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Die Gefangene von Trawalkor

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 34

 

Die Gefangene von Trawalkor

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

Frau Helene Tschong, die Gattin des reichsten Diamantenhändlers Kalkuttas, hatte es sich nicht nehmen lassen, uns sofort in ihrer Villa vier Zimmer herrichten zu lassen. Wir konnten diese Einladung nicht gut ablehnen, zumal ja Frau Tschong eine Landsmännin von uns war und wir mit ihrem Manne bereits in Rangun auf etwas seltsame Weise bekannt geworden waren.

Da wir beide nach den Aufregungen der letzten Tage, wo wir ununterbrochen gegen allerlei Hinterlist hatten ankämpfen müssen, vollständig erschöpft waren, zogen wir uns sofort in unsere nebeneinander liegenden Schlafzimmer zurück. Harst hatte lachend erklärt: „Unter acht Stunden mache ich’s diesmal nicht!“ – Dann hatte er die Verbindungstür unserer Zimmer zugedrückt.

Ich begann mich zu entkleiden. Zuweilen warf ich einen Blick in den prachtvollen Park hinab, der die Villa des Edelsteinhändlers umgab.

Da mir war’s, als hätte nebenan in Harsts Zimmer eine Tür geklappt. Ich wußte: aus seinem Schlafgemach ging noch eine zweite Tür auf den Flur hinaus.

Ich lauschte. – War er etwa nochmals hinab ins Erdgeschoß gegangen? Hatte er noch etwas mit Frau Helene Tschong zu besprechen?

Alles blieb still. Ich drückte sacht auf die Klinke. Die Verbindungstür war verriegelt –!

Was bedeutete das?! Harst schloß sich nie ein, wenn wir nebeneinander wohnten! Nie!

Ich klopfte leise. – Keine Antwort! – Und doch konnte Harst noch nicht eingeschlafen sein!

Ich pochte stärker. – Jetzt wußte ich: er hatte das Zimmer wirklich verlassen.

Da – meine Gedanken wurden abgelenkt: in Harsts Zimmer hatte das Scharnier eines Koffers leise gequietscht –!

Des Koffers?! Nun, da konnte nur unser Requisitenkoffer in Betracht kommen! Also: Harst dachte gar nicht daran, schlafen zu gehen, sondern – „machte Maske“!

Ich lächelte. – Warte, diesmal entwischt Du mir nicht!

Meine Müdigkeit war verflogen. In wenigen Minuten hatte ich mich wieder fertig angekleidet, nahm meinen Strohhut[1], öffnete lautlos die in unseren Wohnsalon führende Tür und gelangte dann ebenso lautlos in den Flur.

Harst wollte ja ohne Zweifel in einer Verkleidung nach der Stadt. Und ich – wollte ihm folgen! Ich mußte erfahren, was ihn trotz der hinter uns liegenden Strapazen schon wieder von dannen trieb.

Im Erdgeschoß traf ich den Hausmeister, einen älteren, sehr würdigen Inder.

„Die Mem Sahib ist nach der Stadt gefahren,“ erklärte er. Er glaubte, ich wollte Frau Tschong sprechen. (Mem Sahib, Herrin.)

Ich bat ihn, Harst gegenüber zu verschweigen, daß ich die Villa verlassen hätte. – Ich ging dann auf Umwegen nach dem Parktor. Dort stand ein nettes Häuschen für den Pförtner. Ich trat ein und begann eine Unterhaltung mit dem ebenfalls schon bejahrten Inder, stellte mich aber so, daß ich das Tor und die nach der Villa führende Allee im Auge behalten konnte.

Nach zehn Minuten hörte ich eine laute, scheltende Stimme. Der Gärtner, der vorhin die Wege geharkt hatte, brachte einen zerlumpten, braunen Bettler mit scheußlichem Zottelbart am Arm nach der Parkpforte.

Aha – da hatte ich ihn ja! Die Maske war tadellos. Nur für mich nicht tadellos genug.

Ich nickte nur, verließ das Häuschen und lugte durch die Gitterstäbe des Tores. Gegenüber auf der anderen Straßenseite zog sich ebenfalls eine hohe Parkmauer hin. Und dort humpelte nun der schmierige Inder entlang.

Aber – ich sah noch mehr! Und was ich sah, veranlaßte mich, schleunigst hinter den gemauerten Pfeiler zu treten.

Auf dem Fahrdamm schob ein kleiner, magerer Chinese einen zweiräderigen, mit Früchten beladenen Karren vor sich her. Und dieser Chinese hatte soeben nach rückwärts zwei anderen Chinesen, die sich jeder mit einem großen Sacke schleppten, ein Zeichen gegeben.

Die Sache war zum mindesten verdächtig. Ich hatte den Eindruck, daß die drei Gelbgesichter hier nur als Spione herumgelungert hatten und nun hinter dem verkleideten Harst her waren. Dieser Verdacht war ja insofern begründet, als wir genau wußten, daß Kuma Tawi der von Harst unschädlich gemachten Verbrechergeheimgesellschaft der „Eidechsen“ angehört hatte und daß sich Mitglieder dieser Bande noch auf freiem Fuße befanden, die es nun vielleicht übernommen hatten, ihren Genossen an dem deutschen Detektiv zu rächen.

Harst war, als ich jetzt wieder durch die Gitterstäbe lugte, bereits um die Straßenbiegung verschwunden. Der kleine, den Karren schiebende Chinese hatte ein schnelleres Tempo angeschlagen, ebenso die beiden Sackträger.

Ich wartete noch eine Weile. Dann blieb ich stets etwa hundert Schritt hinter diesen beiden Chinesen.

Nach zehn Minuten erreichten wir, stets in derselben Reihenfolge, die Hauptverkehrsstraße, die den Maidan durchschneidet. Hier, wo jetzt um die elfte Vormittagsstunde ein sehr lebhafter Verkehr herrschte, rückten die drei Chinesen näher auf, und ich tat dasselbe. Harst humpelte, sehr getreu Lahmheit vortäuschend, langsam weiter. Zuweilen verlor ich ihn in dem Menschen- und Wagengedränge aus den Augen.

Dann merkte ich, daß die beiden Sackträger unruhig wurden, sah auch, daß der Karrenschieber ihnen wieder eifrig Zeichen machte.

Ich gab mir alle Mühe, Harst zu entdecken: er war verschwunden! – Daher also die Aufregung seiner Verfolger!

Ich trat an eine Plakatsäule und studierte scheinbar die Reklameanzeigen. – Die Chinesen trennten sich jetzt. Jeder von ihnen lief im Trab davon: der Karrenschieber geradeaus, die beiden Sackträger nach rechts und links in Seitenwege hinein. – Es war somit ganz offenbar: sie hatten es wirklich auf Harst abgesehen gehabt.

Ich hastete jetzt vorwärts. Der Karrenschieber sollte mir nicht entgehen. Ich wollte feststellen, was der Kerl noch beginnen würde, um Harsts Fährte wiederzufinden.

Mein ahnungsloser Karrenschieber machte jetzt wieder halt. Er hatte eingesehen, daß Harst einen so großen Vorsprung nicht gewonnen haben könnte. Er setzte sich auf seinen Karren und drehte sich eine Zigarette. Ich mußte also wieder den Harmlosen spielen und nahm auf einer nahen Bank Platz.

Dann beobachtete ich zu meinem grenzenloser Erstaunen folgendes:

Von der Stadt kam ein großes Geschäftsauto die Straße entlanggerollt. Es war so ein Auto mit verschließbarem Kasten, wie es die Geschäftshäuser zum Ausfahren der gekauften Waren benutzen. Der Chauffeur trug eine Art Livree. Neben ihm saß ein zweiter Mann. Beide waren jüngere Inder.

Das Auto glitt langsam an dem Karrenschieber vorüber. Der Inder neben dem Chauffeur warf dabei mit kaum merklicher Handbewegung ein Papierkügelchen zwischen die Früchte.

Der dürre Karrenbesitzer tat, als hätte er nichts davon gesehen. Aber – er tat nur so. Seine Augen hatten nur einen Moment den Flug des Papierkügelchens belauert. Er rauchte ruhig seine Zigarette weiter, wandte aber beständig den Kopf bald hierhin, bald dorthin. Er mochte noch immer hoffen, Harst irgendwo zu entdecken.

Es vergingen so etwa fünf Minuten. Dann geschah wieder etwas Neues:

Von Süden her kam ein kleiner, mit Fässern beladener Lastwagen heran. Der Kutscher bog zu spät dem Karren aus, fuhr gegen das eine Rad und schleuderte den Karren über die Bordschwelle auf den Reitweg. Nun lagen die ganzen Früchte über den gelben Kies des Reitweges verstreut, und der kleine Chinese brüllte dem Lastwagen eine Auslese von Schimpfworten nach. Diese Gelegenheit benutzten zwei braune, kleine abgerissene Burschen, sich die Taschen mit köstlichem Obst zu füllen. Ehe der Karrenbesitzer zuspringen konnte, kniffen sie schon wieder aus.

Der Gelbe suchte seine Früchte zusammen, richtete das Wägelchen wieder auf und – das erkannte ich ganz deutlich! – wühlte in dem Kies mit wachsender Aufregung umher, – in dem Kies! Mithin suchte er nach dem Papierkügelchen.

Doch – es war offenbar nicht zu finden. Der Gelbe kniete jetzt sogar am Boden, gab sich die größte Mühe, das winzige Ding noch irgendwo aufzustöbern. Seinen Eifer, seine Enttäuschung, seinen Ärger: all das konnte ich aus den Grimassen, die er schnitt, ablesen.

Endlich gab er’s auf; setzte sich wieder auf den Karren und stierte nun fast stumpfsinnig vor sich hin.

Nach einer Weile stellten sich die Sackträger bei ihm ein. Die drei flüsterten, gestikulierten und – fingen von neuem zu suchen an!

Merkwürdig: welchen Wert mochte wohl das kleine Ding für sie haben? – Überhaupt: das, was ich hier beobachtete, hatte ja recht viel Bedeutungsvolles an sich. Weshalb hatte der junge Inder von dem Geschäftsauto aus das winzige, zusammengeballte Papierstück auf den Karren geworfen?!

Ich konnte die vielerlei Fragen, die sich mir aufdrängten, leider nicht nachprüfen, denn das Kleeblatt trennte sich wieder. Die Sackträger schlenderten weiter, und dreißig Schritt hinter ihnen folgte der Karrenmann.

Sie schlugen die Richtung nach Westen ein, dem Hugli-River zu.

Am rechten Ufer des Hugli liegen die Riesenfabriken und zahllose Eingeborenendörfer. Eigenartig ist, daß nicht eine einzige Brücke über den Hugli führt. Es gibt lediglich eine Pontonbrücke, die Kalkutta mit dem Fabrikort Howrah verbindet und die zu bestimmten Stunden geöffnet wird, um die Schiffe durchzulassen. –

Ich blieb den geheimnisvollen drei Chinesen stets auf den Fersen. So kamen wir denn an die Docks am Flußufer, wo die Gelben in einem Bootshafen einen Nachen losketteten und schnell den Fluß überquerten.

Ich fand kein Boot, das mich übergesetzt hätte. Ärgerlich und enttäuscht mußte ich kehrtmachen. Ich hätte mir diese Stunde, die ich für die Verfolgung gebraucht hatte, sparen können.

Die Enttäuschung wirkte so stark, daß ich mich plötzlich zum Umsinken müde fühlte. Ich nahm einen Wagen und ließ mich zurück zur Villa Tschong fahren. Als ich mein Schlafzimmer betrat, fand ich auf dem Kopfkissen meines Bettes ein zerknittertes, viereckiges Blättchen Papier, auf dem lediglich in roter Tinte arabische Zahlen und ein gleichseitiges Dreieck zu sehen waren.

Nur Harst konnte mir diesen Wisch hingelegt haben. Er mußte also bereits zu Hause sein.

Ich drückte auf die Klinke der Verbindungstür. Die Tür war jetzt nicht mehr verriegelt.

Harst lag in seinem Bett und atmete tief und ruhig.

– Was bedeutete das alles nun – was?!

– – – – – – – –

Ich stand in der halb geöffneten Tür und lauschte. Schlief Harald wirklich? Verstellte er sich nur? – Ich hüstelte. Er regte sich nicht. Und ich wußte Bescheid: er schlief nicht! Denn er wäre bei seinem leisen Schlaf durch das Räuspern sofort geweckt worden. Er wollte also nicht gestört sein.

Ich schloß die Tür wieder, begann mich zu entkleiden.

Aber – der verdammte zerknitterte Zettel übte auf mich eine geradezu magische Wirkung aus. Ich hatte ihn auf das Nachtschränkchen gelegt. Meine Augen kamen nicht davon los.

Als ich schon bei zugezogenen Vorhängen im Bett lag, schaltete ich das elektrische Nachtlämpchen wieder ein und nahm den Zettel in die Hand. Er war genau quadratisch bei etwa 17 Zentimeter Seitenlänge. In einer Linie standen oben die recht kindlich hingemalten roten Ziffern:

7 9 2 6 2 3 2 6 7 14 15 119

Darunter befand sich das gleichseitige Dreieck, mit der Grundlinie nach unten. Das Ganze sah so aus:

 

 

Der verwünschte Zettel! – Wahrhaftig, nun war ich schon dabei, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was er wohl bedeuten könnte. Wichtig war er ja auf jeden Fall. Sonst hätte Harst ihn mir nicht auf das Kopfkissen gelegt.

Wichtig –! Und – er war so vollständig zerknittert! Gerade so, als ob er ganz eng zusammengeballt gewesen wäre – zu einem Kügelchen!

Es gab mir einen förmlichen Ruck durch den Körper dieser Gedanke: Papierkügelchen!

Ja – das Papierkügelchen! – Ich zweifelte nicht im geringsten mehr: es war dasselbe, das mir schon vorhin so viele Rätsel aufgegeben hatte!

Dasselbe! Also hatte Harst es irgendwie an sich gebracht!

Ich lächelte plötzlich. Ich dachte an die beiden kleinen braunen Spitzbuben, die das Obst mit hastigem Griff zusammengerafft hatten und dann davongeeilt waren.

Bestellte Arbeit – ohne Frage! Und zwar von Harst bestellte Arbeit! Ihm war ja alles möglich. Er hatte ja schon ganz andere Dinge fertiggebracht!

Diese Überzeugung, daß Harald jetzt fraglos bereits wieder irgend einer sich anspinnenden Schurkerei (denn was diese Gelben unternahmen, war ja zumeist eine gerissene Teufelei!) auf die Spur gekommen sein mußte, beruhigte mich so sehr, daß ich dann in kurzem einschlief.

„Bitte beeile Dich mit Deiner Toilette, mein Alter,“ sagte er und zog die Fenstervorhänge auf. „Sofort wird die Polizei hier sein. Um Deine Gedanken schleunigst aus dem Traumreich in die Wirklichkeit hinüberzulenken, will ich Dir nur mitteilen, daß Kuma Tawi, Tschongs schuftiger Bruder, uns glänzend bemogelt hat und noch lebt. Nur zum Schein versank er im Flusse, als ob ein Krokodil ihn hinabzöge. In Wahrheit ist er nur allzu lebendig.“

„Meine Hochachtung, Harald,“ sagte ich lächelnd. „Das Papierkügelchen hast Du überaus geschickt in Deinen Besitz gebracht.“

Er schaute auf. „So, Du hast die Sache also durchschaut.“

„Nicht völlig. Manches ist mir unklar. Nur die beiden braunen kleinen Obstdiebe erkannte ich als „bestellte Arbeit“. Ebenso sah ich, daß das Kügelchen von dem Geschäftsauto aus in den Karren des Chinesen geworfen wurde. Diese Art Nachrichtenübermittlung, bei der so viel Vorsicht und Schlauheit aufgewandt wurde, deutete auf eine ganz große Lumperei hin.“

„Ja, das ist die Entführung einer Dame stets,“ nickte Harst mit auf den Zettel gerichteten Augen.

„Entführung?“ – Ich reckte das Worte vor Überraschung über Gebühr.

„Frau Helene Tschong ist von ihren Vormittagsbesorgungen nicht zurückgekehrt,“ erklärte er leise. „Natürlich steckt Kuma Tawi dahinter. Er war einer der beiden chinesischen Sackträger.“

„Woher weißt[2] Du denn, daß Frau Tschong verschwunden ist?“ fragte ich.

„Der indische Hausmeister der Tschongs weckte mich vor einer Viertelstunde, indem er stark an die nach dem Flur hinausgehende Tür meines Zimmers pochte. Ich ließ ihn ein, und da erzählte er mir dann, daß er soeben die Polizeidirektion telephonisch davon verständigt hätte, Frau Tschong sei aus einem kleinen Hotel am Hafen nicht wieder herausgekommen. Sie hatte dem Kutscher ihres eleganten Wagens befohlen, an der nächsten Straßenecke auf sie zu warten; sie würde in einer halben Stunde spätestens wieder da sein. Als nun 2½ Stunden verflossen waren, schickte der unruhig gewordene Kutscher, der seine Herrin im Hotel d’Angleterre hatte verschwinden sehen, einen Polizeibeamten in das betreffende Haus. Dieser kehrte mit der Meldung zurück, im Hotel wüßte niemand etwas von Frau Tschong. Da ist denn der Kutscher schnell nach Hause gefahren, hat dem alten Hausmeister Pfara Donki die Sache gemeldet, und dieser wandte sich sogleich an die Polizei.“

„Hm – und der Beweis, daß eine Entführung vorliegt?“ meinte ich gedehnt.

„Der Beweis dafür ist das von uns Beobachtete, mein Alter. Da ich der Polizei nicht alles mitteilen möchte, was uns jetzt schon bekannt ist, wollen wir die Angelegenheit schnell unter uns durchsprechen. – Daß das Kuma Tawi-Abenteuer noch eine Fortsetzung haben würde, befürchtete ich bereits morgens, als wir hierher kamen und Frau Tschong das Geld brachten. Ich bemerkte nämlich auf der Straße nach Süden unweit der Villa zwei Chinesen, die ihre Rückenlast, vollgepackte Säcke, wie um sich auszuruhen, auf die Bordschwelle gestellt hatten. Die beiden standen mit dem Rücken nach der Parkpforte hin. Aber sie sahen trotzdem ganz genau, wer die Pforte passierte, – genau so, wie ich sah, daß der eine von ihnen einen Spiegel in der Hand hatte, mit dessen Hilfe er nach rückwärts beobachtete. Wenn man derartige Hilfsmittel gebraucht, muß man sich vorher überlegen, ob die Sonne nicht gerade diesen in der Hand verborgenen Hohlspiegel trifft und ihn bei einer gewissen Stellung wie einen Diamant aufleuchten läßt. – Du wirst zugeben, mein Alter, daß dieser aufblitzende Spiegel die Leute sofort verdächtig machte. Als wir dann Frau Tschong das Geld übergeben und uns in unsere Gastzimmer zurückgezogen hatten, überdachte ich diese „Spiegelszene“ nochmals und kam zu dem Entschluß, mich sofort zu überführen, ob die Kerle draußen auf der Straße noch immer herumlungerten.“

„Gut – das weitere kenne ich: Du spieltest einen braunen Bettler und ließest Dich von dem Gärtner an die frische Luft setzen. Dann folgten Dir der Karrenmann und die Sackträger. Aber – wohin warst Du im Maidan-Park so plötzlich verschwunden?“

Harst lächelte schwach. „Oh – ich fuhr auch an Dir vorüber, lieber Alter. Du hast doch später den mit Fässern beladenen Wagen bemerkt, der den Obstkarren umwarf. – Nun, als dieser Wagen von der Stadt, also von Norden her in Sicht kam, wollte ich die Reihenfolge unseres Spaziergangs etwas ändern, das heißt, ich wollte mich ungesehen zwischen den Karren und die Sackträger einschieben. Das konnte ich nur, indem ich mich blitzschnell hinten auf den Lastwagen schwang und zwischen die leeren Tonnen kroch. Der Lenker hat dann von mir 5 Pfund erhalten und gehorchte dafür wie ein begabter Gehilfe. Wir machten kehrt und blieben etwa zwanzig Meter hinter dem Obstkarren halten, der bereits an der Bordschwelle des Reitweges stand. Durch das Spundloch eines Fasses, dessen Deckel ich von innen festhielt, konnte ich gerade so gut wie Du von Deiner Bank aus erkennen, daß man dem Karrenmann das Kügelchen zuwarf. Mein Kutscher, der sich an den Hinterrädern verabredungsgemäß zu schaffen machte, mußte dann zwei braune Straßenjungen bestechen, die ihre Aufgabe tadellos erledigten, nachdem die Obstladung durch meinen Tonnenwagen umgekippt worden war. Sie stahlen Früchte, hoben das Kügelchen mit auf und trafen mit meinem Wagen 100 Meter weiter wieder zusammen, erhielten je ein Pfund und die Anweisung, den drei Chinesen zu folgen und mir hier nachher zu berichten, wo diese wohnten oder für längere Zeit eingekehrt waren. Ich selbst konnte nun also auf Umwegen getrost nach Hause gehen, zumal ich ja wußte, daß auch Du hinter den dreien her warst.“

„Alles sehr schön,“ meinte ich jetzt. „Nur – wo ist bei alledem der Beweis, daß Frau Tschong entführt wurde. Sie ist zu ihrem Wagen nicht zurückgekehrt, gut. Doch, sie kann ja auch eine unerwartete Abhaltung gehabt haben!“

„Zunächst, lieber Alter: in dem einen Sackträger erkannte ich trotz des falschen Bartes und mancher anderen künstlichen Gesichtsveränderungen unseren „Freund“ Kuma Tawi. Der Halunke hatte nämlich bei seiner Maske eins vernachlässigt: die nackten, in Sandalen steckenden Füße! – Dieser gebildete Chinese gibt ja sehr viel auf sein Äußeres, genau so wie sein Bruder, der Juwelenhändler. Die Sandalen ließen die Zehen frei. Also präsentierten sich die Zehennägel in all ihrer Gepflegtheit trotz der Staubschicht darauf.“

„Man muß Deine Augen haben, um derartiges zu bemerken,“ meinte ich.

„Dafür habe ich ja auch einen Beruf erwählt, bei dem man das Gras wachsen hören und durch ein Brett sehen können muß, wenn’s nottut,“ sagte Harst völlig ernst. „Doch – zurück zu Frau Tschongs Verschwinden. – Es steht fest, daß Kuma Tawi sich in der Nähe der Villa von morgens an herumgedrückt hat; weiter, daß aus einem Geschäftsauto dem Karrenmann eine Papierkugel mit einer Geheimschrift zugeworfen wurde; schließlich, daß Frau Tschong, als diese Papierkugel zwischen die Früchte flog, bereits zwei Stunden im Hotel d’Angleterre geweilt hatte. Diese Zeitangabe habe ich von dem Kutscher, der die Dame nach der Stadt gefahren hatte.“

„Ah – Du ließest Dir den Kutscher heraufkommen?“

„Natürlich. Der Hausmeister schickte ihn mir. Ich richtete nur ein paar Fragen an den Mann, der bei Tschongs schon acht Jahre diese Stellung innehat und einen vorzüglichen Eindruck macht. – Eine meiner Fragen lautete: „Sahen Sie von der Straßenecke aus ein Geschäftsauto in der Nähe des Hotels halten, als Sie auf Ihre Herrin warteten?“ – Und der Kutscher, ein Eurasier, (Mischling zwischen Europäer und Inderin) antwortete: „Jawohl, Master Harst, nachdem ich eine Stunde etwa gewartet hatte, verließ ein Geschäftsauto, das jedoch keinen Firmennamen zeigte, die Hofeinfahrt des Hotels“. – Begreifst Du die Sache nun, mein Alter? Man hat Frau Tschong dort in das Hotel gelockt, hat sie überfallen und – in dem Auto verschleppt. Die Papierkugel kann nur die Nachricht von dem geglückten Streich enthalten, bei dem Kuma Tawi sich absichtlich nicht persönlich beteiligt hat. So, das ist meine Ansicht über Frau Tschongs Verschwinden. Wenn Du, mein Alter, die einzelnen Vorfälle zwangloser und besser aneinanderreihen und ergänzen kannst, so tue es. Jedenfalls werden wir hier wieder gegen eine ganze Bande zu kämpfen haben. Drei davon kennen wir bereits, nämlich Kuma Tawi, den Karrenschieber und den zweiten Sackträger. Außerdem dann noch die beiden Inder auf dem Auto, also bisher fünf Mann. Es dürften aber noch mehr daran beteiligt sein.“

Ich konnte zu alledem nur zustimmend nicken. Harsts Kombinationen mochten kühn sein. Aber sie waren durchaus logisch. Und – er irrte sich in dieser Hinsicht ja so selten! – Nur eins war mir noch nicht klar: Weshalb die drei Chinesen die Villa so lange überwacht hatten, bis Harst heraustrat, den sie also trotz seiner Verkleidung sofort erkannt hatten. Gewiß, die Vermutung lag nahe, daß diese Überwachung uns beiden als den gefährlichsten Gegnern Kuma Tawis galt. Immerhin war es aber von Kuma Tawi doch sehr unvorsichtig, sich so lange in nächster Nähe eines Harald Harst aufzuhalten. – Als ich Harsts Meinung hierüber hören wollte, erwiderte er nur: „Um eine Überwachung allein wird es sich hier nicht handeln. Die Leute wollen fraglos mehr, als uns lediglich nicht aus den Augen zu verlieren. – Falle!“

Ich verstand dieses „Falle“ sofort, sagte mit einem leisen Gefühl des Unbehagens: „Wir werden uns mithin sehr inachtnehmen müssen, daß wir nicht in eine Falle geraten. Kuma Tawi dürfte uns kaum schonen, wenn er uns in seine Gewalt bekommt. – Noch etwas, Harald,“ fügte ich nach kurzer Pause hinzu. „Du hast also die Geheimschrift auf dem Zettel noch nicht entziffert? Und – was bedeutet das Dreieck?“

„Entziffert?! Dazu werden Berechnungen nötig sein. Ich glaube vorläufig nur erkannt zu haben, daß die Spitze des Dreiecks kaum durch Zufall gerade unter der Zahl 7 steht, so daß die Spitze also wie ein Pfeil darauf hinweist. Das muß von Wichtigkeit sein. Die 7 wird so etwas wie der Schlüssel der Zahlenschrift sein, das Dreieck aber lediglich eine Verschleierung eines Pfeiles oder dergleichen, der diese 7 aus den anderen Ziffern hervorheben sollte. – Da – es klopft. Das dürfte Detektivinspektor Blosley[3] sein.“

Ich war inzwischen mit meiner Toilette fertig geworden. Blosley, der einen älteren Kollegen vertrat, war zu sehr Engländer, um Harst direkt zu bitten, ihm bei den bevorstehenden Ermittlungen zu helfen. Harst wieder verriet nichts von dem, was er wußte. Die Unterhaltung mit dem Beamten hatte etwas Gezwungenes an sich. Der Hausmeister, der ihr beiwohnte, war ehrlicher. Er sagte ganz offen, daß er als Vertreter des abwesenden Hausherrn Harst bitten möchte, sich dieser Sache anzunehmen.

Blosley erklärte darauf, die Untersuchung sei ja bereits in vollem Fluß; seine Beamten durchstöberten jetzt schon das kleine Hotel.

Das hieß so viel als: Eure Einmischung ist nicht erwünscht.

Harst erwiderte nun erst dem Hausmeister, der Fall läge so einfach, daß wir wohl kaum nötig wären.

In demselben Moment erschien der Kutscher, der Frau Tschong nach der Stadt gefahren und den Blosley hatte vernehmen wollen.

Der schlanke, hübsche Eurasier erzählte sehr eingehend, wo er mit seiner Herrin zwecks Besorgungen gewesen, bevor sie nach dem Hotel zu fahren ihm befahl. Er nannte hintereinander vier Geschäfte, zuletzt ein amerikanisches Warenhaus, Gebrüder Smollins. – Auf Blosleys Frage, ob er gemerkt hätte, daß Frau Tschong von irgend jemandem angesprochen worden sei, schüttelte er den Kopf. „Von niemanden – ganz bestimmt nicht. Wenigstens nicht auf der Straße vor den Geschäften.“

Dann fügte der Kutscher von selbst hinzu: „Aber das Auto sah ich, nach dem Mr. Harst sich erkundigt hat.“

Ah – nun saß Harald mit seiner Verheimlichung unserer Vormittagserlebnisse fest!

Blosley schaute Harst überrascht an.

„Ein Auto?“ fragte er.

„Ja,“ meinte Harst. „Die Annahme liegt doch so nahe, daß Frau Tschong aus dem Hotel sofort weggeschafft worden ist. Dazu eignet sich zum Beispiel ein geschlossenes Geschäftsauto ohne Firmennamen sehr gut. In dem Kasten des Kraftwagens kann man sogar mehrere Leute verbergen.“

Blosley wandte sich wieder an den Eurasier. „Sie sahen also ein solches Auto?“

„Ein großes, hellgrün gestrichenes,“ antwortete der Kutscher eifrig. „Vorn saßen zwei Inder. Der eine trug eine Art Livree, wie dies in größeren Geschäften seit einiger Zeit üblich. Der Chauffeur hatte nur einen gelben Leinenanzug an und einen Turban auf dem Kopf. Mehr weiß ich nicht, denn das Auto fuhr von der anderen Seite die Hafenstraße hinunter.“

Blosley lächelte. „Nun, sollte dies Auto bei dieser Sache irgendwie eine Rolle spielen, dann werden wir’s bald haben. – Ich hätte hier nichts mehr zu tun. Auf Wiedersehen, meine Herren.“

Das klang wieder sehr kühl. Wir verbeugten uns, und der Hausmeister geleitete den Inspektor dann hinunter.

– – – – – – – –

Der Hausmeister hatte uns schon vorher gebeten, ganz zwanglos auch in Abwesenheit Frau Tschongs über die Villa und deren Dienerschaft zu verfügen. Wir begaben uns nun zunächst in das Speisezimmer hinunter, wo ein Mittagessen zu sieben Gängen unserer schon wartete.

In der Villa Tschong gab es nur indische Diener. Der Koch war sogar ein Europäer, ein geborener Züricher, der uns die Suppe selbst servierte, nur um Gelegenheit zu haben, mit Harst ein paar Worte zu wechseln. Der Mann hieß Büngli und machte aus seiner Bewunderung für den „großen Detektiv“ gar kein Hehl. Von ihm erfuhren wir aber auch so manches, was für uns recht interessant war. Büngli betonte, daß Frau Helene Tschong sowohl bei der Dienerschaft und den Eingeborenen, als auch bei der Europäerkolonie Kalkuttas sehr beliebt sei. Ihre Ehe mit dem Edelsteinhändler sei die denkbar glücklichste. Und Frau Tschong würde wohl restlos zufrieden sein, wenn sie nicht so sehr um den Verlust ihrer Schwester trauerte, die vor zwei Jahren während der Überfahrt von Bremen nach Kalkutta tödlich verunglückte.

Inzwischen hatte auch der alte Hausmeister Pfara Donki sich im Speisezimmer eingefunden. Er ergänzte Bünglis Angaben noch, indem er eine große Photographie Fräulein Anna Mirzbachs holte und sie uns zeigte. Die beiden Schwestern hatten große Ähnlichkeit miteinander. – Die jüngere, unverheiratete besaß ein liebreizendes Gesicht mit ein Paar sehr seelenvollen Augen. Für meinen Geschmack war sie schöner als Frau Tschong.

Pfara Donki berichtete nun, daß das Fräulein für längere Zeit zu Tschongs hätte zu Besuch kommen wollen. Erst kurz vor Kalkutta sei das Unglück bei regnerischem Wetter gegen Abend passiert. Matrosen des Dampfers hörten einen Schrei und sahen auch einen Körper in die See stürzen. Die ausgesetzten Rettungsboote fischten dann lediglich eine Ölkappe auf, die als Fräulein Mirzbach gehörig erkannt wurde. Sie selbst war ertrunken. Ihr Körper wurde nie gefunden, obwohl der Unglücksfall sich dicht vor der Hugli-Mündung ereignete.

Harst hatte bisher still zugehört.

„War damals denn starker Seegang?“ fragte er jetzt.

„Nein, Mr. Harst. Nur starker Regen. Niemand vermochte sich zu erklären, wie Fräulein Mirzbach über die Reling des Promenadendecks in die See stürzen konnte. Sie muß sich gerade zu weit übergelehnt haben.“

Harst nickte zerstreut, und Pfara Donki fügte hinzu: „Wollen die Herren nicht doch die Polizei bei den Nachforschungen so etwas unterstützen? – Gewiß, Inspektor Blosley ist nicht gerade sehr höflich zu Ihnen gewesen. Es mag da so etwas Eifersüchtelei mitsprechen. Aber –“

Harst fiel ihm schon ins Wort. „Keine Sorge, bester Pfara Donki. Wir sind Ihres Herrn Freunde, genießen hier Gastfreundschaft und halten es für unsere Pflicht, nichts unversucht zu lassen, Frau Helene schleunigst zu befreien. Zur Zeit ist ja die Polizei noch an der Arbeit. Da würden wir uns also gegenseitig nur stören. Wenn wir aber das vorzügliche Mittagessen eingenommen haben, werden wir ohne Säumen die Sache auf unsere Art in Angriff nehmen. Dazu ist nötig, daß unser Koffer, der die Signatur 3 hat, sofort in den Pavillon geschafft wird, der dort hinten an der Parkmauer steht, wie ich vorhin bemerkte. Er scheint bewohnbar zu sein. Lassen Sie also jetzt erst mal den einen Koffer dorthin bringen und geben Sie mir den Schlüssel zu dem Pavillon. Dann kann gegen Abend der Pavillon für uns als vorläufige Wohnung hergerichtet werden. Haben Sie noch einen zweiten Schlüssel dazu, Pfara Donki?“

Der Koch und der Hausmeister hatten jetzt häufiger seltsame Blicke ausgetauscht. Nun platzte Büngli mit ein paar Worten heraus, die genug besagten:

„Nur nicht in den Pavillon, Mr. Harst, nur nicht!“

„Na nu? Weshalb denn nicht?“

„Weil – weil es dort nicht geheuer ist!“

Ich lachte auf. Harst blieb jedoch völlig ernst.

„Nicht geheuer? – Erklären Sie mir das genauer,“ meinte er.

„Nun – man hat in dem Pavillon wiederholt nachts ein seltsames Licht und eine noch seltsamere Gestalt beobachtet, Herr Harst. Aber nie fanden wir ein lebendes Wesen dort, wenn wir überraschend eindrangen. Das Licht und die Gestalt blieben monatelang aus, erschienen dann wieder. So geht das schon ein paar Jahre. Wir haben uns schließlich daran gewöhnt.“

Pfara Donki flüsterte jetzt hastig: „Und in der verflossenen Nacht, etwa morgens um 4 Uhr kurz vor Tagesanbruch, habe ich das Licht abermals seit längerer Zeit gesehen. – Es gibt übrigens nur einen Schlüssel zu dem kleinen Häuschen, das aus den Resten eines verfallenen Hindutempelchens errichtet wurde. Es war so eine Laune meines Herrn, Mr. Harst. Der Pavillon steht jetzt zehn Jahre, und die Villa ist vor zwölf Jahren erbaut.“

„Gut, dann lassen Sie also sofort unsere ganzen Sachen und auch die Betten und so weiter hinüberschaffen, Pfara Donki, und verbieten Sie den Dienern, fortan den hinteren Teil des Parkes zu betreten. Sagen Sie nur gleich, daß ich auf jeden Menschen schieße, der sich in der Nähe des Pavillons herumdrückt.“

Um ½5 nachmittags gingen wir in unser neues Heim hinüber.

Der viereckige Raum war bereits als gemeinsames Schlafzimmer für uns hergerichtet. Nachdem Pfara Donki sich überzeugt hatte, daß die Diener nichts vergessen hatten, verabschiedete er sich. Harst rief ihm noch nach, er solle uns doch sofort einige kalte Speisen und auch Getränke schicken, damit wir nachher uns ein Abendbrot allein zusammenstellen könnten. – Bereits zehn Minuten später erschienen zwei Diener mit einem Riesenkorb, dessen Inhalt sie in einen Wandschrank der Halle verstauten. Auch eine Teemaschine hatte der Hausmeister mitgeschickt.

Dann waren wir allein. Harst schlug mir leicht auf die Schulter.

„Ein großartiges Quartier, mein Alter, mit einem Geist als Zugabe! – So, nun wollen wir uns ein wenig kostümieren. Ich werde ein älterer, würdiger Engländer werden und Du mein indischer Diener, auch schon gesetzteren Alters.“

Um ½6 gelangten wir durch die hintere Parkpforte, deren Schlüssel uns der Hausmeister aus eigenem Antrieb gegeben hatte, auf einen schmalen Fußweg, der zwischen Gärten eine Strecke entlanglief und schließlich dicht vor dem Maidan in eine Fahrstraße einmündete. Hier nahmen wir einen Wagen. Ich kletterte mit der braunledernen Reisetasche „als Diener“ zum Kutscher auf den Bock. So fuhren wir vor dem Hotel d’Angleterre vor. Harst trug sich als Mr. Steward, Kaufmann aus Dehli, ins Fremdenbuch ein und belegte und bezahlte auch gleich zwei Zimmer für drei Tage.

Das Hotel gehörte einem Wiener, einem früheren Kellner namens Meidinger. Es war peinlich sauber bei aller Einfachheit. Harst verstand es dann, den in Österreich bekannten Engländer zu spielen, begann über Wien zu sprechen und machte Meidinger schnell vertraulich. Dieser erzählte ihm schon in der Vorhalle, daß er heute viel Ärger gehabt hätte. Die Polizei suche eine Dame, die hier in seinem Hotel verschwunden sein solle, und das sei ein Unsinn.

Ich stand in respektvoller Haltung dabei und hörte alles mit an. Dieser Meidinger log nicht. Das merkte man sofort.

Dann fügte er noch empörter hinzu: „Am tollsten bei der Geschichte ist, daß offenbar ein Geschäftsauto, das ein Bekannter auf meinem Hofe seit langem untergestellt hat, mit zu dieser Entführung benutzt worden ist. Der Kraftwagen gehört dem Kaufmann Estromelle, dem Seidenhändler aus der Nelsonstraße. Estromelle braucht ihn selten, nur zum Abfahren von Waren von den Dampfern und vom Güterbahnhof. Ich kümmere mich nie um das Auto. Es steht auf dem Hofe in einem offenen Schuppen, und Estromelles Leute holen es, wann sie wollen. Die Hofeinfahrt ist tagsüber offen. Gewiß, der Kraftwagen fuhr heute davon und kam nach einer Stunde zurück. Aber ich habe deswegen noch nicht mal den Kopf gehoben. Jetzt macht dieser verrückte Inspektor Blosley mir den Vorwurf, ich steckte mit den Banditen, die Frau Tschong verschleppt haben, unter einer Decke. Lächerlich! Ich wurde natürlich saugrob. Das half. Aber der Ärger sitzt mir noch in den Nerven.“

„Treten wir mal in Ihr Kontor ein.“ meinte Harst.

Hier gab er sich dem Wiener zu erkennen. „Wenn ich Sie für mitschuldig hielte,“ erklärte er, „würde ich Mr. Steward geblieben sein. So aber arbeiten wir besser gemeinsam. Kann ich mir mal das Auto ansehen?“

Wir gingen durch den Hinterausgang auf den langgestreckten Hof und in den Schuppen. Harst besichtigte die Gummireifen sehr sorgfältig, sogar mit der Lupe. Dann kletterte er in den Wagenkasten hinein, der hinten eine Tür hatte. In einer Ecke lagen alte Decken und Säcke, um die Seidenballen einzuschlagen. Harst hatte seine Taschenlampe eingeschaltet und warf diese Decken nun einzeln mir zu.

„Schau’ sie Dir an,“ meinte er. „Vielleicht haben sie Frau Tschong als Sitz gedient. Und vielleicht findet sich irgend etwas darin.“

Meidinger half mir. Wir fanden nichts.

Harst kletterte wieder heraus. Wir warfen die Decken und Säcke in den Wagenkasten zurück. Nachher sah sich Harst auch den Hof noch an. Linker Hand gab es da eine Grenzmauer nach dem Nachbargrundstück.

„Wer wohnt dort?“ fragte Harst.

„Das Haus steht leer. Es ist eine baufällige Baracke, die nächstens abgerissen wird. Ich habe sie gekauft, da ich mein Hotel vergrößern will.“

Harst ging an der Mauer entlang, machte kehrt und stellte eine Leiter an das wagerechte Schuppendach, das mit der Mauerkrone fast in einer Linie lag. Er stieg nach oben und schaute in den Nachbarhof hinab. Dann turnte er über die Mauer und verschwand.

Wir mußten eine Viertelstunde warten, bevor wir Harald wieder erblickten. Aber – er kam durch die Hofeinfahrt von der Straße her.

„Na – dieser Teil der Sache ist nun geklärt,“ sagte er mit jener Lebhaftigkeit, die stets verriet, daß er dem Endziele recht nahe war. „Frau Tschong ist nie hier im Hotel gewesen. Der Kutscher hat nicht genau beobachten können, welches Haus seine Herrin betrat. Der Hoteleingang liegt an der linken Hausseite, und die Haustür der Baracke nebenan liegt rechts; also beide Eingänge dicht nebeneinander. Da Frau Tschong dem Kutscher befahl, nach dem Angleterre-Hotel zu fahren, nahm dieser an, die Dame wäre auch ins Hotel eingebogen, während sie in Wahrheit das leere Haus besuchte und dort gleich im Flur überfallen und durch Chloroform betäubt worden ist. Im Flur fand ich zwei Lockennadeln und den Gummistöpsel eines Fläschchens, der noch nach Chloroform riecht. Dann wurde Frau Tschong in den Schuppen geschafft. In der Mauer sind acht Steine gelockert. Durch dieses Loch hat man sie hindurchgezwängt. Vom Schuppen aus sieht man die losen Steine nicht, da ein Haufen leere Kisten davor steht.“

„Wir müssen uns jetzt verabschieden,“ meinte Harst. „Schraut, hole die Reisetasche. Über die beiden Zimmer können Sie verfügen, bester Meidinger. Ich bin hier mit meiner Arbeit fertig.“

„Und – wo geht’s nun hin?“

„In das amerikanische Warenhaus, wo Frau Tschong zuletzt war, bevor sie dem Kutscher hierher zu fahren befahl. Ich nehme an, daß man ihr dort auf irgend eine Weise nahegelegt hat, das leere Haus neben dem d’Angleterre aufzusuchen. Vielleicht erinnert einer der Verkäufer sich, daß Frau Tschong von jemand angesprochen wurde. – Leben Sie wohl, Herr Meidinger. Und – schweigen Sie!“ –

Wir machten uns zu Fuß nach dem Kaufhaus auf. Wir hatten nur fünf Minuten zu gehen. Es war jetzt ½7, und um 7 war Geschäftsschluß.

Das Warenhaus, ein riesiger Neubau mit breitem Portal, erinnert so etwas an Wertheim-Berlin, Leipziger Straße. Wir traten ein. Ein chinesischer Türhüter riß die große Pendeltür auf. Ich blieb stets bescheiden als Diener hinter Harst. Mein „Herr“ machte sehr bald an einem Verkaufsstand halt, wo es Toilettenartikel für Damen gab. Er verlangte einen Augenbrauenstift, zahlte an der Kasse und – wandte sich dem Ausgang wieder zu.

Ich war mit Recht überrascht. Hatte Harst hier denn bereits etwas entdeckt?!

Auf der Straße winkte er ein leeres Taxameterauto heran. Wir stiegen ein und fuhren bis zu jenem Fußgängerweg, der an der Hinterseite der Villa Tschong entlangführte.

Als wir nun nebeneinander diesen Pfad dahinschritten, fragte ich sofort: „Weshalb bliebst Du nicht länger in dem Kaufhause?“

„Weil es zwecklos gewesen wäre, genau so zwecklos, wie mein Bemühen, Dir Detektivaugen anzugewöhnen. Der chinesische Türöffner war der zweite Sackträger.“

Ich war so verdutzt, daß ich ein „Nicht möglich!“ stammelte.

„Er war’s,“ sagte Harald kurz. „Der Kerl hat eine Narbe auf der linken Wange, offenbar von einem Messerschnitt. Das genügt zum Wiedererkennen. Der Halunke wird sich heute bis Nachmittag haben beurlauben lassen. Und er war’s, der seinen Stellvertreter veranlaßte, Frau Tschong den Zettel zuzustecken.“

„Welchen Zettel?“

„Nun, den ich im Flur des leeren Hauses in einer breiten Dielenritze fand, zum Fidibus zusammengelegt. Frau Tschong wird ihn in der Hand gehabt haben, als man sie überfiel. Da ist das schmale Papier ihr aus der Hand und in die Spalte zwischen die morschen Dielen gefallen.“

„Das klingt allerdings wahrscheinlich. Was steht auf dem Zettel?“

„Du kannst ihn nachher lesen. – Du merktest wohl, daß ich an der Kasse des Kaufhauses mit der Kassiererin sprach. Ich sagte, vormittags sei doch ein anderer Türhüter da gewesen, als ich Einkäufe erledigte. Ob die Leute denn nicht den Tag über Dienst hätten? – Sie erwiderte, der eigentliche Pförtner sei bis nachmittags 3 Uhr beurlaubt gewesen und hätte einen Freund als Aushilfe gestellt. – Dieser Freund, mein Alter, hat Frau Tschong ganz sicher den Zettel zugesteckt, als sie in das Kaufhaus hineinging.“

Wir schlossen die hintere Parkpforte auf und gingen in unser neues Heim, den hübschen Pavillon. Es war bereits dämmerig, und Harst schaltete sofort das Licht in der Wohnhalle ein.

Ich trug die Reisetasche in unser Schlafgemach. Harst hatte sich vorn in einen Korbsessel gesetzt und studierte den Zettel, – den Zettel, der Frau Tschong nach dem leeren Hause gelockt hatte.

Ich stellte die Reisetasche auf den obersten unserer Koffer und packte sofort die Sachen aus, die ich zum Schein hineingetan hatte. Ich hörte Harst trotz der geschlossenen Tür ganz deutlich das bekannte Lied aus Rigoletto pfeifen: „Ach – wie so trügerisch sind Frauenherzen –“

Dann brach er mitten drin ab.

– – – – – – – –

Ich war nun fertig, öffnete die Verbindungstür und betrat die Wohnhalle. Harsts Sessel stand mit dem Rücken nach der Tür hin. Er saß mit gesenktem Kopf dort. Aber – wir hatten Besuch bekommen!

Wahrhaftig – im Sessel Harst gegenüber hatte kein anderer als unser Hausherr, der Edelsteinhändler, Platz genommen.

Er erhob sich jetzt schnell, eilte mir entgegen, rief:

„Lieber Herr Schraut, welches Unheil! Meine Frau ist verschwunden!“

Er reichte mir die Hand. Er sprach das Deutsche fast fehlerfrei.

„Wir werden sie finden, lieber Herr Tschong,“ tröstete ich ihn.

Er trug genau denselben Anzug wie damals, als wir ihn in Rangun unter so merkwürdigen Umständen kennengelernt hatten. Sein bartloses, intelligentes Gesicht mit der goldenen Brille sah jedoch recht wenig schmerzerfüllt aus, fand ich. Mehr noch: Der Ausdruck seiner Augen gefiel mir nicht. Es war etwas wie versteckter Hohn darin.

Er hielt meine Hand noch immer in der seinen. „Hoffen Sie wirklich, Helene wieder befreien zu können?“ meinte er hastig. „Haben Sie schon eine Spur entdeckt?“

„Aber gewiß. Das kann Ihnen Harald jedoch viel besser erzählen. Zum Beispiel die –“

Ich wollte „Papierkugel“ sagen, doch – da trat etwas so Unerwartetes ein, daß ich unwillkürlich aufschrie:

Harst war plötzlich mitsamt seinem Sessel nach hinten umgekippt!

Und – jetzt erst sah ich: Harst war mit dünnen, weißen Stricken an dem Korbsessel festgebunden und hatte einen Knebel im Munde!

Bevor ich noch recht wußte, was eigentlich geschehen, hielt mir Tschong eine Pistole vor das Gesicht.

„Keinen Laut, keine Bewegung!“ drohte er.

Nun endlich kam mir die Erleuchtung: es war gar nicht Tschong! Es war sein Zwillingsbruder Kuma Tawi. Die beiden sahen sich ja zum Verwechseln ähnlich, sprachen beide gleich gut meine, unsere Muttersprache.

Von hinten packte man jetzt meine Arme, riß sie nach rückwärts. Ich fühlte, wie man mir die Handgelenke fesselte, – und so roh fesselte, daß ich vor Schmerz hätte aufschreien mögen.

Dann setzte man mich in den zweiten Sessel, band mich fest, richtete Harsts Sessel wieder auf.

Kuma Tawi und zwei andere Chinesen waren unsere Überwinder. – Unser Todfeind rückte sich jetzt einen dritten Stuhl heran. Mir hatte man keinen Knebel zwischen die Zähne geschoben. Dafür stand hinter mir einer der Chinesen mit einem Revolver und drückte mir die Mündung gerade ins Genick. Und dieser kleine Kerl war – der Karrenschieber! Ich hatte ihn sofort erkannt.

Kuma Tawi musterte Harst höhnisch und rachsüchtig.

„Sie haben sich und den Sessel nur nach hinten übergekippt, um Ihren Freund Schraut zu warnen!“ sagte er nun. „Das hilft Ihnen nicht viel. Schraut wird sofort alles genau berichten – alles! Tut er es nicht, so drückt mein braver Gehilfe San Pio ab. Also, Herr Max Schraut, – zunächst die Frage: wer hat die beiden braunen Jungen hinter uns her geschickt? Die Burschen kamen uns in einem Kahn über den Fluß nachgerudert. San Pio merkte, daß es dieselben waren, die ihm Obst gestohlen hatten, als der Karren seine Ladung auf den Reitweg geschüttet hatte. Die Jungen liegen jetzt auf dem Grunde des Hugli.“

„Ich habe die Jungen mit Geld erkauft,“ erwiderte ich gleichmütig – scheinbar gleichmütig! Die kalte Revolvermündung auf der Haut war doch recht unangenehm.

„Das dachte ich mir,“ erklärte Kuma Tawi. „Sie waren vormittags also auch hinter uns her? In welcher Verkleidung?“

„In gar keiner. Ich war im Straßenanzug und saß auf einer Bank neben der Straße, als der Karrenschieber die vielen Zigaretten rauchte.“

„Und wo war Harst?“

„Schon zu Hause; er kroch auf einen Lastwagen unter ein paar Bündel Heu und fuhr so an Ihnen vorüber. Er wußte eben, daß ich das Weitere erledigen würde und besser wie er, den Sie doch trotz der Verkleidung erkannt hatten.“

„Hm – weshalb versicherten Sie mir denn soeben – mir als Tschong, daß Sie beide Frau Tschong schon finden würden.“

„Weil wir auf gute Nachricht von den beiden Jungen rechneten, die Sie – ermordet haben!“

„Ah – also deshalb!“ Er lachte ironisch auf. „Hat Harst mich denn erkannt? Vermutete er sofort, ich sei der „Macher“ dieser Entführung?“

„Allerdings erkannte er Sie. Und daß nur Sie diesen Streich ausgeführt haben könnten, war doch ziemlich klar.“

Kuma Tawi nickte. Er schaute Harst an, winkte dann San Pio und sagte: „Nimm Harst den Knebel heraus und stelle Dich hinter ihn.“

„Mein lieber Freund,“ begann der Verbrecher nun mit blutigem Hohn, „Sie sehen, daß ich diesmal der Sieger bin. Und – ich werde es bleiben. Denn Sie beide sollen den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Im Hugli-River ist noch viel Platz für steinbeschwerte Säcke, in denen sich deutsche Schnüffler befinden, und die Krokodile wollen doch auch mal Europäerfleisch kosten. – Ja – ich werde mir jetzt sogar noch die 810 000 Mark holen, die Sie mir gestern abjagten. Ich weiß in der Villa meines Bruders Bescheid. Frau Helene hat das Geld sicher in das Geheimfach im Arbeitszimmer Tschongs getan. Die Sache wird ganz glatt sich erledigen lassen. San Pio und ich werden uns mit Hilfe Ihres Requisitenkoffers gründlich verkleiden, werden dann in die Villa gehen und dem Hausmeister vorreden, wir seien Harst und Schraut und wir wollten nur mal die Zimmer durchsuchen. Ich wette, wir haben das Geld in spätestens einer Stunde. Dann nehmen wir Sie beide mit und – bereiten den Hugli-Krokodilen eine kleine Freude. – Was sagen Sie zu dem Plänchen, Herr Harald Harst, Überdetektiv auf dem – Aussterbeetat?“

„Es wird gelingen. Der Hausmeister wird sich täuschen lassen,“ erklärte Harst gelassen.

„Na also! – Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, hier Ihre Wohnung aufzuschlagen, hier in dem verrufenen Pavillon?“

„Ich wollte unbemerkt ein- und ausgehen können. Dazu eignete sich der Pavillon am besten, den ja auch Sie stets als Quartier benutzt haben, wenn Ihre Verbrecherfahrten Sie hierher führten. Sie waren der Geist, den die Dienerschaft Tschongs fürchtet. Es muß hier einen unterirdischen Gang noch aus den Zeiten des alten Hindutempels geben. Mit Hilfe dieses Ganges und einer Geheimtür konnten Sie dieses Quartier unbemerkt verlassen und betreten, und auf diese Weise haben Sie sich in unserer Abwesenheit hier auch eingeschlichen, sahen unsere Koffer und die Betten und merkten zu Ihrer Freude, daß Schraut und ich hier logieren wollten. Dann verbargen Sie drei sich hinter den Fenstervorhängen, drückten mir die Kehle zu und – Aber das wissen Sie ja alles viel besser als ich.“

Kuma Tawi winkte wieder. San Pio schob Harst den Knebel in den Mund. Dann verschwanden die beiden in unserem Schlafgemach. Der dritte Chinese, ein langer Kerl mit nur einem Auge und einem dünnen Vollbart, blieb als Wächter bei uns. Bei mir verzichtete man auf den Knebel. Nun – jeder Hilferuf wäre hier auch zwecklos gewesen.

Nach einer Viertelstunde kehrten Kuma Tawi und der kleine Halunke, der wirklich etwa meine Größe hatte, als bärtige Inder der reicheren Stände in die Halle zurück. Die Masken waren tadellos. – Kuma Tawi untersuchte unsere Fesseln, die aus Stricken bestanden, die aus Pferdehaaren gedreht waren – also unzerreißbar. Auch ich erhielt jetzt einen Knebel. Dann rückte man die Sessel mit dem Rücken aneinander, und San Pio wickelte eine Pferdehaarschnur mehrfach um unsere Hälse. Wenn wir jetzt die Sessel umgekippt hätten, würden wir uns der Gefahr ausgesetzt haben, uns selbst zu erwürgen.

Diese Stellung der Korbsessel war schlau durchdacht. Die Schnur um unsere Hälse machte uns völlig wehrlos.

Der dritte Chinese, den Kerl nannten sie Shanki, setzte sich mit gespanntem Revolver in den dritten Sessel. Dann schaltete Kuma Tawi das Licht aus und verließ mit dem Kleinen den Pavillon.

Wir waren mit unserem Wächter allein. Der lange Gelbe rauchte jetzt in einem fort Zigaretten und blies uns den Rauch gegen die Köpfe. In der Halle herrschte ein mystisches Halbdunkel.

Ich kam erst jetzt so recht eigentlich zur Besinnung. Und als ich nun unsere Lage überdachte, erinnerte ich mich an den Koch Büngli und dessen Warnungen vor dem verrufenen Pavillon. Wir befanden uns fraglos hier in einer sehr üblen Patsche. Wie sollten wir uns hier befreien, wo drei Schritt vor uns der Einäugige mit dem gespannten Revolver saß?! Das war ausgeschlossen.

Wir saßen Rücken an Rücken, Harald und ich. Unsere Hände lagen gefesselt im Kreuz. Aber – die Korbsessel waren hinten nicht völlig dicht. Die Rückenlehne bestand unten nur aus Weidenstäbchen, die etwa 5 Zentimeter Zwischenraum hatten.

Ich fühlte plötzlich eine Berührung meiner Hände.

Das wirkte wie ein Blitz. Aber wie ein Blitz, der sofort betäubt. Ich saß regungslos, wartete.

Die Berührung wiederholte sich. Harst mußte die Hände durch die Stäbe geschoben haben! – Er hüstelte jetzt. Unser Wächter blies uns noch immer mit Zigarettenrauch an. Auch ich begann zu krächzen und – schob meine Hände gleichfalls durch die Stäbe, spürte nun genau, wie Harald sie betastete und nach dem Knoten der Pferdehaarschnur suchte. Ich half ihm dabei, indem ich die Hände so drehte, daß er mit den Fingerspitzen bequemer an die Knoten herankonnte. – Aber – jetzt rüttelte er nur an dem Knoten, ließ wieder los, wiederholte das mehrmals, bis ich ihn endlich verstand: ich sollte ihm die Hände freimachen!

Und ich versuchte es. – Wir hüstelten, krächzten abwechselnd. Unser Wächter lachte schadenfroh. Und diese Geräusche übertönten das Knistern der Korbsessel, wenn wir die Arme zu stark bewegten.

Dann – der Knoten war gelöst! Ich wickelte noch die Schnur ab. Harst hatte die Hände zur Verfügung. Ich atmete auf. Ich wußte: bald würden wir die Sieger sein!

Harst rutschte jetzt sehr auffällig auf seinem Stuhle hin und her. Der Gelbe fiel prompt darauf herein, stand auf, fragte: „Was hast Du, weißer Schuft?! Sitz still, oder –“

Er hatte sich über Harst gebeugt. Zwei Hände fuhren blitzschnell nach vorn. Der Revolver flog in eine Ecke, und der Einäugige erhielt einen Boxhieb gegen den Magen, daß er halb ohnmächtig nach hinten überfiel. Ehe er sich noch erholt hatte, war Harst schon völlig frei. –

Und fünf Minuten drauf schien die Situation in der Halle genau so zu sein wie vordem. Wir saßen auf unseren Korbstühlen Rücken an Rücken, und der Chinese mit dem Rücken nach dem Eingang in dem seinen – nur gefesselt und geknebelt.

Wir brauchten nicht mehr lange zu warten. – Jetzt flüchtige Schritte auf der Treppe. Die Tür ging auf; das Licht wurde eingeschaltet.

Blendende Helle. Und Kuma Tawi rief sofort:

„Gratulieren Sie mir, Herr Harst –“

Er verstummte. Wir waren aufgesprungen, und unsere Repetierpistolen unterstützten Harsts Kommando:

„Hände hoch!“

Kuma Tawi erbleichte. Eine ungeheure Wut verzerrte sein bärtiges, geschminktes Gesicht.

„Schraut – binden!“ befahl Harst.

Ich nahm zuerst Kuma Tawi vor. Er wurde an den einen Sessel gefesselt, San Pio an den anderen. – Die beiden kannten Harst, wußten, daß er nie vorbeischoß.

„So,“ meinte Harald nun, „jetzt wollen wir Ihnen die Freude machen, zusehen zu dürfen, wie wir eine rote Ziffernschrift enträtseln.“ Er rückte den Tisch so, daß die drei Verbrecher auf der einen Längsseite saßen, wir auf der anderen.

Er holte aus seinem Taschenbuche den Zettel mit den Zahlen und dem Dreieck hervor, legte ihn vor sich hin und nahm Papier und Bleistift zur Hand.

„Den Zettel haben die beiden von Ihnen ermordeten Jungen als Papierkugel gefunden,“ sagte Harst so nebenbei.

Kuma Tawis Augen waren ganz weit aufgerissen – vor Angst! Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn.

Harst deutete jetzt auf den Zettel. „Lieber Alter, sieh Dir mal die Zahlen genau an. Es sind:

7 9 2 6 23 26 7 14 15 119

Zunächst weist die Spitze des Dreiecks auf die einzige 7, die die Ziffernreihe enthält. Dann – und dies ist ebenfalls sehr wichtig – kannst Du, wenn Du die Ziffern zum Teil zu zweien gruppierst, zweimal die Zahl 26 finden. Und – 26 Buchstaben hat das Alphabet! Das mag ein Zufall sein. Ich glaube es aber nicht, und will daher mal das Alphabet aufschreiben und die Buchstaben numerieren. So –“

A B C D E F G H I  J  K  L  M  N  O  P  Q
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

 R  S  T  U  V  W  X  Y  Z
18 19 20 21 22 23 24 25 26

„Wenn wir nun anstelle der beiden 26 den Buchstaben Z setzen, so können wir auch gleich die beiden ersten Ziffern 7 und 9 durch die Buchstaben ergänzen, was dann so aussieht: G I Z 23 Z – usw. Diese 23 hinter dem ersten Z kann nun sein entweder 9 und 3 oder 23, also entweder B C oder W. – Fügen wir mal versuchsweise beides ein – G I Z B C und G I Z W, worauf dann beide Male das zweite Z folgen würde. Das aber ergibt keinen Sinn. – Nehmen wir nun die durch die Dreieckspitze gekennzeichnete 7 zu Hilfe. Mit dieser Zahl muß es ja eine besondere Bewandtnis haben. Sie entspricht dem Buchstaben G. Mit diesem G haben wir kein Glück gehabt, wie das G I Z B C Z beweist. Drehen wir also den Spieß um und zählen wir im Alphabet den siebenten Buchstaben von hinten ab. Dann haben wir T. Machen wir’s genau so mit den andern. Nun sieht die Sache schon vernünftiger aus:

T R A W A T L K O R

habe ich hier zusammengestellt, allerdings nach einigen Proben. Denn Trawalkor ist ein kleines Fürstentum, zwei Meilen von Kalkutta ab, dessen Residenz ebenfalls Trawalkor heißt. Es ist mithin ein Buchstabe, nämlich ein T in dem Namen zu viel, und zwar gerade das T, das durch das Dreieck gekennzeichnet ist. – Ich gebe zu, dieses Resultat überrascht mich. Ich war auf eine andere Lösung vorbereitet. Aber Trawalkor hat Sinn, und die Residenz ist von Kalkutta aus im Auto in zwanzig Minuten zu erreichen, auch in einem Geschäftsauto, Kuma Tawi.“

Der Bruder des Edelsteinhändlers schaute vor sich hin. Sein Gesicht war förmlich erstarrt. Auch die beiden anderen stierten an uns vorbei.

Harald lächelte. „Ihre Mienen besagen genug. Trawalkor ist der Ort, wohin Frau Tschong gebracht wurde.“

Da fuhr Kuma Tawis Kopf in die Höhe. „Suchen Sie doch dort!“ zischte er. „Sie werden –“ Er biß die Zähne zusammen, senkte den Kopf wieder.

„Ich merke, daß ich mich hinsichtlich der Dreieckspitze und der im Namen Trawalkor überflüssigen Ziffer 7 geirrt habe,“ erklärte Harst nach kurzem Nachdenken. „Ich glaubte, die 7 würde der Schlüssel zu der Zahlenschrift sein. Aber sie ist wohl doch der Schlüssel zu etwas anderem.“

Kuma Tawi schaute flüchtig auf, senkte den Blick sofort wieder. Und dieser Blick hatte wie gebannt vor jähem Schreck ausgesehen.

Harst nickte mir zu, holte dann aus der Westentasche den anderen Zettel hervor, hielt ihn mir hin. Da stand in einer zitterigen Damenhandschrift:

„Helene, die Toten stehen auf! Komm’ sofort in das Haus links neben dem Hotel d’Angleterre.“

„Begreifst Du?!“ meinte Harald. „Frau Tschong muß die Schrift als die ihrer angeblich toten Schwester erkannt haben. Deshalb folgte sie diesem Rufe und ging in – die Falle. – Ich bezweifelte gleich, als der Hausmeister uns die Todesart Fräulein Anna Mirzbachs schilderte, daß das junge Mädchen wirklich tot sei. Dann fand ich diesen Zettel. Man wird Anna Mirzbach gezwungen haben, ihn zu schreiben. Und – Sie, Kuma Tawi, zwangen sie dazu!“

Der Verbrecher stieß eine heisere Lache aus, schwieg aber.

Harst erhob sich. „Geh’ jetzt nach der Villa hinüber,“ sagte er zu mir. „Rufe Blosley telephonisch an und bitte ihn, im Auto mit vier Beamten herzukommen. Er soll diese drei Leute wegbringen lassen, und dann werden wir mit ihm nach Trawalkor fahren und – suchen.“ Eine kleine Pause. „Wäre es nicht besser, Kuma Tawi, Sie legten ein Geständnis ab. Oder Sie täten’s, San Pio?“

Der kleine Kerl rief Harst eine nicht wiederzugebende Gemeinheit zu. Aber der Einäugige war weniger frech, erklärte nun:

„Mr. Harst, es ist richtig, Frau Tschong befindet sich in Trawalkor. Wo dort aber, das weiß ich nicht. Von einer Dame namens Mirzbach habe ich noch nie etwas gehört.“

„Schuft!“ zischte Kuma Tawi ihn an. „Du wirst –“ Er beendete den Satz nicht.

– – – – – – – –

Und Inspektor Blosley erschien – mit sehr bescheidenem Gesicht! War überhöflich, war sogar ehrlich genug zuzugeben, daß er aus Ehrgeiz den Fall Tschong allein hätte erledigen wollen. – Dann wurden Kuma Tawi und San Pio abgeführt. Der Einäugige gab noch an, daß der eine der Inder, die Frau Tschong im leeren Hause überfallen und dann das Geschäftsauto zu deren Transport benutzt und nachher wieder zurückgebracht hätten, von Kuma Tawi den Zettel mit der Weisung erhalten hatte, ihn auf den Obstkarren zu werfen als Zeichen, daß sie den Streich ganz unbehelligt erledigt hätten. Kuma Tawi sei ihnen dann allein in einem Personenauto gefolgt. Das sei alles, was er wisse. Die beiden Inder kenne er persönlich nicht. Es dürften aber wohl Leute aus Trawalkor sein. – Er zeigte uns dann noch die Geheimtür im Fußboden der Halle und erklärte, der unterirdische Gang münde 200 Meter weiter nach Westen in den Ruinen eines anderen kleinen Hindutempels. – Auf Harsts Bitte ließ Blosley den Kerl dann laufen. Wir drei aber und noch ein Geheimpolizist machten uns nun auf den Weg nach Trawalkor.

Dieses Miniatur-Fürstentum liegt östlich von Kalkutta. Die Straße dorthin war in leidlich gutem Zustand. Unser Auto schaffte die zwei Meilen in weniger als zwanzig Minuten, hielt genau um ½9 abends vor dem Polizeigebäude der Residenz, wo uns der dortige Polizeidirektor, ein Engländer namens Champlay, nach Anhören des Sachverhalts bedeutete, es sei ganz ausgeschlossen, daß hier in der Stadt mit ihren nur 10 000 Einwohnern zwei Europäerinnen gefangengehalten würden. – Harst behauptete nämlich, auch Fräulein Mirzbach müsse sich hier befinden, was Champlay ungläubig belächelte.

Harald blieb jedoch bei seiner Behauptung. „Die beiden Damen sind hier!“ sagte er bestimmt. „Wenn nicht in der Stadt selbst, dann in der Nähe.“ Er holte den Zettel mit den Zahlen und dem Dreieck hervor, zeigte ihn Champlay und fragte: „Gibt es vielleicht in der Umgegend von Trawalkor ein Gebäude, das einem Chinesen gehört?“ – Der Inspektor verneinte.

„Oder eine Besitzung, die irgendwie mit einem Dreieck etwas zu tun hat oder mit der Zahl 7?“ forschte Harst hartnäckig weiter.

Da schlug Champlay sich plötzlich gegen die Stirn. „Himmel – Sie haben recht, Mr. Harst! Die „Triangel-Farm“ nennt man hier seit langen Jahren eine kleine Plantage, die von drei Flüßchen begrenzt wird und auf der ein uralter Turm steht, ein sehr merkwürdiges Bauwerk, das dreieckig ist! Die Farm ist Eigentum eines Franzosen, seit vielleicht zwei Jahren. Der Mann lebt ganz zurückgezogen, hält sich nur zwei indische Diener. Was er treibt, weiß so recht niemand. Er heißt Gaston Vinzelle, und –“

Harst winkte ab. „Genug davon. Wie weit ist es bis zu der Farm und dem Turm?“

„Zu Fuß vielleicht eine halbe Stunde –“

„Dann benutzen wir noch für den Hauptteil des Weges das Auto. Vorwärts! In solchen Fällen verliere ich nicht gern auch nur eine einzige Minute.“ – Der Kraftwagen passierte nach fünf Minuten eine Holzbrücke. – „Wir sind auf der Triangel-Farm,“ erklärte Champlay.

Harst ließ halten. In aller Stille schlichen wir den Farmgebäuden zu, die inmitten eines gutgepflegten Gartens lagen. Alles hier machte, und das erkannte man selbst jetzt nach Eintritt der Dunkelheit, einen sehr sauberen Eindruck. In dem einstöckigen, weißgestrichenen Wohnhause waren zwei Fenster erleuchtet. Um das ganze Haus lief, wie bei allen Bungalows (ländliche Europäerwohnungen), eine überdachte Veranda herum. Unbemerkt gelangten wir auf die Veranda und vor die erleuchteten Fenster. Die Vorhänge waren nur lässig zugezogen und schlossen in der Mitte nicht.

Nun kam für uns die nie geahnte Überraschung, kam der völlig unerwartete Abschluß dieses Abenteuers.

Das Zimmer, zu dem die beiden Fenster gehörten, halb Speise-, halb Wohnzimmer, beherbergte zwei Personen: eine blonde, sehr blasse Frau, die durch Kissen gestützt in einem Lehnstuhl saß, und einen schlanken, gut aussehenden Europäer, der neben der Kranken Platz genommen hatte.

Da die oberen Fenster weit geöffnet waren, konnte man unschwer jedes Wort verstehen, das der Mann – es war Gaston Vinzelle – zu der Frau jetzt sprach. Sein Deutsch klang etwas hart, war aber fehlerfrei.

„Mein Liebling. Verlaß Dich darauf: Deine Schwester wird schon noch kommen! Der Zettel muß seine Wirkung tun. Dann werden wir mit Helene beraten, wie wir am besten die Öffentlichkeit darüber aufklären, daß Du noch am Leben, daß Du mir verziehen und mich lieben gelernt hast und nun mein angebetetes Weib werden willst. Kuma Tawi wird Helene schon sicher hierher geleiten. Er hat das Geld bereits erhalten, und er ist schlau.“ Er streichelte ihre zarten Hände, fuhr fort: „In dieser Beziehung müssen wir Deine Krankheit beinahe segnen, da sie es gewesen, die uns nun endlich zu dem Entschluß kommen ließ, all diesen Geheimnissen ein Ende zu machen.“

Harst flüsterte jetzt plötzlich: „Warten Sie hier auf mich und Schraut. Wir werden die Sache sofort klären.“

Wir läuteten dann an der Haustür. Die beiden Fenster wurden dunkel. Nach einer Weile erschien ein indischer Diener.

„Mr. Vinzelle ist daheim. Hier, bringe ihm meine Karte,“ sagte Harst kurz und trat in die Vorhalle. Der Diener hatte die Laterne die er mitgebracht hatte, stehen lassen. Kaum war er nach links im Hausgang verschwunden, als wir hinter ihm drein huschten.

Hinter einer Tür hörten wir flüstern. Harst drückte die Tür auf, sagte sofort:

„Mr. Vinzelle, es liegt für Sie kein Grund zur Beunruhigung vor. Ich komme als Freund, der eine große Schurkerei, deren Opfer Sie geworden, Ihnen mitteilen will. Mein Name bürgt Ihnen für die Wahrheit meiner Worte. Ich bin der Liebhaberdetektiv Harald Harst.“

Gleich darauf stellte uns Vinzelle seine Braut, Fräulein Anna Mirzbach, vor. Wir erfuhren nun die abenteuerliche Geschichte dieser Liebe, die bei Vinzelle auf dem Dampfer begonnen hatte, der Anna Mirzbach nach Kalkutta geführt hatte. Vinzelle war in seiner tollen Leidenschaft, die die Geliebte damals nicht erwiderte, zu allem fähig. Mit Hilfe von bestochenen Matrosen inszenierte er den Unfall und brachte Anna Mirzbach, die einen Schlaftrunk erhalten hatte, nach dem alten Turme der Triangel-Farm, deren Besitzer er seit einem halben Jahre war. Er hatte seine Gefangene dann so zart und liebevoll behandelt, daß seine Liebe allmählich gleiche Gefühle in ihr weckte. Immerhin vergingen darüber fast anderthalb Jahre. Jetzt vor etwa vier Wochen war Anna Mirzbach recht schwer an Fieber erkrankt. Da war Vinzelle vor drei Tagen in Kalkutta Kuma Tawi begegnet, den er nur oberflächlich und unter einem anderen Namen kannte. Er hatte ihn gefragt, ob er es übernehmen würde, Frau Tschong den Zettel zu übermitteln und sie dann auch nach der Triangel-Farm zu bringen. Dafür hatte Kuma Tawi 100 Pfund erhalten. Natürlich hatte die Sache ohne jede Gewaltanwendung erledigt werden sollen.

Hier unterbrach Harst Vinzelle. „Das weitere kann ich Ihnen schildern. Der Verbrecher hat den Zettel dazu benutzt, Frau Tschong in eine Falle zu locken und zu entführen. Ihre beiden Diener wird er bestochen haben. Sie halfen ihm. Der der uns soeben die Haustür öffnete, war der Chauffeur des Autos, mit dem Frau Tschong verschleppt wurde. Kuma Tawi hat heute dann dieselbe Summe, die er schon einmal erpreßt hatte, gestohlen. Er ist jedoch gleich nachher verhaftet worden, und das Geld wurde so gerettet. Frau Tschong hat er fraglos zu einem neuen Erpressungsversuch benutzen wollen. Er hält sie jetzt dort verborgen, wo auch Ihre Braut offenbar zuerst als Gefangene, wenn auch als eine mit aller Rücksicht behandelte Gefangene lebte: in dem dreieckigen alten Turme!“

Vinzelle sprang auf „Im Turme?! Auf meinem Grund und Boden?! Dann können nur meine Diener diesem Schuft das Geheimnis des Turmes verraten haben!“

„So wird es sein,“ nickte Harst. „Und zwar durch eine ziemlich primitive Geheimschrift. – Hier ist der Zettel mit den roten Zahlen und dem Dreieck. Sehr wahrscheinlich hat die Ziffer 7, auf die die Dreieckspitze hinweist, mit dem Geheimnis des Turmes etwas zu tun.“

„Allerdings, Herr Harst. Der Turmeingang ist zugemauert. Dafür gibt es an der Nordecke sieben Meter über dem Boden eine Geheimtür, die in zwei recht behagliche Gemächer führt, deren Fenster nach innen, nach dem Lichtschacht des mächtigen Bauwerks, gehen. – Brechen wir sofort auf. Wenn Helene Tschong sich dort befindet ist sie in kurzem frei.“

Und – sie war dort! – Aufschluchzend umklammerte sie Harst, der das arme Weib dann jedoch schnell zu beruhigen wußte. Vorsichtig brachte er ihr noch die frohe Botschaft bei, daß ihre Schwester wirklich lebe. – Wir wurden Zeugen der Wiedersehensszene. Dann kehrten wir nach Kalkutta in unseren Pavillon zurück. Wir waren müde und abgespannt. Beim Zubettgehen sagte Harst noch zu mir: „Diesmal hat mir mein Liebhaberberuf wirklich Freude gemacht, trotzdem ich mich in manchen Punkten dieses Problems gründlich geirrt habe. Wer konnte aber auch ahnen, daß es in Trawalkor bereits eine Gefangene gegeben und daß die Allmacht Liebe alles so glücklich gewendet hatte!“ –

Kuma Tawi und San Pio wurden später zum Tode verurteilt und gehängt. Wir blieben noch eine Woche als Gäste bei Tschongs und machten auch noch die Hochzeit des jungen Paares mit. Dann führte uns eine neue Aufgabe an die Grenze des Himalayalandes[4] Nepal.

 

 

Nur ein Stückchen Eis.

 

Es war am Abend nach der Hochzeitsfeier der Schwester der Frau Helene Tschong mit Gaston Vinzelle. Wir hatten gegen zehn unseren Pavillon in der Maske zweier vollbärtiger, älterer Matrosen verlassen und saßen um halb elf an einem Tische im Zuschauerraum des chinesischen Theaters. Die Vorstellung hatte um 9 Uhr bereits begonnen. Wir kamen gerade zum 4. Akt des Schaustückes zurecht.

An unserem Tische saßen noch zwei Leute, ein Inder mit prachtvollem, langem Bart und ein Europäer mit einer für Indien geradezu krankhaft bleichen Gesichtsfarbe.

Harst hatte mit dem Europäer sehr bald ein Gespräch angeknüpft. Ich achtete nicht weiter darauf. Ich hörte nur, daß der gutgekleidete, blasse Herr das Englische mit jenem Akzent sprach, wie es die Amerikaner tun.

Harst bestellte für uns bei der Kellnerin, einer jungen Chinesin mit dick mit Schminke bedecktem Gesicht, zwei Eislimonaden. Im Saale herrschte nämlich eine furchtbare Hitze.

Plötzlich stieß Harst mich mit dem Fuße an, flüsterte gleichzeitig: „Achtung!“

Das genügte für mich. Ich mußte also notgedrungen die Vorgänge auf der Bühne nur noch mit halbem Auge und Ohr genießen und mich mehr um das bekümmern, was in unserer Nähe geschah. Fraglos war letzteres ja auch recht bedeutungsvoll und anregend, denn ohne Grund hätte Harald ja meine Aufmerksamkeit kaum auf andere Dinge gelenkt.

Zunächst schaute ich mich wie absichtslos um. – Ich muß hier erklären, wie wir an dem viereckigen Tische saßen. Ich hatte meinen Platz an der einen Längsseite des Tisches mit dem Gesicht gerade nach der Bühne hin. Links von mir saß Harst an der einen Schmalseite. Dann kam der Amerikaner, der seinen Stuhl halb gedreht hatte, so daß er sich sowohl mit Harst unterhalten als auch die Vorgänge auf der Bühne verfolgen konnte. Der Inder hatte die andere Schmalseite Harst gegenüber inne.

Der Tisch war nur klein. Die Stühle waren Bambussessel mit Armlehnen. Auf dem Tische standen außer den Gläsern mit den Getränken und zwei Karaffen noch zwei Aschbecher mit Zündholzbehältern und eine Glasschale mit Eisstückchen.

Ich hatte mich also umgeschaut, jedoch nach dieser Seite hin nichts irgendwie Auffallendes bemerkt. Harsts rechte Hand ruhte auf der Tischplatte. Ich sah nun, daß er mit dieser Hand eine bestimmte Bewegung machte und dann mit dem Zeigefinger auf den Tisch tippte.

Ich verstand: ich sollte auf unseren Tisch achten, das heißt also auf die beiden Leute, die mit uns zusammensaßen. Ich beugte mich nun etwas über den Tisch, als wollte ich recht genau das Spiel auf der Bühne mir ansehen. In Wirklichkeit hatte ich dabei lediglich die Absicht, das leise Gespräch zwischen Harst und dem blassen Amerikaner zu belauschen.

Soeben hörte ich nun den Blassen, der völlig bartlos war und der sehr unruhige graue Augen hatte, sagen:

„Wenn Sie das hinter sich hätten, Master, was ich in den letzten Monaten durchgemacht habe, würden Sie auch nicht so tiefbraun aussehen, glauben Sie mir.“

Harst zuckte die Achseln. „Ich hab’ mein Lebtag mich nicht mal vor des Teufels Großmutter und meiner eigenen Schwiegermutter gefürchtet! Verdammt, Master, – bei mir würd’ schon was dazu gehören, mein Herz wie ’n Schmiedehammer vor Angst klopfen zu lassen.“

Der Fremde blickte vor sich hin. Dann meinte er:

„Master, es gibt eine Art Furcht, die jedem langsam das Mark aus den Knochen saugt: die Furcht vor – dem unsichtbaren Verhängnis!“

Harst lachte spöttisch auf. „Unsichtbares Verhängnis – Blech! Unsichtbare Dinge, die uns schaden können, existieren nicht, wenn man eben von giftigen Gasen und Ähnlichem absieht.“

Der Blasse preßte die Lippen zusammen. Er besaß eine breite Kinnpartie, die fast brutal-energisch wirkte. Er war auch breitschultrig und kräftig, und doch drückte sein Gesicht bei näherer Prüfung etwas wie ständige, angstvolle Wachsamkeit aus. Seine Linke, die das Absinthglas umklammert hatte, schloß sich jetzt wie im Krampf um das Trinkglas. Da – ein Klirren; Scherben fielen auf den Tisch. Er hatte das dicke Glas mit den Fingern zerdrückt! – Das war ein Beweis für Muskelkräfte seltener Art.

Die chinesische Kellnerin schlängelte sich herbei, nahm die Scherben weg und brachte ein anderes Glas, in dem zwei Daumenhoch Absinth sich befand.

„Ihre Nerven sind zum Teufel, Master!“ flüsterte Harst jetzt. „Und wenn Sie da noch Absinth saufen, wird man Sie bald in eine Irrenanstalt stecken!“

„Oh – mir wäre das schon recht, denn dort – würde ich ja sicher sein vor dem, was ich das Unsichtbare nenne.“

Harst stopfte seine kurze Pfeife. „Sie können einen wirklich neugierig machen, Master, – tatsächlich. Bei allen 399 Göttern der Hindus: Sie sind mir ein reines Rätsel! Ein Mann wie Sie, der ein dickes Glas wie ’ne Blechbüchse eindrückt, sollte doch –“

Da fiel der Vorhang. Das Licht im Saale flammte wieder auf. Bisher hatte nur ein mäßiges Zwielicht geherrscht.

Der Amerikaner musterte jetzt die Nebentische mit Augen, als wäre er ein Geheimpolizist auf der Verbrecherjagd. Dann nahm er ein Stückchen Eis aus der Glasschale, warf es in den Absinth und goß das Glas halb voll Wasser aus einer der Karaffen. Langsam rührte er die Flüssigkeit mit dem dünnen Trinkrohr um. Das Eisstückchen klirrte dabei leise gegen die Wandung des Glases, wurde kleiner und kleiner und löste sich bald ganz auf.

Ich hatte mich in meinen Sessel zurückgelehnt und rauchte eine Zigarette, sah scheinbar zu den Logen empor und prüfte dabei ganz unauffällig die Person des vierten Tischgenossen, des Inders.

Doch – der Mann sah durchaus harmlos aus. Er trug einen weißen Leinenanzug, dazu Turban, weichen Umlegekragen und gestreifte Krawatte, in der eine Nadel von sehr eigenartiger Form steckte. Die Nadel erinnerte an einen Tigerkopf. Die Augen bestanden aus kleinen Smaragden.

Die Logen oben waren nur schwach besetzt. Rechter Hand von der Bühne saß in der ersten Loge nur eine einzelne Dame. Sie fiel mir auf, weil sie einen weißen, gestickten Schleier trug, der recht dicht war. Die nächsten beiden Logen waren leer. Dann folgten zwei, in denen sich größere Gesellschaften von Europäern befanden, die sich sehr laut benahmen.

Ein Ausruf Harsts lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Amerikaner.

„Master – fehlt Ihnen etwas?“ hatte Harald sehr hastig gefragt.

Der Blasse, Breitschultrige saß jetzt ganz zusammengesunken da. Sein Gesicht war entsetzlich verzerrt. Seine weitaufgerissenen Augen stierten Harst wie hilfeflehend an.

Dann stieß er mühsam und lallend hervor:

„Das – das Unsichtbare – wieder da. – Retten Sie mich – Gift – Gift –“

Er schwankte plötzlich auf seinem Stuhl, sank vornüber. – Harst fing ihn auf, nahm ihn in die Arme, rief den Leuten am Nebentische zu:

„Platz, – der Master ist unwohl geworden!“

Ich war gleichfalls aufgesprungen.

„Warte hier auf mich,“ fügte Harst hinzu. „Ich bin gleich wieder da, Bill.“ Das galt mir. Und auch das Folgende, mir nur zugeraunte:

„Lauf’ sofort zum Ausgang und bleibe der weißverschleierten Dame aus der ersten Loge auf den Fersen.“

Man machte Harst Platz. Ich ließ ihn etwas voraus, eilte dann hinterdrein. Aber – eins bemerkte ich noch vorher: der Inder von unserem Tisch war spurlos verschwunden! – Und ein zweiter Blick in die Logen hinauf zeigte mir, daß die Verschleierte an der Brüstung stand und – Harst und seiner Last nachschaute!

Im Nu hatte ich den Theaterausgang erreicht, stellte mich so auf, daß ich nicht weiter auffiel, und wartete.

Zehn Minuten vergingen, – eine Viertelstunde. Inzwischen hatten verschiedene Leute das Theater verlassen, nur „unser“ Inder nicht und ebensowenig die Dame, die ich unbedingt an ihrem weißen Strohhut und dem gestickten Schleier wiedererkannt hätte.

Dann fuhr draußen ein geschlossenes Auto vor. Ein Weißer sprang heraus. Ihm folgten zwei bartlose Inder in europäischer Tracht.

Und dieser Weiße war unser alter Bekannter, Detektivinspektor Blosley.

Er schoß förmlich an mir vorüber, so eilig hatte er’s. Seine beiden Beamten postierten sich vor der Tür und faßten jeden Hinaustretenden scharf ins Auge.

Nach abermals etwa fünf Minuten kam Harst und sagte ganz laut:

„Verdammt, Bill, mach’ fix. Der nächste Akt hat lange begonnen.“

Wir gingen und setzten uns wieder an unseren Tisch. Ich sah, daß die Kellnerin bereits abgeräumt und nur noch unsere Gläser hatte stehen lassen.

Harald hatte nur noch Interesse für die Bühne. Aber – er bestellte jetzt kalten Grog, auch für mich, wurde recht lebhaft und spielte den leicht Angeheiterten, der immer noch nicht genug „auf die Lampe gegossen hat“.

Als der Akt zu Ende war und es hell wurde, kamen ein paar Seeleute von den Nebentischen zu Harst und wollten wissen, wie’s dem blassen Master ging.

„Tot,“ sagte Harst kurz. „Mausetot! Herzschlag, hat der Arzt entschieden.“

„Und wer war der Mann?“ fragte einer der Neugierigen.

„Keine Ahnung! Er konnt’s nicht mehr angeben, und in seinen Kleidern fand sich nichts, das über seine Person Aufschluß gab.“

Er rief dann die Kellnerin herbei, zahlte, scherzte mit der Chinesin, nahm mich unter den Arm und ging pfeifend den Gang zwischen den Tischen entlang.

Auch auf der Straße spielte er weiter den Bezechten, gröhlte ein Seemannslied und schwenkte mit mir in eine Bar ein, wo wir am Büfett noch einen kalten Punsch tranken.

Das ganze Verhalten Harsts deutete darauf hin, daß er sich ständig beobachtet glaubte. Ich machte die Komödie also nach Kräften mit.

Die Bar war recht besetzt. Harst wurde immer lustiger. Nach zehn Minuten brüllte er dann:

„Bill, nun zur Koje! Ich bin voll wie eine alte Hafenschute!“

Er taumelte mir voran dem Ausgang zu. Dabei torkelte er auf einen feingekleideten, jungen Europäer, der die an der Innenseite der Tür hängenden Telegramme über die letzten Wettrennen studierte.

Der Europäer trat wortlos beiseite. Harst blieb stehen, krakeelte:

„He, Sie machen so ’n Gesicht, als hätt’ ein dreck’ger Chinese Sie berührt, Master! Ich bin John Smooks von der Brigg Barewell, und John Smooks läßt sich nicht so ansehn, Master, – verdammt, das läßt er nicht! Noch dazu von so ’nem geschniegelten Laffen wie Sie!“

Er redete sich scheinbar immer mehr in Wut. Dann packte er plötzlich zu, bekam den jungen Europäer bei der Schulter und versetzte ihm mit der anderen Hand einen Boxhieb vor die Magengrube, daß der Jüngling zu Boden fiel und sich japsend den Bauch hielt.

Auffallend schnell erschienen jetzt auf den Lärm hin, den die Gäste der Bar infolge dieses Streites verursachten, zwei Polizeibeamte, die nicht nur uns beide, sondern auch den jungen Menschen kurzer Hand mit auf die Wache nahmen. Hier sperrte man Harst und mich in eine Zelle, in der sich lediglich eine Holzpritsche befand und wo an der Decke eine elektrische Birne glühte.

Als die Tür hinter uns zufiel, wurde Harald sofort ein anderer, flüsterte:

„So – wir haben diese erste Partie gewonnen!“

– – – – – – – –

„Erste Partie? Was heißt das?“

„Oh, das heißt sehr viel! – Du wirst das sehr bald erfahren. Ich konnte den Jüngling nicht anders der Polizei in die Hände spielen. Der Boxhieb war eine Roheit. Aber Mördern gegenüber ist jedes Mittel mir recht.“

Ich begriff jetzt so halb und halb die wahre Bedeutung der Szene in der Bar. – Harst hatte sich auf die Pritsche gesetzt und eine seiner geliebten Mirakulum angezündet. Ich nahm neben ihm Platz.

„Wer war dieser Jüngling?“ begann ich wieder.

„Einer, der uns vom Theater an nachgeschlichen war.“

„Ah – so! Ein Spion mithin.“

„Spion?! Auch das! In der Hauptsache aber sehr wahrscheinlich: Gehilfe eines Giftmörders!“

„Also des Mörders des Amerikaners –“

„Ja.“

„Weshalb sagst Du: „sehr wahrscheinlich“ –?“

„Weil Blosley das erst feststellen muß. Wenn der Jüngling eine verkleidete Dame ist, – dann ist er’s!“

„Du sprichst wie das Orakel in Delphi. Deine Antworten entbehren der Klarheit.“

Da wurde die Tür wieder geöffnet. Ein Polizeibeamter rief uns zu:

„Sie sind entlassen!“

Wir gingen hinaus. Harst hatte mich wieder untergehakt. Er war wieder in jeder Bewegung der angeheiterte Matrose mit dem schweren, unsicheren Gang.

Auf der Straße wandten wir uns dem Hafen zu. Harst mietete ein Boot. Als der Jollenführer, ein Inder, etwa 50 Meter vom Bollwerk entfernt war und nun fragte, wohin es gehen solle, brüllte Harst:

„Geradeaus, dann rechts – nach der Brigg –“

Ich behielt die Stelle des Bollwerks, die wir soeben verlassen hatten, unter steter Beobachtung, konnte aber weder dort noch in der Nähe eine lebende Seele erblicken. Die elektrischen Bogenlampen erleuchteten die Kais fast taghell.

Der Jollenführer ruderte sehr schnell. Nach fünf Minuten erklärte Harst wütend: „Verdammt, das ist hier ja ’ne ganz falsche Gegend! Wo sind wir eigentlich? – Nach den Kais zurück, brauner Halunke!“

So legten wir denn weiter oben am Bollwerk[5] an. Harst bezahlte den Jollenführer sehr anständig, und dann gingen wir zwischen den Speichern nach Osten zu, bis wir in den Maidan-Park kamen.

Jetzt erst wurde aus dem trunkenen Jan Maat wieder Harald Harst.

„So,“ meinte er, „nun können wir uns sicher fühlen, mein Alter. Ich sage Dir, dieser Abend hat uns eine neue Aufgabe eingebracht, die der reine Rattenkönig von Rätseln ist. Du weißt doch, was ein Rattenkönig ist?“

„Ja – Ratten, deren Schwänze zusammengewachsen sind.“

„Stimmt. – Machen wir jetzt, daß wir nach Hause kommen. Blosley ist vielleicht schon da. Ich bin gespannt, was er berichten wird.“

„Ist denn der Amerikaner wirklich tot?“

„Ja. Wenigstens offiziell, das heißt: für die Öffentlichkeit. Er wird sogar auf meinen Wunsch begraben werden, natürlich ein leerer Sarg. – Diese Sache will ich eben von vornherein mit größter Vorsicht anpacken. Wir kämpfen hier gegen Leute, die sehr schlau sein müssen und sehr – rücksichtslos. Damit Du nicht wieder mir den Vorwurf machst, ich spielte stets mit verdeckten Karten, will ich Dir gleich sagen, daß die ganze Geschichte folgendermaßen in Fluß kam. Ich merkte an unserem Tische als erstes, daß der Inder mit der Verschleierten in der Loge allerlei Zeichen wechselte – durch Handhochheben – und so weiter. Dann als zweites, daß er sich alle Mühe gab, mein Gespräch mit dem Ingenieur Robin Parmang zu belauschen. So heißt der Amerikaner nämlich. Drittens fiel mir auf, daß der Inder so kleine Eigentümlichkeiten an sich hatte, die nur ein Europäer sich zu eigen macht. Ich will das nicht näher ausführen. – Als dann das Licht in der Pause aufflammte, hatte ich sehr bald festgestellt, daß der elegante Hindu – kein Hindu und daß sein schöner Bart angeklebt war. – Nun passierte das Wichtigste: Robin Parmang mischte sich den neuen Absinth, sog an der Röhre, nahm so zwei Schlucke, stellte das Glas wieder hin und spürte in einer halben Minute bereits die Wirkung irgend eines Giftes.“

„Das also in dem Absinth enthalten gewesen sein muß,“ fügte ich ein.

„Natürlich – in dem zurechtgemischten Absinth. – Ich trug Parmang dann in ein Nebenzimmer. Ein Schiffsarzt war uns freiwillig schon gefolgt. Es war ein Landsmann von uns, ein Doktor Köhler. Wir schlossen uns mit dem bereits bewußtlosen Parmang ein, riefen ein künstliches Erbrechen hervor, gossen ihm Wasser in den Mund, zwangen ihn zum Schlucken, spülten den Magen durch mehrfaches Erbrechen gründlich aus und erreichten so, daß der bereits sehr schwache Puls wieder kräftiger wurde. In dem Zimmer – es war das des Direktors des Theaters, befand sich ein Telephon. Ich rief die Polizeidirektion an. Blosley war noch dort. So konnte ich ihm gleich einige Verhaltungsmaßregeln geben. Er kam dann, wir ließen ihn ein, schlossen die Tür wieder zu. Gerade da kehrte Parmang das Bewußtsein zurück. Er konnte uns folgendes mitteilen:

Er war seit einem Jahr in Nepal als Ingenieur bei einer Silberminengesellschaft beschäftigt. Vor dreieinhalb Monaten wurde dann das erste Attentat auf ihn versucht – durch eine Büchsenkugel. Nach acht Tagen folgte ein Mordversuch durch drei Kobras, die man in seine Wohnbaracke eingeschmuggelt hatte. Nach vierzehn Tagen Nummer drei: ein Überfall durch einen vermummten Kerl. Und so ging es weiter bis vor drei Wochen. Im ganzen ist Parmang 16 Attentaten glücklich entgangen. Aber seine Nerven hielten diese Tortur nicht aus. Er verließ Nepal wie ein Flüchtling, wandte sich nach Simla. (Simla, die Sommerresidenz des Vicekönigs von Indien, gleichzeitig Luftkurort.) Dort wieder zwei Attentate. Da ist er denn weiter geflohen und auf Umwegen hier nach Kalkutta gekommen. Seit gestern früh wohnt er im Hotel Royal – unter anderem Namen, aus Vorsicht. Und heute wär’s nun wohl mit ihm aus gewesen, wenn er nicht Doktor Köhler und mich als Helfer gehabt hätte. – Das seltsame an alldem ist, daß er nicht weiß, weshalb man ihm nachstellt, und daß er noch nie einen seiner Feinde zu Gesicht bekommen hat.

So, mein Alter, wenn ich Dir nun noch mitteile, daß ich Blosley den Vorschlag machte, Parmang zum Schein sterben zu lassen, und daß ich ihn bat, zwei Polizeibeamte vor der Bar unweit des Theaters zu postieren, – wenn ich noch hinzufüge, daß ich an Deiner Anwesenheit im Vestibül des Theaters erkannte, daß Dir die beiden Verdächtigen – Inder und Verschleierte – durch die Lappen gegangen sein mußten, da Du ja da draußen noch immer standest, dann – weißt Du nun wirklich alles.“

Wir waren jetzt dicht bei der Ruine des kleinen Hindutempels angelangt. Aus dem Schatten der Büsche löste sich eine Gestalt heraus: Blosley, der Detektivinspektor, jetzt ein glühender Bewunderer Harsts, einst ein engherziger Neider!

Wir drei stiegen in den geheimen Gang ein und saßen fünf Minuten drauf sehr behaglich in der Wohnhalle unseres Pavillons um einen runden Tisch herum.

„Nun, Blosley?“ fragte Harald.

„Sie haben wieder mal recht gehabt,“ erklärte der Inspektor und verbeugte sich. „Wir haben in der Toilette, die zu den rechten Logen gehört, ein weißes Damen-Leinenkostüm und einen weißen, gestickten Schleier gefunden, dazu noch eine blonde Damenperücke.“

„Aha – also ist der bartlose Bar-Jüngling, der uns vom Theater aus nachschlich, wirklich die Logen-Dame gewesen! Sie trug eben unter dem Damenkostüm den schicken Flanellanzug, in dem sie ganz ungehindert das Theater verließ und mir darum auf den Fersen blieb, gegen den sie irgendwie Verdacht geschöpft haben muß.“

„Es war keine „Sie“, es war ein „Er“, wie ich auf der Polizeiwache feststellte,“ meinte Blosley eifrig. „Und dieser „Er“ nannte sich Jones Bickpool und hatte auch Papiere auf diesen Namen bei sich: Jones Bickpool, Artist aus Bombay. – Ich mußte ihn laufen lassen. Er behauptete, sich hier nur auf der Durchreise zu befinden. Ich war natürlich sehr höflich zu ihm. Er wohnt hier im – Hotel Royal!“

„Aha – auch im Royal, wie Parmang! Recht vielsagend.“

„Allerdings. – Von dem zweiten Kerl, dem als Inder verkleideten, haben wir leider nichts mehr bemerkt – nichts! Der ist wie in die Erde gesunken,“ meinte Blosley nun.

„Er wird es genau so gemacht haben wie der Bickpool: Bart ab, Schminke ab, und dann als bartloser Europäer ruhig an meinem lieben Schraut vorbei ins Freie oder – – oder wieder hinein in den Saal, um uns beide zu belauern! Ich halte das letztere für das wahrscheinlichere. Jedenfalls habe ich den Burschen auch nicht mehr aufspüren können. Nachgeschlichen ist er uns nicht. Das machte ich durch eine Bootfahrt unmöglich.“

„Und das Gift, Mr. Harst?“ fragte Blosley zögernd. „Sie taten doch so, als wüßten sie, wie es in den Absinth gelangt ist. Hat etwa die chinesische Kellnerin die Hand mit im Spiel?“

„Nein, Blosley. Die Sache ist weit raffinierter. Auf unserem Tische stand eine Glasschale mit Eisstücken. Ich sah, wie der Inder wie spielend die Schale mehrmals drehte. Ich war da noch ganz ahnungslos. Sonst hätte ich ja Parmang am Trinken gehindert. – Der Inder hat, so behaupte ich, ein präpariertes Eisstück in Bereitschaft gehabt und es so auf die Schale gelegt, daß es für Parmang am bequemsten lag. Die Eisstücke waren schon arg klein geworden. Nur ein größeres war noch darunter und lag oben auf den anderen. Zu spät besann ich mich, daß dieses Stück vorher nicht dagewesen. Erst als bei Parmang die Vergiftungserscheinungen sich zeigten, dachte ich an das große Eisstückchen, das er in den Absinth geworfen und das noch während des 4. Aktes nicht auf der Schale gelegen hatte.“

„Himmel – eine solche Schurkerei!“ rief Blosley.

„Wo ist Parmang jetzt?“ fragte Harst und stellte uns Likörgläser hin, holte auch die Sherry Brandy-Flasche vom Nebentischchen.

„Er wurde im Leichenwagen nach der Polizeidirektion als „Toter“ gefahren. Dann habe ich ihn in meinem Dienstzimmer einquartiert. Nur ich und drei meiner zuverlässigsten Beamten – außer Doktor Köhler und Ihnen beiden – sind eingeweiht.“

Harst füllte unsere Likörgläser.

„Zum Wohle, Blosley, – auf glückliche Giftmörderjagd!“ sagte er scherzend und führte das Glas an die Lippen.

Dann – ließ er es fallen, schlug mir und dem Inspektor blitzschnell die Gläser dicht vom Munde aus den Händen, eilte ins Schlafzimmer und spülte sich dort mehrmals den Mund aus.

„Was – was war das?!“ stotterte Blosley und sah mich entsetzt an.

„Es war – Gift, Blosley, – Blausäure –!“ sagte Harst mit starrem Blick. „Wenn ich nicht eine so feine Zunge hätte, dann –“

„– dann wären wir – erledigt gewesen,“ stammelte der Inspektor den Satz zu Ende.

„Ohne Zweifel!“ nickte Harald. „Vorwärts – durchsuchen wir sofort den ganzen Pavillon. Ich wette, der „Inder“ hat gewußt, wer der hilfsbereite Jan Maat, der Parmang hinaustrug, gewesen ist. Er muß es gewußt haben, er muß mich also genau kennen, so genau, daß er sogar meine Verkleidung durchschaute. Ebenso muß er in unserem Heim hier aufs beste Bescheid wissen. Er kann ja nur durch den geheimen Gang eingedrungen sein. Denn das Türschloß dort öffnet kein Nachschlüssel, und die Fenster sind vergittert. – Suchen wir! Der Mann wird sich niemals damit begnügt haben, nur den Likör zu vergiften. Er ist ganz sicher direkt aus dem Theater hierher geeilt und hat es seinem Genossen Bickpool überlassen, uns zu beobachten. In diesem Pavillon verbirgt sich noch eine zweite, vielleicht noch eine dritte Todesart, die Schraut und mir zugedacht ist.“

Mit der behaglichen Aussprache war’s nun vorbei. Wir beide, Blosley und ich, hatten den Ausführungen Haralds nichts mehr hinzuzufügen. Wir waren plötzlich nervös wie alte Stiftsdamen geworden.

Harst warnte uns sehr eindringlich, ja recht vorsichtig zu sein. „Öffnet keine Schublade. Überlaßt das mir. Es gibt Bomben, deren Zündung beim Herausziehen der Lade ausgelöst wird.“ In dieser Weise gab er uns mancherlei Verhaltungsmaßregeln.

Das Suchen begann. Harst hatte das Schlafgemach sich vorbehalten. Die Tür dorthin hatte er nur angelehnt.

Ich will nicht näher schildern, wie wir suchten. Blosley und ich waren ja keine Neulinge in dieser Arbeit. Kein Zentimeter Flächenraum der Halle und der Möbel blieb unbesichtigt.

Wir hörten Harst nebenan Möbelstücke rücken. Wir unterhielten uns mehr flüsternd.

Dann – mir war’s, als hätte ich aus dem Schlafzimmer einen ächzenden Laut vernommen. –

„Blosley – war das?!“ machte ich den Inspektor aufmerksam.

Nebenan Totenstille. – Blosley lief zur Verbindungstür.

Ich war dicht hinter ihm; ich stieß einen leisen Schrei aus, war für den Moment wie gelähmt.

Das Gemach hatte zwei schmale, hohe Fenster. An dem linken hing Harst oben am Fensterkreuz.

Blosley sprang schon auf den Fensterkopf, riß sein Messer aus der Tasche, sägte den dünnen Draht durch, den man durch das Oberfenster Harst als Schlinge um den Hals geworfen hatte. Der Draht hätte die Weichteile des Halses unfehlbar zerschnitten, wenn nicht, ein glücklicher Zufall, die Schlinge gerade das Seidentuch umfaßt hätte, das Harst als Matrose in kunstvollem Knoten um den Hals anstelle eines Kragens geschlungen hatte.

Aber – welch ungeheure Kraft hatte dazu gehört, Harsts Körper so hoch zu ziehen! Der, der es getan, mußte draußen auf der Fensterbrüstung gestanden haben. Es konnte nur ein einzelner die Schlinge dirigiert haben – nur einer! Und dieser Mann mußte seines Wurfes völlig sicher gewesen sein!

Ich fing Harst auf. Er war noch bei Bewußtsein. Nur etwas matt war er.

„Ich rührte mich absichtlich nicht,“ erklärte er heiser. „Die Schlinge hätte von dem Seidentuche abgleiten können.“

Blosley untersuchte den Draht. „Es ist feinster Klavierdraht. Und – Parmang erzählte uns, daß zweimal auf ihn ein ähnliches Attentat verübt wurde. Sie besinnen sich doch, Mr. Harst.“

Harald nickte nur.

„Bitte – geht hinaus, – mit entsicherten Pistolen,“ flüsterte er. „Ich werde das Fenster unten öffnen, will mir die Fensterbrüstung ansehen. Vielleicht ist der Mensch noch in der Nähe.“

Dies traf jedoch nicht zu. Harst rief uns wieder in den Pavillon. Wir führten erst die Besichtigung der Räume zu Ende. Dann ging’s in den Park. Mit Hilfe unserer Taschenlampen fanden wir auch die Fährte eines Mannes mit sehr langen Füßen. In einem frisch aufgeworfenen Erdhügel einer Wühlratte war der Absatz des einen[6] Stiefels des „Inders“ recht scharf abgedrückt. Der Absatz hatte neue Gummiecken gehabt. Man sah noch die Riffelung des Gummis.

Die Spur ging bis zur hinteren Parkmauer. Dort war der Mensch über die Mauer ins Freie geklettert.

Wir machten kehrt. Harst schloß den Pavillon wieder auf, ließ uns ein, schloß hinter uns ab.

„Setzen wir uns,“ meinte er.

Die zertrümmerten Likörgläser lagen noch auf dem Teppich. Harst nahm die Sherry Brandy-Flasche und legte sie auf eine Zeitung, holte allerlei Sachen aus unserem Requisitenkoffer und hatte dann nach einer halben Stunde das Kunststück fertiggebracht, von der äußeren Flaschenwand einen recht klaren Fingerabdruck, den er sichtbar gemacht hatte, stark vergrößert auf ein Stück Papier zu zeichnen.

„Es ist der Abdruck eines linken Daumens,“ erklärte er nun. „Der Mensch hat die Flasche mit der Linken gehalten und mit der Rechten das Gift hineingegossen. Ich hoffte auf diesen Fingerabdruck. Nun haben wir ein untrügliches Kennzeichen dieses Mannes, denn mit der Fußspur und den Gummiabsätzen ist nicht viel anzufangen.“

Er legte die Zeichnung beiseite. „Jetzt zu einem Feldzugsplan,“ fuhr er fort. „Ich gedenke folgendes zu tun. Schraut und ich müssen von hier spurlos verschwinden. Das geht am leichtesten auf dem Wasserwege. Schicken Sie sofort ein Polizeiauto her, Blosley, dazu drei Beamte. Irgendwo am Hafen muß eine Polizeibarkasse uns aufnehmen, deren Bedienungsmannschaft absolut zuverlässig ist. Das weitere ergibt sich dann von selbst. Wir werden uns auf der Barkasse so maskieren, daß niemand uns heraus erkennt. Um zehn Uhr finden wir uns in Ihrem Dienstzimmer ein. Ich möchte noch mit Parmang sprechen, bevor ich nach Nepal abreise. Parmang muß mit dorthin. – So, nun gehen Sie, Blosley. Wir werden uns nur schriftlich von Tschongs verabschieden.“

Der Inspektor eilte davon. Wir packten unsere Sachen, verwandelten uns wieder in die „echten“ Harst und Schraut und bestiegen dann genau um halb drei morgens die Polizeibarkasse.

– – – – – – – –

Das flinke Motorboot führte uns den Hugli-Fluß stromabwärts. Als wir festgestellt hatten, daß wir nicht verfolgt wurden, begannen wir mit der Toilette in der kleinen Kajüte. Unser Requisitenkoffer gab verschiedene Frauenbekleidungsstücke her.

Um vier Uhr morgens verließen wir die Barkasse bei einem Eingeborenendorf. Unser Gepäck sollte vorläufig auf der Barkasse bleiben. In dem Dorfe mieteten wir einen Wagen und fuhren nach Kalkutta zurück. –

Die Polizeidirektion in Kalkutta ist ein Riesenbau. Von hier aus wird das indische Kaiserreich, werden seine 200 Millionen Bewohner überwacht. Dies ist sehr nötig. Der Geist der Selbständigkeit regt sich immer mächtiger in dieser Kolonie des britischen Imperiums.

Von morgens an gibt es in dem modernen Riesengebäude ein stetes Gehen und Kommen. Da fällt der einzelne nicht auf. – Kurz vor 10 Uhr betrat eine ältere Engländerin mit einem Hornkneifer auf der Nase, gefolgt von einer indischen Dienerin, den Polizeipalast, schritt gelassen die Treppe zum ersten Stock empor und klopfte an Zimmer Nr. 62 an. Dort hauste Inspektor Blosley. Der Flur war leer, worauf die Dame sehr genau geachtet hatte, bevor sie Einlaß begehrte.

Blosley öffnete.

„Sie wünschen?“ fragte er kurz. Er war wohl ungehalten darüber, daß man ihn gerade jetzt störte, wo er doch Harst erwartete.

Die Engländerin mit dem leicht ergrauten Haar lächelte.

„Erkennen Sie uns nicht, Blosley?“ meinte sie.

„Ah – das – das ist allerdings ein Meisterstück!“ rief der Inspektor und reichte uns die Hand.

Neben seinem Arbeitszimmer lag noch ein kleiner, einfenstriger Schlafraum. Dort war Parmang untergebracht, und dort durften wir den Ingenieur nun wieder begrüßen, der sich bereits völlig erholt hatte.

Kaum hatten wir ein paar allgemeinere Redensarten ausgetauscht, als er dann, wie mir schien leicht verlegen, sagte:

„Mr. Harst, Inspektor Blosley hat mich davon unterrichtet, daß sie die Absicht haben, nach Nepal zu reisen und meinen unheimlichen Gegnern dort weiter nachzuspüren. So liebenswürdig und hilfsbereit dies nun auch von Ihnen ist: ich rate entschieden davon ab. Der Kern dieser rätselhaften Geschehnisse, all dieser Nachstellungen eben, ist niemals dort droben in dem Himalayalande zu suchen, niemals! Ihre Reise würde ganz zwecklos sein. Davon bin ich so fest überzeugt, daß ich es zu meinem Bedauern ablehnen muß, Sie in einer Verkleidung zu begleiten. Ich will vielmehr in irgend einer Maske nach Neuyork zurückkehren und mir drüben in Amerika neue Arbeit zu verschaffen. Bin ich erst in den Vereinigten Staaten, so wird man mich in Ruhe lassen. – Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel, Mr. Harst. Sie können mir wirklich glauben: ich habe keine Ahnung, weshalb und wer mich beseitigen will. Jedenfalls hier in Indien oder in Nepal kann ich mir diesen furchtbaren, mörderischen Haß dieser „Unsichtbaren“ nicht zugezogen haben. Eher drüben in Amerika, wo ich eine Weile politisch sehr tätig war und der Partei angehörte, die die Einwanderung von Farbigen nach der Union unterbinden will.“

Harst lächelte höflich. „Allerdings, dann hat Nepal für uns keinen Reiz,“ meinte er. „Trotzdem werde ich Kalkutta sofort verlassen. Es ist jetzt hier doch zu ungemütlich. Die Geschichte gestern nacht mit der Drahtschlinge war doch etwas aufregend. – Wie stehts mit Jones Bickpool, lieber Blosley? Natürlich verduftet!“

„Ja, leider. Ich hatte drei Beamte im Hotel Royal stationiert. Sie sollten den damenhaften Jüngling nicht aus den Augen verlieren. Aber – er ist seit heute früh spurlos verschwunden.“

„Hm – er wird als Dame, als Inderin oder dergleichen, entwischt sein. Und sein Gepäck?“

„Er hatte nur eine Handtasche mit. Die ließ er stehen. Sie war leer.“

„So so. Dann rate ich Ihnen, im Royal einmal nachzufragen, ob dort nicht eine einzelne Dame abgestiegen ist. Ich denke, Bickpool wird zwei Zimmer dort belegt haben. Jetzt wird er allerdings nicht mehr zu finden sein.“ – Er erhob sich, sagte Blosley und Parmang lebewohl.

Und eine Stunde später entführte uns der Schnellzug nach Patna am südlichen Gangesufer, wohin Blosley unsere Koffer bahnlagernd für Mistreß Gwendoline Parker nachsenden sollte. Ich als Dienerin hatte natürlich eine Fahrkarte 3. Klasse; Harst als Mistreß Parker eine solche 1. Klasse. Ich trug zu meinem Dienerinkostüm Gesichtsschleier, stellte also eine mohammedanische Inderin vor. Unser einziges Gepäckstück lag über mir im Netz: ein sogenannter Kupeekoffer kleineren Formats. Natürlich saß ich in einem Frauenabteil. Es war fast leer; außer mir befand sich nur eine junge Inderin mit einem Säugling darin. Ich hatte jetzt vollauf Zeit, die Ereignisse der letzten 24 Stunden zu überdenken und – zu schlafen, denn bis Patna sind es rund 1000 Kilometer. Beides tat ich sehr ausgiebig.

Harst hatte sich zu Parmangs Ablehnung unseres Anerbietens, in seinem Interesse nach Nepal zu fahren, bisher in keiner Weise geäußert. Nur auf dem Bahnhof in Kalkutta hatte er mir zugeflüstert: „Ich weiß jetzt Bescheid! Wir haben Robin Parmang nicht zum letzten Male gesehen!“

Ich wurde aus dieser Bemerkung Haralds nicht recht klug. Aber so sorgfältig ich auch die einzelnen Vorgänge prüfte, ich fand nichts, was mir diese Bemerkung klarer gemacht hätte. –

Wir trafen früh morgens in Patna ein. Harst als Mistreß Parker ging lediglich zur Gepäckabfertigung und ließ die Weisung zurück, unsere Koffer weiter nach Betija zu senden. Betija ist die Endstation einer der nach Norden führenden Bahnlinien. Dann bestiegen wir einen anderen Zug. Jetzt nahm Harst für sich allein ein Abteil 1. Klasse, so daß auch „seine Dienerin“ bei ihm bleiben konnte.

Wir hatten bis zur Abfahrt noch etwa eine halbe Stunde Zeit. Harst und ich saßen uns gegenüber an dem einen Fenster und konnten sowohl den Bahnsteig als auch die Halle des Bahnhofs überblicken. An der Tür des Abteils hatte der Schaffner eine Tafel mit dem englischen Worte „Bestellt“ angebracht.

Harald war einsilbig und hatte nur Augen für die hin und her gehenden Reisenden. Erst als der Zug den Bahnhof verließ, sagte er halblaut:

„Bisher ist niemand uns auf der Spur. Ich habe ganz genau aufgepaßt. Aber wir dürfen uns trotzdem nicht in Sicherheit wiegen! Das wäre ein unverzeihlicher Leichtsinn. Hier geht es fraglos um hohe Werte!“

„Hohe Werte?“ meinte ich.

„Ja, mein Alter. Du wirst ja wohl selbst herausgefühlt haben, daß diese Geschichte mit dem Stückchen Eis, die so ein geheimnisvolles Aussehen hat, lediglich durch die bewußten Lügen Parmangs so rätselhaft wirkt. Selbstverständlich verhält es sich mit den Attentaten so, wie er es geschildert hat. Nur eben die Hauptsache hat er entstellt wiedergegeben, und das ist: der Grund zu all diesen Mordversuchen! Er behauptet, er kennt ihn nicht. Das ist Schwindel. Er kennt ihn sehr gut, hat nur seinerseits sehr triftige Gründe, hierüber zu schweigen. Die ganze Art, wie er unsere weitere Hilfe ablehnte, war so durchsichtig, daß ich sofort wußte: er will nicht, daß wir nach Nepal gehen! Denn gerade dort gibt es das Geheimnis, das er zu hüten hat. Deshalb sind wir jetzt auch auf dem Wege nach Nepal. In Betija werden wir ein Auto für eine Woche mieten und dann über die Grenze nach Nepal hinein bis zu dem Dorfe Darbangri fahren, in dessen Nähe die Silberminen liegen, bei denen Parmang beschäftigt war.“

„Hm – Du sprachst von Werten,“ warf ich ein.

„Ja – von hohen Werten sogar, lieber Alter. – Meinst Du, man würde Parmang mit solcher Ausdauer, solchem Raffinement und solcher Tollkühnheit nach dem Leben trachten, wenn es dabei nicht einen hohen Einsatz gilt?! – Rache oder dergleichen kann hier nicht in Frage kommen, lediglich – Millionenwerte, also menschliche Habgier! – Nimm einmal an, Parmang hätte eine überaus reiche Silbermine entdeckt, aber nicht[7] allein, sondern mit anderen zusammen. Dann könnten diese anderen ihn vielleicht aus dem Wege räumen wollen, um die Mine allein auszubeuten. Es mögen dabei noch besondere Begleitumstände mitsprechen, gewiß. Aber der Hauptgrund für die Attentate wird etwa so sein, wie ich es Dir eben entwickelte.“

Ich nickte nur. Diese Lösung gefiel mir nicht recht. Sie war zu alltäglich, anderseits auch in manchen Punkten nicht recht befriedigend.

Trotzdem wollte ich das Thema nicht weiter erörtern. Wir würden ja im Dorfe Darbangri Nachforschungen anstellen, und dann würde sich zeigen, ob Harald recht gehabt hatte. – Ich hatte ja auch noch genug andere Fragen an Harst zu richten. Ich sagte nun, indem ich mir eine Zigarette aus dem Etui nahm, das er mir mit einem „Bitte“ hinhielt:

„Der als Inder verkleidete Mann, der Schlingenwerfer, muß Dich sehr genau kennen, meinst Du?“

„Ja. Ich muß nur, was seine Person angeht, meine Annahme in einem Punkte korrigieren. Ich vertrat Dir und Blosley gegenüber die Ansicht, der Mensch hätte schon am Tische meine Maske durchschaut. Das kann nicht stimmen, wie ich nachher einsah. Er hätte es dann nie gewagt, in meiner Gegenwart die Manipulation mit dem Eisstückchen vorzunehmen. Nein, erst als Parmangs Gesicht sich vor Schmerzen nach den wenigen Schlucken Absinth verzerrte, als ich dann so scharf auf die Glasschale mit den Eisstückchen blickte, da wird „der Inder“ geargwöhnt haben, ich sei nicht der, den ich darstellen wollte, nämlich einfacher Matrose. Und – er verschwand ja auch geradezu blitzschnell, als Parmang umsank und ich ihn auffing. Nachher kann er leicht festgestellt haben, daß ich mich mit Parmang und Doktor Köhler im Direktionszimmer eingeschlossen hatte. Er sah also, wie umsichtig ich vorging und wie ich meine besonderen Wünsche durchzusetzen wußte. Das hätte nun ein simpler Matrose kaum getan. Und schließlich: er wird Dich als Posten am Ausgang bemerkt haben! Und – da mag ihm ein Licht darüber aufgegangen sein, wer wir beide in Wirklichkeit sind. Daß Harst und Schraut in Kalkutta weilen, konnte er in jeder Zeitung lesen. Und daß Schraut etwa einen Kopf kleiner und dicker als Harst ist, weiß hier in Indien jeder, der nur lesen kann. Ebenso meldeten die Zeitungen ja auch, daß wir bei Tschong im Pavillon wohnten. Er konnte also unschwer sich bis zur Villa Tschong durchfragen. Denn: er wußte dort nicht Bescheid, wußte nichts von dem unterirdischen Gange. Beweis: ich fand im Schlafzimmer an dem einen Fenstergitter zwei Stangen durchgesägt und leicht verbogen, im Fensterrahmen aber zwei feine Bohrlöcher, die den Zweck hatten, einen Draht hindurchzuschieben, um die Riegel öffnen und nachher auch wieder zuziehen zu können. Auf dem Wege ist der Mann bei uns eingedrungen, und nicht durch den geheimen Gang. – Ich berichtige diese Punkte deshalb, weil es recht wichtig ist, daß wir hier mit diesen Leuten zum ersten Male etwas zu tun haben. Ich –“

Da betrat vom Gange des Salonwagens aus ein Schaffner das Abteil, schob die Rolltür wieder zu und bat um unsere Fahrkarten.

Harst reichte ihm den Schein über die Bezahlung des ganzen Abteils. Der Schaffner, ein graubärtiger Inder mit einer Stahlbrille auf der Nase, gab den Schein sofort wieder zurück. Wie üblich wollte Harst ihm nun ein Trinkgeld spenden. Der Schaffner verzog jedoch sein Gesicht plötzlich zu einem pfiffigen Grinsen und flüsterte:

„Ich habe gute Augen – trotz der Brille, Mistreß – sehr gute Augen. Vor elf Tagen fuhren zwei Damen nachts im Extrazuge von Port Canning[8] nach Kalkutta. Ich war gerade in Port Canning und mußte als Zugbegleiter mit. Und dann stand in den Zeitungen zu lesen, daß die beiden Damen der berühmte Detektiv Harst und sein Freund Schraut gewesen seien, die hinter einem chinesischen Verbrecher her waren. Die eine Dame aber sah bis auf den Kneifer genau so aus wie Sie, Mistreß, genau! und hatte auch dasselbe karierte[9] Kostüm an. – Ja, meine Augen sind tadellos, nicht wahr, Mr. Harst? – Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte.“

Der Mann hatte ganz recht: wir hatten damals einen Extrazug bestellt gehabt! Ich habe das alles eingehend in unserem vorletzten Abenteuer „Der Mord in den Lüften“ geschildert.

Harst schien noch zu überlegen, ob er zugeben solle, wer wir seien. Dann reichte er dem Schaffner eine Pfundnote.

„Auf Ihr Schweigen können wir uns wohl verlassen –“

„Auch ohne das Geld könnten Sie’s, Mr. Harst.“

Der Alte bedankte sich noch und verließ uns wieder.

„Sehr unangenehm!“ meinte Harald jetzt ärgerlich. „Wenn der Mensch eine Plaudertasche ist, kann uns daraus böses Unheil erwachsen.“

Ich suchte ihn zu beruhigen. Während ich den Schaffner noch verteidigte und erklärte, er hätte auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht, öffnete sich abermals die Tür. Wieder trat ein Schaffner ein. Es war derselbe, der das Schild „Bestellt“ an der Tür befestigt hatte.

Er verbeugte sich, sagte sofort: „Richtig, dies ist ja das reservierte Abteil. Den Schein habe ich ja bereits gesehen.“ Er hatte die Tür offen gelassen und wollte sich wieder zurückziehen.

Harst rief ihn an. „Bitte, einen Augenblick. – Es war soeben ein Kollege von Ihnen hier, ein graubärtiger Mann mit Stahlbrille, der ebenfalls die Dienstabzeichen trug und unseren Schein sich zeigen ließ.“

Der Schaffner schüttelte den Kopf.

„Das kann wohl nicht sein, Mistreß. So einen Kollegen kenne ich nicht. Wir sind nur zu zweien in diesem Zuge.“

Mistreß Parker erhob sich schnell.

„Ah – also hereingefallen!“ Das galt mir. Auch ich machte ein ganz bestürztes Gesicht.

„Holen Sie mir den Zugführer,“ befahl die Mistreß kurz.

Der Schaffner eilte davon.

Harst blickte mich an. „Mein Alter, merkst Du was?! Die Schufte sind auf unserer Fährte. Der bebrillte Schaffner wollte nur feststellen, ob wir wirklich das Wild wären! Es war eine feine Falle, in die wir glatt hineinsausten. Ich besinne mich auch gar nicht, daß damals im Extrazuge ein Schaffner mitfuhr. Aber dieser Bebrillte spielte so vorzüglich den Biedermann!“

Der Zugführer erschien. Harst vertraute sich ihm an. Der Mann war ein Eurasier und recht intelligent.

„Gut, Mr. Harst,“ sagte er nun diensteifrig. „Bitte, kommen Sie nur mit. Wir werden den ganzen Zug durchsuchen, und wir finden den Kerl sicher, der hier als Bahnbeamter auftrat.“

Er irrte: wir fanden ihn nicht! – Im Salonwagen fuhren nur acht Reisende, sämtlich Europäer, darunter zwei Damen. – Der Zugführer ließ sich überall Ausweispapiere oder dergleichen zeigen.

Kurz: die Sache blieb ungeklärt und wir gingen in unser Abteil zurück.

Der Zug fuhr gerade in den Bahnhof von Musaffarpur ein, wo er etwa fünf Minuten hielt. Harst stand am Fenster.

Dann ging es weiter. Harst drehte sich langsam um, lächelte zufrieden.

„Ich – habe ihn!“ flüsterte er.

„Wen – den Bebrillten?“

„Ja. Er sieht jetzt nur ganz anders aus.“

Er setzte sich in seine Ecke, ließ die Augen durch das Abteil gleiten. Ich beobachtete ihn. Ich sah, wie seine Brauen sich plötzlich enger zusammenzogen.

Dann – schnellte er hoch, griff nach unserem Kupeekoffer.

Da – das Schloß war erbrochen und nur lose wieder zugedrückt!

Harst öffnete den Koffer, griff hinein, holte eine Pappschachtel hervor, die vorher nicht darin gewesen, und schleuderte sie zum Fenster hinaus. Sie fiel in ein Dornendickicht.

Dann hielt Harald mir den Koffer unter die Nase. Ich roch einen brenzlichen Gestank.

„Eine Lunte!“ sagte Harst. „Mein Alter – vielleicht hatten wir nur noch wenige Minuten zu leben! Zum Glück merkte ich, daß hier im Abteil etwas schwelte. Und dann sah ich, daß der Koffer nicht so lag, wie er gelegen hatte, als wir mit der Durchsuchung des Zuges begannen. Während wir nach dem Bebrillten suchten, ist er hier gewesen und hat uns die Bombe in den Koffer gepackt. Ja – die Leute sind vielseitig! Das haben sie ja schon bei Parmang bewiesen! – Nun – jetzt weiß ich, wo die Gefahr lauert, und dann kann man sich schützen. Siehst Du jetzt ein, daß hier menschliche Habgier die Triebfeder ist? Weshalb sollten Parmangs Widersacher uns wohl auch hier zu beseitigen suchen, wenn sie eben nicht fürchteten, wir könnten das große Geheimnis in Nepal lüften?! Wir sollen Nepal nicht erreichen! Wir werden es! Nun gerade!“

– – – – – – – –

Als wir in Betija eintrafen, war es bereits dunkel. Inzwischen hatte Harst den Zugführer gefragt, ob es in der Stadt ein Hotel gebe. Der Eurasier hatte uns ein Pensionat empfohlen. Betija mit seinen 20 000 Einwohnern liegt bereits in den Vorbergen des Himalaya und ist ebenfalls Luftkurort – wie Simla, Darschelling und andere malerische Gebirgsorte.

Das Fremdenheim lag etwas außerhalb der Stadt. Wir fuhren[10] in einem Wagen dorthin. Die Inhaberin war die Witwe eines Majors der indischen Armee namens Pellington.

Mistreß Pellington wies uns unsere Zimmer zunächst im Erdgeschoß an. Harst bat um solche im ersten oder zweiten Stock. Es war jedoch dort nur noch ein einzelnes frei. Die Dame wunderte sich, daß Harst damit sich begnügen wollte. Sie wunderte sich nicht mehr, als er dann die Tür dieses Zimmers zudrückte, die Perücke abnahm und sagte:

„Ich bin der Detektiv Harald Harst, Mistreß. Ich wohne ungern im Parterre, wo man so leicht durch die Fenster einsteigen kann, da ich mehr Feinde als Freunde habe, wenigstens hier in Betija. Das hier ist mein treuer Gehilfe und noch treuerer Freund Max Schraut.“

Die dürre Dame wollte sich schier zu Tode wundern, daß ein Mann so vorzüglich eine Frau darstellen könnte.

Harst erklärte weiter, daß er hier nun sofort sich in seine wahre Gestalt zurückverwandeln würde.

„Schicken Sie uns bitte nach zehn Minuten das Abendessen, Mistreß. Nachher muß ich noch in die Stadt. Ich kann wohl den Hausschlüssel erhalten,“ fügte er hinzu. –

Als das Abendessen gebracht wurde, waren wir bereits wieder „in Zivil“. Und gegen halb elf fuhren wir in dem Wagen des Pensionats nach dem Polizeigebäude.

Der Herr Polizeichef von Betija mußte erst aus einem Cafee geholt werden. Selten sind wir einem so originellen Manne wie diesem Master Doorball begegnet. Er war klein und enorm dick, hatte eine fuchsige Perücke auf und hielt sich für ein verkanntes Genie, das lediglich durch die Beschränktheit seiner Vorgesetzten dazu verurteilt war, hier in Betija zu versauern.

„Mr. Harst!“ rief er freudestrahlend, „rechnen Sie ganz auf mich. Ich werde Ihnen beweisen, was ich leiste. Und dann können Sie vielleicht erwirken, daß ich endlich einen besseren Posten erhalte.“

Harst meinte, es täte ihm sehr leid, wir seien aber mehr als Vergnügungsreisende hierher gekommen; es würde sich also für Mr. Doorball kaum Gelegenheit bieten, irgendwie von sich reden zu machen.

„Sie können uns immerhin insofern unterstützen, als Sie uns vielleicht ein Auto für eine Woche besorgen. Der Preis ist gleichgültig,“ fuhr er nach dieser Enttäuschung für den ehrgeiziger Dicken fort. „Das Auto muß morgen mittag vor dem Fremdenheim Pellington bereitstehen. Der Chauffeur muß unbedingt zuverlässig sein.“

„Sie sollen mein Dienstauto haben,“ erklärte Doorball freudig. „Nehmen Sie mich mit, Mr. Harst. Sie wollen doch, wie Sie vorhin sagten, die Silberminen beim Dorfe Darbangri besuchen. Dort weiß ich gut Bescheid.“

„Ah, wirklich?“

„Und ob, Mr. Harst! Mein Bezirk reicht bis zur nepalesischen Grenze, müssen Sie wissen. Vor drei Monaten etwa passierten da in Darbangri recht seltsame Dinge –“ Er lachte dröhnend und schnappte vor Heiterkeit nach Luft. „Das ist ja alles Schwindel gewesen. Mr. Harst, all diese Attentate! Parmang hat sie einfach erlogen oder aber die Anzeichen dafür selbst – „fabriziert“! Er wollte nur seinen Kontrakt mit der Minengesellschaft lösen. Das ist der Witz. Ich habe ihm das auf den Kopf zugesagt. Er wurde grob, aber – ich habe doch recht!“

„Ganz interessant,“ meinte Harst. „Alles Schwindel?! Hm – und wie erzielte Parmang denn die bleiche Gesichtsfarbe und –“

Doorball schüttelte sich schon wieder vor Lachen aus:

„Mr. Harst, wo sind Sie dem gerissenen Amerikaner denn begegnet?! Nein, so eine Frechheit von ihm, einen Mann wie Sie so zu belügen! Empörend!“

„In Kalkutta, Mr. Doorball. Aber – in der Hauptsache will ich Nepal bereisen, und nur so nebenbei wollte ich mich mit den Attentaten beschäftigen. – Gut also, begleiten Sie uns. Ich muß jetzt gehen. Wir, Schraut und ich, sind hundemüde. Dann auf Wiedersehen morgen um 12 Uhr –“

Doorball brachte uns bis zu unserem Wagen, der auf uns gewartet hatte.

Harst fragte den indischen Kutscher. „Hat jemand Dich angesprochen?“

Der junge Mensch bejahte. „Eine weiße Miß wollte wissen, ob dies hier das Polizeigebäude ist. Und dann fragte sie, ob mein Wagen frei sei. Ich sagte, daß ich zum Pensionat Pellington gehöre und daß ich zwei deutsche Herren hergefahren hätte.“

„So so!“ meinte Harst und drückte heimlich meinen Arm.

Als wir dann die Straße entlangrollten, erklärte er sehr ernst:

„Nun sind beide also hinter uns, oder besser: mit uns hier in Betija! Beide – der „Inder“ und der damenhafte Jüngling Bickpool. Und beide sind die reinen Verwandlungskünstler, also fraglos Gauner großzügigster Art. Es wird, fürchte ich, für uns noch böse Stunden geben, ehe wir dies Geheimnis ganz gelüftet haben.“

Wir langten ohne Zwischenfall in dem Pensionat an. Mistreß Pellington war noch auf, obwohl es bereits nach Mitternacht war.

Sie winkte uns in den Salon, flüsterte: „Mr. Harst, vor kaum fünf Minuten war ein Herr hier, ein Franzose, der drei Zimmer haben wollte. Er stellte so verfängliche Fragen. Ich merkte, daß er mich aushorchen wollte, ob Sie beide hier abgestiegen seien. Ich wies ihn fort. Leider hat dann der eine Diener die Sache verdorben. Es hat sich im Hause nur zu schnell herumgesprochen, daß ich die Ehre habe, Sie beide zu beherbergen. Der Diener hat dem Franzosen, einem Kaufmann aus Allahabad, Ihre Namen genannt und –“

„Danke, Mistreß Pellington. – Vor fünf Minuten? Ein etwas später Gast, allerdings!“

„Oh – um halb zwölf ist noch der Nachtzug eingetroffen. Der bringt oft noch Reisende.“ –

Wir gingen auf unser Zimmer. Es hatte einen kleinen Balkon nach dem Garten hinaus. Die Balkontüren standen offen.

Harst hielt mich mitten im Zimmer fest. „Bleibe stehen!“

Er schaute sich mißtrauisch um, fügte hinzu: „Der verdammte Balkon!“ Dann begann er das Zimmer zu durchsuchen. Er fand nichts Verdächtiges.

„Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Kerle oder doch einer von ihnen hier gewesen sind,“ meinte er mit halb zusammengekniffenen Augen. „Der „Franzose“ kann sehr wohl nach dem Gespräch mit dem Diener –“

Er brach mitten im Satz ab, hob die rechte Hand, deutete auf die Tischplatte. Dort stand eine Wasserkaraffe auf einem lackierten Teebrett, daneben ein Wasserglas. Und – in dem Glase lag – ein Stückchen Eis in einer geringen Wassermenge!

Ein Stückchen Eis! – Ich sah den Saal des chinesischen Theaters wieder vor mir, sah Parmang umsinken.

„Gift?!“ sagte ich leise.

Harst schüttelte den Kopf.

„Nein – diesmal nur eine freche Kampfansage! Und gleichzeitig für uns der Beweis, daß Parmangs Feinde wissen, daß ich das Giftattentat damals im Theater durchschaut habe! Deshalb als Zeichen ihrer steten – Mordlust und Gegenwart – nur ein Stückchen Eis!“

Er schaltete das Licht aus, trat dann auf den Balkon, der mit den prachtvollen Blüten der Kurusku-Winde ganz umhüllt war. Der Mond war jetzt erschienen. Harst rief mich an. –

„Da – schau’, hier sind die Blüten zerdrückt, hier auch. Mit einer Leiter kommt man bequem auf den Balkon. – Geh’ jetzt schlafen. Ich werde wachen. Es muß sein!“

Ich schlief bis sechs Uhr morgens. Dann löste ich Harald ab; unsere Wache war jedoch überflüssig gewesen. –

Um elf Uhr vormittags fand sich der dicke Doorball im Pensionat ein und teilte uns mit, daß er noch einen Fahrgast bis zur Grenze mitnehmen müsse, einen Hauptmann, der Mitglied einer Vermessungskommission sei.

Harst meinte, der Hauptmann störe ihn nicht. – Um ½1 fuhren wir dann zu fünfen ab: Der Chauffeur, der Hauptmann Gangreen, Doorball und wir beide.

Gangreen war einer jener Engländer, die stets unnahbar bleiben, ohne je unhöflich zu werden. Als Doorball uns dem Hauptmann vorstellte, sagte dieser nur:

„Ihre Namen sind mir nicht fremd.“

Die Unterhaltung blieb frostig. Nur Doorball mühte sich ab, die Förmlichkeit des uniformierten Herrn durch doppelte Liebenswürdigkeit auszugleichen. Dann war es Harst, der offen zugab, daß wir als Frauen verkleidet nach Betija gereist seien. Gangreen lächelte plötzlich: „Ah – also deshalb wurden die Fahrgäste des gestrigen Abendzuges auch so stark auf Herz und Nieren durch den Zugführer geprüft. Und in Begleitung des Zugführers –“

„– befanden wir uns!“ ergänzte Harst in heiterem Tone. „Sie saßen mit zwei anderen Herren im Salonwagen und lasen Zeitung. Ich erkannte Sie sofort wieder.“

Der Hauptmann wurde von neuem unnahbar, meinte: „Ich muß jetzt meine Geländeskizzen einsehen. Sie entschuldigen mich.“ – Der Mensch war fraglos Deutschenfresser.

Nun – ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Es gab hier genug zu sehen. Die Fahrt war ein Genuß für jeden Naturschwärmer. Wir kamen immer tiefer ins Gebirge hinein; unser Auto keuchte förmlich auf den steilen Straßen. Heimatlich anmutende Eichenwälder durchfuhren wir, lange Täler, kleine Dörfer. Gegen sechs Uhr abends machten wir in dem Unterkunftshause eines größeren Dorfes kurze Rast. Wir waren ganz steif vom Sitzen.

Gangreen nahm seine Aktentasche und setzte sich auf die Veranda des Unterkunftshauses. Der dicke Ehrgeizige tat dasselbe. Harst und ich bummelten die Dorfstraße entlang.

Harald hatte mir noch immer nicht erklärt, weshalb er während des Aufenthaltes des Zuges auf dem Bahnhof in Musaffarpur geäußert hatte: „Ich habe ihn!“ Jetzt sagte er ganz unvermittelt:

„Lieber Alter, wie gefällt Dir Gangreen? – Er stieg in Musaffarpur aus, lief zum Stationsgebäude und verschwand im Telegraphenraum, gab also eine Depesche auf. Außerdem saß er im Raucherabteil des Salonwagens ganz dicht an der Tür zum Vorraum, und im Vorraum liegt auch die Waschkabine. Man kann sich in der Waschkabine mit ihrem Spiegel ganz gut in einen bebrillten Schaffner verwandeln und in einen angeblichen Hauptmann zurückverwandeln, wenn man seine Reisetasche mit hineinnimmt und diese das Nötige enthält.“

Ich blieb stehen. „Himmel, Du meinst, daß –“

„– ja, daß Gangreen „der Inder“ ist! Ich sagte doch auch auf dem Wagen: „Nun sind beide hinter uns her!“ – Also dürfen wir recht bald mit einem kleinen Zwischenfall rechnen. Ich wette, der Master Bickpool ist uns in einem anderen Auto vorausgefahren und hat alles – vorbereitet!“

Er winkte einen Inder herbei, der vor seiner Haustür stand, fragte, ob heute hier ein Auto mit einem einzelnen Fahrgast nach der nepalesischen Grenze zu durchgekommen sei.

„Ja – es saßen aber zwei Herren darin,“ erklärte der Inder. „Das Auto ist noch nicht lange durch. Es war ein Mietauto aus Betija. Ich kenne den Chauffeur.“

Wir gingen weiter. – „So – zwei Herren,“ meinte Harst nachdenklich. „Ob die Schufte etwa ihrer drei sind?! Dann war der „Franzose“ Nummer drei. Jedenfalls aber hat der „Inder“ alias „Gangreen“ von Musaffarpur aus seine Freunde per Depesche von unserer Anwesenheit im Zuge verständigt, nachdem er als Schaffner uns so schön ausgehorcht hatte, ob wir auch wirklich Harst und Schraut seien. – Kehren wir um. Ich werde jetzt unserem Dicken mitteilen, daß er sehr wahrscheinlich noch heute beweisen kann, was er als Polizeimensch leistet. Er wird große Augen machen, wenn ich ihm sage, daß der kühle Hauptmann ein sehr gefährlicher Reisegenosse ist.“

– – – – – – – –

Nun, Master Doorball machte nicht nur große Augen, sondern geradezu freudestrahlende. Ich begriff, weswegen: er hoffte jetzt, sich wirklich einmal auszeichnen zu können, nachdem Harst ihm eben anvertraut hatte, daß der Hauptmann lediglich so etwas wie ein Räuberhauptmann sei. – Der Dicke war also nicht nur ehrgeizig, sondern hatte auch Mut! Und das nahm ihm etwas von seiner Lächerlichkeit. Er schaute jetzt bei der Weiterfahrt Gangreen geradezu verliebt an. Harst lächelte dazu. –

Mir war nicht nach Lachen zumute. Die Gewißheit, einen so rücksichtslosen Feind wie diesen „Inder“ zum Reisegefährten zu haben und irgend einer ernsten Gefahr sich immer mehr zu nähern, war ein Nervenreiz, der für meinen Geschmack zu kräftig wirkte.

Gangreen hatte wieder seine Geländeskizzen in der Hand und beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Unser Dicker machte Witze und freute sich, wenn Harst schallend dazu lachte. Es war alles in allem eine tolle Fahrt.

Gegen ½9 abends erreichten wir eine Höhe, wo es häufiger schon Schneetreiben geben sollte, wie Doorball versicherte; freilich bliebe der Schnee niemals liegen.

Es wurde kälter und kälter. Dann – waren wir nach ein paar neuen Serpentinenwegen plötzlich auf der Höhe der Vorberge angelangt. Es war noch hell genug, um in weiter Ferne nach Norden zu das ungeheure Gebirgsmassiv des Himalaya und auch den höchsten Berg der Erde, den Gaurisankar[11], zu erkennen. In rötlichem Glanze, getroffen vom roten Widerschein des Abendhimmels, flammten die Eishäupter der Bergriesen auf.

„Wundervoll!“ rief Harst. „Wundervoll! Chauffeur, halten Sie! Dieses Schauspiel will ich genießen, bis der letzte rötliche Schimmer verglüht ist.“

Gangreen war als einziger sitzen geblieben.

„Wenn wir das Rasthaus an der Grenze noch vor Dunkelwerden erreichen wollen,“ sagte er jetzt barsch, „so müssen wir vorwärts. Ich habe nicht Lust, im Freien zu übernachten.“

„Ist es denn noch weit dahin?“ fragte Harst.

„Oh, kaum eine Viertelstunde,“ meinte der Dicke. „Die Strecke können wir auch bei Laternenlicht zurücklegen.“

„So – nur eine Viertelstunde!“ rief Harst abermals ganz entzückt. „Dann fahren Sie nur voraus, meine Herren. Schraut und ich kommen nach. Wir sind gut zu Fuß. Vielleicht lagern wir auch hier. Zwei Wolldecken genügen uns. Ich möchte von hier aus den Sonnenaufgang bewundern. – Was meinst Du dazu, mein Alter? Es wäre doch mal was anderes, so in 1800 Meter Höhe an einem Lagerfeuer zu schlafen.“

„Bin sehr dafür!“ nickte ich. Und das war ehrlich. Ich merkte ja: Gangreen wollte uns gern im Rasthause haben! Es sollte ganz einsam liegen, wie Doorball schon vorher erzählt hatte. Und Wirtsleute oder dergleichen gab es dort nicht. Es war eben nur ein öffentliches Unterkunftshaus, wie man es in den eisenbahnlosen Gegenden Indiens überall findet.

Harst kletterte schon aus dem Auto heraus. Ich folgte. Auch Doorball erklärte jetzt, er sei mit von der Partie.

Gangreen zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen, meine Herren. Aber – ich warne Sie! Sehen Sie dort im Norden die schwarze Wolkenwand? Spüren Sie den immer stärker werdenden Wind? Es gibt Kälte und Schneetreiben. Es kann passieren, daß Sie erfrieren. Ich habe hier mal in der Nacht 11 Grad Kälte erlebt.“

„Gut denn,“ meinte Harst. „Wir werden also die Nacht im Rasthause zubringen. Aber ich will den letzten roten Schimmer erlöschen sehen, dabei bleibt’s.“

Das Auto rollte von dannen. Doorball fuhr nun doch mit. Er hatte wirklich Mut, der Dicke!

Wir waren allein. Harst setzte sich auf einen Stein und schaute gen Norden, schwieg und genoß das entzückende Wunder dieser Abendbeleuchtung der Himalayaketten.

„Was nun?“ fragte ich leise.

„Noch zehn Minuten, dann weiter,“ erwiderte er. „Das Rasthaus wird diese Nacht etwas erleben. Nach zehn Minuten haben wir Schneetreiben. Es kommt wie gerufen.“

Der Wind wurde schnell zum Sturm. Die schwarze Wolke schob sich vor das Panorama der Schneeberge – „Gehen wir,“ sagte Harst.

Der Abstieg begann, wieder in Serpentinen. Harst schlug ein rasches Tempo ein. Dann fielen die ersten Flocken. Und fielen dichter und dichter. Wir hielten uns stets an den Felswänden. Es wurde kälter und kälter; ringsum war alles in kurzem weiß – alles! So eine Gebirgslandschaft im Neuschnee wirkt so niederdrückend eintönig. – Hin und wieder hörte der Flockenfall auf. Dann liefen wir in Trab weiter. Harst war immer ein Stück voran. Als wir einmal eine Atempause machten, meinte er:

„Wir müssen gut aufpassen. Kurz vor dem Rasthause gibt es einen Kiefernwald. Dann kommt ein steiler Berg und rechts der Straße ein Abgrund, über den eine Holzbrücke zu dem Rasthause führt, das 50 Meter vom Wege ab im Schutze einer weit überhängenden Felswand steht. Wir können im Schneetreiben nur zu leicht daran vorüber.“

Aber – wir fanden es. Wir sahen es schon von weitem; zwei Fenster waren erleuchtet und schimmerten in der jetzt längst hereingebrochenen Dunkelheit wie feurige Augen. – – Sturm und Schneefall hatten für Minuten aufgehört. Harst war stehen geblieben. „Warten wir,“ sagte er. „Wie ist’s mit Deinen Nerven, mein Alter? Da – trink’ einen Schluck Kognak.“

Ich tat’s. – Und abermals begannen die kleinen, weißen Vögelchen vom Himmel herabzuschweben! abermals umheulte der Sturm die Berge und fuhr brüllend durch die Klüfte und Täler. – Man konnte jetzt kaum die Hand vor Augen sehen. Lautlos huschten wir, weiß beschneit und tief gebückt, der Brücke zu. Harst flüsterte wiederum: „Warte!“ – Nach zehn Minuten tauchte er neben mir auf.

„Es ist so, wie ich dachte,“ sagte er halblaut. „Die Schurken haben den Bohlenbelag der Brücke gelockert und an zwei Stellen die Bohlen so knapp auf die Balken gelegt, daß wir in den Abgrund gestürzt wären. Man kann aber auf dem Geländer entlangturnen im Reitsitz. Es ist völlig fest und sicher. – Der arme Dicke! Es geht ihm zur Zeit nicht gut. Na – Du wirst ja sehen! Jedenfalls fühlen sich die beiden Schurken ganz sicher vor uns.“

„Die beiden?! Drei sind’s doch!“

„Du wirst sehen und staunen! – Los denn. Aber Vorsicht auf dem Geländer, mein Alter!“ – Die Brücke wurde uns nicht gefährlich. Wir kamen glücklich hinüber. Dann ging’s den hellen Fenstern zu. Die indischen Rasthäuser sind alle gleich gebaut: langgestreckt, einstöckig, umlaufende Veranda, von der die Türen in die einzelnen, bis auf Kochherde leeren Räume führen.

Die Veranda war erreicht. Der Schnee lag hier fußhoch. Dann hatten wir das erste Fenster vor uns. – Auf dem Herde brannte ein helles Feuer. In einer Ecke saßen auf dem Fußboden der Dicke, der Chauffeur und ein schwarzbärtiger Mann mit einer Brille. Alle drei waren gefesselt. Vor dem Herde stand Gangreen und setzte gerade einen Teekessel auf den eisernen Dreifuß. Dann tat sich die Verbindungstür nach dem Nebenzimmer auf. Ein schlanker Mann mit blondem Spitzbart trat ein. Er hatte eine der Autolaternen in der Hand, stellte sie nun auf eine Ecke des Herdes, so daß ihr Schein die drei Gefangenen traf. Jetzt bückte er sich zu dem Schwarzbärtigen herab, zerrte ihn mehr nach dem Herde hin, zwang ihn aufzustehen und – riß ihm Bart und Brille ab.

Es war – Ingenieur Parmang! –

Harst zog mich weiter nach links bis zur nächsten Tür. Sie war unverschlossen. Auf dem Herde glühten hier nur noch ein paar Holzstücke. Die Verbindungstür hatte zahlreiche Ritzen. Man konnte genau beobachten, was nebenan vorging, auch jedes Wort verstehen. Der Wind traf das Rasthaus nicht.

„Mr. Doorball,“ hörten wir jetzt den „Hauptmann“ sagen, „bevor wir Sie und den Chauffeur in den Abgrund befördern, sollen Sie wissen, weshalb Bickpool und ich diesem Parmang nachher mit Hilfe einiger Feuerbrände einige Angaben freundlichst entlocken wollen. Mein Name ist Mautley. Ich bin von Beruf Artist und zwar Reckturner. Bickpool ist Damenimitator. Es ging uns vor einem halben Jahre sehr schlecht. Da trafen wir in Dehli einen Mann, der ungeschliffene Edelsteine heimlich verkaufen wollte. Er tat sehr geheimnisvoll. Wir halfen ihm beim Veräußern der Diamanten, und er bezahlte uns so gut, daß wir merkten, er müsse noch einen großen Vorrat der wertvollen Kiesel besitzen. Dann machte er sich heimlich aus dem Staube. Wir fanden jedoch seine Spur und folgten ihm bis nach dem nepalesischen Dorfe Darbangri. So bekamen wir heraus, daß er Mineningenieur war und Parmang hieß, weiter, daß er unter einem Vorwand Urlaub nach Dehli genommen hatte. Wir wußten nun Bescheid: er mußte eine Diamantenfundstelle entdeckt haben, und er suchte die Steine allmählich in aller Stille zu Gelde zu machen. – Wir hausten im Walde unweit des Dorfes, trugen wechselnde Verkleidung, trafen Parmang dann einmal allein und schlugen ihm vor, mit uns zu teilen. Wir wollten wirklich nur die Hälfte der Steine haben. Er aber riß den Revolver heimtückisch uns der Tasche, feuerte und entkam. Er hatte vorbeigeschossen, und wir konnten ihn nun durch Attentate mürbe zu machen versuchen. Wir wollten, daß er schließlich so abgehetzt wäre, daß er uns die Fundstelle verriet oder doch den Ort, wo er die Diamanten versteckt hatte. Er hatte bessere Nerven, als wir dachten. Schließlich verloren wir die Geduld und wollten ihm nun ernstlich ans Leben. In Kalkutta wär’s uns beinahe geglückt, wenn nicht Harst sich eingemischt hätte. Nun – er und Schraut werden uns nicht mehr lästig werden. Und Parmang rösten wir jetzt so lange, bis er sein Geheimnis preisgibt.“

„Schurken!“ brüllte der Dicke. „Ihr werdet –“

Mautley hatte ihm einen Fußtritt versetzt. „Schweig’, Du Fettwanst! Du Idiot hast stets geglaubt, Parmang täusche die Attentate nur vor!“ –

Es war Zeit für uns. Harst stieß mich an.

Dann flog die Verbindungstür auf. Unsere Mehrlader hielten die beiden Verbrecher in Schach, die so vollständig kopflos waren, daß sie zunächst auch nicht ein Wort hervorbringen konnten. – Ich löste den drei Gefangenen die Fesseln. Sie halfen dann, die beiden Artisten zu binden. Jetzt endlich öffnete Mautley den Mund.

„Es wird nicht leicht sein, uns irgend etwas zu beweisen,“ sagte er höhnisch. „Ich habe vorhin nur renommiert. Wir wollten Parmang nie wirklich töten.“

„Und die Blausäure in der Sherry Brandy-Flasche im Pavillon?!“ meinte Harst eisig. „War das auch nur eine Drohung?!“

„Blausäure, – Pavillon?! Was reden Sie da?!“ Der Kerl spielte tadellos den Unschuldsengel.

„Ich habe von der Flasche den Abdruck Ihres linken Daumens genommen – das genügt!“ sagte Harst.

Mautley wurde fahl, schaute zu Boden. –

Es wurde eine sehr ungemütliche Nacht im Rasthause. Wir mußten die Verbrecher scharf bewachen, und auch Parmang, der uns doch wahrlich zu Dank verpflichtet war, benahm sich so seltsam, daß wir froh waren, als es Tag wurde.

Nachdem wir die Brücke ausgebessert hatten, wollten wir im Auto nach Betija zurück. Die Sonne hatte den Schnee schon wieder verschwinden lassen. Plötzlich stellte sich dann heraus, daß Parmang entflohen war. Unser Dicker tobte. „Ich brauche ihn doch als Zeugen! Überhaupt, dieser Mensch ist mir unheimlich. Kein Wort hat er zu uns gesprochen, hat Ihnen nicht mal gedankt, Mr. Harst!“

„Oh – er wird wohl Gründe haben, uns zu meiden,“ sagte Harst nur. „Er fürchtete für das Geheimnis seiner Diamantenfundstelle –“ –

Wir fuhren mit den beiden Autos davon. Der Chauffeur, der Bickpool und Parmang bis zum Rasthause gebracht hatte (Parmang war ganz ahnungslos gewesen, daß er einen seiner Feinde als Reisegefährten hatte!), war Bickpool und Mautley entwischt, fand sich kurz vor der Abfahrt aber wieder ein. Nach Parmang in dieser Wildnis zu suchen, war zwecklos, wenigstens jetzt. –

Das ist unser Abenteuer mit dem Stückchen Eis. Weshalb ich das folgende

Die Eishöhle in Nepal

betitelt habe, mag der Leser selbst nachprüfen. Er wird dann ein Wiedersehen mit zwei Verbrechern feiern, von deren Vielgestaltigkeit und Verkleidungskunst er bereits in Vorstehendem eine Probe erhalten hat.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Strohut“.
  2. In der Vorlage steht: „weit“.
  3. Dieser Blosley (mit „o“) ist aus Kalkutta, der Bloosley (mit „oo“) aus dem vorhergehenden Heft dagegen aus Akyab.
  4. „Himalayalande(s)“ / „Himalaya-Lande“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Himalayalande(s)“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „Bollwert“.
  6. In der Vorlage steht: „eines“.
  7. In der Vorlage steht: „incht“.
  8. In der Vorlage steht: „Port Conning“. Zwei Vorkommen auf „Port Canning“ geändert.
  9. In der Vorlage steht: „karrierte“.
  10. Überflüssiges Wort „wir“ entfernt.
  11. Damals auf Grund einer Verwechslung fälschlich als „höchster Berg der Welt“ bezeichnet. Siehe auch Wikipedia: Gauri Sankar.