daß die Großmutter die Hilferufe ihrer Enkelin tatsächlich gehört hat, ohne zu ahnen, daß sie aus den Kellerräumen kämen.“

Auch diese Sätze waren fraglos für einen Horcher bestimmt.

Wir machten uns zum Ausgehen fertig und fuhren mit Miß Honorias uns stets zur Verfügung stehendem Ponygespann und dem würdigen Kutscher Makri, demselben Hindu, der schon bei Lady Myntor Diener gewesen, in die Stadt.

Eine kleine Szene beim Einsteigen hatte mir zu denken gegeben. Makri saß, als wir das Haus verließen und dem vor der Terrassentreppe haltenden Wagen zuschritten, regungslos und kerzengerade vorn auf dem Bock, hatte die mit Sandalen bekleideten Füße gegen das lackierte Vorderbrett gestemmt und begrüßte uns würdevoll durch Senken der langen Schwippeitsche[2].

Ich stieg ein. Harald aber trat an Makri heran und spielte dabei mit seinem goldenen Zigarettenetui, das er in übermütiger Laune in die Luft warf und wieder auffing.

Da – das Auffangen mißlang, und der ungeschickte Griff Harsts schleuderte das Etui Makri vor die Füße, wo es aufsprang und die Zigaretten entleerte.

Makri wollte sich bücken und beim Auflesen der Zigaretten behilflich sein. Harald rief jedoch:

„Nicht doch, Makri, Du zertrittst mir ja die Dinger!“

So blieb der braune Kutscher denn still sitzen, und Harst sammelte die ihm so kostbaren Mirakulum wieder in das Etui zurück, sagte dabei: „Fahre zuerst nach der Hauptpost, Makri. Da wir dort längere Zeit zu tun haben, sollst Du mit dem Wagen nicht draußen warten, sondern die Pferde etwas bewegen. Hole uns dann also nach einer halben Stunde etwa von der Polizeidirektion ab.“

„Sehr wohl, Sahib Harst,“ bestätigte Makri diese Anweisung.

Nun erst setzte sich Harald neben mich.

Ich habe Bombay als Stadt schon in früheren Bänden wiederholt beschrieben. In den Vormittagsstunden herrscht dort in den Hauptstraßen ein oft lebensgefährliches Gedränge und ein Wagen- und Autoverkehr wie in einer europäischen Metropole.

Nachdem wir eine Strecke gefahren waren, neigte ich mich zu Harald näher hin.

„Du hast die Zigaretten sehr geschickt fallen lassen,“ sagte ich leise. „Bemerktest Du an Makris Sandalen Spuren von Puder?“

Harst lächelte etwas. „Nein, keine Spur von Puder. Aber ich sah den Sohlenflick an der rechten Sandalenspitze, der sich in der Puderschicht mit abgezeichnet hatte. Makri war also der Horcher, was ich übrigens gleich vermutet hatte, da er damals vor acht Jahren keine Hilferufe gehört haben wollte, als Mistreß Busselt ihn in der Nacht lauschen ließ. Dabei ist doch ohne Frage etwas zu hören gewesen. Daß Lady Myntor nichts vernahm, wird natürliche Ursachen gehabt haben: Schwerhörigkeit infolge hohen Alters! – Wir haben gegen Makri bisher also zwei Verdachtsmomente: erstens das Ableugnen der Hilferufe der kleinen Lydia, zweitens sein Interesse für unser Gespräch mit Mistreß Busselt. Wir sind heute erst den dritten Tag Gäste Honoria Myntors, und da mag er, zumal er ja gleichzeitig auch als Diener im Hause verwendet wird, jedes Mal den Horcher gespielt haben, wenn er befürchtete, Mistreß Busselt könnte uns diese höchst verdächtige Tragödie der kleinen Katzenfreundin erzählen. Das dritte Verdachtsmoment werden wir jetzt sofort herbeiführen.“

„Wie denn?“

„Warte ab. Makri wird sich stark beunruhigt fühlen, weil wir von der Post zur Polizei gehen. Diese Beunruhigung wollte ich hervorrufen.“

„Du nimmst also hier ein Verbrechen an, was den Tod Lydias betrifft?“

„Den Tod, mein Alter?! Ich behaupte etwas ganz anderes, nämlich: man hat sie verschwinden lassen. Sie lebt also noch. Es müssen mindestens drei Leute dabei beteiligt gewesen sein, Dracon, Makri und ein Arzt, der dafür sorgte, daß das Kind den Eindruck eines Toten machte. Du verstehst: es war doch die Todesursache zu bescheinigen! Dieser Arzt wird ein Bekannter Dracons gewesen sein oder ein Lump, der sich bestechen ließ. Dracon war Lydias Freund, und er mag den Arzt empfohlen haben, der das Kind bis zuletzt behandelt hat.“ –

Der Leser mag bei diesem Problem, worauf ich ihn besonders aufmerksam mache, die Erfolge der wie ein tadellos funktionierendes Räderwerk ineinander greifenden einzelnen Ermittlungen beachten. Das scharfe, logische Denken meines Freundes wird bei diesem Fall des Giftpfeiles des Wedda aufs hellste beleuchtet. –

„Mir ist es unverständlich,“ meinte ich, „weshalb man ein Mädel von vierzehn Jahren, eine doch offenbar unbemittelte Waise, für wertvoll genug hielt, um sie durch eine Reihe raffinierter Mittel zu entführen oder besser scheinbar sterben zu lassen.“

„Das ist auch mir noch völlig unklar, lieber Alter. Tatsache. Mit dem Motiv können wir uns erst später beschäftigen. Ich möchte aber bemerken, das Doktor Phillip Ramand, Lydias Vater, berühmte Werke über die Geschichte und Kultur Ceylons geschrieben hat und daß ich noch unlängst in einer englischen Zeitschrift eine Notiz fand, die an das tragische Ende des Ehepaares Ramand in den Urwäldern Ceylons erinnerte. Doktor Ramand wohnte in Trinkomali, dem zweiten größeren Hafen an Ceylons Ostküste. Der andere Hafen ist – Battikaloa!“

„Ah – Battikaloa! Und den erwähnte Albert Dracon.“

„Ja. Du siehst also, daß die verbindenden Fäden sich mehren. – Wir sind gleich angelangt –“

Der Wagen hielt. Wir stiegen aus und betraten das große Postgebäude.

Dann blieb Harald stehen, schaute durch die Glastür auf die Straße zurück. Makri fuhr mit dem Ponywagen langsam davon.

Wir eilten wieder auf den Bürgersteig hinaus. Ein Auto wurde gerade frei. Harst sagte dem Chauffeur Bescheid und drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand.

Der Mann schlug das Vorderdeck hoch. So saßen wir denn geschützt. Wenn Makri sich umschaute, konnte er uns nicht bemerken.

Unser Auto blieb stets etwa dreißig Meter hinter dem Ponywagen, der bald in ruhige Seitenstraßen einbog und dann die elegante Viktoria-Street hinabjagte. Hier hielt Makri vor einem kleineren Bungalow (einstöckiges Sommerhaus) an, rief einen kleinen braunen Bengel herbei und ließ ihn die Pferde halten. Er selbst lief sehr eilig durch den Vorgarten in das Haus.

Unser Auto hatte gleichfalls halt gemacht. Harald fragte den Chauffeur, ob er wüßte, wer dort wohne.

„Ja, Sahib. Doktor Greebrac, ein Arzt.“

„Kehren Sie um – nach der Polizeidirektion!“

Unser Freund Detektivinspektor Boßwell befand sich in seinem Dienstzimmer.

„Boßwell, ich möchte Sie einiges fragen,“ begann Harald, nachdem wir Platz genommen hatten. „Sie besinnen sich doch auf Lydia Ramands Tod. Mistreß Busselt hat uns vorhin diese Tragödie mitgeteilt. Mir ist dabei einiges aufgefallen. Wie war’s mit dem Schloß der Geheimtür, das nach Ihrer Meinung sich von innen plötzlich nicht öffnen ließ und so die kleine Lydia gefangen hielt?“

„Hm – es muß versagt haben. Es ist recht kompliziert.“

„War es frisch geölt, als Sie es untersuchten?“

„Ja. Das wird Lydia besorgt haben. Sie war ja ein sehr kluges und praktisches Mädchen.“

„Mag sein. Ob diese Klugheit ausreichte, die nicht einmal Lady Myntor bekannte Geheimtür zu finden, bezweifle ich.“

„Allerdings. Auch mir ist das merkwürdig erschienen. Sie vermuten also, es hat ihr jemand das Versteck für die Katze gezeigt?“

„Ja. Ich kenne diesen Jemand auch bereits. Es kann nur der Diener Makri getan haben. Man hat Lydia also sozusagen in die beiden geheimen Räume hineingelockt, und später hat Makri sie dort dann irgendwie betäubt, eben an jenem Tage, als sie verschwand. Man wird ihr ein starkes Schlafmittel beigebracht haben. Das Türschloß wird in Ordnung gewesen sein. Sie sollte sich eben nicht melden können, als nach ihr gesucht wurde. – Kennen Sie Doktor Greebrac genauer? War er der Arzt, der Lydia damals behandelt hat?“

„Allerdings. Greebrac war damals erst kurze Zeit in Bombay. Er war mit Dracon befreundet, und Dracon empfahl ihn, wie ich hörte. Dieser Greebrac ist ein recht zweifelhaftes Subjekt, lieber Harst: Spieler, Morphinist, aber sehr gesucht jetzt, weil er seinen Glauben gewechselt hat und Hindu geworden ist.“

„Sie könnten mir einen Gefallen tun, Boßwell. Schicken Sie abends einen Ihrer Beamten als Depeschenboten mit einem Telegramm für mich nach dem Myntor-Palais. Die Depesche soll aus Patna kommen und mich dringend dorthin zu Ihrem Kollegen Emmersett rufen. Ich will nämlich noch heute nacht nach – Ceylon abreisen, nach Battikaloa.“

„Verstehe. Ihr Reiseziel soll geheim bleiben. Was wollen Sie in Battikaloa?“

Harst erzählte ihm jetzt Dracons letzte Äußerung.

Boßwell war derart überrascht, daß er zunächst schwieg. Dann rief er:

„Auch ich bin jetzt überzeugt, daß Lydia Ramand lebt!“

„Während unserer Abwesenheit lassen Sie Doktor Greebrac und Makri dauernd beobachten, Boßwell. Ereignet sich etwas, dann telegraphische Nachricht an Mr. Holky nach Battikaloa postlagernd.“

„Wird prompt erledigt werden, lieber Harst. Was halten Sie von dieser ganzen Geschichte?“

„Die Eltern Lydias fand man tot und bereits halb verwest westlich von Trinkomali in den Urwäldern unter einer vom Blitz zerspaltenen Palme auf. Man nahm Tod durch Blitzschlag an. Ich vermute, daß sie anderswie starben. Das Kind war damals elf Jahre alt. Lady Myntor soll es über alles geliebt haben. Da sie mit ihrer Nichte Honoria halb und halb verfeindet war, mag Dracon, der es ja schon jahrelang auf die Erbschaft abgesehen hatte, gefürchtet haben, die Lady könnte Lydia zur Erbin einsetzen, was all seine Pläne durchkreuzt hätte, die sich nur verwirklichen ließen, wenn Honoria Myntor Erbin blieb. Dies wäre ein Motiv für Lydias Entführung. Es ist allerdings so schwach begründet, daß ich selbst es nicht für richtig halte. Es ist nur ein Verlegenheitsmotiv. – Auf Wiedersehen, Boßwell. Sorgen Sie dafür, daß Greebrac und Makri nicht merken, daß sie „beschattet“ werden. Und zu sieben Uhr abends die Depesche.“

Als wir die Straße betraten, war der Ponywagen noch nicht da. Es fehlten noch fünf Minuten an der halben Stunde.

„Die beiden beraten, was sie unternehmen sollen,“ meinte Harald in Bezug auf den Arzt und unseren Kutscher. „Makri wird – Halt – ein Gedanke!“ – Er rief den Pförtner der Polizeidirektion herbei:

„Wenn ein Ponywagen hier vorfährt, so bestelle dem Kutscher, Makri heißt er, er soll hier eine Stunde warten. Wenn wir uns bis dahin nicht eingefunden haben, soll er nach Hause fahren.“

Der Pförtner erhielt ein Trinkgeld. Wir nahmen ein Auto und sausten die Prachtstraße nach den Malabar Hills hinab.

Gegen zwölf Uhr betraten wir den Myntor-Park und wandten uns sofort dem kleinen Steingebäude zu, wo Lydia Ramands Sarg wie in einer Grabkapelle aufgestellt war.

Die schwere kupferbeschlagene Mahagonitür war unverschlossen. Wir ließen sie offen, damit wir mehr Licht hatten.

Auf einem Unterbau von poliertem Stein stand ein reich verzierter Sarg aus einem jener nie faulenden, wohlriechenden Tropenhölzer. Der Deckel war mit Flügelschrauben befestigt.

Wir schraubten ihn los.

 

3. Kapitel.

Der erste Pfeil.

Als wir gerade den Deckel abheben wollten, zuckte Harald plötzlich zusammen – stieß einen seltsamen Ton aus.

Ich schaute hin.

Er hatte sich soeben einen Blasrohrpfeil aus der Wange gezogen.

Es war ein aus einer dreikantigen, spitzen Fischgräte und einer Fiederung aus Flaumfedern gefertigter, etwa sechs Zentimeter langer Pfeil.

Harald stand wie erstarrt und hielt den Pfeil dicht an die Augen.

Dann rief er: „Schnell – es geht ums Leben! Einen Kreuzschnitt über die Wunde! Sauge sie gehörig aus!“

So begannen jene aufregenden Tage, in denen wir keinen Augenblick unseres Lebens sicher waren.

Mein Taschenmesser schlitzte die Wange auf. Ich sog, spie das Blut aus, sog wieder.

Dann schicke Harald mich nach übermangansaurem Kali ins Haus. Er selbst wollte sich möglichst wenig bewegen, um den Blutkreislauf nicht zu beschleunigen.

Ich rannte, wie ich selten gerannt bin. Und – in unserem Wohnsalon lag mitten auf dem Teppich ein Blatt Papier, mit Maschine beschrieben.

Erste Warnung!

stand darauf, nichts weiter!

Ich stopfte das Blatt in die Tasche, riß den Koffer auf, riß die Reiseapotheke heraus, jagte zurück.

Harald stand vor der Tür des alten Gemäuers und hatte die Clementpistole in der schlaff herabhängenden[3] Rechten. Seine ganze Haltung drückte tiefste Erschöpfung aus.

Ich sog die Schnittwunde nochmals aus, schüttete dann ein paar der lila Körnchen hinein.

Aus Harsts Munde kamen Worte wie ein Hauch – aber gerade deshalb wie nervenaufpeitschende Geräusche.

„Ich werde sehr krank werden. Trage mich ins Haus. Dann schicke Makri nach einem Arzt, sobald er mit dem Ponywagen zurück ist. Er wird Greebrac holen.“

Plötzlich sank er mir wie in einem Schwächeanfall in die Arme.

Da kam auch schon Miß Honoria mit zwei Dienern herbei. Sie hatte mich in so wilder Hast das Haus verlassen sehen und war mir gefolgt, weil sie irgend ein Unheil vermutete.

Die Diener trugen Harald in unseren Salon auf den Diwan.

Ich war ihnen vorausgeeilt.

Und – ich fand so auf dem Teppich ein zweites, dem anderen völlig gleiches Blatt, ebenfalls mit lila Maschinenschrift, ebenfalls nur wenige Worte:

Zweite Warnung!

Kehret heim!

Auch dieses Blatt stopfte ich in die Tasche. Dann erschien auch schon Honoria Myntor; gleich darauf die Diener mit Harald.

Ich tat, als ordnete ich die Kissen auf dem Diwan. Ich konnte meine Verwirrung vor Honoria nur schwer verbergen. Denn – dieses „Kehret heim!“ und diese ganze Art der Warnungen hatte etwas so Eindruckvolles an sich, daß ich nur einen Wunsch hatte: mit Harald bald allein zu sein und mit ihm dieses neue Ereignis zu besprechen.

Die Diener entfernten sich. Harst verlangte starken Kognak. Sein Gesicht sah wie durch einen Krampf der Gesichtsmuskeln geradezu abschreckend verzerrt aus.

Honoria eilte davon, um eine Flasche Kognak zu holen.

Ich hatte geglaubt, diese Gesichtsverzerrung sei lediglich eine mimische Bravourleistung Haralds. Ich hatte mich geirrt. Zu meinem ungeheuren Schreck stieß er jetzt folgende Worte hervor – kaum noch verständlich:

„Reiseapotheke – Flasche mit reinem Alkohol – schnell! Pfeil – vergiftet mit Lipara. Schnell!“

Lipara!

Alles Blut verließ mein Antlitz. Ich bin sicher aschfahl geworden.

Mit bebenden Händen zog ich den Glasstöpsel aus der Flasche, hob Haralds Kopf, setzte ihm die Flasche an den Mund.

Er trank – er trank –! Ich wollte die Flasche wegnehmen.

„Nein – alles!“ lallte er.

Es war mindestens ein halber Liter reiner Alkohol!

Nun lag Harst mit geschlossenen Augen da; nun kehrte Miß Honoria zurück; nun deutete ich stumm auf die leere Flasche.

Miß Myntor nickte nur. „Je mehr, je besser, Mr. Schraut. Wir kennen hier in Indien den Alkohol als recht zuverlässiges Mittel gegen alle Nervengifte.“

Ich hörte draußen auf dem Hauptwege des Parkes das Rollen des[4] heimkehrenden Ponywagens.

„Miß Honoria, bitte mag Makri sofort irgend einen Arzt holen,“ sagte ich hastig. „Irgend einen, wenn es nur schnell geht –“

Und wieder war ich mit Harald allein – mit Harald, der fahlen, verzerrten Gesichts regungslos auf dem Diwan ruhte.

Ich rückte mir einen Stuhl an das Kopfende; ich saß und beobachtete sein von ein paar Sonnenstrahlen, die durch das Laubdach der Bäume draußen fielen, grell beschienenes, mir so teures Antlitz.

Ich saß so eine volle Stunde. Und ich sah, wie die Röte langsam in die Wangen flutete, wie das Herz offenbar wieder kräftiger arbeitete, wie der Krampf der Muskeln nachließ.

Honoria war inzwischen zweimal im Zimmer gewesen, stets aber wieder lautlos hinausgeschlichen.

Dann Wagenrollen – Geräusche im Flur.

Nun stand ich Doktor Austin Greebrac zum ersten Male gegenüber – demselben Greebrac, der uns monatelang in Atem halten sollte, – demselben Manne, im Vergleich zu dem unser einstiger Gegner Cecil Warbatty ein harmloses Lämmchen gewesen war.

Er war allein eingetreten. Er hielt den weißen, breitrandigen Strohhut in der Linken, in der Rechten eine kleine Arzttasche. Sein grauer Flanellanzug, die tadellose Wäsche, der Brillant in der mattblauen Krawatte, alles verriet den Mann von verfeinertem Geschmack, der etwas auf sich hält.

Und dann seine Gestalt, sein Gesicht.

Etwas über mittelgroß, schlank, tadellos gewachsen; jede Bewegung von zwangloser Sicherheit und unbeabsichtigter Vornehmheit – ein geborener Gentleman, eine Persönlichkeit! – Das Gesicht schmal, die Nase, etwas groß, dünn wie ein Messer; darunter ein Mund mit dünnen Lippen; der Unterkiefer ein wenig vorgebaut, breit, massig. Die Augen tief in den Höhlen unter feingeschwungenen, farblos blonden Brauen, unbestimmt in der Farbe, aber mit seltsam herrischem Blick. Das stark gelichtete blonde Haupthaar gescheitelt und eine eckige Stirn freigebend, deren blendend zarte Haut zu dem frischen Braun des Gesichts in schärfstem Kontrast stand.

„Doktor Greebrac,“ stellte er sich mit einer wohllautenden, aber leicht verschleierten Stimme vor. „Ich bedauere aufrichtig, Ihren berühmten Freund Harst nicht bei einer angenehmeren Gelegenheit kennen gelernt zu haben als diese es ist. Miß Myntor berichtete mir bereits, daß Mr. Harst durch einen Blasrohrpfeil verwundet worden ist.“

Er legte Hut und Tasche auf einen Sessel und trat an den Diwan heran.

Ich ließ ihn nicht einen Moment aus den Augen.

Er fühlte Harald den Puls. Mir schien es, als ob er enttäuscht war. Er hatte wohl auf einen schwächeren Herzschlag gehofft.

„Ich habe Harst etwa ein halbes Liter reinen Alkohol trinken lassen,“ erklärte ich.

Er hob die Augenlider hoch. Die Pupillen waren stark gerötet. Aber der Blick war glanzlos, ohne Leben.

„Hm – ich möchte Ihrem Freunde doch noch eine Injektion machen,“ meinte er nun.

Oh – eine Einspritzung?! Durfte ich das zulassen?! Wenn er Harald nun ein Gift in die Blutbahn einführte, ein langsam wirkendes Gift!

Er war, ohne eine Antwort abzuwarten, an den Tisch getreten, packte seine Tasche aus.

Gott sei Dank: Honoria erschien! Nun – nun würde es mir möglich sein, das zu tun, was blitzartig in meinem Hirn als besonderer Plan aufgezuckt war.

Und – es gelang!

Ich will hier nicht die Einzelheiten schildern, wie ich es fertig brachte, Greebracs mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllte Nickelspritze gegen unsere völlig gleich aussehende, mit Wasser gefüllte Spritze zu vertauschen, während Honoria, rasch alles durch ein paar ihr zugeflüsterte Worte begreifend, Greebracs Aufmerksamkeit sehr geschickt ablenkte und ihn sogar für drei Minuten mit sich in den Flur nahm, wo sie ihn scheinbar äußerst besorgt fragte, ob Lebensgefahr vorhanden sei.

Dann folgte die unschädliche Injektion in den linken Oberarm, dann sagte Austin Greebrac:

„So – ich hoffe, Ihr Freund wird morgen wieder gesund sein. Freilich, bei solchen Vergiftungen treten auch häufig Komplikationen ein, ungeahnte Verschlimmerungen. Ich denke aber, wir haben Mr. Harst über den Berg.“

Er packte seine Instrumente wieder ein, darunter unsere Spritze. Seine eigene noch gefüllte lag unter ein paar Zeitungen auf einem Rauchtischchen.

Dann verabschiedete er sich. „Ich werde abends nochmals nach dem Patienten sehen.“

Miß Myntor rief einen Diener herbei. Es war Makri. Dieser sollte den Doktor wieder nach Hause fahren.

Kaum rollte der Wagen davon, als Honoria schon meine Hand ergriff und fragte:

„Mißtrauten Sie ihm wirklich? Weshalb?“

Da – vom Diwan her Haralds Stimme:

„Vorsicht – Vorsicht! Kein lautes Wort hier oder im Hause! Nur im Freien offen zueinander sein!“

Wir beugten uns tief über ihn. In seinen Augen war das Flirren halber Trunkenheit, gezügelt durch die enorme Energie, die nur ein Harst aufbringen konnte.

„Ich habe den Mann gesehen, der den Pfeil abschoß,“ flüsterte er. „Es war ein Farbiger, aber keiner der Diener dieses Hauses, ein magerer Mensch von wahrer Affengewandtheit. Er sah wie ein Bettler aus, hatte einen zottigen Bart und eine dicke Negernase. Ich hätte ihn mit der Pistole aus der Baumkrone herabholen können. Aber – dann wäre die Aufdeckung des Anschlags zu früh erfolgt. Ich wollte ihn flüchten lassen –“

Er hielt erschöpft inne.

„Kognak, bitte!“ fuhr er dann fort. „Ich will ein paar Stunden schlafen. Es muß stets jemand bei mir bleiben. Der Diwan soll auf die Terrasse gebracht werden. Hier haben die Wände Ohren –“

Als er dann auf der Terrasse sich befand, als nun Mistreß Busselt und Honoria hier von mir auf seinen Wunsch in alles eingeweiht worden waren, sagte er, bevor er sich zum Schlafe auf die Seite legte:

„Mein Alter, Du mußt die Grabkapelle Lydias jetzt sofort aufsuchen. Bringe die Spritze auch besser eingewickelt hierher. Sei aber überaus vorsichtig. Der Kerl steckt vielleicht noch in der Baumkrone.“

Da erst fielen mir die beiden Warnungen ein. Ich zeigte sie Harald und den Damen. Harst meinte nur:

„Das hat der Blasrohrschütze erledigt. Er legte die beiden Zettel hin. Er kennt mehr von diesem früheren Hindutempel als wir.“

Ich holte die Spritze. Honoria kam mit in den Park und in das alte Gemäuer. Ich habe über Honoria Myntor mich hier noch nicht näher geäußert. Der Leser kennt sie ja aus dem vorigen Band: ein Mannweib, sportgeübt, stets in einem Sportanzug mit Kniehosen, ein Weib, bei deren Schaffung die Natur sich den Witz geleistet hatte, einen Mann als Weib zu formen.

Honoria hatte einen Revolver mitgenommen. Sie blieb als Wache draußen, während ich die Kapelle betrat. Vor der Tür im Grase hatte noch Haralds Pistole gelegen, wie sie seinen Händen entglitten war.

Auch im Innern des alten kleinen Bauwerks war alles so geblieben, wie wir es zurückgelassen hatten.

Dort in der Ecke auf den Steinfliesen der Blasrohrpfeil; dorthin hatte Harald ihn geschleudert. Die Flügelschrauben des Sargdeckels waren noch herausgedreht. Ich konnte den Deckel unschwer beiseite schieben.

Besser: Ich wollte es!

Denn als ich mich gerade dagegen stemmte und dabei den Kopf senkte, spürte ich am Schirm der Sportmütze etwas wie einen leichten Schlag.

Ich riß sie herab.

Ein Blick: in dem Schirm steckte ein zweiter Giftpfeil! Einer, der mir gegolten hatte.

Mit zwei Sätzen war ich im Freien. So, wie ich am Sarge soeben gestanden hatte, konnte der Pfeil nur durch das östliche runde Fensterchen gekommen sein.

Immerhin, so schnell ich auch war, eine halbe Minute hatte der Blasrohrschütze doch Vorsprung. Ich mußte erst noch um eine Menge stachliger Büsche herum. Dann sah ich das Fensterchen, konnte über dünne Gräser bis dicht an die Mauer heran.

Honoria war hinter mir drein gestürmt.

„Was gibt’s, Mr. Schraut?“ keuchte sie.

Ich antwortete nicht sofort. Ich suchte nach den Fußspuren des Schützen. Ich fand nur Anzeichen dafür, daß er auf dem Mauerabsatz gestanden und so durch die Fensteröffnung mir den Pfeil zugesandt hatte.

Dann erwiderte ich:

„Miß Honoria, ein zweiter Pfeil war jetzt mir zugedacht. Hätte ich mich nicht im selben Moment gebückt, dann wäre das Giftding mir in die Stirn gefahren!“

Honoria schrie leise auf. Diese Äußerung ihres Schrecks war doch echt weiblich.

Und nun eine wohlbekannte Stimme:

„Der Kognak hat mir ganz auf die Beine geholfen!“ Hinter uns stand Harald, der sich auf Mistreß Busselts Arm stützte.

 

4. Kapitel.

Der dritte Pfeil.

„Welcher Leichtsinn, Mr. Harst!“ meinte Honoria. „Jane, Sie hätten nicht dulden sollen, daß –“

„Oh – machen Sie doch etwas, wenn ein Harst sagt, er müsse in den Park!“

Harald lächelte begütigend.

„Daß ich hier sehr nötig bin, beweist ja diese Situation. Man hat also auch Dich bedenken wollen, mein Alter! Und nun wunderst Du Dich, daß Du keine Spuren findest.“

„Bitte, hier auf dem Mauerabsatz hat ein Mensch gestanden –“

„Soweit ich von hier sehen kann, ist der Mensch auf dem Mauerabsatz nach links weiter gegangen.“

Er machte sich von Mistreß Busselts Arm frei und trat unsicheren Schrittes dicht an die Mauer heran, bog, ihr folgend, nach links ab und rief uns leise zu:

„Stehen bleiben, bitte!“

Nachdem er das achteckige Miniaturtempelchen umrundet und sich uns wieder zugesellt hatte, sagte er weit lebhafter:

„So – nun der Sarg!“

Wir beide und die Matrone traten in die Grabkapelle ein und hatten draußen Honoria als aufmerksame Wächterin. Sie war freiwillig zurückgeblieben.

„Kommen Sie nur, Miß Honoria,“ meinte Harst jedoch. „Die Gefahr ist vorüber – vorläufig!“

Wir schoben den Deckel zurück.

Wir hatten bestimmt erwartet, der Sarg würde leer sein.

Es war nicht der Fall. Im Sarge lag ein mit Stoffresten halb bedecktes Gerippe – das Skelett eines Kindes der Größe nach.

Dann rief auch schon die Matrone:

„Oh – da ist noch Lydias Ring an der linken Hand! Sie ist es! Mr. Harst, Sie haben sich leider, leider geirrt. Lydia ist tot!“

Wie enttäuscht Jane Busselt war! Arme Frau! Sie hatte auf ein Wiedersehen gehofft. Und nun war jede Hoffnung dahin! Jede!

„Es scheint so,“ meinte Harald. „Meine Kombinationen waren irrig. Der Sarg ist nicht leer.“

Wer Harst kennt, achtet auf jedes seiner Worte. Und – hier sprach er erst von „es scheint so“ und dann von dem leeren Sarg, dem seine unrichtigen Kombinationen gegolten hatten. Er sprach aber nicht davon, daß dies Skelett wirklich das Lydia Ramands sein müsse.

Nachdem der Deckel wieder aufgeschraubt war, kehrten wir nach der Terrasse zurück.

Ein Diener hatte inzwischen den Kaffee, um den Harst Mistreß Busselt gebeten, serviert.

„Bringe mir eins der jungen Ichneumons (Schlangenbeißer, eine Rattenart), die der Gärtner sich hält,“ sagte Harald zu dem Diener.

Der Inder eilte davon, und Harst erklärte: „Der Kaffee kann vergiftet sein.“

„Das ist ausgeschlossen!“ meinte Honoria ganz entrüstet.

„Hier ist nichts ausgeschlossen, Miß. Warten Sie ab!“

Er goß etwas Kaffee in eine Untertasse, kühlte ihn durch Blasen ab und süßte ihn sehr kräftig.

Der Diener kam mit dem Tierchen auf dem Arm zurück. Es war ganz zahm. Ichneumons werden ja als Ungeziefer- und Schlangenjäger in so vielen indischen Häusern gehalten.

Das Tierchen wurde von Harst mit dem Näschen in den Kaffee gedrückt. Gierig leckte es dann den Kaffee aus. Es war noch nicht ganz fertig damit, als es zu taumeln begann, auf die Seite fiel, ein paarmal noch krampfhaft zuckte und dann stille lag. Es war tot.

Honoria und die Matrone hatten sich verfärbt.

„Maueli, die Kaffeekanne hat hier eine Weile unbeobachtet gestanden, nicht wahr?“ fragte Harst den Diener.

„Ja, Sahib. Ich holte noch das Gebäck und die Zuckerschale.“

„Es ist gut, Maueli.“

Von dem Parktor her das Rollen des Ponywagens.

„Maueli, geh’, halte die Pferde,“ befahl Harald, „und sende uns Makri her. Er muß gleich zur Apotheke fahren.“

„Miß Honoria,“ wandte er sich dann an die Hausherrin, „schneiden Sie doch rasch dort das lange Ende von der Zugschnur der Markise ab.“

Honoria zögerte.

„Lydia ist nicht tot,“ fiel Harst ihr ins Wort. „Wenigstens[5] ist es kein Skelett eines weißen Mädchens, das dort im Sarge liegt. Es ist das Gerippe einer Farbigen, einer Inderin, und zwar eines Mädchens aus dem Bezirk Katsch, wo noch heute der Brauch besteht, den neugeborenen Kindern weiblichen Geschlechts den Schädel durch eine Art Presse nach hinten spitz zu formen. Kein Schädel einer Europäerin hat eine solche Form – niemals. Man hat eine tote Eingeborene in den Sarg gelegt und ihr den Ring angesteckt.“

Makri erschien auf der Treppe. Es war ein stattlicher, schwarzbärtiger Mann mit den dunklen ausdrucksvollen Augen, wie sie die meisten Inder besitzen.

Ohne jede Scheu näherte er sich dem Tische, blieb stehen, kreuzte die Arme über der Brust und fragte:

„Sahib Harst, Du befiehlst?“

In Haralds rechter Hand lag etwas metallisch Blinkendes: seine Clementpistole!

„Wenn Du auch nur einen Fuß anders stellst, Makri, schieße ich,“ erklärte er ernst. „Wo warst Du jetzt?“

„Ich habe Sahib Greebrac nach Hause gefahren, Sahib Harst. – Was habe ich verschuldet, daß ich hier wie ein Verbrecher behandelt werde?“ Seine Augen glommen in Haß und Stolz größer auf. „Ich bin ein Radschpute, ein Sohn der Thar. Ich werde dieses Haus sofort verlassen.“

„Ja, – als Polizeigefangener!“ meinte Harald kühl. „Wo warst Du, nachdem Du den Doktor nach Hause gebracht hattest?“

Die Augen des Inders wurden stumpfer. Der stolze Blick verkroch sich wieder.

„Ich fuhr hierher,“ erwiderte er scheinbar gleichmütig.

„Du lügst, Makri. Du warst auf dem Hauptpostamt. Du kamst dort vorbei, brauchtest keinen Umweg zu machen.“

„Ich war nicht dort, Sahib,“ beharrte der Inder mit erneutem Haßblick.

„Seltsam, an Deinen Sandalen, deren Sohlen die Feuchtigkeit der frisch gesprengten Bürgersteige annahmen, kleben ein paar Stückchen der gummierten Streifen von Briefmarken. Du warst auf der Post!“

Makri schaute scheu auf seine Sandalen. Unter der Sohle leuchteten drei weiße Papierstreifchen.

„Du hast eine Depesche dort aufgegeben,“ fuhr Harald fort. „Nach Battikaloa!“

Makris Unterkiefer klappte vor Schreck herab. Und ihm entfuhr es:

„Du warst hinter mir, Sahib –?“

„Ja – mein geistiges Ich folgte Dir. Ich wußte, daß Ihr Eure Helfershelfer in Battikaloa, die Lydia Ramand gefangen halten, warnen würdet, ja auf der Hut zu sein. Was hat Greebrac depeschiert? Und an wen? – Sage die Wahrheit, Makri. Es geht hier vielleicht ums Leben.“

Im grau verfärbten Gesicht des Radschputen malte sich deutlich ein schwerer Seelenkampf.

Dann – dann sahen wir alle, wie er zusammenzuckte, wie sein Antlitz die Farbe des schmutzigen Bleis bekam.

Wir ahnten nicht, was geschehen. Wir sahen weiter, wie die Brust des Inders sich in krampfhaften Atemzügen hob, wie sein Gesicht zur Fratze wurde.

Dann lohten seine Augen auf. Der ganze unendliche, stets still verborgene Haß der braunen Söhne des Zauberlandes Indien flackerte in den schillernden, weißumrandeten Pupillen.

Seine Hand fuhr blitzschnell unter die lose Leinenjacke.

Dann ein Knall – ein Aufkreischen der Damen.

Noch ein Knall.

Das Poltern des durch den stürzenden Inder umgerissenen Tisches und das Klirren des zersplitternden Porzellans wurde noch übertönt durch einen dumpfen Krach eines auf die Terrasse aufschlagenden zweiten Körpers, der die Markise herabgerutscht kam.

Ich schaute hin. Es war der zottelbärtige[6] Bettler, der Blasrohrschütze. Er hielt das Blasrohr noch in der Rechten.

Die Frauen flüchteten ins Haus.

Dann sauste schon ein Auto den Hauptweg daher, hielt, und Inspektor Boßwell war mit drei Sätzen die Terrassentreppe hinan.

„Fahren Sie zu Greebrac,“ rief Harst sofort. „Verhaften Sie ihn, Boßwell. Er ist reif dazu!“

„Gut, Harst. – Hier diese Depesche ist die erste Frucht unserer Überwachung Makris und des Doktors. Ich habe das Telegramm nicht abgehen lassen. – Auf Wiedersehen.“

Er stürmte die Stufen hinab. Der Motor knarrte. Eine leichte Staubwolke zog sich hinter dem davonjagenden Auto drein.

Harald steckte die um zwei Patronen erleichterte Clement in die Tasche.

„Da – Makri hat einen Blasrohrpfeil im Genick. Und der Dolch in seiner Hand sollte mich auslöschen.“

Er zeigte er nach oben.

In der Markise klaffte ein dreieckiges Loch an derselben Stelle, wo wir vor fünf Stunden den Schatten von Makris Kopf bemerkt hatten.

Drei Diener schlichen scheu durch die Tür auf die Terrasse.

„Geht wieder!“ befahl Harst. „Hier muß alles so bleiben, bis Boßwell zurückkehrt.“

Harst trat an den ebenfalls durch den Kopf geschossenen Bettler heran.

„Es ist ein Wedda,“ sagte er sinnend. „Ein Ureinwohner Ceylons.“

Dann entfaltete er die Depesche.

Ich schaute ihm über die Schulter.

Tom Brackpoll, Plantage Gurrasawa

bei Battikaloa, Ceylon.

Habe für die so lange aufbewahrt gewesene Maschine keine Verwendung und bitte sie daher umgehend gut verpackt an die Adresse in Ellora abzusenden. Austin.

Wer diese „Maschine“ war, stand nun fest: Lydia Ramand!

„Gehen wir in unseren Wohnsalon,“ meinte Harald. „Wir werden den geheimen Verbindungsgang nach der Grabkapelle suchen, wo ich in der Westmauer eine Geheimtür fand, durch die der Wedda Dir entkam.“

Wir entdeckten im Salon in einer Nische eine sorgfältig versteckte Tür, entdeckten auch den unterirdischen Gang. Als wir ihn durchschritten hatten, kam Boßwells Auto angerast.

„Entwischt!“ rief der Inspektor und schwenkte ein Blatt Papier.

Darauf stand in lila Maschinenschrift:

Dritte Warnung!

Die Spritze warnt mich jetzt!
Sie sind ein toter Mann!

„Besorgen Sie mir das schnellste Auto, das Sie auftreiben können, Boßwell!“ sagte Harst ohne jede Erregung. „Nun heißt es, einem gefährlichen Schurken zuvorzukommen.“

 

5. Kapitel.

Lydia Ramand.

Die Leichen Makris und des Weddas waren fortgeschafft und die Terrasse gesäubert worden. Wir hatten uns inzwischen in dem Bungalow Doktor Greebracs gründlich umgesehen, hatten dessen beide Diener und den chinesischen Koch vernommen, eine Menge Papiere durchstöbert und, obwohl wir doch zu dreien, eben mit Boßwell, all dies erledigten, trotz aller Gründlichkeit nichts Wichtiges gefunden oder ermittelt. Die Diener und der Koch behaupteten, von einem Wedda nie etwas gehört zu haben. Ein solcher Mann habe mit ihrem Sahib nicht verkehrt.

Wir saßen nun wieder zu fünfen auf der Terrasse des Myntor-Palais. Es war sechs Uhr nachmittags. Wir hatten ein vorzügliches Diner hinter uns, und die blutigen, erst so wenige Stunden zurückliegenden Ereignisse erschienen mir in der Erinnerung bereits so verschwommen wie grause Träume.

Harst hatte Boßwell gebeten, die Diener und den Koch sowie auch Greebracs Haus scharf, aber unauffällig bewachen zu lassen. Das Auto war besorgt. Es war ein großer Rennwagen, dessen Besitzer, ein englischer Kaufmann, es sich zur Ehre anrechnete, uns den Wagen zur Verfügung zu stellen und ihn selbst zu steuern. Um sieben Uhr wollte dieser Mr. Roop, ein Bekannter Boßwells, sich einfinden.

Harald war sehr schweigsam und in sich gekehrt. Ich wußte, was ihn beunruhigte: er fürchtete, wir könnten zu spät in Battikaloa eintreffen und Austin Greebrac könnte Mittel und Wege gefunden haben, trotz der über Tom Brackpoll in Battikaloa angeordneten Depeschensperre eine Nachricht dorthin gelangen zu lassen. Von einer telegraphischen Aufforderung an die Polizei in Battikaloa, Tom Brackpoll auf der Plantage Gurrasawa zu verhaften und dort nach Lydia zu suchen, hatte Boßwell auf Haralds dringenden Rat Abstand genommen. Harst war nämlich überzeugt, daß Lydia so gut verborgen gehalten würde und auch wahrscheinlich nicht direkt auf der Plantage, daß die Polizei nichts ausrichten könnte, sondern durch ihr Eingreifen für uns die Arbeit nur erschwert würde. –

Honoria Myntor und Mistreß Busselt erhoben sich jetzt und verließen die Terrasse, um persönlich für uns einen Korb Proviant für drei Tage zusammenzupacken. Kaum waren wir allein, als ein indischer Geheimpolizist auf einem Motorrad angesaust kam und meldete, Greebracs Diener und der chinesische Koch seien in dem Tourenwagen ihres Herrn ganz plötzlich entflohen. Der Chinese habe am Steuer des Autos gesessen und sei mit einer solchen Schnelligkeit davon gefahren, daß jede Verfolgung aussichtslos gewesen sei.

Sofort begann jetzt der Telegraph nach allen Seiten zu spielen. Der hellgraue Kraftwagen sollte aufgehalten und die Insassen verhaftet werden.

„Vielleicht glückt es,“ meinte Harst, der jetzt mit langen Schritten die Terrasse durchmaß. „Vielleicht – obwohl ich nicht recht zu hoffen wage.“

Kurz vor sieben Uhr meldete die Polizei aus Dhana, dem Eisenbahnknotenpunkt südöstlich von Bombay, daß ein hellgraues Auto soeben angehalten worden sei. Die Insassen, ein europäisches Ehepaar nebst Chauffeur und Diener, hätten sich jedoch als ein Kaufmann Woorgarter aus Bombay nebst Bedienung ausgewiesen.

Harst nahm selbst den Telephonhörer und sprach mit dem Beamten in Dhana, wo jedes Auto durchmußte, daß die Südküste Vorderindiens erreichen wollte und dort einen der Häfen, von denen man nach Ceylon übersetzen konnte.

„Sind sonst noch Kraftwagen bemerkt worden?“ fragte Harald.

„Gewiß. Verdächtig war uns zum Beispiel ein dunkelgrüner Wagen der von einem chinesischen Chauffeur gesteuert wurde. Die Insassen, ein Weißer und zwei Damen, konnten sich jedoch zweifelsfrei als der Bombayer Oberrichter Sir Lonworld nebst Gattin und Tochter ausweisen.“

„Waren die Damen verschleiert?“

„Ja – vollständig.“

„Bleiben Sie am Apparat. Ich will nur hier Sir Lonworlds Nummer anrufen.“

Und – so stellte sich heraus, daß Sir Lonworld Bombay gar nicht verlassen hatte!

„Also Greebrac mit seinen Getreuen war’s!“ sagte Harst mit gefurchter Stirn. „Der Wagen wird zwei Anstriche übereinander gehabt haben, und der obere, der hellgraue, war abwaschbar.“

Abermals spielte der Telegraph. Es war jetzt festgestellt, daß Greebrac nach Süden floh. Wieder wurden alle für Autos fahrbaren Straßen gesperrt.

Dann fuhr Mr. Roop mit seinem Rennwagen vor. Nach kurzem Abschied sausten wir davon.

Die anderthalbtägige Reise bis Negapatam an der südlichen Koromandelküste verlief ohne Zwischenfälle. Hier fanden wir auf der Polizei eine Depesche Boßwells vor, des Inhalts, daß Greebrac entschlüpft sei. Sein Auto war nirgends mehr gesichtet worden.

Der für uns durch Boßwell bestellte Motorkutter lag im Hafen schon bereit. Wir gingen sogleich an Bord. Mittags ein Uhr verließen wir den Hafen.

Der verdeckte Kutter, ein Fahrzeug der Hafenpolizei, hatte fünf Mann Besatzung. Der Kapitän war ein junger, netter Engländer namens Gocklin, mit dem wir uns schnell anfreundeten.

Harst hatte genau berechnet, daß wir mit diesem Kutter, der bis zu 18 Knoten lief, vor Greebrac in Negapatam[7] ankommen müßten.

Als wir nachmittags gegen fünf in der Kajüte mit Gocklin zu Mittag speisten, kam für uns jedoch die böse Enttäuschung: Gocklin erwähnte so nebenbei, daß er heute vormittag gegen zehn Uhr Zeuge gewesen sei, wie ein Amerikaner in Negapatam ein Motorrennboot für einen geradezu unsinnigen Preis einem indischen Perlenhändler abgekauft habe. Es sei ein großes Rennboot gewesen, und der Amerikaner habe denn auch sofort damit eine Probefahrt in See unternommen.

Harst legte Messer und Gabel hin.

„War der Amerikaner allein?“ fragte er gepreßt.

„Nein, Mr. Harst. Er hatte Frau und Tochter und seinen chinesischen Diener bei sich.“

„Und – diese vier Personen unternahmen die Probefahrt?“

„Ja. – Was für ein Gesicht machen Sie aber, Mr. Harst?! Stimmt etwas bei dieser Geschichte nicht?“

„O ja – es stimmt schon. Nun ist uns Greebrac mit seinen Getreuen doch voraus! Wie ungeheuer wertvoll muß wohl Lydia Ramands Person sein, wenn Greebrac ihretwegen solche Summen opfert und so viel Verschlagenheit aufwendet! Ich glaube, mit diesem Mädchen ist ein Geheimnis von solcher Wichtigkeit verknüpft, daß wir dessen Bedeutung noch nicht im entferntesten ahnen!“

Harst stand auf, holte eine Seekarte von der Wand, kümmerte sich um die Mahlzeit nicht mehr und studierte lediglich diese Karte der Ostküste Ceylons.

„Wann können wir in Battikaloa sein?“ fragte er dann den freundlichen Gocklin.

„Gegen Morgen, Mr. Harst.“

„Gut. Ich sehe, daß Battikaloa auf einer Insel liegt, vor die sich nach See zu wie ein Wall, die Battikaloa-Lagune vom Meere trennend, eine endlose Halbinsel entlangreckt. Man muß also erst meilenweit durch eine Art Kanal zwischen Halbinsel und Festland dahinfahren, ehe man die Stadt erreicht. Die Plantage Gurrasawa aber liegt weit südlich an der Lagune. Wenn Greebrac also Lydia Ramand mit dem Motorrennboot abholen und anderswohin, etwa nach Ellora, bringen will, muß er diesen Kanal wieder passieren. Wir werden uns also dort auf die Lauer legen. Greebrac ahnt ja nicht, daß wir nun wissen, daß er über ein Motorrennboot verfügt.“ –

Vierzehn Stunden später lag unser Kutter in der Lagunenmündung unweit der durch Bojen gekennzeichneten Fahrrinne an einem kleinen Inselchen vor Anker. Die Insel hatte eine felsige Spitze, von der aus man mit einem Fernglas die breite Wasserfläche bequem überschauen konnte. – Die Sonne war soeben aufgegangen. Harst und ich lagen oben auf dem Felsen, jeder mit einem Fernglas vor den Augen. Wir spähten andauernd gen Süden, wo wir über die Palmenwipfel zwei Türme der alten Festung Battikaloa hinwegragen sahen.

Harald war es, der gegen sieben Uhr dann den Warnruf hinab zum Kutter schickte: „Hallo – Gocklin! Alles fertig! Sie kommen!“

Das Rennboot hielt sich dicht am Festlandufer. Wir überquerten die Lagune und verschwanden hinter zwei bewaldeten Eilanden. Das Rennboot mußte hier vorüber, wenn es nicht gerade den Kurs änderte. Wir hatten zwei Militärgewehre an Bord, und Harald beabsichtigte, damit das Rennboot uns nicht davonliefe, nötigenfalls von diesen weittragenden Waffen Gebrauch zu machen.

Um den Kutter zu maskieren, hatten wir vorn und am Heck zwei Haufen von Palmenzweigen aufgeschichtet. Unser Fahrzeug konnte so für ein Lastboot gelten, dessen Deckladung zum Schutz gegen die Sonne bedeckt worden war. Als das Rennboot nahte, fuhren wir ihm langsam entgegen. Gocklin steuerte so geschickt, daß wir es sehr bald etwa fünfzig Meter schräg vor uns hatten. Harst rief jetzt die vier Insassen an und befahl zu stoppen. Die Antwort war ein Revolverschuß und eine blitzschnelle Wendung des Rennbootes.

Jetzt knallten bei uns vier – fünf Schüsse. Auch Gocklin hatte zu einem Gewehr gegriffen.

Dann eine starke Explosion drüben. Der Benzinbehälter war aufgeflogen. Das Boot sank.

Wir fischten Greebracs Diener, den Chinesen und ein blondes, schlankes Mädchen aus dem Wasser auf. Wir hatten Lydia Ramand, die in der kleinen Bugkajüte versteckt gewesen war, also gefunden. Aber Austin Greebrac fanden wir nicht. –

Was Lydia uns dann berichtete, bringe ich im zweiten Teil dieses Abenteuers.

Seltsam genug war die Erzählung Lydias. Noch seltsamer, daß sie allerlei zu verheimlichen trachtete und daß ihr Hauptinteresse dem Ringe galt, den wir am Finger des Skeletts in der Grabkapelle des Myntor-Parks bemerkt hatten.

 

 

Der Felsentempel von Ellora.

 

1. Kapitel.

Wie wir geleimt wurden.

Das Rennboot war gesunken. Nur ein schillernder Ölfleck auf der Wasseroberfläche bezeichnete noch die Stelle, wo das kostbare Fahrzeug nun auf dem Schlammgrunde der Lagunenmündung lag.

Harst hatte die liebreizende Lydia in die Kajüte des Kutters geführt, damit sie sich hier allein aufhielte, bis ihre Kleider, die sie uns herausreichen sollte, an Deck getrocknet wären.

Das junge Mädchen hatte durchaus nicht den Eindruck einer verschüchterten Gefangenen gemacht. Auch ihr Anzug hatte verraten, daß man sie gut behandelt und bei der Einkleidung ihres äußeren Menschen nicht gespart hatte.

Mit einer herzgewinnenden natürlichen, zwanglosen Art waren ihr warme Worte des Dankes über die Lippen gekommen. Ebenso freimütig hatte sie sofort nach unseren Namen und den näheren Umständen ihrer Befreiung gefragt. Harald hatte ihr nur kurz geantwortet, da ein scharfer Seewind über die Lagunenmündung strich und Lydia in ihren nassen Kleidern sich der Zugluft an Deck nicht lange aussetzen sollte.

Nun war sie in der Kajüte verschwunden. Nun kehrte Harald zu mir auf das Achterdeck zurück, wo ich soeben die beiden Diener und den Chinesen ausgefragt hatte, jedoch nur wieder hörte, daß Austin Greebrac nicht mit an Bord des Rennbootes gewesen sei. Auf alle anderen Fragen verweigerten sie hartnäckig jede Auskunft.

Sie standen mit auf den Rücken gefesselten Händen vor mir, diese drei Leute, die ohne Zweifel sehr viel von den Geheimnissen ihres Herrn wußten. Als Harald nun hinzutrat, richteten sich drei Augenpaare mit ganz besonderem Ausdruck auf das schmale, kluge Gesicht meines Freundes. Ich suchte diesen Ausdruck zu zerlegen. Es schien heimlicher Haß, Furcht und auch wieder stiller Triumph in diesen Blicken zu liegen.

Haralds große durchdringende Augen ruhten nacheinander auf den unbelebten Asiatengesichtern.

„Sie verweigern jede Auskunft,“ erklärte ich. „Nur daß Greebrac nicht an Bord des Rennbootes war, geben sie zu.“

„Oder besser: lügen sie!“ meinte Harst und blickte den einen Inder noch schärfer an. „Du hast Deine Augen schlecht in der Gewalt!“ sprach er ironisch zu dem größeren der Diener, einem braunen Kerl von athletischem Körperbau. „In Deinen Augen glomm der Hohn auf. Greebrac war an Bord!“

Auch Kapitän Gocklin trat gespannt näher.

Harald wandte sich halb um und überschaute die leicht bewegte Wasserfläche. Der Kutter trieb noch mit ruhenden Schrauben. Seit der Explosion des Rennbootes mochten fünf Minuten vergangen sein. Bis zum Ufer der Inselküste betrug die Entfernung vielleicht dreihundert Meter, bis zum Strande der Lagunenhalbinsel etwa zweitausend Meter.

„Meinen Sie, daß Greebrac entflohen ist?“ fragte Gocklin Harst in seiner bescheidenen Art.

„Ja, das nehme ich jetzt sogar mit aller Bestimmtheit an. Ein Mann wie er kennt tausend Schliche. Wir hier auf dem Kutter wurden durch die Explosion und durch das rasche Sinken des Rennbootes überrascht. Wir hatten nur Augen für die vier im Wasser schwimmenden Menschen. Ich hätte früher an –“ – und da wandte er sich dem braunen Athleten wieder zu – „an die vielen schwimmenden Grasstücke und Sträucher denken sollen.“

Des Inders Gesicht veränderte sich für einen Moment. Der Ausdruck hastigen Schrecks glitt darüber hin wie der Schatten einer rasch segelnden Wolke.

„Gocklin – ans Steuer bitte!“ befahl Harst da. „Wenn ich in Greebracs Lage gewesen wäre, hätte ich im Schutze eines treibenden Busches das Ufer der Lagunenhalbinsel zu erreichen gesucht, weil mich nach der Richtung hin niemand vermutet hätte, da die andere Küste ja weit näher liegt und jeder angenommen hätte, ich müßte gerade diese Richtung nach der nächsten Uferstelle gewählt haben.“

Gocklin ließ die Motoren schon anspringen. Der Kutter begann alle auf der Oberfläche schwimmenden noch so harmlos erscheinenden Dinge anzusteuern, die nach Osten zu zu sehen waren.

Diesmal war ich es, der Harst sehr bald auf ein Fischerboot aufmerksam machte, das bisher etwa tausend Meter ab seine Netze ausgeworfen hatte, jetzt aber mit vollen Segeln nach Südwest der Inselküste zustrebte.

„Das Boot hat sein Netz gar nicht eingezogen,“ sagte ich. „Ich sah genau, daß die beiden Fischer es ins Wasser gleiten ließen und rasch das Großsegel hißten.“

„Gocklin – dem Fischerboote nach!“ rief Harald.

Und wieder hatte er dabei den großen, starken Inder im Auge behalten.

„Ah – es gefällt Dir nicht, daß wir dem Boote folgen! Bursche, jetzt hast Du Dich verraten!“

Des Inders Blicke waren wie Dolchklingen geworden. Aber er beherrschte sich. Der unendliche Grimm und Haß erlosch in seinen Augen ebenso rasch, und mit einer grenzenlosen Verachtung sagte er zu Harst:

„Fange den Adler, wenn Du es kannst! Sahib Austin Greebrac spottet Deiner!“

Das war für einen Inder eine geradezu unerhört anmaßende Sprache. Sie mußte wohl einen guten Grund haben.

Unsere Blicke flogen wieder nach dem Fischerboote hinüber. Es lag ganz schief unter dem Druck der Segel. Es war kein primitiver Eingeborenennachen, sondern ein modernes, wenn auch breit gebautes Plankenboot.

Gocklin, der vom erhöhten Steuerstand aus mit einem Glase das Boot beobachtete, winkte uns ärgerlich zu:

„Sie entkommen! Der Vorsprung ist zu groß!“

Auch ich hatte dies schon befürchtet. Und des Inders Äußerung war nur so zu verstehen, daß er auf diesen nicht einzuholenden Vorsprung angespielt hatte.

Wieder meldete sich Gocklin:

„Ich sehe vier Leute dort im Boot. Einer sitzt ganz tief hinter den Fischkörben. Es ist ein Europäer.“

Harst griff nach einem der Gewehre, die noch an der Kajütentreppe lehnten.

„Vielleicht hilft dies!“ sagte er mit einer Stimme, die drohend und gereizt klang.

Er trat an die Reling, legte an, zielte lange, setzte wieder ab, klappte das Visier hoch, zog die Waffe wieder in die Schulter ein.

Da – der Inder war mit einem wahren Panthersatz zugesprungen, hatte Harald mit vorgebeugtem Kopf einen solchen Stoß in die Achselhöhle versetzt, daß Harst lang auf die Deckplanken schlug. Der Schuß ging irgendwohin in die Luft.

Dann hatte der gefährliche Bursche sich schon über die Reling ins Wasser fallen lassen.

Es war klar: er wollte uns nur zwingen, ihn aufzufischen, wollte dem Fischerboote so das Entkommen erleichtern.

Harst war schon wieder auf den Füßen.

„Wenden!“ befahl er. „Die weitere Verfolgung ist zwecklos.“

Der Kutter beschrieb einen Bogen. Der Inder wurde an Deck gezogen.

„Wie heißt Du?“ fragte Harst ihn mit einer gewissen Freundlichkeit.

„Tamar Dak,“ sagte der triefende Kerl stolz.

„Du gefällst mir, Tamar Dak. Es ist schade, daß Du baumeln mußt. Für die Teilnahme an einem Mordanschlag gegen Europäer gibt es für Eingeborene den Strang.“

Der Inder starrte gleichgültig an Harst vorüber auf das Boot das hinter einer Landzunge verschwand.

Gocklin hatte von selbst den früheren Kurs wieder aufgenommen. Wir waren etwa drei Minuten später an derselben Landzunge, hinter der ein Flüßchen in die Lagune mündete.

Da sahen wir am rechten Ufer des Flüßchens das mit trockenem Strauchwerk umschichtete Boot in Flammen stehen. Die Lohe schoß an den Segeln hoch, und der an Stärke zunehmende Seewind fachte die Glut zu langen, roten Feuerzungen an.

Als wir unweit des brennenden Bootes an Land sprangen, als wir nun dem Boote zuliefen und im Grase bald die Fährten Greebracs und der Fischer gefunden hatten, als wir diesen Spuren bis in ein Palmengehölz gefolgt waren und dicht dabei die hohen Mauern eines durch Schlingpflanzen völlig durchzogenen Urwalds bemerkten, kehrte Harald um.

„Fahren wir weiter nach Battikaloa und in die Lagune hinein bis zur Gurrasawa-Plantage,“ meinte er. „Der Adler ist uns wirklich entflogen. Wir werden ihn natürlich auch auf der Plantage nicht finden. Ich möchte aber mit deren Besitzer Tom Brackpoll ein Wörtchen reden.“ –

Als wir noch etwa eine Meile von Battikaloa entfernt waren, erschien Lydia Ramand wieder an Deck. Ihre Kleider waren trocken. Die Sonne des Indischen Ozeans brennt heißer als die unserer deutschen Heimat.

„Ich habe vom Kajütenfenster alles beobachtet, Mr. Harst,“ sagte das blonde, reizvolle Mädchen mit leuchtenden Augen. „Doktor Greebrac ist entwischt. Ob Sie ihn wieder fangen werden?“

Ich war erstaunt über den Ton, in dem sie diese Sätze vorbrachte. Ob ich mich verhört hatte. Wirklich – es klang ganz so, als hoffte sie, wir würden Greebrac nicht fangen können!

Harald schaute sie denn ebenfalls überrascht an und meinte:

„Das wird nicht ganz leicht sein, Miß Ramand.“

„Ja – er ist sehr, sehr klug,“ sprach sie zerstreut vor sich hin. Irgend etwas schien ihren Gedanken eine andere Richtung gegeben zu haben. Dann fragte sie hastig:

„Was werden Sie mit den drei Gefangenen tun, Mr. Harst?“

„Sie dem Vizegouverneur in Battikaloa vorläufig übergeben.“

„Und Sie selbst?“

„Wir fahren nach Brackpolls Plantage.“

„Kommen Sie,“ meinte sie, den Kopf halb zurückdrehend. „Ich möchte Sie beide ohne Zeugen sprechen.“

Als wir in der Kajüte Platz genommen hatten, lächelte sie plötzlich verlegen und sagte zögernd:

„Ich – ich habe Hunger, Mr. Harst. Ich werde mir rasch etwas zum Essen von Mr. Gocklin geben lassen. Nein – bleiben Sie sitzen, Mr. Schraut. Ich bin flinker als Sie.“

Und sie huschte lachend zur Kajüte hinaus.

Ich blickte Harald kopfschüttelnd an. Aber Harst starrte mit gekrauster Stirn vor sich hin.

„Daß sie Hunger hat, konnte sie uns doch auch auf Deck verraten,“ meinte ich.

Harst rührte sich nicht, blieb stumm.

Dann hob er den Blick.

„Sie ist etwas eigentümlich,“ sagte er. „Wenn das, was mir da soeben als scheinbar unsinnige Vermutung durch den Kopf schoß, zuträfe, wären wir auf unglaubliche Art geleimt worden!“

Bei den letzten Worten stand er auf und ging rasch der Tür zu, wollte sie aufziehen.

Er fuhr herum.

„Eingeschlossen!“ rief er. „Der Schlüssel ist von draußen umgedreht worden!“

Da – an Deck lautes Geschrei.

Gocklins dröhnende Stimme dazwischen:

„Miß, sind Sie des Teufels!“

Ein Schuß – noch einer.

Harst hatte sich jetzt mit aller Wucht gegen die Tür geworfen. Die obere Füllung sprang heraus.

Er kroch hindurch.

Ich hinterdrein.

Kaum war ich die Treppe empor, als in der Kajüte ein furchtbarer Knall ertönte.

Der Luftdruck durch die zersplitternde Tür packte mich noch so stark, daß ich vornüberfiel und mit dem Kopf gegen die eiserne Reling flog.

Ich verlor das Bewußtsein.

 

2. Kapitel.

Der Schmetterling.

Und erwachte – als Gefangener Doktor Austin Greebracs, erwachte in einer weiten Halle, in der Gras zwischen den Bodenfliesen wucherte und in die heller Sonnenschein durch das teilweise eingestürzte Dach hineinflutete. –

Was war geschehen?

Ich will mich ganz kurz fassen, denn das Problem des Ellora-Tempels ist so überreich an Verwicklungen, daß ich manche Einzelheiten notgedrungen übergehen muß.

Was war geschehen? – Ein Sprengkörper war in der Kajüte des Kutters explodiert. Wer hatte ihn dorthin gebracht, wer den Zünder in Brand gesetzt, – wer hatte Harald und mich so töten wollen.

Wer –?!

Ein Blick nach dem Halleneingang hin ließ mich Lydia Ramand mit einer Zigarette im Mundwinkel neben Greebrac und dem Inder Tamar Dak erkennen.

Ein zweiter Blick in die Runde zeigte mir, daß ich allein war – der einzige Gefangene.

Wo war Harst? Tot etwa? Ermordet?!

Und diese jäh erwachte Angst machte mich vollends munter. Ich schüttelte alles von mir ab, was ich noch an Nachwehen der tiefen Betäubung empfand.

Ich drehte den Kopf nach rechts dem Eingang zu.

Da hatte Lydia bemerkt, daß ich wieder bei Bewußtsein war.

Sie und Greebrac kamen auf mich zugeschlendert. Ich hatte mich aufgerichtet. Ich sah die beiden lächeln, sah Lydias Lippen sich höhnisch wölben.

„Ja, Mr. Schraut,“ sagte Greebrac nun, vor mir stehen bleibend, „ja, das ist eine nette Überraschung, nicht wahr? Sie gestatten, daß ich Ihnen hier meine Schwester Adelaide vorstelle. Sie werden schon als Freund des berühmten Harst auf die durchaus richtige Vermutung gekommen sein, daß ich mir erlaubt habe, Ihnen durch Adi, meine Schwester, eine Falle stellen zu lassen. Lydia Ramand, die Sie holen wollten, befindet sich längst anderswo. Aber jetzt – habe ich Sie beide mir geholt. Das heißt: Harst hat Pech gehabt. Eines der Lagunenkrokodile – Ceylon ist ja nicht gerade arm an diesen liebenswürdigen Bestien – zog ihn in die Tiefe. Schade, Sie hätten ihn nur um Hilfe rufen hören sollen! Ja – so ein Krokodil packt fest zu. Wir sahen, wie verzweifelt er sich wehrte, wie er aber doch langsam versank. Die Bestie hatte wohl einen Fuß zu fassen bekommen –“

Dieser satanische Hohn trieb mir das Blut ins Gesicht.

„Schurke, Sie werden der gerechten Strafe nicht entgehen,“ brüllte ich ihn an.

Die beiden wollten sich ausschütten vor Lachen. Und Adi Greebrac sagte dann:

„Sie werden mir bescheinigen müssen, daß ich meine Rolle vorzüglich gespielt habe. Schade daß Sie beide so schnell die Kajüte verließen.“

„Oh, Mr. Schraut kann sich dafür jetzt selbst die Todesart auswählen,“ höhnte Greebrac, der wieder genau so aussah, wie er mir im Myntor-Palais gegenübergestanden hatte. „Bevor Sie sterben, möchte ich Sie einiges fragen. Hat der superkluge Harst mein Haus durchsucht? – Antworten Sie doch! – Nun – sicherlich hat er’s getan. Und doch übersah er den Taubenstall im Hofgebäude und die Brieftauben darin, von denen drei meinem Freunde Brackpoll die Warnung zutrugen, als ich merkte, daß man die Depesche nicht hatte abgehen lassen –“

„Dann zweitens, Mr. Schraut: weiß Harst, wer ich bin? Ahnt er es wenigstens? Hat er jemals das Verbrecheralbum von Scotland Yard in Händen gehabt, wo in Band eins die „Kanonen“ zu sehen sind, die ganz großen Künstler im Kampf gegen fremdes Eigentum? Wenn er es in Händen gehabt hätte, würde er vielleicht auf das Bild von Doktor Austin Carbreeg aufmerksam geworden sein. Das ist ein ganz junger Londoner Arzt gewesen, der schon als Student sich zum vielseitigen Verbrecher ausgebildet hatte und der dann eine Bande von Gleichgesinnten um sich versammelte, mit deren Hilfe er unter anderem die Bank von England um fünf Millionen erleichterte. Als man ihm dann auf die Spur kam, verschwand er, fälschte seine Papiere und ließ sich in Bombay als Greebrac nieder, nachdem er dafür gesorgt hatte, daß alle Welt ihn für tot hielt. Seit acht Jahren wirke ich nun hier in Indien, Mr. Schraut. Als Sie und Harst hier den großen Warbatty jagten, hielt ich mich etwas zurück. Dann jedoch mehrten sich die Diebstähle, Raubanfälle und so weiter. Kurz, ich bin derselbe Austin Carbreeg, der einst der Schrecken Englands war, ich bin derselbe Carbreeg, der es versteht, fünf Leben gleichzeitig zu leben. So zum Beispiel gibt es gar keinen Tom Brackpoll. Ich bin Brackpoll, der so selten seine Plantage Gurrasawa besucht, dessen Schwester aber auf der Plantage wohnte und Lydia Ramand bewachte. Gewiß – es wäre für Harst ein großer Fang gewesen, wenn er mich entlarvt hätte, wenn er meine Leute gleichfalls an den Galgen gebracht hätte. Es wird nie geschehen. Die Intelligenz eines Warbatty-Palperlon war zu gering zum Kampfe gegen Ihren Freund. Die meinige reichte aus. Harst ist tot!“

Er sprach die letzten Worte mit einem leichten Achselzucken.

„Er hätte eben auf die Warnungen hören sollen,“ fügte er hinzu.

Und – im selben Moment geschah etwas sehr sonderbares.

Durch ein Loch des Daches dieser Halle, eines uralten, unbenutzten Tempels, flatterte ein großer buntschillernder Schmetterling matt herab, fiel mir gerade in den Schoß und verendete unter zitternden Flügelschlägen.

Es war einer jener tropischen Riesenschmetterlinge, deren Flügeldecken wie goldene Kreise schimmern.

Ich hatte den Kopf unwillkürlich vorgebeugt, blickte auf das tote Tierchen herab.

Und – sah – sah –

Da sprach Austin Greebrac schon mit ironischem Mitleid:

„Ihr Schicksal zeigt Ihnen dieser Falter an, Mr. Schraut. – Wie wollen Sie sterben? Eine Kugel? Gift? Oder ein Strick um den Hals? – Wählen Sie!“

Ich schaute Greebrac an. Mein Herz jagte.

Nur schlau sein jetzt! Nur nicht merken lassen, wie die Freude das Blut schneller durch die Adern treibt!

„Ich weiß, daß Sie mich nicht schonen werden, schonen dürfen! Eine Bitte habe ich aber, bevor ich – Gift schlucke – freiwillig: ich möchte Lydia Ramand ein einziges Mal sehen! Lydias wegen ist Harst gestorben, Lydias wegen muß ich dem Dasein lebewohl sagen. Meine Bitte ist begreiflich.“

„Sie sind schlau,“ lächelte er eisig. „Sie wollen einen Aufschub Ihrer Hinrichtung erwirken. Sie hoffen, entfliehen zu können. Ich würde diese Bitte ablehnen, wenn für Sie auch nur die geringste Aussicht bestände zu entkommen. Da dies nicht der Fall ist, sage ich: Ja – Sie sollen Lydia Ramand sehen – noch heute!“

Adi, seine Schwester, machte eine unwillige Handbewegung.

„Das ist ein Unsinn, Austin! Wozu das?! Vergiß nicht, daß wir vorsichtig sein müssen.“

Er rief schon den Chinesen herbei.

„Lipahu, Mr. Schraut wünscht, uns nach dem Felsentempel von Ellora begleiten zu dürfen. Wir brechen in zehn Minuten auf!“

Das Schlitzgesicht verzog sich zur Teufelsfratze.

„Ich weiß, Sahib, – der Tiger!“ nickte er.

„Nicht doch, Lipahu! Mr. Schraut hat sich für Gift entschieden,“ – meinte Greebrac. „Scher’ Dich jetzt. Bereite alles vor. Bring’ mir den kleinen Koffer.“

Ich wurde Zeuge, wie die Geschwister sich jetzt in kurzem in zwei Singhalesinnen verwandelten, wie sie ihre Gesichter färbten und Schleier vor die braunen Wangen banden.

Und – in meinem Schoße lag noch immer der arme schillernde Falter, auf dessen Flügel innen über die goldenen Ringe je ein kaum bemerkbares großes lateinisches H mit einem lila Tintenstift gemalt war.

Ein H –!

Harst – H – Harst – Harald Harst – auf jedem Flügel ein H!

Er lebte! Jetzt wußte ich, weshalb er im Wasser um Hilfe gerufen hatte und dann versunken war.

Ich konnte mir die Szene ganz deutlich ausmalen. Er war, als er keine andere Rettung sah, ins Wasser gesprungen – vielleicht neben ein soeben aufgetauchtes Krokodil. Und dann hatte er den Tod durch die gepanzerte Bestie mit jener Geschicklichkeit vorgetäuscht, die ihm allein eigen. –

Er lebte! Das war die Hauptsache. Er lebte und lag oben auf dem Dache.

Ich konnte mir ihn vorstellen da oben: die Clement in der Hand, jeden Moment bereit, diese Schurken hier niederzuknallen, falls sie mich hätten umbringen wollen! –

Lipahu kam und meldete, daß der Wagen bereit sei.

Adi warf mir einen bösen Blick zu. Dieses Weib war gefährlicher als der Bruder.

Dann erschien Tamar Dak, der Athlet, hob mich empor und trug mich ins Freie und in einen der landesüblichen Ochsenwagen, wo ich in einem Winkel des Wagenkastens unter Decken versteckt wurde, nachdem der Inder mir noch einen Knebel in den Mund gepreßt und ihn im Genick festgebunden hatte.

Das plumpe Gefährt rollte eine holprige Bergstraße entlang.

Adi und ihr Bruder saßen im Wagen unter dem Sonnendach. Ich hörte sie sprechen. Die beiden Inder und der Chinese schienen zu Fuß zu gehen.

Manches verstand ich, was die beiden verhandelten. Ich konnte mir aus diesen Bruchstücken leicht das Fehlende ergänzen.

Es ging um Lydia. Adi verlangte, daß man jetzt endlich Ernst mache.

„Sie hat, denke ich, genug gehungert,“ erwiderte Greebrac. „Sie verrät nichts, und wenn wir sie töten würden.“

„Lächerlich! Gibt es nicht bessere Mittel?! Jetzt, wo sie ohnedies in den Gewölben des Felsentempels ist, braucht man sie nur mit dem Tiger zusammen eine Nacht einzusperren – so, daß die Bestie sie nicht erreicht.“

„Meinst Du?! Da kennst Du sie schlecht! Auch das bringt uns nicht weiter. Ich – weiß etwas Besseres –“

Er lachte schrill.

„Wir werden Schraut das Leben schenken, wenn sie endlich das Geheimnis ihres Vaters preis gibt. Wir werden ihr vorhalten, daß Schraut sie befreien wollte und daß es ihre Pflicht sei, ihn dadurch zu retten, daß sie endlich verrät, wo ihr Vater die fünf goldenen Buddhastatuen vergraben hat – oder sonstwie verborgen.“

„Austin – die Idee ist einzig!“

„Zumal Schraut natürlich nachher doch sterben wird – und sie mit ihm!“ höhnte er.

„Das ist selbstverständlich!“

„Dann verlassen wir Indien, Adi, und gehen nach Amerika –“

„Wo Du auch das Gold der Statuen verspielen wirst, Du – Du Schwächling!“

Er schwieg dazu. –

Ja – ein Spieler sollte er ja sein, das hatte Boßwell betont.

„Das Spiel ist noch das einzige, was mich aufregt,“ sagte er nun. „Es ist besser als Weiber und Sekt. Es ist ein Jungbrunnen für mich. Im Spiel schöpfe ich neue Kräfte – zu neuen Taten! Hast Du schon gedarbt, Adi, weil ich Spieler bin? Hast Du nicht stets alles im Überfluß gehabt? Wohntest Du nicht auf der Plantage wie eine indische Fürstin?“

„Weil ich das Geld zusammenhielt, das mir zustand.“

Da schwieg er wieder. –

Also um fünf goldene Statuen ging es hier. Fraglos um Statuen, die Doktor Ramand, Lydias Vater, einst irgendwo in einem ruinenhaften Tempel im Innern Ceylons entdeckt haben mochte.

Aber – wie hatte Austin Greebrac hiervon Kenntnis erhalten? Wie nur? Etwa durch Albert Dracon? Dracon war ja mit Lydia befreundet gewesen. Ob sie ihm die Hälfte des Geheimnisses freiwillig als Kind anvertraut hatte? Ob sie ihm erzählt hatte, daß ihr Vater ihr einst von diesen Statuen berichtet hatte, die er gefunden und für sich irgendwo verborgen hatte?

Es mußte wohl so sein. Von Dracon hatte Greebrac dies alles erfahren, und dann hatten sie Lydia entführt, damit sie sie zwingen könnten, ihnen den Ort zu verraten, wo die Statuen hingeschafft worden waren. –

Weiter und weiter rumpelte der Ochsenwagen – stundenlang.

Einsame Bergpfade zog er dahin, denn nur selten begegnete uns ein anderes Gefährt.

Wo mochte Harald sein, wo nur?! Ob er uns folgte? Ob er uns vorausgeeilt war? Ob er etwa irgendwo aus einer Ortschaft Hilfe holte? –

Der Wagen fuhr jetzt über weichen Waldboden. Wohl eine halbe Stunde. Dann hielt er.

Eine fremde Stimme meldete Greebrac:

„Sahib, es ist alles in Ordnung. Das Mädchen ist hier. Die Gebäude der Plantage sind niedergebrannt. Miß Adis Juwelenkasten steht unten in der Vorhalle.“

 

3. Kapitel.

Der Fürst der Nacht.

Wir waren also am Ziele angelangt.

Ellora! – Die Höhlentempel von Ellora in Indien sind berühmt – weltberühmt. Von Ellora-Felsentempeln auf Ceylon hatte ich noch nie etwas gelesen.

Man entfernte die Decken. Der Athlet hob mich aus dem Wagen.

Eine Urwaldlichtung. Im Osten die Sonne im Sinken. Der Abend nahte.

Auf der Lichtung ganze Hügel von Steintrümmern, mit Unkraut umgeben, dicht eingesponnen in stachlige Ranken.

Vor einem solchen Hügel stand der Wagen. Und in diesem Hügel klaffte ein gewölbtes Loch, lief schräg in die Tiefe hinab. –

Die beiden Inder, der Chinese Lipahu und zwei braune Kerle, von Schmutz starrend, Weddas offenbar, hatten rasch Harzfackeln angezündet.

Austin nahm eine der Fackeln.

„Bringe die Koffer hinab,“ befahl er.

Dann löste er mir die Fußfesseln, entfernte den Knebel.

„Mr. Schraut, ich würde Ihnen raten, sich die Sonne noch zum letzten Mal recht genau anzusehen.“

Ich blickte wirklich nach den schillernden Strahlen hin, die durch die Kronen der Urwaldriesen funkelten.

„Sie scheinen sich in Ihr Schicksal ergeben zu haben,“ sagte Austin wieder.

„Das habe ich.“

„Gut. Folgen Sie mir!“

Er schritt in den dunklen Schlund hinein. Hinter mir her kam Adi, mit zwei Fackeln.

Austin wandte den Kopf.

„Von der Existenz dieses Felsentempels wissen nur die Weddas etwas, Mr. Schraut. Sie hüten dieses Geheimnis wie manches andere, zum Beispiel das der Zusammensetzung ihres Pfeilgiftes namens Lipara. Die Wirkung kennt man. Nicht wahr, Mr. Schraut? Sie doch auch? Sie sagten ja, wie Harst trotz des Aussaugens der Wunde durch Sie schwach wurde. Nun – die ganze Wirkung wird Sie schmerzlos sterben lassen!“

Das war kein Teufel, dieser Mensch! Das war mehr als ein Satan, das war eine Bestie von Grausamkeit, ein Untier von Tücke!

Der schräge Tunnel hatte plötzlich ein Ende.

Ringsum kahler Fels, ringsum an den dunklen Wänden gräßlich bemalte Götzenbilder, über deren Scheußlichkeit das flackernde Fackellicht hintanzte.

„Nicht wahr, Mr. Schraut, wer hierher kommt, denkt: nun ist die Welt mit Brettern vernagelt!“ sagte Austin. „Es scheint nur so. Geben Sie acht!“

Er trat an den einen Götzen heran, drehte ihn auf dem Postament zweimal um sich selbst.

Da versank an der Hinterwand ein zackiges Bodenstück.

Und – da sank auch mir plötzlich der Mut –!

Wie sollte Harald mir hier zu Hilfe kommen?! Wie sollte er entdecken, daß von diesen etwa achtzehn Götzen gerade dieser eine gedreht werden müßte, daß dann erst das Loch im Felsboden sich öffnete?!

Adi Greebrac stieg schon eine für mich noch unsichtbare Treppe hinab.

Heiße, stickige Luft schlug mir entgegen, als ich nun an den Rand des Loches trat. Ob ich je wieder hier stehen würde? Ob ich die Sonne wirklich zum letzten Mal geschaut hatte?

Eine schier endlose Zickzacktreppe führte in einem unregelmäßig weiten Schachte abwärts. Eine Treppe von Steinblöcken, schmal, ohne Geländer. Wer hier nicht schwindelfrei war, sauste hinab, brach alle Knochen.

Hinter mir höhnte Austin:

„Haben Sie Angst? Nur vorwärts! Lassen Sie sich durch Lydias Doppelgängerin nicht beschämen!“

Mit gefesselten Händen – rechts die grausige Tiefe.

Ein Stolpern – und ich war verloren!

Ich biß die Zähne zusammen. Und – kam glücklich unten an.

Alle Wunder altindischer Baukunst taten sich vor mir auf; Märchenträume wurden verwirklicht, wurden zu den erhabenen, phantastischen Formen eines aus weißem und schwarzem Marmor erbauten Tempels, den ich im Scheine zahlloser brennender Fackeln durch einen trichterförmig sich erweiternden Eingang in einer riesigen Höhle gut dreihundert Meter entfernt vor mir sah.

Die Fackeln waren in die Risse der Felswände hineingedrückt, brannten mit klarer Flamme. Es waren mindestens zweihundert.

„Ich habe mir erlaubt, Sie würdig zu empfangen,“ sagte Austin Greebrac nach einer Weile neben mir.

Jeder Hohn aus seiner Stimme war verschwunden. Nichts als ein maßloser Stolz klang durch seine Worte.

„Dieser Brahmatempel ist zu einer Zeit entstanden, als der Buddhismus in Ceylon den Brahmanismus vertilgen wollte. Damals schufen gläubige Brahmanen dieses Besitztum, wurden dabei unterstützt von dem Urvolke der Weddas. Hier hielten sie im geheimen dann ihre religiösen Feiern ab. In den vielen Jahrhunderten ging dann allmählich die Kenntnis von diesem Felsentempel verloren, blieb nur noch als Familiengeheimnis bei einigen Weddas bestehen. Und jetzt – jetzt ist der Brahmatempel die Residenz einer anderen Gottheit, eines anderen Königs, eines Fürsten der Nacht, der Dunkelheit, – meine Residenz, mein Schloß!“

Ich blickte diesen Verbrecher an, der jetzt in der stolzen Haltung eines Gebieters über Leben und Tod, über ein Heer willenloser Geschöpfe vor mir stand.

Adi Greebrac war verschwunden. Wir beide waren allein.

„Was ist ein Harst im Vergleich zu mir?!“ fügte er nach tiefem Atemholen hinzu. „Ein Nichts – ein armseliger Tor, der sich König von Genieland dünkt und die Überzeugung seines geistigen Übergewichts doch nur aus den Niederlagen kläglicher Durchschnittsverbrecher geschöpft hat.“

Eine krankhafte Überhebung! dachte ich. Und doch: in diesem Moment hatte Austin Greebrac etwas fast Imponierendes in Haltung, Sprache und Gesichtsausdruck; in diesem Moment begriff ich, daß die Leute, die er sich als Sklaven geworben für seine finsteren Pläne, für diesen Mann in den Tod gingen, wie es Makri, der Radschpute, getan hatte. –

Die aus poliertem Metall offenbar bestehende Flügeltür des Wunderbauwerks hatte sich lautlos geöffnet. Eine Menge farbiger Diener, alle gleich gekleidet in rote Überwürfe, mit roten, weißumrandeten Turbanen und weißen Gürteln, entquollen dem Eingang. Vier davon trugen einen auf Stangen befestigten Elfenbeinsessel. Ihnen voraus schritt ein weißbärtiger Greis. Der Zug ordnete sich rasch, kam auf Greebrac zu.

Dieser trat jetzt zwei Schritte vor. Im Halbkreis um ihn herum ordneten sich die roten Gestalten. Die Sesselträger ließen ihre Last zu Boden; der Alte und alle übrigen verneigten sich dreimal.

„Sei gegrüßt, Sahib!“ erklang es in freudigem Ruf, den die Deckenwölbung zu einem Tosen von Stimmen verstärkte.

„Ich danke Euch!“ sagte Greebrac mit einer wahrhaft hoheitsvollen Handbewegung.

Dann bestieg er den Sessel; dann – schlängelte sich ein prachtvoller Königstiger durch die Menschenschar, drückte den Kopf an Greebracs Lende und ließ sich den Kopf krauen.

Das ganze Bild hatte etwas so Unwirkliches, Traumhaftes an sich, daß ich mir immer wieder klar machen mußte, hier ein wahrhaftes Erlebnis von höchster Seltsamkeit durchzukosten.

Dann hob der Tiger wie witternd den Kopf.

Seine gelben funkelnder Augen erspähten mich. Sein Leib duckte sich zusammen.

„Ardscha, nimm ihn!“ befahl Greebrac.

Der Alte packte den Tiger an einem Ohr und führte ihn in den Tempel zurück.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Die metallne Flügeltür schloß sich hinter dem letzten der Diener.

Ich war zurückgeblieben. Niemand hatte mich weiter beachtet.

Minutenlang stand ich und überlegte.

Wenn ich jetzt die Treppe wieder emporeilte, wenn ich –

Doch nein! – Mein Blick war rückwärts in dem Schacht der Treppe emporgeglitten. Ich sah, wie dort oben das zackige Loch, als heller Fleck erkennbar, sich immer mehr verkleinerte, sich wieder füllte mit dem Deckel, der vorhin versunken war.

Nein – daß ich auf diese Weise nicht flüchten konnte, war gewiß! Ich hätte nur Greebracs Hohn herausgefordert.

Langsam betrat ich die Riesenhöhle.

Der Rauch der Fackeln vereinigte sich oben zu wallenden Gebilden. Und über diesen Wolken von Rauch schimmerte es hell wie die Sonne, die hinter Dunstmassen scheint.

Dort oben also befand sich eine Öffnung in der Höhlendecke; dort zog der Qualm ins Freie.

Da – der helle Fleck verengerte sich.

Da war etwas, das wie eine Riesenspinne in den Rauchschwaden sich bewegte: ein Mann an einem Seil!

Ein Mann – ein Mensch, der heimlich hier eindringen wollte: Harst – Harst!

Ich senkte rasch den Kopf, ging weiter. Nur niemand aufmerksam machen auf das, was dort in der Höhe vorging!

Vor der Tempelpforte blieb ich stehen.

Mit einem Male hinter mir die Stimme Adi Greebracs – hohngetränkt, erfüllt von Schadenfreude:

„Sie hätten nicht so überrascht zur Deckenöffnung emporstarren sollen, Mr. Schraut. Im übrigen haben wir überall Alarmvorrichtungen. Ihr listenreicher Freund mag den Krokodiltod sehr geschickt uns vorgetäuscht haben. Nun wird er –“

Mein gellender Warnungsschrei zerriß den begonnenen Satz:

„Harald – zurück! Zurück!“

Adi lächelte – lächelte mich an.

Wie doch so ein Lächeln auf einem Mädchengesicht die ganze Gemeinheit einer verworfenen Seele widerspiegeln kann! Und – wie liebreizend hatte ich diese Komödiantin zuerst gefunden, als wir sie aus dem Wasser gezogen hatten, als sie uns dankte und – dabei schon den Sprengkörper in ihren Kleidern verborgen trug, mit dem sie uns in der Kajüte töten wollte.

„Zu spät, Mr. Schraut, – zu spät!“ sagte sie. „Kommen Sie – zehn Schritt weiter zurück, damit Sie das Dach des Tempels überblicken können.“

Mir war das Blut in den Adern wie gefroren vor Schreck.

In halber Betäubung folgte ich ihr.

Und stierte nach oben.

Da waren jetzt drei – vier Riesenspinnen.

Eine, die am tiefsten hing, war Harald. Er hatte die Rauchwolke bereits passiert.

Und über ihm schwebten drei andere Männer. Ich erkannte Tamar Daks herkulische Gestalt, erkannte den blitzenden Revolver in seiner Rechten.

Auf dem flachen Tempeldache aber zwischen den vier Eckkuppeln stand inmitten eines Dutzends seiner Diener der Fürst der Nacht – Austin Greebrac – eine Büchse hoch im Anschlag.

Seine Stimme klang wie ein Dröhnen, als er nun rief:

„Ich heiße Sie willkommen, Mr. Harst! Bemühen Sie sich an Ihrem selbstgeflochtenen Lianentau nur tiefer herab!“

Adi wandte den Topf. „Sie können Ihren Freund gleich oben auf dem Dache begrüßen. – Bitte – mir voran! Die Tempeltür linker Hand ist offen.“

Namenloser Grimm würgte mir die Kehle enger.

„Sie – Sie Teufelin!“ gurgelte ich.

„Meinetwegen bleiben Sie auch hier!“ Und sie schritt links um das Wunderbauwerk herum, verschwand.

Die Knie begannen mir zu zittern. Die Nerven versagten. Ich schwankte zu den Stufen der Marmortreppe vor der Hauptpforte, sank dort auf das kühle Gestein.

Also verloren – wirklich verloren! Auch Harst gefangen!

Nochmals ein Anfall sinnloser Wut. Ich zerrte an den Fesseln. Ich mußte – mußte die Hände frei bekommen! Ich spürte ja noch in der Schlüsseltasche der Beinkleider den Druck der Clementpistole. Ich hatte eine Waffe!

Die Vernunft gewann wieder die Überhand. Was nutzten mir hier die neun Schuß der Clement?! Was half es, wenn ich vielleicht ein paar der Diener niederknallte?

So saß ich und wartete. Saß und dachte an gar nichts mehr. Alles Denken war hier zwecklos, war ein Anrennen gegen ein Gefängnis, das nur eine Polizeimacht hätte öffnen können, kein Grübeln, keine Pläne! –

Ein Schritt auf dem harten Gestein, ein elastischer freier Schritt: Harst!

„Tag, mein Alter!“

Ich schnellte hoch.

„Ungefesselt, Harald?“

„Ja. Sogar bewaffnet,“ nickte er trübe, aber – in seinen Augen war ein Leuchten.

„Ich darf Dir auch die Stricke abnehmen,“ fuhr er fort. „Greebrac sagte mir, wir könnten uns bis acht Uhr abends hier in der Grotte frei bewegen. Dann – dann –“ Er schwieg.

„Dann müssen wir sterben,“ ergänzte ich.

„Ja!“ Es klang hart und kalt, so, als ob ein starker Charakter sich in etwas Unabänderliches ergeben hat.

Und ebenso hart war nun sein kurzes Auflachen.

„Greebrac hofft vielleicht, daß wir in der letzten Minute um Gnade winseln werden! Er irrt sich! Ich –“

Eine Gestalt war hinter der rechten Tempelecke aufgetaucht. Harsts plötzliches Verstummen machte mich auf sie aufmerksam.

„Die echte Lydia,“ flüsterte Harald.

Man glaubte eine Singhalesin, eine Eingeborene Ceylons, vor sich zu haben. Das tiefgebräunte Gesicht, das bunte Kopftuch, der mantelartige Überwurf, die Sandalen an den kleinen Füßen – alles deutete auf eine Farbige hin. Und doch war es eine Europäerin. Das schmale Gesicht, die zurückspringenden Backenknochen und die Augen verrieten es.

Bald zögernd, bald wieder mit seltsam hastigen Schritten näherte sie sich, stand vor uns.

Zwei helle, verängstigte Augen musterten uns.

„Ich – ich – bin Lydia Ramand,“ flüsterte sie dann. „Er – er sagte mir, daß Sie beide mich hätten befreien wollen, daß Sie Mr. Harst und Mr. Schraut sind, deren Namen mir ja aus den Zeitungen so vertraut waren. Sind Sie es wirklich?“

Ihre schmalen Hände umklammerten Haralds Arm.

„Belügen Sie mich nicht,“ flehte sie. „Wer sind Sie?“

„Harst und Schraut, Miß.“ Haralds Stimme war mild und streichelnd.

„Dann – dann, wenn es wahr ist, werden Sie mir den Anfang von Schillers berühmtestem Gedicht hersagen können. Jeder Deutsche kann es. Ein – ein Ausländer selten. Das soll mir der Beweis sein, daß Sie mich nicht täuschen.“ Ihr Englisch war fließend und fehlerfrei. Sie hatte in der Gefangenschaft nichts verlernt.

Und Harald sagte den ersten Vers von Schillers „Glocke“ her. –

Er war noch nicht ganz zu Ende, als die Tempeltür sich aufschob.

Adi Greebrac erschien.

„Lydia – hierher! Sofort!“ befahl sie.

Neben ihr stand der Tiger, den sie am Halsband hielt.

Lydia Ramands Gestalt überlief ein Zittern. Aber – sie gehorchte. Sie schritt die Marmorstufen hinan.

Im selben Moment fiel mir ein, was ich in dem Ochsenkarren erlauscht hatte.

Wollte Lydia etwa, um uns zu retten, ihr Geheimnis preisgeben?

Ich besann mich nicht lange.

„Miß Ramand, verraten Sie nichts über die fünf goldenen Statuen! Man wird uns trotzdem töten!“ rief ich überlaut. „Ich habe Greebrac und Adi vorhin belauscht. Es handelt sich –“

Da hatte Adi den Tiger losgelassen, hatte[8] ihm irgend ein Wort zugeraunt – einen Befehl.

Eine gelbe Linie schoß durch die Luft auf mich.

Ich stierte der Bestie entgegen. Ich war wie zu Stein erstarrt.

Harst riß mich zur Seite.

Riß die Clement aus der Tasche.

Hinter Adi war Austin Greebrac aufgetaucht.

„Boschan – down! Leg’ Dich!“

Das galt dem Tiger, der blitzschnell nach dem vergeblichen Sprunge herumgefahren war, der schon zum neuen Sprung ansetzte, der jetzt aber scheu sich lang nieder tat.

„Wir haben andere Mittel, Lydia zum Sprechen zu bringen!“ sagte Austin zu mir. „Stecken Sie Ihre Pistolen weg!“ Das war an uns gerichtet. „Pistolen mit leeren Patronenrahmen nützen ihnen nichts! – Sie dürfen jetzt noch eine halbe Stunde mit Lydia Ramand interessante Neuigkeiten austauschen.“ Seine Stimme höhnte wieder. „Dort neben dem steinernen Elefantengötzen an der Grottenwand steht eine Steinbank. Dort – durchleben Sie Ihre letzte halbe Stunde. Bitte!“ Er verbeugte sich ironisch, wies auf die Steinbank und rief den Tiger zu sich heran.

Die Doppeltür schloß sich hinter den Geschwistern und der gelben Riesenkatze.

 

4. Kapitel.

Die fünf goldenen Götzen.

Lydia Ramand schluchzte.

„Kommen Sie, Miß,“ bat Harald und berührte ihren Arm. „Kommen Sie. Lassen Sie uns die Zeit nützen –“

Sie weinte nur heftiger. Mühsam rangen sich verzweifelte Silben über bebende Lippen.

„Ich – ich – bin schuld, daß Sie nun diesem Ungeheuer in die Hände gefallen sind! Oh – wenn ich Sie doch retten könnte!“

Harald umfaßte sie sanft.

„Kommen Sie, Lydia. Ich möchte Ihnen doch noch einiges von Ihrer Großmutter erzählen, möchte Sie einiges fragen.“

Sie ließ sich quer durch die Höhle auf den Elefantengötzen zuführen.

Hier gab es in der Felswand eine muschelförmige Einbuchtung, eine winzige Nebengrotte. Hier stand eine plumpe Steinbank; hier erzählte Lydia, die infolge Harsts Zuspruch sich langsam beruhigte, folgendes über die näheren Umstände ihrer Verschleppung, auf die sie sich noch ganz genau besann.

Am Vormittag jenes Tages, als sie verschwand, hatte Albert Dracon, der ihr auch geraten hatte, die Katze in den geheimen Kellergelassen zu verbergen, die von Makri entdeckt worden waren, im Park ihr ein Schächtelchen Konfekt zugesteckt und gesagt, sie solle davon aber nur naschen, wenn sie bei ihrem Kätzchen sei. Nachmittags gegen zwei Uhr schlüpfte sie in die Gewölbe hinab, aß dann hier einige der kandierten Früchte und verspürte sehr bald eine bleierne Müdigkeit, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und wollte etwas ausruhen.

Aus tiefem Schlaf erwachend, sah sie sich in völliger Dunkelheit. Die Kerze, die sie mitgenommen hatte, war völlig herabgebrannt. Sie rüttelte nun an der Geheimtür. Aber der innere Riegel ließ sich nicht bewegen. In ihrer Angst rief sie um Hilfe. Bald versagte ihr die Stimme. Von Hunger gepeinigt, aß sie abermals ein paar Früchte, schlief wieder ein und erwachte so matt, daß sie sich kaum noch rühren konnte. Trotzdem rief sie um Hilfe. Niemand kam. Da verzehrte sie den Rest der süßen Früchte. Von da an hatte sie für die nächsten Ereignisse nur noch ein traumhaftes Erinnern. Sie merkte wohl, daß sie aufgefunden wurde, daß sie krank im Bett lag, sah auch bekannte Gesichter um sich, konnte jedoch kein Wort sprechen, erlebte alles in einem Zustande ruhigen Hindämmerns. Dann hatte Doktor Greebrac ihr eine Flüssigkeit in den Mund geträufelt, als niemand im Zimmer war. Sie lag bald wie eine Tote da. Sie konnte denken, hören, sehen. Nur das Gefühl hatte sie verloren. Wieder erschien Greebrac. Und zu des Kindes unendlichem Entsetzen teilte er der Großmutter nun schonend mit, daß die Patientin gestorben sei.

Man drückte ihr die starren Augen zu, man bettete sie in einen Sarg.

Alles – alles hörte sie. Aber der Starrkrampf ihrer Glieder war so vollkommen, daß sie wirklich für tot in dem uralten Gemäuer im Park beigesetzt wurde.

Erfüllt von namenlosem Grauen hörte sie, wie der Sargdeckel zugeschraubt wurde, wie die Menschen sich entfernten.

Dann – wieder Geräusche. Man hob sie aus dem rasch geöffneten Sarge heraus und trug sie fort. Sie erkannte Greebracs und Dracons Stimmen. Sie fühlte die Schwankungen eines Schiffes, fühlte, daß man ihr etwas in den Mund goß, daß ein Feuerstrom ihr vom Munde durch den Körper ging, und – konnte die schweren Lider plötzlich öffnen. Sie war aus dem Starrkrampf erwacht, jedoch nur, um nach all den seelischen Foltern von einem schweren Nervenfieber befallen zu werden, das sie monatelang ans Bett fesselte. Als sie leidlich genesen, war ihr Gedächtnis völlig tot. Sie glaubte Adi Greebrac, ihrer Pflegerin, daher ohne weiteres, daß sie eine Singhalesin sei und Aidyla heiße. Doch bereits nach einem Jahr kam ihr langsam die Erinnerung an ihre Kindheit zurück. Kleinigkeiten waren es, die ihr Gedächtnis weckten. Eines Tages fiel ihr dann auch ein, daß sie Lydia Ramand und ihr Vater der Forscher Doktor Ramand war, daß sie zuletzt in Bombay im Myntor-Palais gelebt und für tot begraben worden war.

Als sie Adi all dies mit ungestümen Worten vorhielt, als sie verlangte, zu ihrer Großmutter zurückgebracht zu werden, war es mit ihrer Freiheit vorbei. Bisher hatte sie sich auf der Plantage Gurrasawa völlig ungehindert bewegen können. Nun wurde sie in ein nahes Wedda-Dorf in den Urwald geführt und aufs strengste bewacht. Jeden Tag fand sich Adi für mehrere Stunden bei ihr ein und redete ihr zu, sie solle ihr doch anvertrauen, wo Ihr Vater die fünf goldenen Statuen verborgen hätte.

Nun wußte Lydia endlich auch, weshalb man sie aus Bombay verschleppt hatte. Sie hatte einst dem heuchlerischen Dracon gegenüber Andeutungen gemacht, daß ihr Vater ihr, als sie elf Jahre alt geworden, ein besonderes Geheimnis anvertraut, bei dem fünf goldene Götzenstatuen eine Rolle spielten. Mehr hatte sie jedoch nicht verraten. Und mehr verriet sie jetzt auch Adi nicht, deren Schlechtigkeit sie immer klarer durchschaute.

Nach Adi versuchten dann Dracon und Greebrac, ihr den Rest des Geheimnisses zu entlocken. Jedes Mittel wandten sie an, sie zum Reden zu zwingen: Hunger, Durst, Schläge, ja sogar Hypnose. Aber Lydias durch Leid und Trübsal gestählte Energie widerstand allem. Lydia wußte, daß diese Schurken sie töten würden, sobald sie wußten, wo die Statuen sich befanden.

So vergingen die Jahre. Stets aufs neue wiederholten diese Elenden ihre rohen Versuche, das heranreifende junge Mädchen zur Preisgabe ihres Geheimnisses zu zwingen.

Und so kamen denn die letzten Tage heran: die plötzliche nächtliche Reise mit Adi unter scharfer Bewachung hier nach dem Felsentempel von Ellora, wie die Weddas das in Felsen eingebettete Heiligtum des Brahma nannten. –

Lydia war mit ihrem Bericht zu Ende. Nun begann sie Fragen zu stellen. Alles wollte sie wissen: wie es Mistreß Busselt, ihrer Großmutter, ginge, wie Harald der Wahrheit über ihren Tod auf die Spur gekommen sei, ob denn im Sarge eine andere Tote nachher gelegen habe – und vieles mehr.

Ich hatte bei Lydias Erzählung sehr bald den Eindruck gehabt, daß sie bei manchen Stellen ihre Worte sehr vorsichtig wählte und daß sie ohne Frage verschiedene Einzelheiten selbst vor uns zu verheimlichen trachtete. Und all diese Einzelheiten bezogen sich offenbar auf das Geheimnis der fünf Statuen.

Als Harald nun erwähnte, daß wir in dem Sarge nur ein Gerippe gefunden hätten, und daß Mistreß Busselt dieses Skelett des goldenen Ringes an der Knochenhand wegen für das Lydias gehalten hätte, da ging mit dem jungen Weibe eine seltsame Veränderung vor sich.

„Der Ring!“ flüsterte sie. „Ah – der Ring! Wo – wo ist er geblieben? Mr. Harst, wissen Sie es? Hat Großmutter ihn wieder an sich genommen?“

„Nein, Miß Lydia.“

„So liegt er noch im Sarge?“

Harst schwieg. Dann antwortete er mit einer Gegenfrage: „Ist Ihnen der Ring so wertvoll?“

„Ja! Er ist ein Andenken an meinen Vater.“

„Miß Lydia – seien Sie offen: der Ring steht in irgend einer Beziehung zu den fünf goldenen Götzen?“

Er sprach recht laut und eindringlich. Ich hatte das Gefühl, daß er es absichtlich tat. Er hätte bei Lydia wohl dasselbe erreicht, wenn er auch die Stimme gedämpft hätte. Es mußte einen besonderen Grund haben, daß er so jede Vorsicht vergaß, die auch hier heimlichen Lauschern gegenüber geboten schien. Konnte man wissen, ob nicht die Felswand hinter uns ein Versteck enthielt? Konnten dort nicht Adi oder Austin verborgen sein und horchen? War es nicht auffallend, daß Greebrac uns gerade diese Steinbank angewiesen hatte?

Jedenfalls: mir schien’s, als ob Harald mit der Nähe eines Lauschers rechnete und als ob er mit dieser lauten Gegenfrage einen mir unbekannten Zweck verfolgte.

„Ja, Mr. Harst,“ stieß Lydia nach kurzem Zögern hervor. „Ja – so ist’s! Ihnen – nur Ihnen beiden will ich jetzt die volle Wahrheit sagen: ich weiß gar nicht, wo die fünf Statuen versteckt sind! An meinem elften Geburtstag nahm mein Vater mich in sein Zimmer und sagte folgendes: „Lydia, Du bist für Deine Jahre ein sehr reifes Kind, Du wirst daher bereits volles Verständnis für das haben, was ich Dir nun mitteile. Ich habe fünf goldene Götzenstatuen, die ich zufällig fand und die ich als mein rechtmäßiges Eigentum betrachten darf, an einem Orte verborgen, wo niemand sie finden kann. Da Deine Mutter und ich demnächst wieder zu einer Forschungsreise ins Innere aufbrechen, wo das Schicksal uns durch einen plötzlichen Tod überraschen könnte, übergebe ich Dir hier diesen Ring, ein sehr altes Schmuckstück, dessen achteckiger Rubin sich herausschrauben läßt. Unter dem Rubin liegt ein winziges Blättchen Papier, eine Mikrophotographie eines Schriftstücks. Sollte uns etwas zustoßen, so wirst Du diese Photographie erst nach Vollendung Deines zwanzigsten Lebensjahres auf die übliche Art vergrößern, so daß Du die Schriftzüge lesen kannst. Sie verraten Dir, wo die goldenen Götzen zu finden sind!“ – So etwa, Mr. Harst, sprach mein Vater. Deshalb auch meine Angst, der Ring könnte überhaupt verschwunden sein. Bedenken Sie, daß mein Vater mir noch erklärte, die Götzen hätten einen Wert von etwa dreißig Millionen. Bedenken Sie weiter, daß er mir riet, von diesem Gelde eine Wohltätigkeitsanstalt für verarmte Gelehrte und deren Kinder zu gründen und diese Anstalt „Doktor Ramand-Stiftung“ zu nennen. Nun werden Sie begreifen, weshalb ich um keinen Preis das Geheimnis diesen elenden Schurken verraten wollte, zumal mein Vater mich zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet und betont hatte, ich solle niemandem trauen, denn die Goldgier hätte schon die besten Charaktere berückt und zu Verbrechern werden lassen. – Wo also ist der Ring, Mr. Harst? Vorhin, als Ihr Freund mir die Warnung zurief, nichts von dem Geheimnis meines Vaters preiszugeben, hatte Austin Greebrac mir wirklich feierlich gelobt, Sie beide zu schonen, wenn ich endlich ihm sagen würde, wo die goldenen Götzen sich befänden. Ich wollte mich aber vorher davon überzeugen, ob Sie beide auch wirklich Mr. Harst und Mr. Schraut wären –“

„Der Ring, Miß Lydia,“ erwiderte Harald langsam und mit gewisser Feierlichkeit, „der Ring ist in meinem Besitz!“

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als ein schallendes, triumphierendes Gelächter uns umtönte.

Es war ein doppeltes Lachen: das eines Mannes und eines Weibes!

Lydia und ich sprangen auf, schauten uns fast entsetzt um. Wir sahen niemand.

Harald erhob sich jetzt ebenfalls, schüttelte die Faust nach der anderen Grottenseite hin, wo ich erst jetzt eine der unseren genau gleiche muschelförmige Einbuchtung bemerkte.

„Dort – dort stecken sie!“ sagte Harst. „Dort hinter den Steinen! Dort haben sie uns belauscht. Jedes Kind kennt die seltsamen Eigenschaften einer sogenannten Flüstergrotte, die eigentlich aus zwei kleinen, einander gegenüberliegenden Grotten besteht. Alles, was jemand in der einen noch so leise flüstert, wird durch die muschelartige Form der Grotte und durch die Besonderheiten der Fortpflanzung der Schallwellen in der anderen Grotte genau gehört.“

 

5. Kapitel.

Der Tiger.

Hinter den Steinblöcken vor der Grotte drüben waren jetzt Austin und Adi sichtbar geworden.

Lydia sah sie, schrie auf:

„Nun – nun ist alles verloren! Wir haben das Geheimnis verraten, ohne es zu wollen!“

Greebrac hatte eine kleine Signalpfeife an den Mund gesetzt.

Ein Pfiff schrillte durch die Höhle. Aus dem Seiteneingang des Tempels quollen die Diener heraus wie eine rote Woge, die auf uns zu brandete.

Im Nu waren wir umringt, niedergerissen, gebunden.

Im Nu wurde Lydia von Adi Greebrac und dem weißbärtigen Alten weggeführt.

Austin stand vor uns.

„Reingefallen, Mr. Harst!“ sagte er ironisch. „Nun weiß ich, was ich wissen will! Ich werde Ihnen den Ring abnehmen lassen und –“

„Abnehmen – den Ring?!“ fiel Harst dem großen Verbrecher ins Wort. „Sie irren, Greebrac! Sie werden den Ring bei mir nicht finden – überhaupt nicht finden, wenigstens nicht ohne uns!“

Und – da begriff ich Haralds Geniestreich; da merkte ich, weshalb er so laut gesprochen hatte, da erkannte ich, wie er uns retten wollte.

„Was heißt das?!“ fuhr Austin Greebrac auf. „Sie – Sie haben den Ring nicht bei sich?“

„Nein. Als ich ihn dem Skelett vom Finger zog, als Schraut dann entdecke, daß der Rubin sich herausschrauben ließ – (wie gut er zu lügen wußte, wenn es nottat!), da haben wir natürlich auch die runde Mikrophotographie des Schriftstücks gefunden, haben ihre Bedeutung erkannt, auch ohne sie vergrößert zu haben, und verbargen Ring und Photographie im Myntor-Park. Wer hätte wohl ein so wichtiges Schmuckstück mit sich herumgetragen?! Besonders da unser Leben dort ja jede Sekunde bedroht war!“

Greebrac verfärbte sich vor grenzenloser Enttäuschung.

„Durchsucht sie beide,“ befahl er den Dienern.

Natürlich wurde nichts gefunden.

Adi kam zurück, Austin trat mit ihr abseits. Sie sprachen sehr erregt miteinander.

Dann winkte Greebrac Tamar Dak herbei.

„Hole Boschan, den Tiger!“

Der Inder eilte hinweg. Man schleppte uns rechts neben den Elefantengötzen an die Wand, fesselte uns mit ausgebreiteten Armen an Eisenringe, die in den Fels eingegossen waren. Ich stand dicht neben dem Götzen; Harald links von mir.

Austin und Adi warteten auf den Tiger.

Und Tamar Dak kam; er hatte die gelbe Riesenkatze bei den Genickfalten des Felles gepackt.

„Nun der Verräter Lamiru!“ befahl Greebrac wieder.

Der athletische Tamar Dak kehrte sehr bald mit einem gefesselten Diener über dem Rücken zurück.

Greebrac zerschnitt dem zitternden Farbigen die Stricke.

„Du hast uns verraten wollen, Lamiru,“ sagte er mit scheinbarer Großmut. „Ich verzeihe Dir! Aber – entferne Dich aus meinen Augen, ehe es mich gereut!“

Der Diener stammelte ein paar Dankesworte und rannte dann in langen Sätzen dem Grottenausgang zu.

Greebrac bückte sich, gab dem Tiger einen leichten Schlag.

„Boschan – allons!“

Die Bestie hatte den Inder mit drei Sprüngen eingeholt, riß ihn nieder – biß zu.

Ein Schrei – wahnwitzig, gellend, nervenaufpeitschend – dann nichts mehr.

Und wieder rief Greebrac:

„Boschan – apporte!“

Die Riesenkatze schleppte den Toten herbei – dicht vor unsere Füße.

Nun wandte Greebrac sich an uns.

„Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit, ob Sie mir sagen wollen, wo Sie den Ring versteckt haben. Nach einer Stunde sterben Sie – durch Boschan, falls Sie sich weigern!“

Die Bestie umschlich uns, beschnupperte Harst.

Adi lachte.

„Boschan scheint Sie zu lieben, Mr. Harst!“

Dann verschwanden die Geschwister, der Tiger, der Bediententrupp.

Wir waren allein.

Harald drehte den Kopf nach mir hin, bewegte die Lippen, hauchte:

„Diese Stunde genügt! Mut! Zuversicht! Gocklin ist für uns unterwegs!“

Dann schaute er wieder geradeaus.

Vor uns lag der tote Lamiru mit zerbissenem Genick.

Und über uns leuchteten die Fackeln, sammelten sich die Qualmmassen, zogen durch die Deckenöffnung ab. –

Gocklin, Kapitän Gocklin –! Er lebte also. Er war für uns unterwegs. Das konnte nur heißen: er holte Hilfe herbei! Und nach Haralds Berechnung mußte diese Hilfe sehr bald eintreffen.

Aber die uns von Greebrac bewilligte Stunde verstrich, und nichts ereignete sich – nichts!

Greebrac und seine Schwester, hinter ihnen der Tiger, kamen auf uns zu.

„Nun, ich hoffe, Sie werden verständig genug sein, Mr. Harst,“ begann Greebrac in liebenswürdig-überredendem Tone, „Ihr und Ihres Freundes sowie Lydias Leben nicht unnötig aufs Spiel zu setzen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie drei unbelästigt diese Höhle verlassen dürfen –“

Er schwieg.

Von oben her ein dumpfer Schrei.

Dann krachte ein menschlicher Körper aus der Deckenöffnung herab, schlug unweit der Tempelpforte auf dem harten Felsboden auf.

„Verrat!“ gellte Adi und riß ihren Bruder zur Seite.

Und wieder von oben jetzt zwei – drei Schüsse.

Boschan, der Tiger, schnellte in die Höhe, sank mit zwei Schädelschüssen um, rollte sich hin und her.

Die Geschwister flohen dem Tempel zu.

Wieder Schüsse. – Adi taumelte. Ihr Bruder fing sie auf, trug sie davon. Die Seitentür fiel hinter ihm zu. –

Durch die Qualmwolken rollte ein Seil herab. Gocklin kam – noch drei Leute.

Ein zweites Seil schlängelte sich in die Tiefe. Wieder vier Leute.

Gocklin schnitt uns los. Wir fanden die Tempeltüren offen, fanden Lydia Ramand unversehrt in einer Kammer, fanden – sonst nichts! Keine lebende Seele! – Zwei volle Stunden suchten wir, bis Harald dann die Geheimtür fand, die den Zugang zu einer endlosen, schmalen Nebenhöhle bildete.

Die Beamten aus Battikaloa, die Gocklin zu Hilfe gerufen hatte, nahmen die Verfolgung der Flüchtlinge sofort auf. Man fing sechs der Diener. Das war der ganze Erfolg einer tagelangen Hetze.

Inzwischen waren wir mit Lydia längst unterwegs nach Bombay; inzwischen hatte Lydia auch erfahren, daß der Ring mit dem Rubin noch immer am Finger der Skeletthand steckte und daß es Harst nur darauf angekommen war, Zeit zu gewinnen. –

Der Ring wurde nun aus dem Sarge herausgeholt, nachdem Lydia und Mistreß Busselt ein freudentränenreiches Wiedersehen gefeiert hatten.

Harst vergrößerte die Mikrophotographie. Doktor Ramand hatte die fünf goldenen Götzen im Garten seiner Villa in Trinkomali vergraben. Sie wurden zu Tage gefördert, und später von dem Neuyorker Milliardär Breest angekauft. –

So, wie ich hier den Schluß dieses Abenteuers schildere, – so glatt und friedlich verlief all das durchaus nicht! Dafür sorgte schon der Verbrecherfürst Austin Greebrac. Ich kann hier eben nur den glücklichen Ausgang des Lydia-Problems andeuten. Einzelheiten bringe ich im nächsten Band, in der Geschichte des Schlangenbeschwörers von Agra.

Jedenfalls: Letzten Endes waren wir die Sieger, und der Erlös aus dem Verkauf der fünf Götzen hat schon manch einem darbenden strebsamen Gelehrten über die Nöte dieser Zeit hinweggeholfen.

 

Nächster Band:

Der Schlangenbeschwörer von Agra.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































1–6:
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10:
11:
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13:
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29:
30:
31:
32:
33:
34:
35:
36:
37:
38:
39:

vergriffen.
Zwei Taschentücher.
Die Jagd auf einen Namen.
Die Augen der Jolante.
Der Fluch eines Geschlechts.
Die verschwundene Million.
Die Festung des Ali Azzim.
Die tote Lady Rockwell.
Der Fakir von Nagpur.
Der blinde Brahmane.
Das Auge der Prinzessin Singawatha.
Das Löschblatt von Amritsar.
Die leuchtende Fratze.
Schattenbilder.
Der Löwe von Flandern.
Der ewige Jude.
Das Armband der Lady Mellville.
Die Rätselbrücke.
Der Einsiedler von Tristan da Cunha.
Das Siegellacktröpfchen.
Die Gesellschaft der roten Karten.
Die Uhrkette des Bill Hamilton.
Der Tempel der Kali.
Nur ein Tintenfleck.
Der Stern von Siam.
Eine leere Streichholzschachtel.
Der sprechende Kopf.
Das Geheimnis des Scheiterhaufens.
Die Gefangene von Trawalkor.
Die Eishöhle in Nepal.
Der Mord im Warenhause.
Der Spielklub W W.
Ein gefährlicher Auftrag.
Der sterbende Fechter.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „dem“.
  2. In der Vorlage steht: „Schwipppeitsche“.
  3. In der Vorlage steht: „herabhängende“.
  4. In der Vorlage steht: „der“.
  5. Hier ist in der Vorlage eine Zeile doppelt und eine weitere, überflüssige Zeile mit nur einem Wort.
  6. In der Vorlage steht: „zoddelbärtige“.
  7. In der Vorlage steht: „Negapatan“. Zwei Vorkommen auf „Negapatam“ geändert. Heutiger Name: Nagapattinam.
  8. In der Vorlage steht: „hate“.