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Die weiße Grotte

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 199

 

Die weiße Grotte.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.

 

1. Kapitel.

Der große Spiegel.

„Wir sollten die blonde Frau unter ungewöhnlichen Umständen wiedersehen.“

– So schrieb ich am Ende des ersten Teiles der „Armbanduhr der Miß Golling“ …

Und bis zum Schluß des zweiten Teiles dieser aktuellen Hochstaplergeschichte von dem Rekordflug Stockholm–Neuyork in dreißig Stunden findet der Leser dann zu seinem Ärger nichts mehr über diese Blonde, ihren Eisbär, ihre beiden transtinkenden Eskimos und über die Hütte aus Plankenstücken.

Kein Wort, wie und wo wir sie wiedersahen …!

Dies will ich nun hier nachholen. Ich weiß ja, daß es eine treue Gemeinde von Harstverehrern gibt, die zunächst nur klein war, die aber jetzt, beim 199. Band, eine kleine Armee bildet, stets angriffslustig an dem Tage, der einen neuen Harst-Band beschert, – – angriffslustig auf die Buchläden!

Und diese meine lieben Freunde und Leser werden nachsichtig sein und mir’s nicht verargen, wenn ich dieses Wiedersehen mit der blonden Fremden, die sich uns bereits als Deutsche zu erkennen gegeben, nun erst ganz eingehend als besonderes Abenteuer schildere. – –

Der alte, morsche Rattenkasten von Schoner war mit seiner kleinen Besatzung im Süden verschwunden. Wir hatten ihm schweigend nachgeschaut. Nie wieder hörte man etwas von ihm, seinen Leuten und den beiden Toten, die er mit sich genommen, um ihnen auf hoher See ein schlichtes Begräbnis in den Tiefen des Atlantik zuteil werden zu lassen.

Den beiden Toten …: Felix und Martha Bruchstaller, die wir hier auf dem riesigen, glitzernden Eisberg mit seinen prachtvollen, blinkenden Kuppen vor der Bretterhütte erschossen aufgefunden hatten – Kopfschüsse, leichter Tod, Tod durch Mörderhand!

Wer war der Mörder, wer waren die Mörder?!

Wir hatten den Eisberg bereits genau durchsucht, bevor noch der Unglücksschoner mit den Überlebenden der großen Schwindlerkompagnie davonsegelte. Die Hütte war leer, der Eisberg war leer … Keine lebende Seele irgendwo, – nur Robben in den Buchten und die Hütte am Fuße der höchsten Erhebung! Kein Wrack, keine Spuren – nichts! Auch die Blonde, die Eskimos und der Eisbär waren verschwunden. –

Wir standen vor dem Bretterhäuschen …

Die Sonne schien hell und klar … Es war zehn Uhr vormittags … Ein herrlicher Junitag … In der nahen Bucht lag unser Kutter vertäut. Wir waren allein auf der schwimmenden Eisinsel, die nun zwei dunkle Geheimnisse hütete. Das eine: Was hatte die blonde Deutsche hier getan, die wir vor Tagen hier getroffen hatten? – Das zweite: Wer hatte die Geschwister Bruchstaller erschossen? Weshalb?! –

Harst schob sein Fernglas in das Futteral zurück …

„Der Schoner ist außer Sicht … Jetzt beginnt unsere Arbeit, mein Alter … Ein sogenannter Zufall hat uns wieder hierher auf denselben Eisberg geführt, der uns gastlich aufnahm, als wir ersäuft werden sollten … Unsere Arbeit! Wie denkst du über diese beiden Morde?“

Er rieb ein Zündholz an und rauchte ein paar Züge. Der süßliche Duft seiner parfümierten Mirakulum war Balsam inmitten dieser stinkenden Umgebung …: Verwesungsgestank – tote Eskimohunde …! Dem Eisbär hatten die armen Köter als Nahrung gedient. Da stand noch der in eine Eisspalte gerammte Pfahl, an den der schmierige Meister Petz angekettet gewesen … Meister Petz war weg … Wo war er?! Wo die Blonde, die kleinen, dicken, dummen Eskimos?!

Wie ich über die beiden Morde dachte?!

Zunächst dachte ich an anderes …

„Warum stehen wir eigentlich ausgerechnet hier inmitten dieses Gestanks, Harald?!“ meinte ich mit gelindem Vorwurf. „Gewiß – wir konnten von hier aus den Schoner gut beobachten. Nun aber dürfte …“

„… dürfte es von hier aus immer noch etwas zu beobachten geben …“

Und Freund Harst zwinkerte mir zu.

„Ja, strenge dich nur an, mein Alter … Was ich sehe und schon vorhin sah, ist ganz interessant …“

„Nun schön, mag sein. Aber müssen wir dazu unbedingt diesen Gestank einatmen?“

„Zur Zeit ja …“

„Was heißt das?!“

Er schaute geradeaus – dorthin, wo die mächtige Eiskuppe an einer Stelle eine senkrechte, dreieckige Fläche hatte, die glatt wie ein Spiegel war und im Sonnenlicht auch wie ein Spiegel glänzte.

Und ich wiederholte ungeduldig: „Was heißt das?!“

Achselzucken seinerseits … „Siehst du’s noch nicht?!“

Und seine Augen behielten dieselbe Richtung bei …

Der dreieckige Riesenspiegel drüben erschien mir jetzt überaus beachtenswert. Er lag halbrechts von uns – hinter der elenden Bretterbude, und seine Höhe betrug gut fünfzehn Meter. Die Spitze dieses blanken Dreiecks war nach oben gerichtet, die Grundlinie aber ging in einen breiten Streifen von Eisblöcken über.

Und wie ich so dieser gewiß einzigartigen Erscheinung, diesem Spiel der Natur, dieser feuchten, blanken Fläche, in deren weiter Fläche sich die ganze Umgebung in geringer Verzerrung wiederspiegelte, noch mit prüfenden Blicken musterte, fielen mir plötzlich dunklere Streifen, Striche[1] und gebogene Linien auf: verschwommene Rillen – – Buchstaben – – von mindestens anderthalb Meter Länge …

Lateinische Schrift … –

Freilich, Harald hatte ganz recht: Nur von hier aus, bei diesem schräg auffallenden Sonnenlicht waren diese Buchstaben zu bemerken und zu lesen …

Hier
ruht einer,
der ein Mörder war.
Mein ist die Rache, spricht der Herr.

Ich hatte laut gelesen.

Und Harald wiederholte leise: „Mein ist die Rache, spricht der Herr! – – Ob diese Inschrift wohl von unserer blonden Unbekannten herrührt?!“

Dann in lebhafterem Tone: „Wie mag man diese Schrift hergestellt haben, mein Alter?“

„Es sind vertiefte Buchstaben … Also eingemeißelt!“

„Hm – verzeih schon … Das ist Unsinn … Die Rillen sind ursprünglich sehr tief gewesen. Die Sonne hat sie abgeflacht. Als wir das erste Mal hier auf dem Eisberg waren, und das sind sechs Tage her, war die Inschrift noch nicht vorhanden. Angenommen, die Blonde hat sie von den Eskimos herstellen lassen. Dann hätten die beiden Robbenfleischesser dazu viele Tage gebraucht. Außerdem hätte die Blonde den dicken, kleinen Kerlen dann auch die Buchstaben irgendwie vorzeichnen müssen. – Nein, die Inschrift ist eingeschmolzen worden, mein Alter, – mit einer Lötlampe, behaupte ich. Das geht sehr schnell …“

„Allerdings – wenn man eine Lötlampe hat!“

„Werde nicht ironisch! Komm! Etwas Bewegung kann uns nichts schaden. Klettern wir zur Spitze des Dreiecks empor. Vielleicht gibt es dort manches zu sehen …“

Und er schritt hastig dorthin, wo die steile Kuppe die einzige Möglichkeit bot, sie ohne Eispickel und Bergstock zu erklimmen.

In kurzem hatten wir einen schmalen Grat genau über der Spitze des dreieckigen Eisspiegels erreicht. Es gab hier eine Menge Eisstücke, Spalten und Risse. Zwischen diesem glitzernden Geröll steckte in einer Spalte ein kurzer, dicker Pfahl, um den oben noch ein starkes, offenbar frisch geteertes langes Tau geschlungen war, dessen freies Ende ein Sitzbrett trug. Neben diesem Brett lag tatsächlich eine große Lötlampe, die noch, als ich sie schüttelte, einen Rest Spiritus enthielt.

Harst lächelte nachsichtig. „Ja, mein Alter, – nun wissen wir’s: Es muß unsere Blonde gewesen sein, die hier wenigstens einen Teil ihres Geheimnisses enthüllt hat. Ich reime mir folgendes zusammen: Die Frau hatte einen Feind, dem sie unerbittlich bis in die Polargbiete auf den Fersen blieb. Dieser Feind dürfte ein Seemann, wahrscheinlich ein Schiffskapitän oder gar ein Schiffseigentümer sein. Die Blonde verfolgte ihn vermutlich ebenfalls mit einem eigenen Fahrzeug. Irgendwie bekam sie den Mann dann in ihre Gewalt. Aber ihr Schiff wurde wrack und schwamm dann zusammen mit diesem Eisberg gen Süden. Weshalb sie diesen nicht verließ, obwohl sie doch den Kutter, den sie uns nachher notgedrungen ausliefern mußte, zur Verfügung hatte, ist schwer zu erklären. Jedenfalls existierte das Wrack noch vor sechs Tagen, als wir das erste Mal hier landeten, ist nun jedoch vernichtet worden …“

„Hm!!“ machte ich zweifelnd.

„Kein Hm!!, mein lieber Alter … Gewiß, wir haben das Wrack damals nicht gesehen. Aber es war vorhanden. Der Kutter wurde ja von dort geholt, und wenn du heute früh, als wir diese Eisinsel durchsuchten, deine bebrillten Augen besser aufgetan hättest, würdest du auch die Stelle an der größten Bucht bemerkt haben, wo es lag und … gesprengt wurde. Du kannst mir das schon glauben: Gesprengt! Es war ein eiserner Motorschoner, und jetzt ruhen seine auseinandergerissenen Teile in dem klaren Wasser jener Bucht, die einen Eisgrund hat und nicht allzu tief ist. Ich habe diese Schiffsreste gesehen. Jedenfalls hat die Blonde geahnt, daß wir nochmals hierher zurückkehren würden, hat die Inschrift hergestellt und ist dann mit ihren Eskimos und dem Eisbären in einem Boot davongesegelt.“

„Hm!! Und wer erschoß die Geschwister?!“

„Vielleicht der Feind der Blonden …“

„Aber der ist doch tot!“

„Weshalb?! – Hier auf dem Eisspiegel steht: „Hier ruht einer …“ und dieses „ruht“ kann man auch so auslegen, daß die Blonde den Mann, den sie über alle Maßen haßte, lebend irgendwo in dieser funkelnden Kuppe zurückließ – natürlich gefesselt!“

Ich lachte … „Holde Phantasie, deine Schwingen führen mich bis …“

„Stopp – blamiere dich nicht,“ unterbrach Freund Harald meinen ironischen Erguß. „Man muß seine Gedanken stets fein am Zügel haben, Mäxchen Schraut! Der Schluß der Inschrift lautet nämlich „Mein ist die Rache, spricht der Herr!“ Und dies scheint mir logischerweise darauf hinzudeuten, daß unsere Unbekannte ihrem Feinde noch eine Möglichkeit zum Entrinnen bot: Sie fesselte ihn und steckte ihn in irgendeine breitere Spalte dieser Kuppe, überließ es also einer höheren Macht, den Mann elend umkommen zu lassen oder ihn irgendwie zu retten. Dann segelte sie auf und davon. Dann landeten hier die Geschwister. Der Mann hatte sich jedoch inzwischen befreit, schoß die beiden nieder und benutzte deren Flugzeug zur Flucht.“

Ich verbeugte mich …

„Allerhand Achtung, Harald! Das kann stimmen … Denn auch das Flugzeug der Bruchstallers ist futsch. Mithin ergibt sich aus alledem für uns beide, daß wir hier magere Weide vor uns haben und weder den „Mann“ noch die Blonde jemals wiedersehen dürften!“

Harst schaute mich so merkwürdig an.

„Wir haben noch immer gefunden, was wir finden wollten, mein Alter …! – Gehen wir zunächst dorthin, wo die Trümmer des Schoners auf dem Eisboden der Bucht liegen. Ich werde ein Bad nehmen.“

„Also tauchen!“

„Natürlich …! Was sonst. Ich werde den Namen des eisernen Motorschoners feststellen, koste es, was es wolle. Mehr als ein Schnupfen wird dabei nicht herauskommen – bei meinem abgehärteten Kadaver!!“

Er war wieder in tadelloser Laune …

Nun – es kam schon etwas bei dem Tauchen heraus, nur kein Schnupfen … Auch ein Harst irrt sich zuweilen …!

 

2. Kapitel.

Harst dementiert …

Ich durchschaute Haralds Gedankengang vollkommen. Hatten wir erst einmal den Namen des Schoners, so ließ sich an Land irgendwo unschwer herausbringen, wo das Schiff beheimatet, wem es gehört hatte – und so weiter. So mußten wir auch auf die uns wertvollen Namen dieser dunklen Tragödie stoßen, und kannten wir die erst einmal, war alles weitere nur noch handwerksmäßiger Kram.

Harst hatte es jetzt gar nicht mehr eilig. Nachdem wir von der Eiskuppe wieder herabgeklettert waren, gingen wir erst einmal an Bord unseres tadellosen Kutters und frühstückten. Wir waren gut verproviantiert, und dieses Frühstück vorn an Deck im Sonnenschein söhnte mich vollends mit dieser kühlen Robinsonade aus, denn kühl war’s hier trotz der wärmeren Strahlen des Tagesgestirns …

Harald sprach wie ein Buch. Das hat er nun mal so an sich. Hielt mir einen langen Vortrag über Eisberge. Weiß der Himmel, wo er all diese bis ins einzelne dringenden Kenntnisse über die entlegensten Gebiete sogenannter universeller Bildung her hat! Sein Kopf ist vollgepropft mit den unmöglichsten Dingen.

Daß mich dieser Vortrag nicht sonderlich begeisterte, war mir nicht zu verdenken. Ich hätte weit lieber über die Blonde und den „Feind“ mich unterhalten.

Aber mit einem Male horchte ich doch genauer hin …

„Diese Eisberge haben alle die unangenehme Unart,“ sagte er und öffnete eine zweite Büchse Hummer, „nach einer gewissen Zeit des Umherschwimmens in wärmerem Wasser ihren Schwerpunkt zu verlegen, das heißt – umzukippen, da die im Wasser liegenden Teile wegschmelzen und schließlich bei stärkerem Seegang der Herr Eisberg sein Oberstes zu unterst kehrt, – er kippt um und streckt die Beine in die Luft und schwimmt mit dem bisherigen Kopf nach unten …“

Mir wurde etwas schwül zumute, denn Harald hatte diese Sätze in einem Tone gesprochen, der trotz der eingestreuten scherzhaften Wendungen außerordentlich ernst klang.

„Hoffentlich benimmt dieser hier sich manierlich!“ warf ich ein und trank einen Schluck Kognak.

„Hoffentlich …! Wir haben ja ruhige See … Obwohl es auch vorkommt, daß diese Eisinseln urplötzlich ohne jede erkennbare Ursache einen Purzelbaum schlagen …“

„Das fehlte gerade noch!“ Ich trank noch einen Kognak.

„Das wäre ein schneller Tod, mein Alter! – Aber lassen wir diese unbehaglichen Erörterungen. Du sagtest soeben, daß „noch etwas fehle“ – oder so ähnlich! Allerdings fehlt noch etwas in deiner Gedankenreihe. Denken heißt, logisch frühere Erfahrungen auswerten. Deine Erfahrungen hätten dir sagen müssen, daß meine vorhin so spielerisch entwickelte Theorie über die Vorgänge hier auf unserer weißen Insel doch einen gewaltigen Haken haben …“

Er fischte gemütlich mit der Gabel eine große Hummerschere aus der Büchse heraus und hielt mir den Bissen hin.

„Danke,“ lehnte ich ein wenig gereizt ab, denn der Purzelbaum des Eisberges lag mir noch wie Blei im Magen.

Harst verzog den Mund. „Du solltest ja gar nicht essen! Ich halte hier in meiner Linken eine Büchse, in der Rechten etwas von ihrem Inhalt. Es gibt nun verschiedene Arten von Büchsen, Konservenbüchsen, Puderbüchsen, Stiefelkremebüchsen und … einläufige, doppelläufige, auch dreiläufige Büchsen oder Gewehre …“

Ich blickte ihn mißtrauisch an. Wo hinaus sollte das alles?! Wollte er mich anöden?!

Aber unbeirrt fuhr er fort: „Die beiden Bruchstallers sind mit Büchsenkugeln niedergestreckt worden. Bruder und Schwester haben je zwei Kugeln erhalten und müssen sofort tot gewesen sein, sanken nieder, wo sie gestanden hatten – vor der Hütte! Die Richtung der Schußkanäle verriet mir, daß der Mörder aus ziemlicher Höhe gefeuert hatte, wahrscheinlich von jenem Eisgrat oberhalb der Spitze des Spiegels aus. – Wahrscheinlich, – so dachte ich vor zwei Stunden noch. Jetzt weiß ich es bestimmt. Denn dies hier fand ich oben im Eisgeröll neben dem Tau …“

Er schob die Hummerschere in den Mund, legte die Gabel weg und holte aus der Tasche eine Patronenhülse hervor …

„Da – eine abgefeuerte Patrone eines 7½ mm-Bulldogg-Repetiergewehres, – die Waffe des Mörders! Und nun überlege mal … Glaubst du, daß unsere Blonde ihrem Feinde, als sie ihn nach meiner Theorie die letzte Chance bot, ihn also gefesselt hier zurückließ, eine Waffe belassen haben wird?!“

Nun begriff ich Harsts langatmige Ausführungen vollkommen.

„Allerdings nicht!“ nickte ich. „Wo hatte der Mann also die Büchse her?!“

„Ja – wo hatte er sie her?! – Die Möglichkeit, er könnte sie aus Mitleid von der Blonden erhalten haben, etwa damit er Robben schießen könne und nicht verhungere, scheidet schon deshalb aus, weil die Repetiergewehre der Unbekannten, wie wir wissen, ein belgisches Fabrikat waren. Und auch die andere Möglichkeit, daß etwa die beiden Bruchstallers in dem Flugzeug, mit dem sie hier landeten, eine Bulldogg-Büchse gehabt haben könnten, die der Mann sich heimlich aneignete, müssen wir streichen. Wir kennen ja ganz genau all das, was die Betrüger in ihren Eindeckern verstaut hatten. Eine Büchse war nicht dabei. Die Frage: „Woher diese Mordwaffe?“ bleibt mithin offen und zeigt dir, daß meine Theorie falsch sein muß.“

„Stimmt! – Das hättest du aber auch gleich sagen können!“

„Hätte …!! Und hätte dir dann nicht beweisen können wie … gedankenfaul du bist!“

„Danke! Sehr liebenswürdig!“

„Gern geschehen! – Hier müssen sich also Dinge abgespielt haben, die ganz anders ausschauen als meine verfehlten Kombinationen es dir mundgerecht gemacht haben.“

Er griff wieder mit unendlicher Gemütsruhe nach der Gabel, aß weiter …

Ich wurde nervös. „Na – und … die richtige Theorie, Harald?! So rede doch!“

„Bin ich allwissend?! – Jedenfalls: wir müssen hier unbedingt außerordentlich vorsichtig sein, denn ich halte es nicht für ganz ausgeschlossen, daß der Mörder sich noch hier befindet. Meine dir auf die zarten Nerven fallende Pomadigkeit ist nur eitel Betrug. Meine Augen sind wachsamer denn je. Ich hoffte, der Kerl würde, wenn wir hier an Deck so seelenruhig frühstücken, vielleicht sein „Vielleicht-Versteck“ verlassen und von seiner Bulldogg die Schnauze oder Mündung zeigen … Stimmt bisher auch nicht! Es zeigt sich gar nichts. Trotzdem werden wir, wie gesagt, da wir eine berechtigte Abneigung gegen heimtückische Kugeln haben, unsere Luchsaugen nach allen Seiten spielen lassen … – So, ich bin satt … Wandern wir zur Bucht …“

„Gib mir bitte nochmals die Kognakflasche,“ – und ohne Rücksicht auf Haralds infamen Blick nahm ich einen Schluck, der einen Yankee-Abstinenzler blaurot vor Wut hätte werden lassen.

Dann … wanderten wir zur Bucht, ohne die Beine viel zu gebrauchen. Harald machte unseren Kutter los, und die leichte Brise führte uns rasch ans Ziel.

Den Kutter hier unweit der Hütte ohne Schutz dem „Feinde“ gleichsam anzubieten, wäre ja ein Schildbürgerstreich gewesen.

In der Bucht drüben an der anderen Seite der Eisinsel sah ich nun ebenfalls ganz deutlich unten im Wasser die Wrackstücke.

Während Harst sich schnell entkleidete und mir noch Verhaltungsmaßregeln gab, vertäute ich unser Schifflein genau über dem kühlen Grabe des Motorschoners.

Harald rieb sich gründlich von oben bis unten die Haut mit Leinöl ein, – es war schon ranzig und hatte im Vorschiff des Kutters in einer Blechkanne gestanden. Die Ölschicht sollte ihn vor der Kälte des Wassers schützen.

Dann tauchte er.

Ich beobachtete die glitzernden Buchtufer, hatte unsere beiden Clementpistolen gespannt und entsichert neben mir.

Harst erschien prustend an der Oberfläche, rief mir zu:

„Erfolglos! Ich muß nochmals hinab!“

Und nach ein paar langen Atemzügen verschwand er aufs neue in der Tiefe. Die Wrackstücke lagen etwa fünf Meter unter Wasser.

Ich … beobachtete …

Und war derart bei der Sache, daß ich einen förmlichen Schreck bekam, als mir plötzlich bewußt wurde, daß Harald noch immer nicht wieder erschienen war.

Ich hatte meine Aufmerksamkeit lediglich auf die umliegenden Teile unseres Eisberges gerichtet gehabt, hatte nur ein einziges Mal nach der Leine flüchtig hingeschaut, die Harst sich um die Brust geschlungen und deren anderes Ende am Kuttermast unten befestigt war.

Mein Schreck wurde Angst …

Ich überlegte blitzschnell …

Schätzte die inzwischen verflossene Zeit …

Minuten – mindestens fünf – mußten verstrichen sein!

Mit zwei Sätzen war ich vom Vorderdeck unseres Kutters beim Mast, holte die Leine mit hastigen Griffen ein.

Ich spürte keine Last, keinen Widerstand …

Erst als das nasse Ende der Leine über dem Wasser auftauchte, als ich es besichtigte: glatt abgeschnitten!!

Mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn …

Hatte sich Harald etwa zu tollkühn in die durch die Explosion zerrissenen Eisenteile des Wracks hineingewagt?! er sich irgendwie festgeklemmt?!

Ich warf die Oberkleider ab …

Hier gab’s kein Besinnen …

Ich mußte hinab …

Ich hatte den Feind völlig vergessen …

Beinkleider herunter …

Bückte mich … wollte die Stiefel abstreifen …

Da – über mir ein verdächtiges Singen …

Ein Schuß …

Noch einer …

Im Nu war ich hinter der schützenden Bordwand …

Eine wahnsinnige Wut packte mich. Ich Narr! Ich hatten die Pistolen dort vorn liegen lassen … Durfte nicht mal wagen, den Kopf hervorzustecken …

Dicht neben mir ein Schlag gegen die Planken – Splittern von Holz – eine dritte Kugel …

Harst tot – ertrunken!! Und ich hier einem mörderischen Feuer ausgesetzt, das ich nicht erwidern konnte!!

Ich kroch weiter … Gerade zur rechten Zeit … Vierte Kugel!! Die wäre mir quer durch den Schädel gegangen, wenn ich auf demselben Platz geblieben wäre!

Was tun?!

Ich fieberte … Der kalte Schweiß troff mir von der Stirn …

Harald – – Harald tot!!

Und ich?!

Erbärmlich von mir, daß ich jetzt nur an Deckung dachte!

Also – Stiefel herunter! Mochte der Kerl mich niederknallen! Was lag daran?!

Ich wollte mich mit kühnem Satz ins Wasser schwingen.

Blieb jedoch mit dem Rand meiner Unterkleider in der Spitze des großen Bootshakens hängen …

Und diese Verzögerung gab mir meine ruhige Überlegung zurück. Hatte es Zweck, mich hier blindlings zu opfern?! Wenn Harald wirklich dort unten zwischen den Wrackstücken festgeklemmt hing, war’s aus mit ihm! Ich würde ihn ja nie so schnell dort in der Tiefe finden und auch niemals befreien können, denn ich war das Tauchen nicht gewöhnt.

Und doch! Diese ruhige Überlegung, die wahrhaftig nichts von Selbstsucht enthielt, erschien mir wie ein jämmerlicher Verrat an dem, der mehr als einmal sein Leben für mich gewagt hatte!

Ich … riß den Bootshaken los …

Richtete mich auf …

Ein Blick in die Runde …

Kein weiterer Schuß …

Ein Blick in die Tiefe …

Und da erkannte ich etwas wie einen Schatten, der aus der grünen, schimmernden Flut emporschoß …

Ein Mensch … Harst!

Er kam an die Oberfläche …

Blaurot im Gesicht … Ich half ihm in den Kutter hinein … Er sank matt auf einen Ballen Segel …

„Kognak, mein Alter!“ stammelte er mit zitternden Lippen.

 

3. Kapitel.

Der Feind.

Ja, er war ausgepumpt, so vollkommen ausgepumpt, wie ich ihn selten gesehen habe. Er, der den Alkohol als Anpeitschmittel unendlich verachtet, und nur trinkt, wenn’s schon gar nicht anders geht, – er schluckte, sog, schluckte wieder, bekam gar nicht genug.

Ich hatte derweil rasch die Pistolen geholt, hatte ihm auch kurz mitgeteilt, daß ich beschossen worden war, und er hatte dazu nur ziemlich gleichgültig genickt.

Ich saß neben ihm auf einer Kiste, und während ich ihm nun, da er noch immer vor Kälte und Überanstrengung zitterte, das Öl vom Körper rieb und ihm die Unterwäsche überstreifte, fragte ich scheu: „Du warst zwischen den Wrackstücken festgeklemmt?“

Ein erstaunter Blick …

„Nein, mein Alter … Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich doch an der Leine gezerrt, und das würde dir kaum entgangen sein … – Ich habe – eine merkwürdige Entdeckung gemacht …“

„Im Wasser?“

„Nein und ja … Ich habe unsere Blonde gefunden …“

„Gefunden?! Dort unten? Tot?!“

„Lebend …! Gefunden – in einer Eishöhle! Dort die mittleren Kuppen unserer schwimmenden Insel sind hohl … Die Höhle erstreckt sich bis hier an die Bucht, und ein Eisgang mündet von dort schräg ins Wasser hinein. Als ich vorhin zum zweiten Male tauchte, gewahrte ich die dunkle Öffnung, steuerte hinein, sah durch das Wasser etwas wie rötlichen Glanz, schwamm den Gang empor, bis ich außerhalb der Wassergrenze war, und erblickte in einer prächtigen Eisgrotte, die in geradezu zauberhafter Beleuchtung infolge der die Sonnenstrahlen färbenden Eiswände erstrahlte, ein Feuer, und daneben unsere vier Bekannten von damals: die Blonde, die beiden Eskimos und die dreckige Polarbestie … Da ich mich ihnen in diesem adamitischen Kostüm nicht gut präsentieren konnte, kehrte ich nach einer Weile an die Oberwelt zurück. Du hast dich scheinbar um mich geängstigt, was überflüssig war …“ – Er drückte meine Hand … „Du siehst, meine ganze Theorie ist eingestürzt – bis auf den „Feind“, den die Blonde bis zum hohen Norden verfolgt hat. Schadet nichts! Wir haben es jetzt bequemer … Wir werden das Geheimnis der Fremden ohne sonderliche Mühe enthüllen. Die Personen, auf die es uns ankommt, sind hier. – Laß nur, ich ziehe mich schon allein fertig an … Halte lieber nach dem Manne Ausschau, der uns jetzt natürlich schleunigst abtun möchte. Ein Wunder, daß der Kerl nicht mehr feuert … Vielleicht ist’s mit seinem Patronenvorrat aus!“

Ich lugte vorsichtig über den Bootsrand …

Nichts …

Ich wurde kecker … Zumal der Kerl offenbar ein mäßiger Schütze war …

Nichts …

Kein Schuß … Nur Möwengeschrei und das heisere Bellen der an den Buchträndern sich sonnenden Robben …

Auch Harald richtete sich auf. „Es kann sein, daß dem Manne vielleicht auch die Schüsse schlecht bekommen sind,“ sagte er schon wieder listig zwinkernd. „Natürlich hat die Eisgrotte einen zweiten Ausgang. Oder gar mehrere. Und da anzunehmen ist, daß der Kerl, um die Sache nun auf den richtigen Dreh zu bringen, der Blonden entschlüpft ist, und daß er nun seinerseits die Fremde und die Eskimos sucht, so könnte eben das Verstummen der Schüsse darauf hindeuten, daß der Mann von den kleinen Transäufern inzwischen hinterrücks niedergeschlagen worden ist, als er nur deiner geschätzten Person eine höchst unzweckmäßige Aufmerksamkeit widmete. Wir werden das ja sehr bald heraushaben, mein Alter. – Woher kamen die Schüsse?“

Eine Antwort erübrigte sich.

Unser Kutter lag etwa fünf Meter vom Eisrande der Bucht entfernt. Dieses Ufer war nur stellenweise glatt, bestand in der Hauptsache aus höchst phantastisch geformten Blöcken und Zacken und stieg dann in unregelmäßigen Terrassen bis zum Fuße des „Berglandes“ unserer schwimmenden Insel an.

… Antwort erübrigte sich …

Weil nämlich hinter einem der nächsten Blöcke hervor eine tiefe Baßstimme sich in unliebenswürdigster Art einmengte …

„Pfoten hoch: ihr beiden!“ lautete der energische Befehl, dessen Schlichtheit durch einen deutlich sichtbaren Büchsenlauf wirksam unterstützt wurde.

Gewiß – unsere Clementpistolen lagen in Greifnähe. Aber gegenüber einem solchen kleinen schwarzen Mündungsloch einer Schußwaffe tut man gut, alle Greifgelüste zu unterdrücken.

Harald hob die noch in Hemdärmeln steckenden Arme, und ich folgte seinem Beispiel. Wir hatten uns eben überlisten lassen, und dagegen war vorläufig nichts zu machen.

„Zieht den Kutter näher ans Ufer!“ befahl der Unsichtbare in tiefstem Grogbaß und in demselben volkstümlich-rauhen Deutsch. „Und dann springt aufs Eis und verduftet schleunigst! Euren Kutter kann ich gerade gut brauchen. Die Geschichte hier wird langweilig. Das verdammte Frauenzimmer und die beiden stinkenden Eskimos sind ausgekniffen. Werde sie schon finden! – Nun macht fix!“

Harald packte gehorsam das Tau, während ich am Heck den kleinen Anker einholte.

Dann zogen wir den Kutter dem Ufer näher.

„Schneller!“ grunzte der Grobian.

„Wie Sie wünschen!“ meinte Harst liebenswürdig. „Aber wenn die Bordwand dabei ein Loch kriegt, ist’s nicht unsere Schuld.“

„Der Satan hole euch! Also langsamer!“

„Der Satan hat mit uns nichts zu schaffen, mein Herr,“ korrigierte Harst den Fluch des Fremden mit harmlosem Spott. „So – der Kiel schrammt schon über das Eis hin … Jetzt sollen wir also springen?“

„Zum Teufel – – springt!!“

Harst sprang …

Glitt jedoch auf der niederen Reling aus und schlug nach hinten über, war sofort wieder auf den Beinen und sprang abermals – erreichte die Eiskante gerade dicht vor einem anderen Block, und – – ich ebenfalls.

Wir waren kaum hinter dem Block in Deckung, als ein Schuß knallte und die Kugel uns mit einem Hagel von losgerissenen Eisstückchen bedachte …

Ich nahm’s dem Kerl nicht weiter übel, daß er gefeuert hatte. Ich wunderte mich vielmehr, daß er Harsts bescheidenen Trick nicht sofort mit einem länglichen Stück Blei beantwortet hatte, aber offenbar war der Herr mit dem Kellerbaß etwas begriffsstutzig und hatte zu spät erkannt, daß Haralds Ausgleiten und Fallen lediglich unseren Pistolen gegolten hatte.

Wir hatten sie jedenfalls, die kleinen schwarzen Knallbüchsen mit je neun Schuß, und die Aussichten unseres Gegners, jemals mit dem Kutter davonsegeln zu können, standen nun wirklich verdammt schlecht.

Nach dem sinnlosen Schuß, den er auf die Oberkante unseres Eisblocks abgegeben hatte, hörten wir ihn keine zehn Schritt vor uns wüst fluchen und drohen. Dann verstummte er. Haralds herzliches Gelächter hatte ihn wahrscheinlich zur Einsicht gebracht, daß er klüger täte, sich nicht noch mehr zu blamieren.

Wir äugten rechts und links, hielten uns schußfertig.

Immerhin – sehr vergnüglich war diese Situation nicht, und diese gegenseitige Belagerung konnte kaum längere Zeit ausgedehnt werden.

Harst nahm mir da mit einem Male die Mütze ab und brach von einer vorspringenden Ecke unseres Blockes einen langen Eiszapfen ab, steckte die Mütze auf diese gefrorene Wasserstange und schob sie – welch herrliche Trappererinnerungen kamen mir da! – über die obere Kante unserer Deckung ein wenig hinweg – immer höher … höher.

Der Kerl reagierte nicht. Kein Schuß fiel.

„Na – dann eben nicht!“ meinte Harald und gab die Sache endgültig auf. „Entweder hat der Kerl sich rückwärts konzentriert oder aber er ist doch zu schlau, an eine leere Mütze seine Munition zu verschwenden. Mithin – etwas anderes!“

Ich war gespannt. Ich überlegte mir, was wohl Old Shatterhand oder Sherlock Holmes oder sonst eine internationale Berüchtigtheit in solchem Falle getan haben würde.

Harst legte sich lang auf den Bauch und angelte einen Eisklumpen von gut zwei Zentner Gewicht heran, der etwa ein Meter hoch war und ungefähr Kegelform hatte.

Diese bewegliche Deckung benutzte er dann dazu, hinter ihr und mit ihr ein Stück nach links zu „schliddern“ – wie wir als Hosenmätze sagten. Der feine Mitteleuropäer sagt „gleiten“.

Nun waren wir beide also getrennt. Harst hockte links hinter seinem Eiskegel, den er in kurzem noch weiter dirigierte …

Kein Schuß fiel … Und doch wollte auch das nichts besagen. Nach den Erfahrungen, die der Kerl mit uns vorhin gemacht hatte, würde er nun wohl einige Prozent schlauer geworden sein.

Aber Haralds erfinderischer Geist wußte auch ein Mittel, selbst diese Unklarheit zu beheben. Er streckte den rechten Arm mit der Clement rechts hinter seinem Eiskegel hervor, feuerte dreimal in ungefährer Richtung des Feindes und … schielte links um die Ecke …

Wieder erfolgte nichts.

Harst verließ seine gefrorene Gleitwand, lachte mir zu und rief: „Verduftet!“

Auch ich trat hinter meinem Block hervor.

Wenn der Mann ausgerückt war, hatte er sich vorläufig auch endgültig empfohlen, was ja wie ein Widerspruch klingt und doch keiner ist.

Zwei bewaffnete Gegner, – da mußte er wohl zunächst auf alle Angriffsabsichten verzichten, wenn er nicht gerade das eigene Fell riskieren wollte.

Daß wir trotzdem äußerst vorsichtig blieben, war selbstverständlich.

Harald schritt mit erhobener Pistole auf den gegnerischen Schutzwall zu. „Beobachte du ringsum!“ befahl er.

Ich tat’s …

„Hallo – hier liegt er!“

Mit zwei Sprüngen war ich neben ihm.

Stimmte. Da lag er. Ein hagerer, langer, schwarzbärtiger Kerl in einer schäbigen Seemannskluft …

Harald bückte sich …

„Merkwürdig – keinerlei Verletzung!“

Da schlug der Mensch auch schon die Augen wieder auf, glotzte uns groß an und … stieß einen ekelhaften Fluch aus.

„Was ist mit Ihnen geschehen?“ fragte Harald mit merklicher Verachtung.

„Geschehen?! Na – das werden Sie doch wohl am besten wissen! Oder glauben Sie, daß eine dressierte Robbe mir in den Rücken geschlichen ist und mir einen Klaps auf den Schädel gegeben hat?! – Sie erlauben wohl, daß ich aufstehe … Ich liege hier gerade in einer der verfluchten Pfützen!

Die vermaledeite Sonne schmilzt ja immer mehr von diesem …“

„Stehen Sie auf – vorwärts!“ fiel Harst dem widerwärtigen Patron in die Rede. „Und sprechen Sie gefälligst nur, wenn Sie gefragt werden! – Schraut, hole eine Leine aus dem Kutter, damit wir den Burschen fesseln können!“

„Fesseln – – mich?!“ heulte dieses Scheusal in einer Wut, die ihm den Schaum aus den Mundwinkeln trieb. „Mich fesseln – – mich?! Na, da habt ihr lange dran! Knallt mich doch nieder, ihr gestriegelten Kulturlaffen! Denkt ihr, ich fürchte den Tod?! Ihr beide könnt mich …“

… Und dann folgte eine so unflätige Redensart, daß Harald, um der abstoßenden Szene eine Ende zu machen, blitzschnell mit der linken Faust zuschlug …

Der Herzgrubenhieb saß. Der lange Schlag – [wie][2] tot sackte er zusammen.

Und als er seine fünf Sinne wieder leidlich beieinander hatte, war er längst in unserem Kutter achtern an die Ruderbank geschnürt.

Eins stand jedenfalls fest: Der Mann war kein Feigling! Das bewies er auch jetzt. Nachdem er uns wiederum mit einer wahren Auslese von Kraftausdrücken belegt hatte, mußten wir ihm gewaltsam einen Knebel in den Mund pressen, und selbst dann noch benahm er sich wie ein wildes Tier. Ungeheure Körperkräfte mußte er haben. Den starken Fesseln setzte er derart zu, daß wir die Schlingen enger ziehen mußten! Kein Mittel konnte seiner Raserei Einhalt gebieten. Drohungen verlachte er. Freilich – er war wehrlos und konnte nicht verhindern, daß wir ihm die Taschen gründlich durchsuchten. Sie enthielten nichts von Belang, keine Papiere … nichts, das über seine Person irgendwie Aufschluß gegeben hätte.

Ein unangenehmer Gefangener war’s …

Und auch Harald schien verblüfft über so viel rohes Draufgängertum.

 

4. Kapitel.

Ein Held?!

Doch – jeder Brunnen wird einmal leer, und so konnte denn auch diese menschliche Bestie ihr wildes Wüten nicht in alle Ewigkeit fortsetzen.

Allgemach wurde er ruhiger. Und dann kam die Reaktion … Er wurde schlapp … Seine blutunterlaufenen braunen Augen, denen es, hätten sie einen anderen Ausdruck gehabt, nicht an Schönheit fehlte, schlossen sich. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und da erst sah ich die gewaltige Beule, die er am Hinterschädel hatte, eine Beule von dem Schlage, den er fälschlicherweise uns anrechnete, während es doch nur einer der Eskimos gewesen sein konnte, der hier Vorsehung gespielt und dann infolge Haralds Schüssen schleunigst wieder die Eishöhle aufgesucht hatte.

Unser Gefangener war jetzt in gleicher Weise seelisch und körperlich erledigt. Sein verwildertes Gesicht zeigte alle Merkmale eines schweren, inneren Kampfes, bis er dann, ohne die Augen zu öffnen, halb röchelnd hervorstieß:

„Weshalb … quälen Sie … mich so!! Gut, ich bin ein Mörder!! Warum knallten Sie mich also nicht nieder?!“

Sein Gesichtsausdruck, dazu dieses merkwürdige Geständnis: der Mann wurde mir immer rätselhafter!

Harst setzte sich vor ihn auf den Deckel der Vorderluke. „Sie geben also zu, die beiden ermordet zu haben …,“ meinte er scharfen Tones. „Weshalb erschossen Sie die beiden Flieger?“

Der Mann riß die Augen auf und lachte schrill … „Sie wollen mich wohl noch verulken!! Flieger?! – Na, da müssen Sie schon etwas früher aufstehen, wenn Sie mich zu frozzeln suchen, Sie … Sie – ja, wer sind Sie eigentlich?!“

Ich beobachtete Harald. Das war lohnend, denn seine Blicke umspielten dauernd das braune, bärtige Antlitz des Fremden, belauerten jede Veränderung des Mienenspiels und schienen irgendetwas entdeckt zu haben, das bisher für uns verborgen geblieben.

Dann sagte Harst wie zu sich selbst – nur halblaut: „Also so liegen die Dinge!“ Und fügte wieder genau so streng hinzu: „Wo ist das Boot, mit denen die Ermordeten hier auf den Eisberg gelangt waren? Und wo ist die blonde Frau, der wir vor sechs Tagen hier begegneten? Reden Sie! Und lügen Sie nicht! Das wäre zwecklos und feige.“

Der Mann grinste matt. „Feige – – ich?! Noch besser! – Die Frau ist mit dem Boote auf und davon!“

„So … so …! – Mein Lieber, Sie schwindeln …“ Haralds Ausdrucksweise wurde vertraulich-überlegen. „Aber Sie unterschätzen uns gründlich. – Wer hat denn die Inschrift auf der dreieckigen, blanken Eisfläche eingeschmolzen?“

Für Sekunden wurde unseres Gefangenen Gesicht vollkommen hilflos und verwirrt.

„Die … die Inschrift …, ja, … die stammt von mir!“

„So … so …! – Mein Lieber, Sie schwindeln abermals. Doch lassen wir das jetzt … Im Guten ist mit Ihnen nicht fertig zu werden. Sie müssen also schon die Folgen Ihrer Widerspenstigkeit tragen. Zum letzten Male frage ich Sie: Wer sind Sie?“

„Und ich antworte: Wer sind Sie beide?“ lachte der Kerl mit derselben Unverschämtheit wie vordem. Er hatte sich mittlerweile wieder erholt, und unsere Aussichten, ihn zum Sprechen zu bringen, standen schlechter denn je.

Harst wurde ärgerlich. „Gut denn!! – Schraut, tragen wir ihn aufs Eis … Mag er dort gefesselt liegen bleiben. Ich will ihm eine kleine Chance gewähren, sich trotz allem noch zu retten. Befreit er sich, – sein Glück!!“

Mein guter Harald war mir in diesem Moment, wo er fast genau dieselben Sätze sprach, die ich schon einmal aus seinem Munde bei der Entwicklung seiner verfehlten Theorie gehört hatte, unverständlicher denn je.

Unser Mann hatte gute Ohren.

„Schraut?!“ rief er. „Nannten Sie Ihren Gefährten wirklich Schraut?!“ Und dann zu mir in schlecht verhehlter Erregung: „Sind Sie etwa Herr Max Schraut?“ Sein Blick betastete mein Gesicht, glitt zu Harald hin … „Himmel, ich war blind! Sie sind Harst und Schraut – natürlich!“ Er war bleich geworden … Und leiser: „Also Harst und Schraut – – auch das noch!!“

„Los!“ rief Harald mir ungeduldig zu. „Aufs Eis mit ihm! Fressen ihn nicht die Möwen, so mag er entschlüpfen. Wir können im Kutter keinen Gefangenen gebrauchen!“

Und er meinte all das völlig ernst. Er wurde grob, als ich zögerte …

Dann lag unser Mann zwischen den Eisblöcken, brüllte uns nach: „Der Satan hole euch beide – – der Satan und seine Großmutter!!“

Harst löste das Tau von der Eiszacke. Das Großsegel füllte sich knallend, und der Kutter schoß ins offene Meer hinaus.

Unser Mann hatte sich zu sitzender Stellung aufgerichtet und fuhr in seiner widerlichen Schimpfkanonade fort, so lange er noch annehmen konnte, daß wir ihn hören mußten. Die geringe Sympathie, die mir sein absoluter Gleichmut gegenüber dem Tode eingeflößt, zerrann infolge dieses abstoßenden Benehmens wieder in nichts und wandelte sich in das Gegenteil.

„Ein Scheusal, der Kerl!“ sagte ich zu Harald, der am Steuer saß.

Und er?! – Er lächelte nachsichtig überlegen …

„Ein Held, mein Alter! Dies wird mir eine Warnung sein, dies Erlebnis hier. Ich habe mich noch nie so grob verhauen wie auf dem Eisberg dort, dem wir nun bis zum Abend Lebewohl sagen und der mit seiner winterlichen Kühle doch eigentlich meine Gedanken hätte klären müssen!“

„Ein … ein Held?!“

Da lachte er … „Ja, da staunst du, Max Schraut! Bist du denn wirklich noch nicht auf den richtigen Dreh gekommen?!“

„Kann man das?! Ich denke, die Geschichte ist verworrener denn je!“

Wieder lachte er … „Man kann’s! Die Bereitwilligkeit, mit der unser Mann plötzlich die beiden Morde eingestand, brachte mich auf die richtige Fährte. Ich stellte ihm eine Falle: er hatte keine Ahnung, daß die Bruchstallers mit einem Eindecker gekommen waren, er hatte keine Ahnung von der Inschrift, sie war ihm entgangen, und dennoch log er, er habe sie hergestellt. Mithin …“

„… mithin?!“

„Strenge deinen Verstandskasten nur etwas an, mein Lieber!“

Ich tat’s … Man ist ja schließlich auch nicht gerade auf den Kopf gefallen … Aber – diesmal schien ich ein dickes Brett vor meinem kahlen Schädel zu haben, ein ganz dickes!

Harald beachtete meine bittenden Blicke nicht, rauchte sich eine Mirakulum an und lehnte sich bequem zurück und pfiff irgendeinen Gassenhauer.

Ich wurde gereizt, schalt, schimpfte, und warf mich schließlich vorn auf die Deckplanken und starrte zum lichtblauen Julihimmel empor …

Klüger wurde ich auch dadurch nicht.

 

5. Kapitel.

Als er kenterte …

Unser Mann!!

Die weiße Grotte …!!

Das beides hängt miteinander aufs innigste zusammen und stellt einen der außergewöhnlichsten Kriminalfälle des Jahres 1927 dar. Was die Zeitungen darüber berichtet haben, war zu wenig erschöpfend, um dem Leser gerade all die Momente deutlich vor Augen zu führen, die in ihrer Gesamtheit das Bild eines wirklichen Sensationsfalles ergaben. – Unser Mann hat uns noch lange in Atem gehalten, nachdem unsere schwimmende, blanke, prachtvolle Insel längst dem Torpedoschuß eines schwedischen Zerstörers zum Opfer gefallen war. –

Abend auf dem Atlantik … Ein herrlicher Sonnenuntergang, eine Farbenpracht, die noch dadurch erhöht wurde, daß wir nach Norden zu stets die obersten Spitzen des Berglandes unserer Insel vor Augen hatten – Spitzen, die wie Riesenkohlen glühten, die dann allmählich ihre Farbenpracht einbüßten und von der Dämmerung verschluckt wurden.

Wir beide hatten bisher nur das Nötigste miteinander gesprochen. Ich war schwer verärgert, und Harald wieder in glänzender Stimmung, und derartige Extreme vertragen sich schlecht. Wir hatten gegessen, getrunken, hatten geraucht und ständig im frischen Winde gekreuzt, um den Eisberg nicht aus den Augen zu verlieren. Nun, wo die Dunkelheit rasch zunahm, wendete Harst und steuerte nach Norden.

Die steife Brise frischte immer mehr auf. Um elf Uhr erschien im Westen eine dunkle Wand, über die zuweilen ein fahles Leuchten hinlief: Gewitter!

Ich mußte die Segel reffen. Trotzdem tanzte unser Kutter wie ein wildgewordener Renner über die schäumenden Wogen dahin. Reichlich Spritzer kamen über Bord. Der Kutter hatte ein Schwert. Ich ließ es hinab, um einen besseren Ausgleich gegen den Wind zu schaffen. Wir legten Ölzeug an.

Harst war mit einem Male sehr still geworden. Dann reichte er mir plötzlich die Hand. „Vertragen wir uns wieder, mein Alter … Niemand kann voraussehen, was geschieht. Die nächsten Stunden werden sehr böse werden. Das Unwetter naht, und wenn wir Pech haben, schießt unser Eisberg, der dort schon deutlich sichtbar ist, ausgerechnet dann einen verhängnisvollen Purzelbaum, wenn wir unserer Blonden eine nächtliche Visite abstatten …“

Ich erwiderte den kräftigen Druck seiner Hand … „Warum ein Held?!“ fragte ich dann zögernd.

Er überhörte es …

„Noch ein Reff, mein Alter!“ befahl er ernst. Und da ausgerechnet jetzt eine niederträchtige Woge uns vollends in Gischt hüllte und mir kräftig den Mund ausspülte, verschluckte ich meine Antwort auf diese erneute Ablehnung.

Eine halbe Stunde drauf liefen wir in eine der Buchten der Eisinsel ein, fanden stilles Wasser, vertäuten den Kutter und betraten das Eisufer.

Der riesige Eisberg schwankte trotz des Wogenanpralls, die seine andere Seite traf, nur unmerklich. Ich drängte daher auch meine unangenehmen Gedanken, der Eisriese könnte kentern, zurück und kletterte dicht hinter Harst im fahlen Dämmerlicht der gewitterschwangeren Sommernacht eine der Kuppen hinan.

Harald schien es von vornherein auf diese Kuppe abgesehen gehabt zu haben, die mit ihren Ausläufern bis zu jener anderen Bucht sich erstreckte, auf deren Eisgrund die Wrackstücke lagen.

Wrackstücke … Haralds Tauchversuche … Meine Angst um sein Leben …! – Wie unendlich weit, wie endlos fern war all das bereits im Dunkel der Vergangenheit verschwunden – und war doch erst kaum acht Stunden her!

So ist’s ja immer mit Ereignissen, die sich gleichsam auf einem Fleck zusammendrängen … Man verliert die Übersicht, das ganze Erleben wird unklar und verschwommen, und man muß sich Mühe geben, die Dinge zeitlich auseinanderzuhalten. –

Harst machte auf einer breiten Terrasse halt. Wir hatten von hier Fernsicht nach Westen, sahen das schwarze Gewölk, die zuckenden Linien der Blitze, und spürten in dieser Höhe deutlicher als vorhin das Taumeln des Eisriesen in der kochenden Flut.

„Hier muß es sein,“ sagte Harst. „Hierhin wandte sich der Eskimo, der mit einem Ruder unseren Mann niedergeschlagen hatte … Ich sah den kleinen, dicken Burschen … Er rannte wie gehetzt … Meine Schüsse hatten ihm Beine gemacht.“

Ich, Naturschwärmer von jeher, hatte nur Augen für das prachtvolle, nächtliche Schauspiel, das unsere weiße Insel im Kampf mit den anstürmenden Wogen des Atlantik darbot.

Harst da – mir einen gelinden Rippenstoß versetzend:

„Der Eingang zur Eisgrotte!“

Das wirkte …

Ich blickte hin …

Er hatte ein gewaltiges Eisstück von der Rückwand der Terrasse weggerollt und so eine breite Spalte freigelegt, die sich schräg nach unten zog …

Seine Taschenlampe leuchtete auf …

„Clement heraus!“ befahl er leise.

Ich schob die Sicherung zurück …

Folgte ihm …

Leise … langsam …

Die Spalte hatte zahllose Krümmungen. Mit jedem Schritt wurde es kälter … kälter …

Und dann … erlosch der grelle Lichtschein der Taschenlampe …

Noch eine Biegung …

Harst beginnt zu kriechen …

Das Eis rings um uns knirscht verdächtig … Das Schwanken des feuchten, eisigen Bodens, auf dem wir uns bewegen, wird stärker …

Wir schieben uns weiter vor.

Blöcke decken uns …

Stimmen schrillen vor uns …

Ein Weib lacht …

Lacht wie ein Satan …

Wir sehen …

Sehen das, was der Zeichner des Titelbildes getreulich wiedergegeben …

Sehen, daß die Blonde unseren Mann durch den halbzahmen, dreckigen Eisbär zerreißen lassen will …

Die Bestie richtet sich auf an dem Holzpfahl …

Stumpfsinnig hocken die beiden Transäufer abseits …

Zweierlei geschieht da …

Mit ungeheurer Verachtung ruft unser Mann:

„Schäme dich! Du bist nicht wert, daß ich deinetwegen …“

Was noch folgen sollte, verschlingt Haralds Pistolenschuß.

Der Bär fährt hoch, kollert zurück …

Kopfschuß …

Und im gleichen Augenblick bin ich wie auf einer Schaukel – so taumelt unsere Eisinsel …

Taumelt … Das Herz setzt mir aus … Ich fühle, wie ich blaß werde …

Harst ist vorgesprungen … Hat das Weib zur Seite gestoßen, den Mann losgeschnitten, zieht ihn mit sich – in den Gang hinein …

Brüllt: „Fliehen – – nach oben!! Der Eisberg kentert!“

Wir rennen, stolpern …

Wir erreichen die Terrasse … Klettern abwärts … fallen, gleiten, stoßen uns blutig …

Der Eisberg pendelt … pendelt …

Wir sind im Kutter …

Wir drei …

Los das Tau … Das Segel knallt … Warten können wir nicht …

Der Kutter stürmt vorwärts …

Offenes Wasser …

Eine Garbe von Blitzen …

Drei Augenpaare stieren auf die weiße Insel … Die Kuppen pendeln – immer stärker – – neigen sich nach Osten … Und die ganze ungeheure Masse kippt …

Eine turmhohe Woge nimmt den Kutter mit sich fort …

Ich schlucke Wasser …

Ringsum Wasser … Wasser – über uns …

Wir … sinken … sinken …

Ich habe mich an die Vorderluke geklammert …

Wir … sinken …

 

 

Peter Gardens Geheimnis.

 

1. Kapitel.

Insulaner.

Die Riesenwoge, die durch das Kentern der Eisinsel entstanden, hat es damals doch gnädig gemeint.

Wir sanken nicht … Wir wurden nur für anderthalb Minuten in die Tiefe gedrückt. Unser braver Kutter rappelte sich wieder empor …

Wir spuckten, schnappten nach Luft, wir drei … Wir waren naß bis auf die Haut … Und achteten auf nichts, schauten nur dorthin, wo jetzt ein völlig anders gestalteter Eisberg trieb …

Keine Berglandschaft mehr … Nur ein schwach gewölbtes, immerhin noch zerklüftetes Etwas …

Die Kuppen, die Berglandschaft waren hinabgetaucht in die Tiefe …

Und was in der weißen Grotte geatmet, war – – tot, – ertrunken wie Ratten in einer Eimerfalle …

Und über der neuen, alten Insel, über uns tobte das Sommergewitter ….

Urplötzlich entströmte den finsteren Wolkenvorhängen eine Sintflut, die uns jede Aussicht benahm.

Trotzdem brüllte unser Mann, mit dem wir nach der entsetzlichen Katastrophe noch kein Wort gewechselt hatten, wie in wilder Verzweiflung:

„Wir müssen hin, Herr Harst, – wir müssen! Vielleicht können wir doch noch jemand retten!“

Retten?!

Mir schien’s vermessen, auch nur daran zu denken …

Die Blonde und die beiden Eskimos waren tot … Jede Hoffnung war hier eitel – jede … Die Grotte mußte sich sehr rasch mit Wasser gefüllt haben, war nun ein Teil des unter der Meeresoberfläche schwimmenden Teiles des Eiskolosses.

„Ich bedauere Sie …!“ sagte er herzlich. „Aber – Rettung – – unmöglich! Das werden Sie selbst einsehen!“

Dann widmete er sich unserem Kutter, und unser Mann und ich halfen. In zehn Minuten hatten wir wieder unter Wind eine Bucht erreicht, die uns und unser Schifflein vor dem Wüten des Orkans vollkommen schützte. Kaum hatten wir den Kutter festgemacht, als der Fremde schon, in der Linken eine der Laternen, über die feuchte Eisfläche davonrannte.

Es regnete nicht mehr ganz so toll, und das Gewitter war im Abziehen.

„Armer Kerl!“ meinte Harald, und schaute dem Davoneilenden nach.

Ich begriff diese Äußerung genau so wenig wie all die vorhergehenden, die sich auf diesen „Mörder“ bezogen hatten, den mein Freund als „Held“ bezeichnet hatte.

„Harald,“ wandte ich mich an meinen langjährigen Lehrer und Gefährten, der soeben das Großsegel zu beschlagen begann, „Harald, was ist nun eigentlich mit diesem Menschen, den du wie einen Gentleman behandelst, in Wahrheit los?!“

„Los?!“ rief er … „Ich denke, du schriftstellerst! Und denn benutzt du so nachlässige Redensarten wie „los sein“?! – Der Mann ist Gentleman … Glaube mir nur!“

„Hm …!! Ich denke, du pflegtest bisher Mörder nicht Gentleman zu titulieren!!“ Und ich begann das noch im Niedergang der kleinen Achterkajüte fußhoch stehende Wasser auszuschöpfen.

„Ich pflege einen Fehler, selbst den gröbsten, stets zuzugeben, und das tun sehr wenige Menschen,“ lautete die schlichte Antwort. „Es ist bekanntlich schwerer, mein Alter, ein sogenanntes ehrliches Eingeständnis eigenen Versehens zu erreichen als das Gegenteil, das Prahlen mit einem Erfolg, bei jemandem zu unterdrücken. Prahlen tue ich nie. Einsehen immer. In diesem Falle liegen sämtliche Fehler bei mir. Ich habe unserem Manne viel abzubitten. Meine Theorien waren leichtfertig, freilich hervorgerufen durch eine Person, die selbst mich zu täuschen verstand.“

„Ah – die Blonde!“ Und ich hörte mit Schöpfen auf …

Das Gewitter war vorüber.

Über uns blinkten frohe Sternlein …

„Allerdings – die Blonde! Sie ist die Mörderin der Bruchstallers! Und unser Mann, der sie in der weißen Grotte mit „Du“ anredete, der vorher alle Schuld auf sich nahm, der vor uns den groben, ungebildeten Rohling spielte, – dieser tadellose Schauspieler und Todesverächter muß zu ihr in einem sehr nahen verwandtschaftlichen Verhältnis stehen. Ich nehme an, er ist ihr Gatte …“

Ich … stand da, Schöpfeimer in der Hand, starrte hinüber zum Eisberg …

Von dem Fremden war nichts mehr zu sehen. Aber – die Schleier waren gefallen – gründlich – vollkommen!

Die Blonde die Mörderin!!

Und weiter?!

Mein Blick wanderte zu Harst …

Der tat wie ich jetzt: schöpfte, – ruhig, gleichmäßig wie eine gut bediente Pumpe!

Sagte: „Beeile dich! Wir wollen ihm nach!“

Es dauerte noch zehn Minuten, bis wir dann gleichfalls den so völlig verwandelten Eisberg betreten konnten.

Auch die Mondsichel war nun aufgetaucht. Wer jemals auf einem Gletscher in leidlich mondheller Nacht geweilt hat, der wird begreifen, daß diese Wanderung über die schwimmende Eisinsel ein Genuß von berauschender Eigenart war. Ich wünschte, meiner bescheidenen Phantasie stände der unermeßliche Wortreichtum und jene plastische Schilderungskunst des Schreibers J. C. Heer[3] zur Verfügung …! Leider ist dem nicht so. Und ich muß daher lediglich erklären: selbst in den Schneebergen Nepals angesichts des „Daches der Welt“, der Himalayakette, ist mir nie so weihevoll zumute gewesen, wie in jener kaum zwei Monate zurückliegenden Nacht auf unserer gekenterten schwimmenden Insel mit ihren unzähligen Teichen, Seen, Flüssen, Bächen und Wasserfällen, – alles eine Folge des Kenterns, all diese Nässe herausgeschöpft aus dem unendlichen Vorrat des Atlantik …

Um uns her ein Gurgeln, Quirlen, Brausen, Schäumen.

Wir selbst uns oft als Seiltänzer auf schmalen Eisdämmen vorwärtsbewegend – dem Mittelpunkt der großen Insel zu …

Wir selbst so erbärmlich unbedeutend im Vergleich zu dem, was hier Mutter Natur wieder einmal hervorgezaubert: einen gefährlichen Riesen aus dem höchsten Norden, – trotz aller Gefährlichkeit eine Überfülle von Schönheit!

Über schroffe Hänge entleerten sich kleine Seen in glitzerndem Sprühregen, bedachten uns arme nasse Menschlein allzu verschwenderisch mit neuer Nässe …

In stillen Weihern, klar wie Glas, spiegelten sich Mond und Sterne wieder …

In großen Teichen patschten erschrockene Fische der Tiefe umher, die noch völlig benommen waren von dem, was sie vorhin miterlebt hatten …

Anderswo lagen Fische japsend auf blankem Eise …

Anderswo stießen wir auf verstümmelte Robben, deren Tod uns deutlich bewies, daß es für die blonde Verbrecherin und ihre beiden stumpfen Helfershelfer niemals ein Entrinnen hatte geben können – niemals!

Und – wo war unser Mann?!

Von der höchsten Kuppe – sie war kaum ein mäßiger Hügel zu nennen – hielten wir Ausschau …

Vergeblich …

Vergebens nahm Harald das Glas zur Hilfe.

Zwecklos feuerte ich drei Signalschüsse ab.

Die Insel war zu groß, der Wind noch zu frisch …

Planlos suchten wir dann …

Bis wir am Rande eines neuen Sees ganz unerwartet auf etwas stießen, das mit einer Axt vom Rumpfe getrennt zu sein schien: der Kopf des dreckigen, stinkenden Eisbären!

Und fünf Schritt weiter die halb zermalmten Leichen der beiden Eskimos – noch im Tode sich eng umschlungen haltend, – Opfer der Katastrophe, wie durch ein Wunder hier nach oben gespült!

Aber sonst fanden wir nichts mehr …

Machten schließlich kehrt. Zwei Uhr morgens war’s. Froren wie die Schneider, hatten nur Sehnsucht nach warmen, trockenen Kleidern und einem Grog. Ich nieste immer wieder, und Harald gratulierte mir mit einigem Recht zu dem nahenden Schnupfen. –

Es war nicht so ganz einfach, die Bucht wiederzufinden, in der wir den Kutter vertäut hatten, denn solch eine schwimmende Eisinsel dreht sich bekanntlich beständig um sich selbst, und mit Kompaß und Himmelsrichtung ist da mithin wenig zu machen. Wir irrten denn auch ziemlich lange umher, bis wir endlich die betreffende Bucht erreicht zu haben glaubten.

Glaubten …

Ohne Frage: Es war dieselbe Bucht, in der wir vorhin gelandet waren. Das merkten wir sehr bald. Merkten es daran, daß auf dem Eisufer eine ganze Kollektion von Gegenständen lag, die eigentlich in den Kutter gehörte: Proviant, Decken, die Teile eines zusammensetzbaren Zinkbootes, ein großer Petroleumkocher, Geschirr – und so weiter!

Nur – der Kutter selbst war nicht mehr da …!

Harst überschaute diese Sammlung von nützlichen Dingen mit einem ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck, erkletterte dann einen nahen Block, nahm das Fernglas und spähte in die Morgendämmerung hinaus, rief sehr bald:

„Dort segelt der Kutter! Ich sehe darin zwar nur eine Person, aber du kannst überzeugt sein, mein Alter, daß sich zwei darin befinden: der Mann und die Blonde!! Deshalb auch hat er uns den Kutter entführt: er wollte die Frau in Sicherheit bringen! Er wußte, daß wir hier auf dem Eisberg zwar langweilige, aber ungefährliche Tage durchmachen würden, bis man uns befreit … Und das muß sehr bald geschehen, da diese Südosttrift der Eisberge die Routen verschiedener Dampferlinien durchquert. – Nun, ergeben wir uns in das Unvermeidliche!“

Und er kletterte wieder herab.

Ich war empört über diesen infamen Streich des Fremden. Aber Harald besänftigte mich:

„Wozu die Aufregung, Max Schraut?! Änderst du etwas dadurch?! Wohl kaum!! Und wenn du eine Mörderin zur Frau hättest, und ein Mann von der eisernen Energie unseres „Helden“ wärest, würdest du diese Frau uns ausgeliefert haben?!“

Da schwieg ich. – –

Über die nächsten drei Tage ist nicht viel zu sagen. Wir lebten ganz als Insulaner, hatten es leidlich behaglich in unserem Leinenzelt, tranken viel Grog und sichteten am Morgen des vierten Tages einen schwedischen Torpedozerstörer.

Der nahm uns auf. Was wir dem Kommandanten über uns und unsere Erlebnisse erzählten, entsprach freilich nicht ganz der Wahrheit, auch die Namen, die wir nannten, klangen etwas anders.

Unser schöner Eisberg aber wurde torpediert, löste sich in verschiedene kleinere auf, die der Schiffahrt nicht mehr gefährlich werden konnten.

 

2. Kapitel.

Der Mann in Schwarz.

Und wieder drei Tage später …

In Stockholm, im alten, vornehmen Palais der Grafen Vaxholm, in unseres Freundes Oskar Vaxholm’ feudalem Herrenzimmer …

Abends zehn Uhr …

Um sieben waren wir eingetroffen, hatten nun das feierliche Souper hinter uns, saßen mit dem etwas steifleinen Grafen bei Likör, Zigarren und Zigaretten in der behaglichen Klubsessel-Ecke. Soeben war Harst mit dem Bericht über unsere Erlebnisse fertig geworden. Vaxholm fragte gemessen:

„Also ist die Sache sozusagen im Sande verlaufen, lieber Harst?“

Harald schüttelte den Kopf. „Durchaus nicht, Vaxholm …“

„Wie wollen Sie denn das Pärchen wiederfinden, von dem Sie nicht einmal den Namen kennen?! Die Welt ist groß!“

„Das schon. Aber – ich kenne ja einen anderen Namen.“

„Welchen?“

„Den des Motorschoners!“

Ich in meinem weichen, tiefen Sessel ruckte hoch …

Davon hatte ich ja keine Ahnung!! Harst kannte den Namen des gesprengten Wracks?!

Er schaute mich mit feinem Lächeln an. „Nicht böse sein, mein Alter …! Ich habe es dir bisher verschwiegen, daß ich in dem Pelzrock eines der beiden halb zermalmten Eskimos ein Stück Papier fand, in das Kautabak eingewickelt war. Dieses Blatt Papier war die erste Seite aus dem Schiffsjournal des in Danzig beheimateten Motorschoners „Weichsel“. Und die lange Radiodepesche, die ich vorhin durch Vaxholms Diener besorgen ließ, ging an die Danziger Hafenpolizei. Die Herren dort im Freistaat sind mir so etwas zu Dank verpflichtet und werden meine Fragen schleunigst und erschöpfend beantworten. Ich hoffe stark, daß wir auf diese Weise sehr bald wissen werden, wer das Pärchen gewesen ist. Dann aber ergibt sich alles andere von selbst.“

Vaxholm rief:

„Ich komme mit, falls es nach Danzig geht …! Diesen Mann muß ich kennen lernen!“

Harst nickte. „Wir benutzen dann Ihre Motorjacht, Vaxholm … Fraglos werden es ja interessante Tage werden …“

Und – am anderen Morgen acht Uhr war die Antwortdepesche da.

Harald Harst, Vaxholm-Palais,

Stockholm,

Karl Johann-Straße.

Schoner „Weichsel“ Eigentum des hiesigen Kapitäns August Krüger. – Krüger am 6. Mai mit „Weichsel“ mit Zucker nach London – Nachricht an seine Frau, daß von London nach Spitzbergen mit Fracht. – An Bord als Passagiere ab Danzig hiesiger, in Oliva wohnhafter früherer Gutsbesitzer Peter Garden. Ist mit August Krüger befreundet. Ob Garden auch mit nach Spitzbergen – hier unbekannt. – Frau Krüger seit vier Wochen ohne jede Nachricht von ihrem Manne. – Radioanfrage an Transiederei Swenderson, Spitzbergen, dahin beantwortet, daß „Weichsel“ dort nicht eingetroffen.

Harst hatte uns das Telegramm beim Frühstück vorgelesen.

„Also Peter Garden heißt … unser Mann!“ meinte Vaxholm pomadig. „Wann fahren wir, Harst? Meine Jacht ist reisefertig.“

„In einer Stunde … – Aber – vor eins warne ich: Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf, Vaxholm, daß unser Peter Garden der Gesuchte ist. Ich – – glaube es nicht!“

„Weshalb nicht?!“

„Weil dieser Peter Garden, wenn er etwa seine Frau heimlich mit sich nach London genommen hätte, natürlich im Einverständnis mit Kapitän August Krüger, seinem Freunde, wohl kaum so unvorsichtig gewesen wäre, diese Reise gleichsam vor aller Öffentlichkeit anzutreten …“

„Hm – das verstehe ich nicht recht …!“

„Werden’s schon verstehen – später! – Packen wir unsere Sachen … – Gewiß ich könnte Ihnen und Schraut hier ja nun meine Theorie über den Fall der Blonden eingehend entwickeln. Nachdem ich mich aber mit meiner ersten Theorie so gründlich blamiert habe, will ich vorsichtiger sein … – Packen wir …“ –

Und wieder zwei Tage drauf …

Ich stehe im grellen Vormittagssonnenschein im Herzen meiner lieben alten Vaterstadt Danzig – auf dem Langenmarkt vor dem Neptunbrunnen …

Neben mir Vaxholm und Harst …

Mir ist das Herz weich und weit in dieser Überfülle von Erinnerungen, die diese Umgebung in mir wach werden lassen.

Und dann schlendern wir die Langgasse hinauf, wandern zum Hauptbahnhof.

Ich bin schweigsam, versonnen … Ich habe meine Vaterstadt lieb, und es tut mir weh, daß dieser sogenannte Freistaat von Entente-Gnaden so viel Ausländer beherbergt. Immer wieder dringen polnische Worte an mein Ohr …

Freistaat … freier Staat?! Mein armes altes Danzig!!

Dann sitzen wir drei im Vorortzug nach Oliva – nein, nach Zoppot, dem nordischen Monte Carlo …

Wie oft bin ich diese Strecke hin und her gefahren, als meine Eltern noch in Zoppot am Südstrand die kleine Villa besaßen! Wie oft – zur Schule nach Danzig, von der Schule wieder heim …

Dreißig Jahre sind’s her …! –

In Langfuhr hält der Zug zum ersten Mal. Dann die Wälder von Oliva … der Karlsberg – die Baumkronen des königlichen Gartens …

Wir steigen aus. Ich bleibe schweigsam, versonnen … Meine Gedanken sind nicht in Oliva, sind eine Station weiter – auf dem grünen Bergfriedhof von Zoppot, wo der große Grabstein meines Vaters zwischen ernsten Silbertannen steht.

Und wir drei stehen nun am Fuße des Karlsberges vor der langen, hohen, nüchternen Mauer mit der ebenso neidisch jeden Blick ins Innere des Gartens wehrenden Eisenpforte.

Neben dieser Pforte ein Messingschild:

Peter Garden.

Darunter ein Briefeinwurf und eine künstlerische Bronzeglocke: Ein Löwe, der in einen Ring beißt, – ursprünglich der Griff einer Zugglocke, jetzt der einer elektrischen Klingel.

„Wollen Sie etwa …,“ wendet Freund Vaxholm sich an Harald …

„… läuten – – so ohne weiteres hinein, – durchaus nicht!“ schüttelt der den Kopf. „Weshalb haben wir denn Reisetaschen mit? Wir sind doch Touristen …!“ Und zu mir: „Gibt es hier in der Nähe vielleicht ein Hotel?“

„Es gab eins … Ich bin ja zehn Jahre nicht mehr in Oliva gewesen …“

Ich spiele den Führer.

Links begleitet uns der Zaun des ehemaligen Königlichen Gartens … Wir sehen das kleine, bescheidene Schloß, in dem einst eine katholische Prinzessin in stiller Abgeschiedenheit wie ein Geist dahindämmerte und in uns Jungens allerhand unklare Vorstellungen von tragischer Liebesromantik wachrief, wenn wir die alte feine Dame einmal von weitem in den abgesperrten Teilen des riesigen Parkes zu Gesicht bekamen.

Dann drüben über der Straße wirklich noch das bescheidene engbrüstige Haus – Hotel Karlshof, nur modern auffrisiert.

Wir nehmen drei von den sechs Fremdenzimmern, wir sind Berliner Beamte, Ferienreisende, harmlos bis auf die Touristenhemden … Der Wirt setzt uns in der Glashalle persönlich ein Frühstück vor, das in Naturbutter schwimmt, und bringt dazu einen Rotwein, der den bösen Zeiten bisher glücklich entgangen ist, einen wahrhaft edlen Tropfen, mit einem Kork, der unten ganz schwarz geworden: Alterspatina!

… Setzt sich zu uns … Und alles ist so überaus gediegen, bescheiden und altfränkisch, daß Vaxholm und Harst, zumal wir den bewaldeten Karlsberg mit dem schlanken Ziegelturm vor uns haben, genau wie ich dem Zauber der Umgebung uns nicht verschließen können …

Aber mein guter Harst schwimmt nie gar lange in poetisch-verträumten Wassern, und seine Unterhaltung mit dem Wirt lenkt sich sacht den Dingen zu, die mit Poesie gar nichts zu tun haben, sondern gröbste Sensation sind.

Lügt, der Gute[4] … „Habe da von einem Bekannten hier gehört, daß ein Olivaer Herr mit dem Motorschoner „Weichsel“ in den nordischen Gewässern verschollen sein soll – ein Herr Peter Garden …“

So wirft er sein Netz aus …

Der Wirt lächelt. „Ein Irrtum …! Herr Peter Garden hat Oliva nie verlassen. Ich kenne ihn sehr gut. Der Ärmste ist ja mein … Schräg-Gegenüber und mein Frühschoppengast seit dem Tode seiner Frau, der ihm sehr nahe ging – sehr nahe … Die Frau starb ganz plötzlich … Sie war eine eigenartige Schönheit, und wenn nicht Zoppot so nahe gewesen wäre, hätte Herr Garden mit ihr …“

„… Sie spielte?“

„Unter uns gesagt: Ja, sie spielte! Und ihre Nerven litten dabei ebenso sehr wie Herrn Gardens Geldbeutel. Er ist immer noch sehr reich … Aber – jeder Brunnen hätte sich mal ausgeschöpft, und das Jeu ist ein Satan, verdirbt den Charakter … Man … hm, ja – man munkelt hier so allerlei … Auch darüber, daß Herr Garden mit seinem Freunde Krüger, dem Kapitän, nach London gefahren sein soll! Ein Unsinn! Ich weiß das besser! – Herr Garden war fast jeden Vormittag hier. Dort drüben am Ecktisch hat er seinen Stammplatz … Trinkt immer eine halbe Flasche Chateau Larose, spricht nie ein Wort, und das geht nun bereits seit dem 2. Mai so, dem Todestage seiner Frau …“

Wir ließen den braven Mann, dessen behagliches Spitzbäuchlein und rosiges Gesicht geradezu eine Empfehlung für sein Lokal waren, getrost weiterreden … Und so kam er denn so allgemach auch auf das andere „Gemunkel“ zu sprechen: daß es bei dem Tode der Frau Harriet Garden – Engländerin war sie von Geburt – nicht so ganz mit rechten Dingen zugegangen sei … Selbstmord solle sie verübt haben … Natürlich ebenfalls ein Unsinn, denn der Sanitätsrat Pullmann sei doch ein viel zu erfahrener Arzt, um sich täuschen zu lassen. Außerdem – wenn Herr Peter Garden etwa wirklich den Versuch gemacht haben sollte, den Selbstmord seiner Gattin zu verheimlichen: Wozu das?! Hier wisse doch jedes Kind, daß die Ehe durch die Spielleidenschaft der Frau völlig zerstört worden sei und daß Herr Garden dadurch unendlich gelitten habe und geradezu ein alter Mann geworden sei.

Und dann brach der Herr Wirt mitten in einem neuen Satze ab und flüsterte:

„Dort kommt er!“

Wir starrten auf die stille Straße hinaus.

Ja – da kam er …

Aber niemals jener hagere kraftstrotzende dunkelbärtige Wüterich von unserer Eisinsel!

Nein – ein gebeugter, bartloser Herr mit krankhaft bleichen Zügen, unsicherem Gang und in einem düsteren Gewand: Alles schwarz – alles, selbst die Handschuhe – – und Handschuhe bei dieser sommerlichen Hitze!

Der Wirt ging ihm entgegen. Herr Peter Garden zog den schwarzen steifen Hut zu einem sehr förmlichen Gruß, nahm an seinem Tische Platz und schenkte uns auch nicht einen einzigen flüchtigen Blick. Für nichts hatte er Interesse, stierte in sein Weinglas und hielt die Augen halb geschlossen.

Wir begannen eine gleichgültige Unterhaltung, und nach einer Weile meinte Freund Vaxholm halblaut, wir täten doch klüger, aufzubrechen, denn hier sei ja doch nichts für uns zu holen.

Ich muß noch bemerken, daß Harald und ich so saßen, daß wir Garden halb den Rücken zukehrten.

Was Harst Vaxholm dann antwortete, war sowohl für diesen als auch für mich wie ein anfeuernder Hieb …

„Irrtum!“ sagte Harald halblaut. „Hier gibt es für uns sehr viel zu holen! Und du, mein Alter, tätest gut, dein stupsnasiges Profil nicht allzu deutlich zur Schau zu stellen!“

Vaxholm und ich waren einfach sprachlos …

Dann beugte der Graf sich über den Tisch und flüsterte: „Wie – soll jener arme Kerl, der wie ein eingepökelter angejahrter Pfarramtskandidat aussieht, etwa der Mann von …“

„… er ist’s!“ vollendete Harald. „Und nun bitte ich euch, nicht noch mehr aus der Rolle zu fallen … Wir sind harmlose Touristen, vergeßt das nicht! Redet, lacht, – was schert uns jetzt Peter Garden?!“

Da kam der Wirt mit einer neuen Flasche, setzte sich wieder zu uns. Im Nebenraum aber begann plötzlich ein Lautsprecher die Vormittagsmusik des Danziger Senders unangenehmst zu verzerren …

Und da sprang Herr Peter Garden wütend auf, warf eine Banknote auf den Tisch und eilte davon – hinterdrein der Wirt, der ihn auf der Straße erwischte, offenbar vielmals um Entschuldigung bat und kurz abgefertigt wurde …

Ganz niedergeschlagen kam der rosige Dicke wieder an unseren Tisch geschlichen …

„Schrecklich!“ sagte er, „ausgerechnet heute bringt der Sender als erstes Frau Harriets Lieblingswalzer …!“

Und Harst fragte seltsam geistesabwesend:

„Hat der Herr noch einen Bruder?“

Der Wirt stutzte. „Ja … Aber der ist krank, wohnt drüben in Zoppot in der Nähe der Talmühle in einer kleinen Villa – ein menschenscheuer Sonderling …“

„Oh – uns ist das alles ja sehr gleichgültig,“ meinte Harald achselzuckend. – Und dann redeten wir von anderen Dingen.

 

3. Kapitel.

Der gelbe Spion.

Endlich Aufbruch – endlich! Vaxholm und ich hatten wie auf Nadeln gesessen …

Wir betraten den Königlichen Garten, indem wir den Zugang neben der Klosterkirche benutzten. Da weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, blieb Vaxholm stehen …

„Lieber Harst, wie in aller Welt konnten Sie behaupten, daß diese Mischung von Braunbier und Spucke – verzeihen Sie diese volkstümlich-derbe Bezeichnung! – Ihr Mann von dem Eisberg gewesen sein soll?! Der Wirt hat doch ausdrücklich erklärt, daß Peter Garden Oliva in den letzten Monaten niemals verlassen hat …!“

„Lieber Vaxholm, es war „unser“ Mann – er ist’s,“ erwiderte Harald sehr nachdrücklich. „Ich werde Ihnen den Beweis dafür erbringen … sehr bald, falls eben nicht Peter Garden uns, Schraut und mich, erkannt hat und seine Gegenmaßnahmen trifft, worunter ich so allerlei Ernstes verstehe – so Ernstes, daß wir guttun, Augen und Ohren offen zu halten, zumal Gardens Flucht vor dem Lieblingswalzer seiner Frau denn doch ein stümperhafter Trick war …“

Ich starrte Harst an … „Du … du befürchtest, er hat uns erkannt?“

„Ja, das fürchte ich allerdings!“

„Und … und – – woher deine Gewißheit, daß dieser Peter Garden mit diesem …“

Harst wurde ungeduldig. „Wir haben heute 23 Grad im Schatten … Wer behält bei solcher Hitze beim Frühschoppen die Handschuhe auf?! Er tat’s, denn braungebrannte Hände lassen sich am schlechtesten wieder weiß schminken … Deshalb fragte ich ja auch den Wirt, ob Herr Garden immer mit den Trauerhandschuhen zum Frühschoppen erschienen sei. – Nein, sagte der Wirt, heute zum ersten Mal. – Gardens Gesicht war künstlich gebleicht. Garden hielt die Augen halb geschlossen, denn ihr leuchtendes Braun wäre verräterisch gewesen. – Der, der in seiner Abwesenheit hier sein Stellvertreter war, das war eben sein kränklicher, menschenscheuer Bruder. Die Brüder müssen einander sehr ähnlich sehen – sehr. – So, nun habt ihr beide mich glücklich vollends ausgepumpt! Wollt ihr noch etwas wissen?“

„Ja,“ und Vaxholm lächelte höflich. „Ja, lieber Harst, – noch etwas: Was werden Sie nun tun?!“

„Hier den Garten sofort verlassen und nach Zoppot fahren … Und jetzt rede ich keine Silbe mehr. Ich habe nachzudenken …“

Mittags kurz nach zwölf stiegen wir in Zoppot aus dem Zuge.

Seeluft begrüßte uns. Es mußte eine recht steife Nordostbrise wehen, denn die alten Bäume, die in den Gärten den Bahnhofsplatz umsäumen, machten vor uns mit ihren grünen Kronen recht tiefe Verbeugungen und bliesen mit kräftigem Rauschen ein Tusch.

Vieles, vieles fand ich hier sehr verändert, als wir nun auf Haralds Wunsch zunächst zur Post gingen. Was Harst dort wollte, verschwieg er.

Während er längere Zeit in der Post weilte, schlenderten Vaxholm und ich die Seestraße hinab. Auch hier ein anderes[5] Bild …

Die freundliche Gemütlichkeit von ehedem, dieses nervenberuhigende Gemisch von Kleinstadt und Dorf von einst, war dem frechen, vorlauten Gehabe eines Weltbades gewichen – leider!

Erst dicht vor dem Kurhause holte Harst uns ein. Wir wanderten durch den Kurgarten. Die Riesenfontäne spielte. Die Musik säuselte Puccinis Boheme. Der Nordost war stärker, die Brandung brauste und schrie geradezu nach urdeutscher kräftiger Begleitung – nach Wagnerscher Tonfülle!

„Er hat wirklich sofort mit seinem Zwillingsbruder Ernst telephonisch gesprochen,“ sagte Harst, ohne von der Umgebung irgendwie Notiz zu nehmen – scheinbar.

Vaxholm meinte: „Also deshalb waren Sie auf der Post!“

„Ja – deshalb. Der Postdirektor war sehr entgegenkommend. Von ihm erfuhr ich auch, daß Peter und Ernst Garden Zwillinge sind, beide sehr reich. Herr Ernst Garden ist übrigens Arzt gewesen und hat sich viele Jahre in Bombay als deutscher Konsulatsdoktor betätigt, sich dort auch die Malaria geholt, die ihm nun schweres Siechtum eingetragen hat. Er soll seit vielen Wochen bettlägerig sein und wird nur von seinen beiden indischen Dienern und seinem chinesischen Koch betreut. Diese Zeit der „Bettruhe“ wird er wohl in Oliva als Vertreter seines Bruders zugebracht haben. – Jedenfalls wissen wir nun schon eine ganze Menge – auch über Frau Harriets Tod.“

„So?!“ fragte Vaxholm gespannt.

Wir waren bereits den prächtigen Seesteg, den man abermals um ein gehöriges Stück verlängert hatte, hinaufgeschritten. Harst stellte sich an die Brüstung und nahm die Mütze ab. Die kühle Brise tat gut. Gerade unter uns zog sich der erste Brandungsstreifen hin. Drüben im Nordbad leuchteten die bunten Badeanzüge im weißen Wellenschaum.

Harald antwortete bedächtig auf Vaxholms aufmunternden Einwurf: „Frau Harriet ist natürlich niemals gestorben. Doktor Ernst Garden wird aus Indien eine Sammlung jener Pflanzengifte mitgebracht haben, die hier in Europa noch so gut wie unbekannt sind. Und eins von diesen Giften dürfte den guten Olivaer Sanitätsrat getäuscht haben. Dann hat Peter Garden das Scheinbegräbnis inszeniert und ist nachher mit der „Danzig“ in Begleitung seiner leichtsinnigen Frau nach London und weiter gen Norden gefahren. – Weshalb also diese Komödie eines Todesfalles, weshalb die Reise?! Hier werden wir den Meißel anlegen müssen und das Dunkel vollends lichten, falls – – es nicht schon gelichtet ist.“

Ich schaute ihn prüfend an. „Schon … gelichtet ist?!“

„Ich kaufte mir in Oliva auf dem Bahnhof die Danziger Neuesten Nachrichten …“

„Allerdings …!“

„Und da las ich einen „Rückblick“ …“

Vaxholm lachte ärgerlich. „Schraut, benutzen wir einen Korkenzieher! Harst läßt sich wieder mal jedes einzelne Wort aus dem Munde ziehen …“

„Bitte – jetzt nur die Zeitung!“ sagte Harald kühl. Und er hielt uns das zusammengefaltete Blatt in Augenhöhe hin.

Wir lasen:

Rückblick auf die ungeheuren Betrügereien bei der Spielbank Zoppot.

Dann schob Harst die Zeitung wieder in die Tasche …

„Ja, meine Lieben, wenn wir annehmen, daß Frau Harriet Garden mit den betrügerischen Croupiers gemeinsame Sache gemacht hatte, so hat das vieles für sich. Denn diese Bande von Gaunern, die die Bank um Millionen geschädigt hat, wurde in den letzten Apriltagen entlarvt. Frau Harriet aber „starb“ am 2. Mai.“

„Bravo!“ rief Vaxholm in ehrlicher Anerkennung. „Diesmal wird Ihre Theorie stimmen. Es ist kaum anzunehmen, daß das Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse ein zufälliges[6] sein sollte!“

Aber Harst hob die Schultern. „Vaxholm, man soll den Tag nicht vor dem[7] Abend loben! Ob Peter Garden nicht lieber sein ganzes Vermögen geopfert hätte für eine angebetete Frau, wenn die Sache mit Geld gutzumachen gewesen wäre, was doch wohl kaum anzunehmen ist, da die Spielbank die ganze Affäre nach Möglichkeit totzuschweigen gesucht hat, – als zu solchen Mitteln zu greifen, die doch ebenso strafwürdig wie verwerflich sind! – Nein – außer dieser Beteiligung Frau Harriets an den Betrügereien muß noch etwas anderes bei alledem ins Gewicht gefallen sein …“ Er schwieg und fächelte sich mit der Mütze Kühlung zu … Fuhr fort – in stark ironischem Tone: „Sieh mal an, da wäre ja auch bereits der Herr Chinese, des Doktors Koch …! Die Herren Brüder arbeiten schnell. Pikfein sieht der Kerl aus. Dreht euch bitte nicht um. Der Bursche beluxt uns andauernd. Im allgemeinen sind die Asiaten von Natur schlauer und vorsichtiger … Dieser Mensch ist ein Stümper. – Kommt mit … Packen wir den Stier bei den Hörnern …!“ Und er schritt gemächlich auf den auf der nächsten Bank sitzenden eigelben Schlitzäugigen zu, der einen tadellosen Flanellanzug trug …

Setzte sich neben ihn, winkte uns, und wir nahmen den Spion in die Mitte …

„Tag, wie geht’s?!“ redete Harald den sehr nervös gewordenen Chinamann an.

Der machte ein Gesicht wie ein ertappter Taschendieb.

„Sie verstehen doch Deutsch,“ fügte Harst ebenso gemütlich hinzu. „Wer so lange wie Sie bei einem Deutschen in Diensten ist, dürfte das Deutsche leidlich beherrschen. – Wie geht es Doktor Garden?“

Der Chinese, dessen rundes Stupsnasengesicht sich erheblich dunkler gefärbt hatte, grinste und zeigte ein tadelloses Gebiß. Dann sagte er:

„Sie ersparen mir längere Erklärungen, Herr Harst. Herr Doktor möchte Sie sprechen. Er hat in den heutigen Morgenzeitungen gelesen, daß Sie und Ihr Freund mit des Herrn Grafen Vaxholm Motorjacht gestern abend hier eingetroffen sind. Ich war um halb zehn schon am Hafen und bin den Herren von da ab gefolgt.“

Harald murmelte etwas wie „Verwünschte Zeitungsschreiber. Da muß doch einer unserer Matrosen geschwatzt haben!“ – Und laut: „Was wünscht Ihr Herr von mir?“

„Bedaure, Herr Harst, – das entzieht sich meiner Kenntnis. – Wenn die Herren gestatten, gehe ich langsam voran.“

„Bitte …“ Das klang wieder sehr ironisch.

Der tipp-toppe – Chinese wandte sich zu unserem Erstaunen der Spitze des Steges zu, wo unten an dem Bootsbollwerk eine kleine, elegante Motorjacht lag.

Wir stiegen die Treppe hinab, schritten über die zum Teil von Wellenspritzern feuchten Planken und sahen den Chinamann die Jacht betreten.

„Harald – das wäre Leichtsinn!“ warnte ich …

Auch Vaxholm meinte leise: „Das kann eine Mausefalle werden!“

Da soeben ganz vorn am Stege einer der Dampfer nach der Halbinsel Hela angelegt hatte, achtete niemand auf uns, und mir persönlich war bei dem Gedanken höchst unbehaglich, daß wir drei vielleicht wirklich hier sehenden Auges in eine böse Fanggrube hineinliefen. – Auf unsere Äußerungen hatte Harald lediglich mit einer schroffen Handbewegung geantwortet, folgte nun dem Schlitzäugigen bis zur Tür des Kajütaufbaus. Diese Tür tat sich wie von selbst auf, und im Türrahmen stand das genaue Ebenbild Peter Gardens, verbeugte sich und bat uns einzutreten.

Ich war der letzte, zögerte etwas, schaute nochmals zum Stege empor … Und … da stand am Geländer – – der andere Garden, der in Schwarz, – – stand und schaute mich voll an, und in seinen Augen war ein Ausdruck tiefster Trauer – mehr noch: ein stummes Flehen!

Diese Augen, jetzt weit geöffnet, kannte ich genau. Es waren die klaren, leuchtenden, braunen Augen unseres Mannes vom Eisberg her!

Ich zögerte … Bis Herr Doktor Ernst Garden mir zurief: „Bitte – schließen Sie doch die Tür!“

Und als die Tür nun ins Schloß schnappte, da war’s mir, als ob eine Falle hinter mir knallend sich schloß …

Die drei Mäuslein waren denn auch wirklich gefangen.

 

4. Kapitel.

Der Bruder.

Tropenkoller. Das ist so eine mehr volkstümliche Bezeichnung für jene Art hemmungslosen Gewaltmenschentums, die angeblich unter dem Einfluß feuchtwarmer Luft besonders gedeihen soll.

Daß dieser Doktor Ernst Garden zum großen Teil als geistig minderwertig zu betrachten war, merkten wir sehr bald. In seinem Auftreten und seinen Ausdrücken glich er vollkommen jenem rabiaten groben Wüterich, den der andere Garden, vielleicht nach dem Vorbild seines Bruders, auf dem Eisberg gespielt hatte.

Ohne auch nur irgendwie sich die Mühe zu nehmen, sein Verhalten uns dreien gegenüber irgendwie zu begründen, hatte er uns in diesem Jachtsalon, der mehr einem indischen Museum glich, urplötzlich mit zwei Mauserpistolen bedroht und befohlen:

„Setzt euch dort auf die drei Sessel! Etwas rascher – – bitte! Sonst knallt’s, so wahr ich Ernst Garden heiße!!“

Dieser Empfang war selbst Harald überraschend gekommen. Erst machte mein guter Harst ein verdutztes Gesicht, dann lachte er schallend und meinte:

„Sie sind ein Unikum, Herr Doktor!“

Das Unikum stand drei Schritt vor uns mit einem vor Erregung noch bleicheren Gesicht. Die flackernden, wilden Augen – sie waren von verwaschenem Blaugrau im Gegensatz zu denen Peter Gardens –, dazu die zitternden Hände, die bebenden Knie und die dicken Schweißperlen auf der Stirn deuteten auf völlige Nervenerschöpfung hin.

Der Doktor brüllte uns erneut an:

„Setzt euch, zum Satan!! Setzt euch!!“

Und da rechts und links halb hinter ihm zwei hagere Inder in einer Art Jachtmatrosenanzug standen und genau wie er ihre kleinen Repetierschießprügel hervorgeholt hatten, – da die Fenster der Kajüte durch gelbseidene gekrauste Seidenvorhänge für jeden Blick von außen abgesperrt waren, und da schließlich auch die Jacht selbst, an deren Bug ich vorhin noch flüchtig in blitzblanken Messingbuchstaben den Namen „Harriet“ gelesen hatte, mit einem Male derb zu schaukeln begann und das Schnurren eines Motors hörbar wurde, wir also bereits vom Stege uns entfernten, sagte Harst mit gutmütigem Achselzucken: „Wir wollen Ihnen den Gefallen tun, Herr Doktor. Aber schicken Sie die Inder weg und legen Sie auch Ihre Pistolen beiseite. Gegenüber einem solchen lächerlichen Massenaufgebot von veralteten Schießprügeln verhandele ich nicht. Also bitte!“

Ernst Garden[8] war im ersten Augenblick sprachlos. Dann färbte sich sein Gesicht beängstigend blaurot. „Wie – du Kerl von Schnüffler willst hier ein großes Maul riskieren?!“ schrie er mit geifernden Lippen. „Das – das ist ja einfach …“

Stoppte …

Stoppte aus einem sehr einfachen Grunde …

Harst hatte seinen leichten Gummimantel über dem linken Arm hängen – noch immer. Und auch ich hatte nicht geahnt, daß er vor Betreten der Jacht Harriet eine „Rückversicherung eingegangen“ war, wie er das nannte …

Unter diesem Gummimantel hervor hatte es zweimal kurz hintereinander aufgeblitzt, und die Folge war, daß Herr Doktor Garden nicht nur in seinem Wuterguß plötzlich stoppte, sondern daß auch seine beiden klobigen Armeemauserpistolen, die er in den schlenkernden Armen halb nach unten gehalten, rückwärts sich auf den Teppich empfahlen und eine der beiden abprallenden Kugeln dem einen Inder den Fuß durchschlug, was den armen Kerl zu einer Art Veitstanz veranlaßte.

Ernst Garden stand jetzt mit offenem Munde da – ein Bild fassungslosen Schrecks.

Aber dieser Mann, dem die Tropen Blut und Gehirn verseucht hatten, war doch nicht imstande, seine kaputten Nerven, wenn auch nur für kurze Zeit, zu meistern.

Mit einer Elastizität, die ich ihm niemals mehr zugetraut hätte, schnellte er sich jählings vor und stieß Harst die geballte Faust in die Herzgrube …

Vaxholm und ich, noch benommen von den Schüssen und diesem ganzen raschen Spiel von Gewalt, konnten es mit den beiden Indern, die sich jetzt blitzschnell auf ihre Pflicht besannen, nicht aufnehmen. Selbst der angeschossene Diener des Doktors bewies nun, daß er blindlings gehorchte – trotz des blutenden Fußes.

Garden hatte ihnen zugerufen: „Schlagt sie auf den Schädel, die Halunken!“ …

… und kurz nachdem Harald halb bewußtlos in den nächsten Sessel getaumelt war, sprangen uns die langen, sehnigen Burschen auch schon an und fanden nicht viel Widerstand. Ich blieb mit dem linken Absatz in einer Teppichfalte hängen, schlug nach hinten und sah gerade noch, wie Vaxholms Gegner mit dem Pistolenkolben einen Hieb wider des Grafen Schläfe führte, der unbedingt tödlich gewesen, wenn er richtig gesessen hätte, – was zum Glück nicht geschah.

Jedenfalls: die drei für uns bestimmten Sessel erhielten nun wirklich Belastung: drei gut verschnürte menschliche Bündel – – wir!!

Ich war noch am glimpflichsten bei dieser Rauferei weggekommen, da ich mich kaum gewehrt hatte. Wozu auch?! Die Partie war für uns vorläufig doch verloren.

Doktor Garden hatte selbst mit Hand angelegt, als wir gefesselt und auf den Sesseln angebunden wurden. Er begleitete diese Arbeit mit den widerlichsten Schimpfworten und rohesten Drohungen. Jetzt legte er seinem Diener erst einmal einen Notverband an. Daß dabei das eine Wandsofa mit Blut über und über besudelt wurde, war ihm sehr gleichgültig. Auch sein eigener blauer Anzug bekam verschiedene Flecken ab. Sehr sauber sah dieser Garden überhaupt nicht aus. – Inzwischen hatten sich dann auch Harst und Vaxholm leidlich erholt, und als der Doktor sich jetzt uns drei Mäuslein gegenübersetzte und uns mit unglaublichem Hohn der Reihe nach anstarrte, zuletzt Harald, der hierüber mit einem freundlichen: „So, nun tragen Sie bitte Ihre Wünsche vor, Herr Doktor,“ quittierte, was unseren Gegner wieder derart aus dem Konzept brachte, daß er nicht einmal grob wurde, ohne Überlegung herausplatzte: „Was wollt ihr drei hier in Danzig?! In der Zeitung steht, daß ihr vielleicht von der Direktion der Spielbank hergerufen worden seid … Stimmt das?!“

„Nein, Herr Doktor,“ entgegnete Harald etwa so, wie man mit einem Verrückten spricht, dem man eine Wahnidee ausreden will. „Nein, das stimmt in keiner Weise. Der große Betrugsskandal, der Ende April hier so viel üblen Staub aufwirbelte, ist ja auch erledigt, und selbst Ihre Schwägerin dürfte dieserhalb nicht mehr belästigt werden. Sie ist tot.“

Diese letzten Sätze, die einen vorsichtigen Fühler darstellten, brachten etwa genau dieselbe Wirkung hervor wie die beiden Meisterschüsse mit der linken Hand. Garden glotzte Harst entgeistert an und machte ein unglaublich einfältiges Gesicht. Dann schrie er: „Harriet?! Wie kommen Sie auf Harriet?! Was hat Harriet mit diesen Dingen zu schaffen?! Sind Sie wahnsinnig, eine Dame in gleichem Atem mit einer Bande von Betrügern und Dieben zu nennen?!“

„Keineswegs, Herr Doktor … Zunächst freut es mich, daß Sie den zwischen gebildeten Menschen üblichen Umgangston wiedergefunden haben. – Sie müssen mir im übrigen schon gestatten, bei meiner Behauptung zu bleiben, daß Frau Harriet leider wirklich moralisch so tief … abgeglitten war, daß sie ihre Spielverluste durch unredliche … Geschäfte wieder einzubringen suchte.“

„Herr, das ist eine unerhörte Beleidigung,“ rief Garden überraschend zahm. „Das ist … ist etwas, das Sie erst beweisen müßten und …“

… Und schwieg.

Einer der Inder, die vorhin die Kajüte verlassen hatten, trat rasch ein, schritt auf seinen Herrn zu und flüsterte ihm etwas zu.

Garden schnellte hoch. Seine Züge verzerrten sich zur Unkenntlichkeit. Seine geballten[9], hochgereckten Fäuste flogen wie im Fieberfrost …

„Mag er kommen!“ knirschte er in einer sinnlosen Wut, für deren Ausmaß es keine irgendwie treffende Bezeichnung gibt. „Mag er nur kommen …! Wir haben Waffen, Sindra!! Du bleibst hier! Du bewachst diese Schufte, und wenn sie sich irgendwie befreien wollen, so knallst du sie nieder!“

Dann taumelte er der Tür zu … Noch siegte die Erregung über seine körperliche Hinfälligkeit – wie vorhin, als er Harst niedergeboxt hatte. Aber der Rückschlag mußte kommen, und dann würde er wieder nichts anderes sein als eine klägliche menschliche Ruine …

Die Tür schmetterte er ins Schloß.

Vor uns stand der lange Inder.

Man brauchte hier wirklich nicht besonderer Menschenkenner zu sein, um aus den Mienen dieses braunen Sindra herauszulesen, wie unbehaglich ihm, der für europäische Zustände und Rechtsverhältnisse längst wohl volles Verständnis gewonnen hatte, diese Entwicklung der Dinge war.

„Nimm uns die Fesseln ab, Sindra!“ befahl Harst sehr energisch. „Dein Herr ist geisteskrank … Und eines Irrsinnigen wegen willst du wohl kaum ins Zuchthaus wandern wollen.“

Der Inder verbeugte sich sehr höflich mit über der Brust gekreuzten Armen. „Herr Harst, ich tue es gern. Der Herr Doktor hat uns drei, den Chinesen Wang mit eingerechnet, nur durch Drohungen zu mancherlei gezwungen, was uns widerstrebte. Er ist krank. Die Liebe zu der Frau seines Bruders hat ihm den Verstand völlig verwirrt.“

 

5. Kapitel.

Die Siebente …

Diese Äußerung Sindras war für Vaxholm und mich wie ein greller Blitz, der in das tiefe Dunkel des widerspruchsvollen Geschehens endlich ein wenig Licht brachte – ein wenig …

Harst jedoch nickte nur schwach und meinte:

„Frau Harriet hat wahrscheinlich von deinem Herrn, Sindra, Geld erhalten, um ihrer Spielleidenschaft …“

Draußen ein Schuß – noch einer …

Der Inder bückte sich rasch, zerschnitt unsere Fesseln, rief:

„Die Herren müssen eingreifen … Herr Peter Garden verfolgt die Jacht mit einem Motorboot …“

Abermals Schüsse …

Die Dinge trieben nun mit aller Macht einer letzten Entscheidung entgegen.

Wir drei, die wir noch im Besitz unserer Pistolen waren, nahmen eilends die Waffen zur Hand. Harst öffnete leise die Kajütentür. Mittschiffs bot sich uns ein überraschendes Bild. Der am Fuße verwundete Inder, der sich wohl mit Sindra schon vorher ins Einvernehmen gesetzt hatte, war von hinten über den hinter der niederen Reling liegenden Doktor hergefallen, um ihm die Mauserpistole zu entwinden. Aber Ernst Garden wehrte sich verzweifelt, und Harst sprang zu spät zu …

Der Inder, von einer Kugel in das linke Schultergelenk getroffen, sank zur Seite …

Der Doktor schnellte rückwärts, und im Nu war er auf dem leicht gewölbten Kajütendach, warf sich der Länge nach nieder, stützte den rechten Ellenbogen auf und benutzte die linke Hand als Auflage für die Pistole, zielte auf Harald und hätte unfehlbar im nächsten Moment abgedrückt, wenn Harst nicht mit der ihm eigenen Geistesgegenwart das einzige getan hätte, was den Wahnsinnigen ablenken konnte …

„Herr Doktor, Frau Harriet lebt!“ rief er trotz des Lärmens der gegen die Bordwände klatschenden Wogen so laut, daß Ernst Garden mit einem Ruck den Kopf hob und zurückbrüllte:

„Sie lügen!!“

„Nein! – Haben Sie nicht einmal Ihrem Bruder irgendein indisches Pflanzengift überlassen, das vollkommen einen Scheintot vortäuscht, – vielleicht das seltene Ganda-Kraut, dessen Wirkungen mir schon zweimal Gelegenheit gaben, eine Tragödie zu verhindern?“

Garden starrte Harald jetzt grübelnd an. Dann schrie er – wieder völlig sinnlos vor Erregung:

„O – – der Schurke – – der Schurke!! Sie lebt – – sie ist sein!! Wie bisher!“ Und sich halb umwendend und gleichzeitig sich voll aufrichtend, was bei dem heftigen Schlingern der kleinen Jacht unfehlbar zu einer Katastrophe führen mußte:

„Dort kommt er, der Lump!!“ Und sein Gesicht, seine Augen sprühten Eifersucht und Haß …

Sein rechter Arm fuhr hoch …

Das große Motorboot, an dessen Spitze Peter Garden in seiner schwarzen, düsteren Tracht und mit dem totbleichen Gesicht unheimlich wie ein Gespenst in voller Regungslosigkeit verharrte, – dieses schnelle, offene Boot war keine zehn Meter mehr entfernt.

Der irrsinnige Doktor feuerte …

Aber die drei Schüsse, die er so auf den eigenen Bruder abgab, mußten fehlgehen. Beide Fahrzeuge rollten zu schwer im hohen Seegang. Sicheres Zielen war unmöglich.

Und dann sah ich einen Wasserberg nahen – eine der berüchtigten siebenten Wogen …

Die Jacht wurde steil emporgehoben …

Doktor Garden schwankte auf dem Dach der Kajüte, schlug nach hinten über, schlug mit dem Kopf gegen die Dachkante und flog über Bord, sackte wie ein Stück Blei weg.

Eine höhere Macht hatte hier eingegriffen.

Und wir alle, die wir Zeugen dieser Urteilsvollstreckung an einem armen Unzurechnungsfähigen durch die Naturgewalten waren, – wir standen wie gelähmt, hielten uns rein mechanisch irgendwo fest, um nicht über Bord gespült zu werden …

Selbst der Chinese Wang, der die Jacht Harriet steuerte, hatte das Ruder fahren lassen, so daß Harst erst zuspringen mußte, damit die nächste Woge uns nicht breitseits traf und die für Seefahrten viel zu hochbordige Jacht etwa zum Kentern brachte.

Umsonst spähten wir alle dann ringsum in die grünblaue gurgelnde Flut …

Ernst Garden tauchte nicht mehr auf. Seine Leiche wurde erst zwei Wochen später unweit des neuen polnischen Kriegshafens Gdingen an Land gespült und dort sang- und klanglos beigesetzt. –

Wir waren bereits so weit vom Lande entfernt, daß man selbst mit einem Fernglas von der Zoppoter Stegspitze aus kaum die Vorgänge hier draußen hätte beobachten können. Als nun Peter Garden nach einigen mißglückten Versuchen auf die „Harriet“ sich hinübergeschwungen hatte, waren seine ersten Worte:

„Den Motorbootbesitzer habe ich bereits durch eine größere Geldsumme zum Schweigen verpflichtet. Ich hoffe, daß auch Sie, meine Herren, mir in dieser Hinsicht entgegenkommen werden. – Wir laufen am besten in den Neufahrwasser-Hafen ein, denn vor dem Zoppoter Steg steht so hohe See, daß ein Anlegen unmöglich ist.“

Wang erhielt die entsprechenden Befehle. Dann wurde der Schulterschuß des Inders verbunden, und nun endlich waren wir drei mit Peter Garden im Salon der Jacht allein. Das Motorboot blieb dicht hinter der „Harriet“.

Allein mit dem Manne, den wir stets als … unseren Mann in vertraulicher Aussprache bezeichnet hatten.

Jetzt sollten wir ihn von der anderen, besseren Seite kennen lernen – nicht mehr als den groben, brutalen Wüterich, den er freilich nur absichtlich herausgekehrt hatte.

Still und zusammengesunken saß er in einem der Sessel und schien zu überlegen, wie er am besten seine Beichte beginnen könnte.

Harst kam ihm zu Hilfe. „Herr Garden, wir sind uns nicht fremd,“ sagte er herzlich. „Ich kann mir denken, wie schwer es Ihnen wird, hier vor uns all das preiszugeben, was Sie bisher so ängstlich vor aller Welt verborgen haben. – Sehen Sie, Herr Garden, selten hat ein sogenanntes Problem, ein Kriminalfall, mich zu so viel irrigen Schlüssen verleitet wie diese Ereignisse, die auf einem Eisberg begannen, ihre Fortsetzung auf demselben Eisberg fanden und nun hier an den Gestaden der Danziger Bucht zum Abschluß gelangt sind. Falsche Theorien baute ich auf, änderte sie immer wieder, da stets Neues hinzukam, das dem Alten, Bisherigen abermals ein anderes Aussehen verlieh. Jetzt freilich habe ich endlich ein klares Bild gewonnen. Ich will dieses Bild hier in kurzem schildern, – die Tragik Ihres Lebens, Herr Garden. Ihr Unglück begann mit der Spielleidenschaft Ihrer Gattin und mit der Rückkehr Ihres Zwillingsbruders aus den Tropen – im vorigen Herbst. Sie liebten Ihre um fünfzehn Jahre jüngere Frau über alles. Diese Einzelheiten verdanke ich dem Zoppoter Postdirektor. Ihre Gattin wurde ständige Besucherin der Spielsäle, gewann erst, verlor dann große Summen, konnte schließlich Geld zum Spiel nur dadurch beschaffen, daß sie der heimlichen, verwerflichen Werbung Ihres Bruders scheinbar nachgab und von diesem mit neuen Mitteln versehen wurde. Als Ihr Bruder jedoch merkte, daß Frau Harriet ihn nur hinhielt, ohne ihm je etwas zu gewähren, verweigerte er ihr jegliche Unterstützung, seine Leidenschaft wurde Haß, und mit Schadenfreude ließ er Ihre Gattin in ihr Verderben hineinrennen – in die verbrecherische Verbindung mit den betrügerischen Croupiers der Bank. Dann kam die Aufdeckung der ungeheuren Betrügereien. Ihre Gattin war aufs schwerste bloßgestellt. Da opferten Sie den größten Teil Ihres Vermögens, entschädigten die Spielbank und … täuschten den plötzlichen Tod Ihrer Frau vor, wobei Ihnen ein indisches Pflanzengift die Möglichkeit gab, selbst den Olivaer Arzt zur Ausstellung eines Totenscheines zu veranlassen. Um die nervös völlig zusammengebrochene Gattin langsam wieder gesunden zu lassen, begaben Sie sich mit ihr insgeheim an Bord des Motorschoners „Weichsel“. Ihr Bruder, von dessen Hinterhältigkeit Sie damals noch keine Ahnung hatten, spielte derweil in Oliva Ihre Rolle. – Der Motorschoner ging von London nach dem hohen Norden weiter. Dort erlitt er Schiffbruch, nehme ich an …“

Garden, der mit der Linken über den Augen wie eine Statue dasaß, nickte nur.

„… Schiffbruch an jenem Eisberg … Die Besatzung kam um – bis auf Sie und Ihre Gattin. Auf der gewaltigen schwimmenden Insel befanden sich nun auch zwei Eskimos mit einem halbzahmen Eisbären. Ihre Frau, die mit Ihnen, der Sie gewaltsam zu dieser Genesungsreise gezwungen hatte, sehr schlecht stand und die noch immer nicht begriff, wie gut Sie es mit ihr gemeint hatten, wußte die Eskimos für sich zu gewinnen und machte Sie zu ihrem Gefangenen, hielt Sie in dem Wrack eingekerkert. Das war damals, als Schraut und ich Frau Harriet vor der Plankenhütte kennen lernten. Nach sechs Tagen erschienen wir abermals auf dem Eisberg. Inzwischen hatten Sie sich befreit, und Ihre Gattin und die Eskimos hatten sich in die Eisgrotte geflüchtet, nachdem einer der Eskimos die Geschwister Bruchstaller niedergeschossen hatte …“

Jetzt ließ Peter Garden die Hand von den Augen sinken und erklärte mit müder Stimme: „Meine Frau litt an Wahnvorstellungen infolge völliger Nervenüberreizung. Sie hat in mir ihren ärgsten Feind gesehen. Das wurde erst anders nach der großen Katastrophe, nach dem Kentern des Eisberges und nach den Minuten entsetzlichster Todesangst. Als ich meine Frau damals halb bewußtlos neben den Leichen der Eskimos auffand, als ich sie zum Kutter trug und davonsegelte, um sie vor Ihnen beiden zu schützen, war sie wie umgewandelt. Sie hat mir alles gebeichtet – alles, und ich weiß jetzt, daß sie nie wieder in ihre früheren Fehler zurückfallen wird. Sie ist jetzt in einem Sanatorium unweit Stettin. – Noch eins, meine Herren. Ich bin ein tadelloser Schütze. Die Kugeln, die anscheinend Herrn Schraut galten, gingen absichtlich fehl …“

„Auch das ahnte ich, Herr Garden. – Wenn ich Ihnen nun einen guten Rat geben darf, so ist es der: verlassen Sie mit Ihrer Gattin Deutschland sofort, denn diese letzten Ereignisse hier können nicht vertuscht werden.“

Garden drückte uns stumm die Hand und ging an Deck. –

Hiermit kann ich diesen Bericht über die weiße Grotte schließen, da der Leser wahrscheinlich aus den Zeitungen erfahren hat, daß die hinter Peter Garden und seiner Frau erlassenen Steckbriefe keinen Erfolg hatten. Auch wir wissen nicht, wohin das Ehepaar sich gewandt hat, wünschen beiden jedoch von Herzen im fremden Lande ein ungestörtes neues Liebesglück. – –

Band 199 der Erlebnisse meines Freundes Harald ist beendet – – 199!

Band 200 – „Die Hand Gottes“ – beweist schon durch die Zahl 200, daß Harald Harst nach wie vor hoch in Gunst bei einem treuen Leserkreise steht. Es wird nicht oft geschehen, daß so anspruchslose Berichte wie die meinen, die nichts als unterhalten und nach des Tages Unrast wohltätig entspannen wollen, es bis zum 200sten Band bringen! Allen Freunden und Lesern daher nochmals unseren Dank für diese Anhänglichkeit.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Strich“.
  2. Fehlendes Wort „wie“ ergänzt.
  3. Jakob Christoph Heer (* 17. 07. 1859; † 20. 08. 1925) war ein Schweizer Schriftsteller. Siehe auch Wikipedia: Jakob Christoph Heer.
  4. In der Vorlage steht: „Güte“.
  5. In der Vorlage steht: „ander“.
  6. In der Vorlage steht: „zufälliger“.
  7. In der Vorlage steht: „den“.
  8. In der Vorlage steht: „Gordon“.
  9. In der Vorlage steht: „geballte“.