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Die Hand Gottes

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 200

 

Die Hand Gottes.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.

 

1. Kapitel.

Anni Inna.

… Band 200 – Die Hand Gottes – beweist schon durch die Zahl 200, daß Harald Harst nach wie vor hoch in Gunst bei einem treuen Leserkreise steht …

– So schrieb ich am Ende des 199. Bandes. Noch mehr schrieb ich: Von der völligen Anspruchslosigkeit dieser Schilderungen der Erlebnisse meines Freundes, Schilderungen, die nur unterhalten und nach der Hetzjagd unseres[1] modernen Lebenstempos angenehme Zerstreuung und Entspannung bringen sollen. – Ich denke da an den größten Deutschen des vorigen Jahrhunderts, an Bismarck, der bekanntlich ein Verehrer der Phantasiefigur des berühmten Sherlock Holmes war und so und so oft betonte, wie glänzend er sich bei diesen anregenden Detektivgeschichten unterhalten hat. –

Band 200!!

Das legt mir, dem Chronisten, die Pflicht nahe, den Lesern und Freunden Harald Harsts, des deutschen Sherlock Holmes, heute besondere Kost zu bieten.

Drei Abenteuer stehen mir zur engeren Wahl zur Verfügung. Erstens die Geschichte des ausgestopften Pudels, zweitens das Erlebnis mit der Falschspielerin Margot S. und drittens unser Kampf gegen Garring.

Meine Notizen über den Fall Garring sind am erschöpfendsten. Außerdem bringt gerade dieser seltsame Kriminalfall eine solche Überfülle merkwürdiger Einzelheiten und origineller Charaktere, daß ich mich jetzt doch entschlossen habe, ihn sozusagen als Festgeschenk für meine zahlreichen Freunde zu wählen. –

Es war eine Woche nach unserer Rückkehr aus Zoppot, wo Harst, wie er noch heute behauptet, sich bis auf die Knochen blamiert hatte. Der Leser kennt ja das Problem der weißen Grotte. Hat Harst sich dabei wirklich so unglaublich blamiert?! Trafen seine Schlußfolgerungen nicht trotz aller mißlichen Umstände beinahe ins Schwarze?

Es war abends elf Uhr. Wir saßen in Haralds Arbeitszimmer, während draußen wieder einmal eins der zahllosen Gewitter dieses verregneten Sommers 1927 die Fenster klirren machte und unsere beiden Ventilatoren emsig schnurrten und die stickige Luft zu entfernen suchten.

Harst saß am Schreibtisch mit dem Rücken nach mir hin und klebte die heutigen Zeitungsausschnitte in die großen Sammelmappen ein: zwei Morde, ein Sexualverbrechen und eine neue Meldung über die mexikanischen Eisenbahnbanditen.

Ich lehnte im Klubsessel, hatte die Füße auf die weiche Lehne eines zweiten gelegt und blätterte in Wulffens immer noch lesenswerter „Psychologie des Verbrechens“.

Mit einem Male rief Harald halblaut, während die Zeitung in seinen Händen stark knitterte und rauschte: „Hier hätte ich beinahe etwas vergessen: Denk’ dir: eine ganz kurze Notiz im Nachtanzeiger … Heute nachmittag zwei Uhr hat der unheimlich freche Straßenräuber während des kurzen wolkenbruchartigen Regens im Hausflur von Bülowstraße 16 den dort untergetretenen Rechtsanwalt Morsel vollkommen ausgeplündert – wieder mit vorgehaltener Pistole, und ist dann genau wie in den bisherigen sechs anderen Fällen spurlos verschwunden. Der Anwalt und fünf Passanten hatten die Verfolgung sofort aufgenommen. Dieser Gentlemangauner entwischte in das Speisehaus „Krokodil“ am Nollendorfplatz und war dort nicht mehr aufzufinden, obwohl die Schupo die Ausgänge im Nu besetzt hatte. – Ja, mein Alter, dieser junge Frechdachs mit dem unvermeidlichen Monokel, der heute nun als sein siebentes Meisterstück …, – hallo, es läutete soeben, mein Alter …! Sollten wir bei diesem Sauwetter noch Arbeit bekommen?“

Ich eilte in den Flur hinaus, öffnete.

Eine Dame … ganz atemlos …

„Herr Schraut, nicht wahr …? Ist Herr Harst zu Hause? … Sie kennen mich gewiß von Ansehen, Herr Schraut … Natürlich kennen Sie mich … Also – – Herr Harst ist daheim?“

„Gewiß …“ Und ich nahm ihr den triefenden Schirm und den unten völlig durchnäßten Gummimantel ab, wandte mich diskret um, als sie nun vor dem Spiegel der Flurgarderobe die Wangen rasch noch überpuderte und dabei mit der rührenden Bescheidenheit all jener „Großen“ des Kurbelkastens wiederholte …:

„Natürlich kennen Sie mich … Sie besuchen doch fraglos häufiger ein gutes Kino, Herr Schraut …?“

„Bedaure – nie! Dazu haben wir leider keine Zeit …“

„Oh …!! – Also dann – ich bin Anni Inna …!!“

„Ah …!! Anni Inna!! Meine Gnädigste, welch unverhoffte Ehre für uns! – Wenn Sie also bitte nähertreten wollen … Hier herein …“

Harst stand unter dem Kronleuchter. Er hatte sämtliche Beleuchtungskörper eingeschaltet.

Fräulein Inna streckte ihm die Hand hin …

„Gott sei Dank, – nun wird mir leichter ums Herz! Herr Harst, mir sind vor einer halben Stunde meine sämtlichen Juwelen gestohlen worden – geraubt – vor meiner Wohnung – – vor Pariser Straße Nummer 102 …“

„Nehmen Sie erst einmal Platz, gnädiges Fräulein … Ihre Erregung ist ja unter diesen Umständen vollkommen begreiflich. – So … Zigarette oder ein Glas Malaga gefällig?“

„Beides bitte …“

Das pikante Bubengesichtchen des zierlichen Persönchens strahlte jetzt …

„Ihr Wohl, meine Herren … – Oh, wie geborgen ich mich hier fühle …! Mir ist gerade so zumute, als ob ich meinen Schmuck bereits zurückhätte …“

Sie leckte sich mit dem roten Zünglein die vollen Lippen und kuschelte sich tiefer in den Sessel hinein, holte mit leichtem Seufzer tief Atem … „So, nun werde ich erzählen, Herr Harst …“

„Nicht nötig, verehrteste Diva …,“ meinte Harst freundlich. „Ihr Kleid besagt, daß Sie von einer Aufnahme im Atelier der Alpha-Gesellschaft ohne sich umzukleiden im Auto heimgefahren sind, daß Sie unterwegs in dem Kraftwagen einen mit Schreibmaschine geschriebenen Brief gelesen haben, der Ihnen sehr wichtig erschien, daß Sie vor Ihrem Hause in der Pariser Straße noch eine Weile am Rande des Bürgersteiges gestanden, nach jemandem ausgeschaut und schließlich unwillig mit dem rechten Füßchen aufgestampft haben, was Ihrem linken Lackschuh insofern schlecht bekam, als Sie ihn total bespritzten – es muß also dort gerade eine Pfütze gewesen sein und daß Sie den bewußten lila getippten Brief ärgerlich zerrissen … – Oh, machen Sie kein so verblüfftes Gesicht, meine Gnädige. Diese Schlußfolgerungen sind ja alle so lächerlich einfach. Man muß nur … sehen können, sehen mit Auge und Verstand. Ich könnte Ihnen zum Beispiel noch weiter erklären, daß Sie dann Ihre Haustür aufschlossen, daß ein Herr Ihnen, weil Sie mit dem widerspenstigen Schloß nicht gleich fertig wurden, helfend beisprang, Sie nachher in den Hausflur drängte und mit einer Pistole bedrohte und völlig ausplünderte. Der Herr war schlank, mittelgroß, bartlos, mit feinem Gesicht, hatte eine weiche, angenehme Stimme, trug im rechten Auge ein Monokel, war mit einem sehr weiten, braunen, langen Gummimantel bekleidet, hatte braune Halbschuhe, Stutzen und Sportbeinkleider an und den Mantelkragen hochgeschlagen und zugeknöpft. Sein grauer Filzhut mit grauem Band hatte eine weiche, uneingefaßte Krempe, die seine Augen beschattete …“

Anni Inna klatschte in die ringleeren Händchen …

„Bravo, bravo …!“

„Ja – und dann eilten Sie in Ihre Wohnung nach oben, erzählten Ihrer Frau Mutter das Vorgefallene, weinten ein bisserl und … kamen zu mir – wieder im Auto …“

„Verblüffend!!“ rief die junge Diva nochmals mit derselben kindlichen Freude. „Man merkt, man ist bei Harst …! – Nun müssen Sie aber auch genau auseinandersetzen, wie Sie diese bis ins einzelne zutreffenden Schlußfolgerungen aus dem Nichts abgeleitet haben! Das ist ja fabelhaft interessant!“

Harst seufzte. „A, das ist weder fabelhaft noch interessant. Das ist Alltagskram. Natürlich kann man nicht kombinieren, also logische Ableitungen und Ergänzungen fertigbringen, wenn man gar keine Unterlagen hat. Diese Unterlagen waren bei Ihnen überreich und geradezu aufdringlich vorhanden. Daß Sie von einer Filmaufnahme aus dem Atelier kamen, zeigte mir Ihr wunderbares Kostüm aus der Zeit des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. Da Sie sich nicht mehr umgekleidet hatten, hatten Sie es sehr eilig gehabt, daher riet ich auf das „Auto“ und „das Warten“ vor Ihrem Hause. Daß Sie im Kraftwagen einen Brief gelesen und längere Zeit in der Hand gehalten, verraten die an Ihren Fingerspitzen vorhandenen Abdrücke einiger lila Schriftstücke. Dieser Brief erregte Sie, war für Sie wichtig, daher transpirierten Sie leicht, und die feuchte Fingerhaut wirkte wie Löschpapier …“

Die Diva schaute auf ihre Fingerchen, wurde rot … „Pfui, wie schmutzig!!“

„Und wie verräterisch!! – Und daß Sie am Rande des Bürgersteiges standen und warteten – bei dem Regen! – – Da, der ganze Kleidersaum hat einige ungalante Autoräderduschen abbekommen! – Der Erwartete, sicherlich der Briefschreiber … – stimmt’s?“

„Ja …“

„… erschien nicht. Sie stampften also mit dem Füßchen auf und zerrissen den Brief. Einer der Briefreste ist Ihnen in den Schuhausschnitt geweht, ist ganz durchweicht und kaum mehr als das zu erkennen, was er einst war: gefallene Größe! – Und als Sie die Haustür öffneten, öffnen wollten, da erschien der Herr mit dem Monokel – sehr hilfsbereit … Er mußte doch einen Vorwand haben, mit Ihnen anzubändeln … Natürlich hatte er in der Nähe aufgepaßt und vorher das Türschloß ein wenig verdorben. Und daß dieser junge Gentleman auch der Absender des getippten Briefes war, der Sie veranlaßte, vor der Haustür zu warten, – dies erscheint mir gleichfalls gewiß …“

Anni Inna schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Herr Harst, das Letzte stimmt nicht. Der Brief war anonym und von einer Dame …“

Harald lächelte zweifelnd. „Meinetwegen – angeblich von einer Dame, angeblich! Sicherlich wurde in diesem Schreiben auf Ihre eifersüchtigen Regungen spekuliert und Ihnen versprochen, daß der Absender nähere Einzelheiten mündlich geben würde, – heute abend, halb elf – oder zehn Uhr – so ungefähr … – Stimmt’s?“

Und die Diva nickte sehr kleinlaut und verlegen.

„Nun also, gnädiges Fräulein …! – Und nachdem der Gentleman Sie dann im Hausflur nach bewährter Methode ausgeplündert hatte – es ist dies übrigens sein achtes Meisterstück! –, eilten Sie zu Ihrer Frau Mutter nach oben – natürlich! – und natürlich weinten Sie über den Verlust … – Sehen Sie, das alles ist doch tatsächlich sehr einfach. Die Kunst des Kombinierens erscheint nur denen als Hexerei, die sich noch nie damit beschäftigt haben.“

Wer meinen guten Harald so sprechen hörte, der mußte wirklich glauben, selbst der größte Stoffel könnte Harstsche Geistesarbeit leisten. Na – ganz so einfach ist das denn doch nicht! Wer diese ersten Seiten sorgfältig gelesen hat, wird mir unbedingt recht geben. –

Harald fragte Anni[2] Inna dann noch so allerlei, ließ sich die gestohlenen, nein, die geraubten Stücke nennen: fünf Ringe, einen Anhänger, eine Perlenschnur, eine Armbanduhr und ein goldenes Handtäschchen, – versprach der Diva sein Möglichstes zu tun und begleitete unsere Klientin noch bis zu dem draußen wartenden Auto.

Als er ein wenig naß geregnet das Zimmer wieder betrat, rieb er sich vergnügt die Hände, trat hinter meinen Sessel und klopfte mir derb auf die Schulter … „Mein Alter, das wird ein feiner Fall!! Die Jagd auf diesen jungen Frechdachs ist ein kleiner Leckerbissen, denn der Monokel-Jüngling hat nicht nur Schneid, sondern ist auch zweifellos ein heller Kopf, keine Durchschnittsware! – Nun, wir werden ihn schon kriegen!“

„So?! Weißt du das so bestimmt?!“

„Ja … Denn jeder Gauner macht Fehler. Und dieser Monokel-Gent hat sie schon gemacht. Er muß gewußt haben, daß Anni Inna heute abend bei der Aufnahme ihre Pretiosen tragen würde, daß er sie vor der Haustür abfassen könne und daß gerade dies durch den anonymen, Eifersucht erregenden Brief sich am besten erreichen ließe … Mithin kennt er Anni Innas ganze … Verhältnisse sehr genau. – Hallo – etwa noch ein später Gast?! Da – – ein Auto tutet vor unserer Pforte, die ich soeben hinter der Diva abgeschlossen habe … Aha – jetzt schrillt die Glocke … Geh öffnen, mein Alter … Ich bin schon einmal naß geworden …“

Ich ging, nahm den Schlüssel mit … Es tröpfelte nur noch … Aber – von einem Auto keine Spur … An der Vorgartenpforte keine Seele …

Ich wollte schon wieder ins Haus zurück. Da fiel mir der Briefkasten ein. Ich schloß ihn auf, tastete hinein …

Wahrhaftig: ein dicker, langer, schwerer Brief …

Ich eilte ins Haus zurück.

„Hier, ein Brief, Harald …“

Er wog ihn in der Hand … Es war ein langer brauner Umschlag, ohne jede Aufschrift …

„Hm – ich denke, es werden Anni Innas Schmucksachen sein,“ sagte Harst langsam …

Und öffnete den Umschlag, zog einen schmalen Handschuhkarton hervor …

In dem Karton lagen in rosa Watte Anni Innas Juwelen …

Ohne jede Begleitzeile …

„So … so!“ meinte Harald da mit leichtem Kopfschütteln … „Der Monokel-Gent ist Anni gefolgt … Wußte also, daß sie uns auf seine Fährte hetzen wollte, bekam Angst, hat irgendwo in der Nähe in einem Cafee oder in einer Kneipe sich den Umschlag und den Karton geben lassen, die Sendung fertig gemacht und uns dann zugestellt … – Armer dummer Kerl, wir werden dich sehr bald haben, – gehen wir die Cafees und Restaurants abklappern, mein Alter …“

Die Idee war gut … Aber mit der Ausführung haperte es …

Weil mit einem Male die Tür nach dem Flur aufgerissen wurde und rasch … der Monokel-Gent eintrat, die Tür wieder hinter sich zudrückte und uns liebenswürdigst eine kleine Repetierpistole zeigte …

 

2. Kapitel.

Der weiche Klang.

„Ich bin Ihnen, Herr Schraut, sehr verbunden, weil Sie die Haustür vorhin nur angelehnt hatten und mich hineinschlüpfen ließen, so daß mir diese kleine Überraschung möglich wurde … – Setzen Sie sich bitte wieder, meine Herren – dort auf das Sofa … Sie können überzeugt sein, daß ich abdrücke, wenn Sie nicht sofort gehorchen. Ein Mensch wie ich, der nichts mehr zu verlieren hat, denkt über Menschenleben sehr gering … Man wird bei meinem Handwerk Egoist, meine Herren. Also – bitte …“

Die vollkommene Sicherheit seines Auftretens, die angenehme leise Stimme, das schmale gebräunte Gesicht und dazu ein gewisser unnennbarer Reiz, der von seiner Persönlichkeit ausging: der junge Kerl war mir außerordentlich sympathisch!

Gewiß, die halb zugekniffenen Augen, das glitzernde Monokel und die Pistole und ein Zug von kalter Entschlossenheit um den schönen, fein geschwungenen Mund deuteten anderseits darauf hin, daß dieser Gentleman von höchstens dreiundzwanzig Jahren kein ganz leichter Gegner sei.

Wir setzten uns …

Harst tat’s mit einer ironischen eilfertigen Beflissenheit …

Und nun war der Sofatisch zwischen uns und dem Straßenräuber …

Straßenräuber!!

Ein ganz moderner … Ein Kind unserer kranken Zeit.

Setzte sich in meinen Klubsessel, rückte den Sessel vom Tisch ab und stützte die Rechte mit der Pistole auf die übereinandergeschlagenen Knie …

„Wir müssen uns unbedingt einigen, meine Herren,“ sagte er dann und deutete mit der Linken auf den offenen Karton mit den Schmucksachen, der auf dem Tische lag. „Ja – es war eine Torheit von mir, mit Anni Inna anzubinden … Das Zeug da ist keine zehntausend Mark wert … Der Hehler gibt höchstens dreitausend. – Ich habe soeben hier an der Tür gehorcht. Ja, ich war im Restaurant Patzenhofer am Bahnhof Schmargendorf … Dort ließ ich mir Umschlag und den Karton geben. Sie hätten dort also nichts Wesentliches erfahren, Herr Harst … – Einigen wir uns. Ich werde Berlin verlassen – und Sie beide lassen mich in Ruhe, denn – – daran liegt mir sehr viel! Sie beide auf meiner Spur – – ich danke!! Ich hätte keine ruhige Minute mehr! – Nun, Herr Harst?“

„Bedauere – – mich zwingt man nicht zu Zugeständnissen!“

„Lieben Sie das Leben so wenig?!“

„Werden Sie nicht albern, Verehrtester! Ich weiß genau, daß Sie nicht schießen werden. Denn uns niederknallen, das hieße für Sie in ein Wespennest fassen. Meine Freunde von der hiesigen Kriminalpolizei würden Sie zur Strecke bringen, und wenn Sie sich in Afrika im Urwald verkröchen! Aber – ich habe Mitleid mit Ihrer Jugend … Sie sind nur hier in Berlin … tätig gewesen. Anni Inna war Ihr achtes Räuberstückchen. Liefern Sie Ihre Beute uns wieder aus oder das, was Sie dafür erhielten, und versprechen Sie mir, fernerhin Ihre Fähigkeiten ehrlich zu verwerten, dann … will ich Sie schonen!“

Zu meinem Erstaunen nickte der Gent bereitwilligst. „Gut, Herr Harst … Ich habe von der gesamten Beute noch nichts veräußert. – Kennen Sie das Dorf Cladow an der Havel, gleichzeitig Villenvorort? – Wenn Sie bitte dort auf dem freien Ufergelände neben dem Sommerhause des Bankdirektors Rüttger dicht am Drahtzaun nach Norden zu den dort liegenden kleinen Haufen Bauschutt durchwühlen, werden Sie eine große, verrostete Konservenbüchse finden, oben mit Sand gefüllt, unten mit … meiner ganzen Beute, – – mein Ehrenwort, es ist so! Nichts fehlte nichts … Die Beute ist in sieben Päckchen verteilt, so daß Sie den Beraubten ihr Eigentum unschwer zustellen können. – Nochmals – ich lüge nicht! – Und nun …?“

„Wenn Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen, – – erledigt! Aber hüten Sie sich!! Geben Sie dieses Handwerk auf!! – – Gehen Sie!“

Der junge Mensch erhob sich zögernd …

„Herr … Herr Harst, ich … danke Ihnen … Ich möchte Ihnen so gern … die Hand zum Abschied drücken … Ich war auf abschüssiger Bahn … Ich … – gute Nacht …!“

Und er ging …

Wir hörten die Haustür klappen …

Ich eilte ans Fenster, schlug die Vorhänge zurück …

Der Fremde schwang sich gerade über den Gitterzaun.

Harst sagte, als ich mich wieder umdrehte:

„Fahren wir nach Cladow … Ich könnte doch nicht schlafen …“

„Ich auch nicht.“

Und zehn Minuten drauf sauste ein geschlossenes Auto gen Spandau, bog links ab … an der Havel entlang – an Gatow vorüber …

Harst lehnte in seiner Ecke, rauchte Zigaretten und sprach kein Wort.

„Woran denkst du?“ fragte ich …

„An den Fremden …“

„Und ich an … unseren Reinfall …“

„Du meinst, wir werden nichts finden?“

„Nein … Der Bursche hat uns hineingelegt. Jetzt, wo seine Persönlichkeit mich nicht mehr beeinflußt, halte ich ihn für einen ganz gerissenen Schauspieler. Die kleine Rührszene beim Abschied war glänzend …“

Harst schwieg.

„Und du?!“ ermunterte ich ihn zur Antwort.

„Ich – denke besser über ihn. Ich kenne Rüttgers kleines Sommerhaus. Besinne dich, im Juni haben wir dort auf dem freien Gelände mal Freibad gespielt …“

„Ah – das stimmt …!“

„Ja, – und wie sollte der Mann so rasch ausgerechnet auf jene Örtlichkeit kommen?! – Unser Auto hält … Steigen wir aus … – Sie warten hier, Chauffeur … Hier haben Sie zwanzig Mark …“

In der dunklen, wolkenschweren Julinacht sich in dem stillen Cladow bis zum unbebauten Strandstreifen der Havel durchzufinden, war nicht ganz leicht.

Die Luft, schwül und drückend, trieb uns klebrigen Schweiß auf die Haut. Drüben jenseits des Flusses, etwa in Richtung des Kaiser Wilhelm-Turmes wetterleuchtete es. Dumpfes, fernes Grollen deutete auf ein nahendes Gewitter hin. Nicht der geringste Luftzug milderte dieses beklemmende Gefühl, das nervöse Menschen stets bei solcher mit Elektrizität überladener Atmosphäre befällt. Und ich bin nun einmal nervös, daher auch Stimmungsmensch. Meine heutige Stimmung war ein Mittelding von fatalen Ahnungen, und Ärger darüber, daß der junge Gauner uns ganz überflüssigerweise hier nach Cladow hinausgelockt habe.

Wir schritten den schwarzen Fahrweg unten am Ufer entlang. Von den alten Bäumen fielen vereinzelte Tropfen herab. Wasserlachen glotzten mit blinden Augen zu uns empor. Hunde bellten, heulten, verstummten, – begannen von neuem ihre Kehlen zu trainieren. Auf dem Flusse zog ein Schleppzug vorüber. Der kleine Schleppdampfer keuchte wie ein armer Schwindsüchtiger, und auf einer der drei Zillen hinter ihm sang eine Mädchenstimme verschlafen von Heidelberg, wo sie ihr Herz verloren habe.

Harst wandte sich am Ende eines Drahtzaunes dichten Büschen zu, die in der Finsternis wie hockende, vorsintflutliche Ungeheuer aussahen. Er schaltete seine Taschenlampe ein, richtete den Lichtkegel nach unten und folgte einem breiten, ausgetretenen Pfade, der unappetitlich von durchweichtem Stullenpapier eingesäumt war. Gras und freie Sandstrecken wechselten ab. In den Gräsern blitzten Regentropfen.

Das Buschwerk hörte auf. Vor uns, vielleicht zwanzig Meter entfernt, der matt schillernde Fluß. Am Ufer Eulen, Weiden – – und Stullenpapier.

Die Badestelle …

Der Lichtkegel kroch blitzschnell in die Linse der Taschenlampe zurück. Wir blieben stehen und schlossen die Augen, um sie wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen.

In diesen Sekunden gerade kam über den großen Wannsee ein merkwürdiger Ton – eine Reihe von Tönen wie von einer fernen riesigen Windharfe, weich, verschwommen, umschmeichelnd und seltsam unwirklich.

Vielleicht waren diese halb verwehten Akkorde deshalb so eindrucksvoll, weil ich sie mit geschlossenen Augen vernahm und weil dieses nächtliche Abenteuer und die Gewitterluft mich doppelt empfänglich für äußere Wahrnehmungen, die jenseits der Grenze des Alltäglichen lagen, gemacht hatten.

Die Töne verklangen …

Lebten wieder auf …

Harst legte mir plötzlich die Hand auf den Arm …

Ich schlug die Lider auf.

Sein Gesicht war dicht an dem meinen …

„Hörst du?!“ flüsterte er …

„Ja … was gibt’s?! Eine Windharfe scheinbar …“

Er drehte den Kopf. „Da – schau durch die Lücke in den Zweigen …“

Auf dem matt schillernden stillen Wasser glitt mit leisem Surren ein länglicher Schatten dahin – ein Motorkreuzer – – dergleichen, aber ohne jedes Licht, ohne jede Laterne.

Das Surren verstummte, und das große Boot beschrieb einen kurzen Bogen und legte sich für kurze Zeit an der Landungsbrücke der Rüttgerschen Holzvilla fest … Jemand schwang sich von Deck auf die Brücke, und der unklare Schall rasch und leise gewechselter Worte erreichte uns. Dann wieder das Surren – – das Boot glitt weiter, und der dunkle Schatten auf der Brücke tauchte in der völligen Finsternis der schützenden Bäume unter.

Wir beobachteten das schmucklose Holzhaus, von dem freilich nur die Umrisse und die hellen Fensterladen zu erkennen waren.

Wir warteten fünf Minuten, zehn Minuten …

Keins der Fenster wurde erleuchtet. Keine Tür knarrte – nichts …

Und dabei standen wir dicht an dem Drahtgitterzaun, keine sechs Meter von der nördlichen Hauswand entfernt.

Aber – was ging uns im Grunde dieses Häuschen, der Motorkutter und die dunkle Gestalt an?!

„Harald …?“

„Leiser!“ Er duckte sich tiefer, kniete, zog mich mit sich in das hohe Unkraut hinab. „Was willst du, mein Alter?“ raunte er mir zu. „Es war keine Windharfe … Es war eine der neuen amerikanischen Hupen für Wasserfahrzeuge … Als die weichen Töne zum ersten Male verklungen waren, sah ich hinter dem herzförmigen Ausschnitt eines der Fensterladen dreimal ein grünes Licht aufblitzen …“

„Und du bringst dies etwa mit dem Monokel-Banditen in Zusammenhang?“

„Bewahre! Nur – interessant ist es mir … vielleicht als Auftakt zu einem neuen Fall … – So, jetzt wollen wir weiter kriechen. Da links vor uns sehe ich so etwas wie einen Hügel, einen Haufen Bauschutt …“

Wir waren sehr bald am Ziel. Es mußte der richtige Schutthügel sein. Harst fand eine Stelle, wo größere Platten Mauerputz aufeinandergelegt waren. Dann hielt er auch schon ein Etwas in den Händen, das er mit einem „Alles da!“ begrüßte …

Ich beugte mich tiefer … Es war die große Blechbüchse … Harst schüttete den Sand aus, und dann lachte er zufrieden … „Ich fühle die Päckchen … Hier – steck’ dir ein paar in die Manteltaschen …“

Ich griff zu …

Wollte zugreifen …

Meine Hand fuhr wie schützend nach dem Kopf – – eine unbewußte Bewegung, Reaktion auf den dumpfen, kurzen Schmerz …

 

3. Kapitel.

Patzenhofer – Marengo.

… Ich riß die Augen gewaltsam auf … Sollte ich mich weiter von den frechen Buben mit kleinen Steinen bewerfen und mit der Gartenspritze durchnässen lassen?!

Traum … Erwachen nach längerer Bewußtlosigkeit …!!

Das war’s …

Die kleinen Steine nur schwere Regentropfen … Die Gartenspritze nur die Nässe der herabprasselnden Sintflut …

Auf dem Rücken lag ich … Neben dem Bauschutt … Im nassen Unkraut … Um mich her das trübe Licht einer verregneten Morgendämmerung …

Und als ich den Kopf, den Oberleib mühsam hob: vor mir am Havelufer unter den triefenden Bäumen eine sehnige, hagere, splitternackte Gestalt, die soeben dem Wasser entstieg: Harst!

Er nickte mir zu … Seine Kleider hatte er mit dem leichten Gummimantel bedeckt, begann sich nun mit unerschütterlicher Gemütsruhe wie im strahlenden Sonnenschein anzuziehen, nachdem er den Mantel über sich in den Ästen als Schirm befestigt hatte.

Ich befühlte meinen Schädel. Die Beule konnte sich sehen lassen. Edlere Teile waren nicht verletzt.

Ich stand auf und schwankte vorwärts.

„Bade wie ich, mein Alter, und du wirst dich wie ein Fischlein fühlen …,“ – so empfing Harst mich.

„Und – – die Päckchen mit der Beute?“ platzte ich heraus.

„Futsch! Jedenfalls waren sie da, und das genügt vorerst …“

„Nur dieser junge Lump kann uns niedergeschlagen haben!“

„Irrtum! Er hat damit nichts zu tun.“

„Woher weißt du das?“

„Bade!! Und dann nach Hause!“

So ist er immer. Speist mich mit karger Kost ab, mit dem Vorgericht. Den Braten serviert er mir später. –

Zu Fuß wanderten wir bis Gatow. Schweigend. Erwischten in Gatow ein Auto. Um halb sechs morgens waren wir daheim. Kurzes „Gute Nacht“, Händedruck, und ich betrat meine Zimmer rechts vom Flur, lag gleich darauf im Bett, schlief ein … –

Als ich um halb elf Harsts Arbeitszimmertür öffnete, saß mein unverwüstlicher Harald im Saffiansessel vor dem Kamin und hatte auf der Platte des Rauchtischchens eine Musterkollektion von Ringen, Uhren, Anhängern, Vorstecknadeln, Halsketten und Ohrringen ausgebreitet – in sieben Häuflein …

Ich blieb an der Tür stehen.

Draußen schien die Sonne. Die beiden Fenster waren weit offen. Die Sperlinge im Weinspalier lärmten. Sie verlangten ihr Frühstück. In Reihen saßen sie auf den Stäben der Blumenkästen …

„Harald – – woher?!“

Ich kam näher, starrte auf die sieben blitzenden Häuflein.

„Harald, du hast gar nicht geschlafen …! Du warst noch unterwegs, nachdem wir …“

„… Unsinn! Ich bin erst vor einer Viertelstunde aufgestanden. Mathilde hatte hier bereits gelüftet. Und dort an dem rechten Fenster auf den Dielen lag ein Schuhkarton … Da ist er … Darin fand ich diese goldene und diamantene Bescherung … Tatsache! Jemand hat den Karton durch das Fenster hereingeworfen … Bitte, dieser Zettel lag in dem Karton …“

Ich las … Lila Maschinenschrift …:

Die Beute anbei zurück. Der Lump ist erledigt. –

Monokel.

Ich rieb mir die Stirn …

„Setz dich, mein Alter …! Setz dich …! – Ja, dieses Monokel ist nicht Durchschnittsware … Der junge Gentleman hat Hirn und Energie. Beides in reichem Maße sogar. Nur eins hätte er nie tun sollen. Zu uns kommen und dadurch zugeben, daß er uns fürchtet. Das war ein Fehler trotz der tadellosen Maske.“

„Maske?!“ fragte ich kopfschüttelnd. „Ich habe nichts von einer Maske bemerkt. Du doch auch wohl nicht. Du kannst nur „innere“ Maskierung meinen.“

„Innere Maskierung! – Nicht schlecht gesagt. Beides trifft zu: äußere und innere! – Deine Augen sind schlechter als die meinen. Vielleicht ist es dir aus diesem Grunde entgangen, daß das Monokel die Gesichtshaut künstlich gefärbt, gebräunt hatte, und daß die Schatten um Mund, Nase und Kinnpartie künstlich vertieft waren. Wer gerade dieses „Schattieren“ gut versteht, braucht nicht zu fürchten, bei heller Beleuchtung durch Schminkstriche die Tuscharbeit zu verraten.“

Ich nickte zerstreut. Ich dachte an die verflossene Nacht. – „Woher wußtest du, daß nicht das Monokel uns niedergeschlagen hatte?“ bat ich aus diesen Gedanken heraus um Aufklärung über den einen mir am wichtigsten erscheinenden Punkt.

Harst lächelte … „Dja, mein Alter, wenn ich dir die Frage beantworten würde, so würde ich dir eine großartige Überraschung verderben. – Wie wär’s, wenn wir heute im Patzenhofer am Bahnhof Schmargendorf frühstückten? Ich habe Mathilde schon Bescheid gesagt, daß wir für einige Zeit … verreisen, auch von meiner Mutter habe ich mich bereits verabschiedet. – Patzenhofer …! Du erinnerst dich … Das Monokel war so rasch bereit, uns die Kneipe anzugeben, wo sie den Handschuhkarton und den Briefumschlag sich besorgt hatte. Vielleicht sollten wir dort nicht weiter nachfragen. Nun tun wir es erst recht. – Also dann vorwärts … Rucksäcke, nur das Notwendigste und in Maske vier hinein. Wir nehmen ein geschlossenes Auto, fahren in den Grunewald, verkleiden uns dort und können um halb zwölf im Patzenhofer sein. Fix – ich hoffe dort manches zu erfahren.“

Drei Viertel zwölf …

In der kleinen Kneipe mit den blitzsauberen Tischen saßen zwei bärtige Arbeiter am Fenster. Neben ihnen lagen ihre schmierigen Mützen und alten Rucksäcke. Die Weiße mit ’n Schuß und die Klopse mit Kartoffelsalat schienen ihnen trefflich zu munden. Der Wirt bediente selbst. Es war ein geschniegelter kleiner dicker Mann. Da sein Lokal zur Zeit leer (es saß am anderen Fenster nur noch ein älteres Männchen mit Stahlbrille und Hausiererkasten), ließ er sich gern mit den Arbeitern auf ein längeres Gespräch ein, das dann plötzlich eine für ihn sehr unerwartete Wendung nahm. Der eine der Arbeiter beugte sich über den Tisch und flüsterte:

„Ich bin Harald Harst … Bitte, bleiben Sie unbefangen …!“

„Oh, das wird mir trotz der Überraschung nicht schwer, Herr Harst, denn ich war bis vor drei Monaten Schauspieler. Sie wissen ja, wie miserabel es heute mit dem Komödiantentum steht. Da habe ich denn mit meinem letzten Gelde umgesattelt … – Sie wünschen, Herr Harst?!“ Und sein faltiges Mimengesicht verzog sich zum Ausdruck liebenswürdiger Schläue. In einem Atem fügte er hinzu: „Ich glaube zu wissen, was Sie und Ihren Freund Schraut herführt. Gestern abend war zum ersten Male eine … Dame hier, eine sehr geschminkte und gepuderte … Asphaltblume – und so … Derartige Gäste weise ich sonst hinaus. Aber das Mädel war so verstört und verängstigt, daß sie mir leid tat. Sie ließ sich von meiner Frau …“

„… einen Handschuhkarton und einen Briefumschlag geben …“

„Aha – also stimmt’s …! Und dann packte sie etwas in den Karton … Nachher sah sie noch das Telephonbuch ein … Da sie lediglich einen Pfefferminzlikör getrunken und ein paar Zigaretten geraucht hatte, konnte ich, als sie wieder gegangen, unschwer feststellen, daß sie die Seite mit Ha im Verzeichnis aufgeschlagen gehabt hatte: Pfefferminzgeruch und Zigarettenasche zwischen den Seiten! – Und wenn Sie, Herr „Ha…rst“ heute nun hier erscheinen, gehört nicht eben viel Esprit dazu, um …“

„Oh – Sie pfuschen uns ja ins Handwerk, Herr Marengo!“ scherzte Harst …

Der kleine Komödiant a. D. warf sich gewaltig in die Brust. „Na – man müßte doch wirklich ein Brett vor dem Schädel haben, wenn man nicht …“

„Sie haben keins vor dem Schädel, das stimmt! Und deshalb: Konnte die … Dame nicht vielleicht ein verkleideter Mann gewesen sein?“

„Nein, ausgeschlossen!“

Jetzt mischte ich mich ein: „Herr Marengo, und doch war’s ein Mann! Ich …“

Harald fiel mir ins Wort …

„Wir haben es eilig, mein Alter. Was ich wissen wollte, weiß ich nun. Zahlen, Herr Marengo …“

Da schlug das neben dem Schanktisch hängende Telephon an … Der Wirt eilte hin …

Rief dann: „Ein Arbeiter Müller wird verlangt …“

„Det bin ick,“ rief Harald zurück …

Er hatte daheim seiner Mutter angegeben, wo wir zu finden seien.

Ich beobachtete ihn … Er grinste verschiedentlich …

„Na Fritze,“ meinte er dann, „det is ja ’ne dufte Sache … Jut, wir kommen …“

Gleich darauf schritten wir mit unseren Rucksäcken davon.

„Bechert rief an,“ erklärte Harald sehr ernst. „Er war bei uns … Man hat heute früh acht Uhr in Cladow in einer Bauhütte unweit der Stelle, wo wir nachts niedergeschlagen wurden, einen Toten aufgefunden. Der Mann ist gut gekleidet gewesen, völlig ausgeraubt und das Gesicht durch Hiebe mit einem stumpfen Instrument bis zur Unkenntlichkeit zerstört, außerdem auch noch mit Salzsäure begossen. Bechert bittet uns, sofort nach Cladow hinauszukommen, da dieser Mord noch verschiedene seltsame Nebenumstände aufweist.“

Ich war stehengeblieben …

„Harald, womöglich ist’s der … Erledigte! Besinne dich auf den Zettel des Monokels von heute früh.“

Aber Harst meinte zweifelnd: „Mord – und das Monokel?! Ich glaube es nicht!“

Meine Aufmerksamkeit – ich stand mit dem Gesicht nach der Brücke hin – wurde durch den alten Bettler abgelenkt, der am anderen Fenster gesessen und sich an einem Machandel[3], doppeletagig, gelabt hatte. Der bucklige, abgerissene Kerl lehnte mitten auf der Brücke am Geländer und schaute einem Stadtbahnzuge nach. Das war an sich wenig auffällig. Aber soeben, als ich durch Haralds Mitteilungen über den Mord zum plötzlichen Stehenbleiben veranlaßt worden war, hatte ich sehr wohl bemerkt, daß der Hausierer-Schnorrer gleichfalls jäh halt gemacht und sich rasch halb umgedreht hatte – eine Stellung, die er noch immer beibehielt.

Harst sagte unvermittelt und mit leiser Ironie. „Das Monokel ist nicht an Machandel gewöhnt … Wenn man zu sehen versteht, konnte einem kaum verborgen bleiben, daß der Alte den Schnaps nur zum Schein trank, ihn in Wahrheit den Kopf seiner Jägerpfeife goß. Siehst du ihn?“

Ich mußte mich nach diesem neuen „Überfall“ – geistigen Überfall erst etwas erholen.

„Du … meinst, das Monokel …“

„… ich meine ja …! Kehrt also!“

Aber unser Mann hatte entschieden Lunte gerochen. Er humpelte wieder dem Bahnhof zu – immer schneller … schneller …

Harst begann zu laufen …

Der Alte bog in den Bahnhof ein … Hatte kaum zwanzig Schritt Vorsprung. Und doch – – er blieb spurlos verschwunden. Harst hatte mich oben im Gebäude zurückgelassen. Er selbst war auf den Bahnsteig hinabgeeilt. Kehrte zurück.

„Nun?!“ fragte er gespannt …

„Nichts!“

„Auch … keine verschleierte Dame?“

„Das ja … Aber …“

„Wohin?“

„Soeben auf die Straße hinaus …“

Er rannte davon. Ich hinterher. Wir sahen gerade noch, wie die Dame im braunen Seidenmantel in ein dunkles, geschlossenes Privatauto stieg … Das Auto jagte nach Dahlem zu …

Wir hatten in Wahrheit das Nachsehen.

Harald meinte seelenruhig: „Das Monokel hat also doch damit gerechnet, daß wir die Kneipe besuchen würden … Nun, wenn nicht jetzt, dann später … – Fahren wir also nach Cladow …!“

 

4. Kapitel.

Widersprüche.

Mit einem Male stand der kleine geschniegelte Herr Marengo vor uns … Es wirkt immerhin etwas komisch, wenn ein früherer Schauspieler seinen ausgedienten Smoking jetzt als Kneipwirt aufträgt.

Marengo lächelt mephistohaft, verbeugt sich … „Herr Harst, ich habe die kleine Szene soeben mit beobachtet. Der alte Kerl floh vor Ihnen, und nachher war er eine Dame geworden. Gestatten Sie: es war dieselbe Dame wie gestern abend … Unsereiner hat Augen.“

„Ich danke Ihnen, Herr Marengo,“ sagte Harst und drückte dem gelenkigen kleinen Mann warm die Hand. „Nur eins noch …“

Marengo fiel ihm ins Wort … „Aha – – den Hausiererkasten meinen Sie! Ganz recht! Den hatte das Weib nicht mehr! Sie muß ihn dort stehengelassen haben, wo sie sich umgekleidet hat …“

„Allerdings … Und das dürfte in dem dunklen Winkel hinter einer der geöffneten Türen des Bahnhofsgebäudes geschehen sein. – Ich, Herr Marengo, dachte soeben freilich an etwas anderes … Daran, Sie zu bitten, über all diese Dinge zu schweigen …“

„Was selbstverständlich ist,“ dienerte der Patzenhofer. „Wenn ich Ihnen sonst noch irgendwie gefällig sein könnte, Herr Harst …“

„Ja, warten Sie hier mit Schraut auf mich …“ Und er verschwand wieder im Bahnhof.

Es dauerte eine geraume Weile, bis er zurückkehrte.

„Ich habe nichts finden können,“ erklärte er … „Auf Wiedersehen, Herr Marengo … Wir haben es eilig ..!“

Aber Marengos faltiges rotes Gesicht mit den großen Puppenaugen legte sich feixend in noch mehr Fältchen …

„Schade, Herr Harst … Nichts gefunden! Ein Glück nur, daß Ihr Rucksack so angenehm geschwollen ist …“

Und nach eleganter Verbeugung eilte er in seine Kneipe zurück.

„Talent!“ sagte Harald. „Der Mann ist zu schade dazu, hinter dem Schanktisch den Verstand zu umnebeln … – Komm!! – Natürlich habe ich den Kasten gefunden … Auto – halt!“

Der Chauffeur musterte uns kritisch. Harst gab ihm zehn Mark …

„Mensch, glotz uns nich so dämlich an! Wir haben eilje Arbeit in Cladow … Fahr zu!“

Wir fuhren …

Und im Auto besichtigten wir dann unseren Fund, den schäbigen kleinen Holzkasten.

Oh – das war ein patentes Ding! Der ließ sich im Nu in ein elegantes Lederköfferchen verwandeln, und was wir im unteren Fach dieses Köfferchens entdeckten, das waren nicht Zündhölzer, Schnürsenkel und Knöpfe, sondern … Perücken, Bärte, Schminken, ein Handspiegel, ein Kamm, eine Bürste und … ein sogenannter Totschläger, das heißt ein kurzer Lederknüttel, oben mit Bleikugeln gefüllt: eine furchtbare Waffe!

Harst beugte sich vor … Die Sonne schien auf die Bleispitze des Totschlägers … Braune Blutkrusten, einzelne Haare, festgeklebte Hautfetzen, ein kleiner Knochensplitter: Harst schaut mich lange an …

Ich verstehe … Die Blutkruste ist frisch, die Hautfetzen noch wenig verfärbt.

Harst sagt leise: „Sollte es wirklich möglich sein?! Ich kann daran nicht glauben!“

Er stockt … „Ich will dir jetzt die Wahrheit eingestehen: Das Monokel ist ein Weib, mein Alter! Es ist so. Ich wußte es schon gestern abend, als der junge Gent bei uns war. So manches verriet das Geschlecht: die kleinen Hände und Füße, der Mund, die Zähne, die unter dem losen Mantel noch immer hervortretende Brustwölbung … Und die Stimme, die künstlich dunkel getönt war, verriet sich zuweilen. – Es ist ein Weib … Ein junges Mädchen vielleicht – und eine Ausländerin … Viele Worte klangen anders, als sie eine geborene Deutsche aussprechen würde …“

Jetzt, wo Harald mich auf all dies aufmerksam machte, war auch ich überzeugt, daß er recht hatte.

„… Deshalb, mein Alter, sagte ich auch, daß das Monokel uns nicht niedergeschlagen habe. Ich traute einem so schlanken Weibe nicht die Kraft zu, so blitzschnell mit einem Bootsruder zweimal so wirkungsvoll zu treffen. Die Hiebe folgten einander wirklich unheimlich rasch, und doch war nur ein Gegner da. Das sah ich …“

Er blickte starr auf den besudelten Totschläger …

„Und nun – dies gräßliche Ding! Es ist vor kurzem benutzt worden, und wenn wir das, was Freund Bechert mir so flüchtig über den Ermordeten in der Bauhütte mitteilte, hier mit in Betracht ziehen, so … ja, so muß man leider, leider dieses Weib trotz aller Widersprüche in den bisherigen Vorgängen, für die Täterin halten. Widersprüche …! Überlegen wir folgendes: Wir fahren in der Nacht nach Cladow hinaus, um die Beute des Monokels zu holen. Als wir diese Beute schon in den Händen haben, erfolgt der hinterlistige Angriff auf uns …Von einer einzelnen Person … Und nachher wirft das Monokel die Beute durch das Fenster in mein Arbeitszimmer, schreibt dazu „Der Lump ist erledigt“. Dann meldet Bechert den Mord, und wir finden diesen Totschläger. – Wer ist also der Ermordete? Hat er wirklich mit dieser Frau irgend etwas zu tun? Wenn ja: Weshalb wurde er beseitigt? War er der heimtückische nächtliche Angreifer? Kannte er ebenfalls das Versteck …?! Weshalb wurde er nachher getötet? Zur Strafe?! Wenig wahrscheinlich ist das! Ein junges Weib mordet nicht so ohne weiteres, nicht so leichten Herzens. Denn dieses Mädchen hat Gemüt … Trotz der moralischen Verirrungen der Räuberstückchen! Und – wenn sie im Jähzorn, in der Erregung etwa zur Mörderin geworden: Weshalb warf sie die Leiche nicht mit Steinen beschwert in die Havel? Die Baubude steht nach Becherts Angaben keine fünfzig Meter vom Flusse ab.“

Er machte eine müde Handbewegung …

„Alles Theorie, nur Theorie! Aber doch Widersprüche, Unklarheiten, man könnte sagen: Sinnlosigkeiten! – An Ort und Stelle werden wir klüger werden. Bechert sprach ja von seltsamen Nebenumständen. Darauf bin ich sehr begierig …“

Unser Auto hatte längst die Chaussee erreicht, näherte sich dem Orte Gatow …

Plötzlich bremste unser Chauffeur sehr scharf …

Gerade dort, wo das Buschwerk beiderseits dicht an die Straße heranreicht …

Bremste, stand …

Vor uns mitten im Wege lag ein Mann …

Neben ihm ein kleiner Hausiererkasten …

Auf dem Rücken lag der Alte mit dem schütteren grauen Bart und der blauroten Nase …

Es war der alte Hausierer aus Marengos Kneipe – Zug um Zug – alles stimmte, Gesicht, Kleidung – – alles!

Harst beugt sich herab …

Der Chauffeur und ich stehen neben Harald …

Leider …

Ich fühle, wie ich mit einem Male merkwürdig schwindlig werde, wie mir’s vor den Augen flimmert …

Ich schwanke … Der Chauffeur schwankt …

Harst fällt nach vorn …

Dann weiß ich nichts mehr …

Nichts …

Und aus diesem Nichts, aus dem Dunkel des ausgeschalteten Bewußtseins wachsen endlich ein paar hellere, verschwommene Stellen hervor … Meine Sinne funktionieren halb … Nur halb … Was ich wahrnehme, ist wie ein Traum, wie die groteske sprunghafte Arbeit des schlafumfangenen Geistes.

Da ist ein Geräusch, das anschwillt, verklingt … Da ist ein Brausen, Sausen, Gurgeln, Raunen, Stöhnen, Flüstern …

Da ist eine Stimme, die immer energischer befiehlt: „So schlucken Sie doch, Schraut!“

Bechert …!!

Und ich fühle etwas an meinem Munde, schlucke, öffne die Augen …

Ich liege auf dem Achterdeck eines Motorkutters des Wasserschutzes auf Decken … Der Kutter ist dicht am Rande des Schilfgürtels vertäut. Wellen gluckern gegen die Bordwand. Neben mir Harst und der Chauffeur … Vor mir Bechert, zwei andere Herren von der Kriminalpolizei und … Herr Marengo, der Patzenhofer.

Marengo nickt mir zu. „Ein Motorrad ist ein übles Knatterding, aber man kann damit einem Auto folgen, Herr Schraut. Und das tat ich … So kam ich gerade noch zur rechten Zeit, um die drei Kerle, den Hausierer mit einbegriffen, zu verscheuchen. Harst und der Chauffeur lagen schon im Auto. Man wollte Sie alle drei wegschaffen. Die Kerle rissen aus, und im Laufen bin ich kein Meister, Herr Schraut, – na, Sie wissen das ja selbst … Fett hindert.“

Harald hebt den Kopf … „Wir danken Ihnen, Herr Marengo … Sie haben Talent. Den Hausierer kannten Sie doch nicht, – nein, ich meine: Sie würden ihn nicht wiedererkennen?! Unmöglich! Leider!“

Harst sank wieder zurück.

Nun wußte er, – auch ich: Marengo hatte nicht geplaudert! Unser Monokel war bisher nicht von ihm genannt worden! Und daran schien Harald sehr viel zu liegen.

Da wir schachmatt wie die Herbstfliegen waren, wurden wir beide von Cladow im Polizeiauto heimwärts geschafft. Um sieben Uhr abends lagen wir im Bett. Ich schlief wie ein Toter. Als ich erwachte, war’s fünf Uhr morgens.

An meinem Bett saßen Harald, Freund Bechert und Herr Emil Marengo mit den Puppenaugen …

 

5. Kapitel.

Entwischt.

„Entschuldige, daß wir dich geweckt haben, mein Alter,“ sagte Harst und zog rasch die Fenstervorhänge auf. „Bechert ist soeben mit Herrn Marengo zu uns gekommen, da sich abermals Dinge ereignet haben, die genau so dunkel sind wie die bisherigen Vorkommnisse.“

Er trug noch den schwarzseidenen Schlafanzug, und er war noch nicht rasiert und sein Haar hing ihm wirr in die Stirn.

Draußen war’s bereits hell. Aber es goß in Strömen: Juli 1927!!

Herr Marengo drückte mir die Hand …

„Sehen Sie, Herr Schraut, ich konnte jetzt nicht länger schweigen und mußte Herrn Bechert einweihen. Ich wußte ja, daß er mit Ihnen beiden eng befreundet ist.“

„Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, lieber Herr Marengo,“ meinte Harald da. „So, Bechert, nun schießen Sie erst einmal los … Teilen Sie uns die seltsamen Nebenumstände des Mordes an dem Unbekannten mit. Dann mag Marengo sprechen. – Hier hast du eine Zigarette, mein Alter. Das macht munter und regt an.“

Fritz Bechert sah recht erschöpft und übernächtigt aus. Es ist keine ganz reine Freude, in Berlin Kriminalkommissar zu sein. – Er begann … Ich rauchte …

„Ganz kurz also, Harst … Der Unbekannte ist von einer Frau ermordet worden – mit demselben Totschläger, den ich in Ihrem Rucksack fand. Die Spuren vor der Bauhütte sind die eines Weibes mit schmalem Fuß. Diese Frau hat den Mann neben einem Schutthaufen dicht am Zaun des Sommerhauses des Direktors Rüttger getötet und die Leiche in die Bauhütte getragen. Neben dem Toten lag die Salzsäure, mit der das zerstörte Gesicht begossen war, etwas sehr Merkwürdiges: Hier – dieses kleine elegante Gebetbuch, dessen Elfenbeindeckel leider durch die Säure arg beschädigt sind. Das Gebetbuch ist ganz neu. Wir haben bereits festgestellt, daß es vorgestern mittag in der katholischen Volksbuchhandlung am Winterfeldplatz in Berlin gekauft worden ist und zwar von einer Dame in der Tracht der Ursulinerinnen. – Noch merkwürdiger ist jedoch folgendes: der völlig ausgeplünderte Tote hatte tadellos neue braune Halbschuhe mit Wildledereinsatz an. Die Sohlen kamen mir etwas dick vor. Ich untersuchte sie und trennte sie schließlich auseinander. Sie bestanden aus zwei Sohlen, und zwischen beiden lag je ein schmaler Streifen Briefpapier bester Sorte, auf den man mit gewöhnlicher Tinte lediglich das Wort

Karpfenderbank

geschrieben hatte, – „Karpfenderbank“ auf jeden der beiden Zettel, sonst nichts, keine Geheimschrift, nichts, denn die Papierstreifen sind daraufhin schon geprüft worden. – Das wäre alles, lieber Harst.“

„Es ist übergenug,“ meinte Harald grüblerisch … „Es deutet darauf hin, daß …, – aber nun kommen Sie erst an die Reihe, Herr Marengo … Bitte …“

„Oh, ich kann mich noch kürzer fassen … – Ich fühle mich als Kneipwirt recht wohl. Als Sie, Herr Harst, und Ihr Freund heute zu mir kamen, und als ich merkte, daß Sie mir meine schnelle Auffassungsgabe anerkannten, da erwachte bei mir der Wunsch …“

„… schon gut: Sie möchten Detektiv werden, Sie verjagten die drei Kerle von der Chaussee und haben dann offenbar, nachdem wir nach Hause gebracht worden waren, noch auf eigene Faust sich in Cladow umgesehen … und etwas in Erfahrung gebracht.“

„Ganz richtig, Herr Harst … Ich … weiß, wo die Frau wohnt, die …“

„Ah – – nicht möglich! Wie haben Sie das ermittelt?“ – Mein guter Harald war sichtlich verblüfft.

Emil Marengo spreizte sich vor Wichtigtuerei. Das wirkte jedoch keineswegs unsympathisch. Der kleine, gutgenährte Herr hatte eben seine Eigentümlichkeiten, wie wir alle sie haben.

„Die Sache ist die …,“ begann er mit einem Pathos, das Harst und Bechert ein leichtes Schmunzeln entlockte. „Ich sagte mir, daß die Frau, die den Mord verübt und in deren Patentkasten Herr Kriminalkommissar Bechert den Totschläger gefunden und mir gezeigt hatte, vielleicht in Cladow selbst wohne. Ich stellte mein Motorrad im Seepavillon unter und ging zum Schein nach Sommerwohnungen mich erkundigen. Zunächst hatte ich keinen Erfolg. Überall ließ ich mich mit den Vermietern in ein längeres Gespräch ein und warf dann vorsichtig meine Angel aus, fragte nach der Dame, beschrieb ihr Äußeres und vertrödelte damit viel Zeit. Es wurde abend. Ich wollte die Sache schon als aussichtslos aufgeben, als ich nochmals dem freien Uferplatze mich zuwandte, wo links das Bauterrain eingeebnet wird und rechts dann der Streifen Badestrand sich anschließt, weiterhin aber ein braunes Holzhaus mit großem Garten, das einem Herrn …“

„… Rüttger gehört – – weiter, weiter!“

Marengo kam durch diesen Einwurf Harsts ein wenig aus dem Text. „Ja – also … also auf dem Rüttgerschen[4] Bootssteg angelte ein Arbeiter … Ich rief ihn an, und da endlich …“

„… erfuhren Sie, daß Herr Rüttger sein Sommerhaus, seine große Motorjacht und seine Segeljacht einer bekannten und mit seiner Frau befreundeten Deutschamerikanerin für den Sommer überlassen hat, da er selbst mit den Seinen auf seinem Gute in Mecklenburg weilt. Die Dame heißt im übrigen Geraldine Garring, ist die Tochter des Chikagoer Multimillionärs Tom Garring und hält sich hier in Berlin zu Studienzwecken auf: Musik- und Gesangsstudien.“

Jetzt waren wir drei anderen diejenigen, die Harald maßlos erstaunt anstarrten. Bei Emil Marengo war noch ein gut Teil Enttäuschung festzustellen, und er platzte denn auch heraus: „Und da lassen Sie mich erst hier lange Reden halten, Herr Harst?! Wo Sie doch schon alles weit besser wissen als ich?! Ich finde das nicht eben …“

„… nett von mir, nicht wahr?! – Nun, seien Sie deswegen nicht böse, Herr Marengo. Meine Kenntnis über unsere „Dame“ stammt von demselben Arbeiter, der bei Rüttgers Gärtner spielt und an einem Regenmorgen gleichfalls angelte, als Schraut noch im Unkraut lag und als ich ein Erfrischungsbad nahm. Der Mann hielt mich für einen spleenigen Fremden, plauderte arglos alles aus, was ich wissen wollte, und zog dann freudestrahlend mit seinen zehn Mark und den drei fingerlangen Plötzen ab, weil der sachte Regen in einen gehörigen Guß ausartete.“

Inzwischen hatte ich Zeit gehabt, auch in mir genügend Ärger aufzustapeln, der sich nun in dem gereizten Ausruf entlud: „Infam von dir!! Das alles hast du mir natürlich wieder verschwiegen!!“

„Weil ich keine halbfertigen Eier lege – keine Windeier ohne Kalkschale, mein Alter …! Jedes zu seiner Zeit! Und damit nun auch Bechert Grund zum Wettern und Schimpfen hat: Lieber Fritze Bechert, die Dame, um die es hier geht, ist höchstwahrscheinlich das Monokel …!!“

„Monokel?!“

„Nun ja: So hat der Mitarbeiter der Abendpost den eleganten Straßenräuber genannt, der vorgestern den Rechtsanwalt Morsel und abends die Diva Anni Inna, vorher aber noch sechs andere ausgeplündert hat!“

Bechert machte zunächst ein verdutztes Gesicht, lachte dann aber hell auf. „Eine Millionärstochter Straßenräuberin und Mörderin?! Das klingt nicht nur amerikanisch, das sind mir geradezu böhmische Wälder!!“

Harst blickte Bechert sonderbar an. „Sie werden nachher nicht mehr lachen, Freund Fritz!“ Und jetzt erzählte er von dem Motorkreuzer mit der Harfenhupe, von dem grünen Licht, das durch das Herzloch in den Fensterladen nach draußen fiel und von der Person, die vom Bootssteg aus den Garten betrat und verschwand, fügte hinzu:

„Es kann Geraldine Garring gewesen sein … kann …! – Schraut, anziehen! In einer halben Stunde sind wir in Cladow. Ich will den Stier bei den Hörnern packen, besser: die Kuh! Miß Garring wird Farbe bekennen müssen! Wir sind unser vier, und das genügt, selbst für den Fall, daß Miß Garrings Dienerschaft uns Schwierigkeiten bereiten sollte.“ –

Um halb sieben morgens standen wir vier vor der Gartenpforte des Rüttgerschen Grundstücks. Harst schickte mich und Marengo nach dem Badestrand. Wir sollten dort aufpassen – sehr überflüssigerweise, denn auf dem Bootssteg angelte wieder bei dem prächtigen Wetter der blasse, kränklich aussehende Arbeiter: Marengos und Harsts Gewährsmann!

Und der sagte uns, daß Miß Garring vor drei Stunden in ihrem Reiseauto Berlin verlassen habe – zusammen mit ihrer Zofe, ihrem Koch und ihrem Diener, – nach Bayern wollten sie … angeblich …

Bechert lief zur Post, telephonierte ans Präsidium. Das Auto, blauschwarz, großer Fordwagen, sollte aufgehalten werden. Telegraph, Telephon, Radio alarmierte alle Beamten weit und breit.

Um neun vormittags bereits Meldung aus Potsdam: Der Fordwagen war dort im Deutschen Hof untergestellt worden. Die fünf Insassen, Chauffeur eingerechnet, waren in einer Autodroschke davongefahren. Auch diese Autotaxe war ermittelt. Die Amerikaner hatten sich mit ihren Koffern nach Berlin zurückbringen lassen, zum Anhalter Bahnhof.

Die Berliner Polizei hatte wieder einmal glänzend gearbeitet. Aber vom Anhalter Bahnhof verlor sich jede Spur – jede…

Ein voller Tag verging – nichts …

Inzwischen hatte … –, – nein, damit will ich lieber den zweiten Teil beginnen …

 

 

Karpf – ender – bank.

 

1. Kapitel.

Als Harst Kompost siebte …

Inzwischen hatten die Ermittlungen der Kriminalpolizei, insbesondere der Mordkommission, der Harst sein gesamtes Material zur Verfügung gestellt hatte, noch mancherlei an den Tag gebracht, was die Gesamtlage eher noch verwirrte, anstatt sie zu klären. – Um hier gleich zu erwähnen: Harst hielt sich bei diesen Nachforschungen und Feststellungen vollkommen zurück, obwohl unsere Bekannten vom Polizeipräsidium ihn mehrfach aufgefordert und sogar dringend gebeten hatten, mit ihnen gemeinsam den mysteriösen Fall weiter zu bearbeiten. Seine damalige Stimmung, er war still, verschlossen und außerordentlich zerstreut, blieb mir zunächst rätselhaft. Er rührte sich nicht aus dem Hause weg, arbeitete im Garten und zeigte wenig Teilnahme für Freund Becherts Berichte, der sozusagen das Bindeglied zwischen uns und der Kriminalpolizei darstellte, deren Koryphäen viel zu vornehme Charaktere waren, als daß sie Harst etwa absichtlich hätten ausschalten wollen.

Der geringe Umfang dieser Bändchen erlaubt es mir leider nicht, hier, wie ich es wohl möchte, eingehender die erfolgreiche und doch auch wieder ergebnislose Arbeit der Kriminalpolizei zu beleuchten, daher in aller Kürze: Tom Garring, Chikago, auf zweihundert Millionen geschätzt, Witwer seit 1910, hatte zwei Kinder gehabt: Geraldine, jetzt dreiundzwanzig alt, und einen Sohn, den Erstgeborenen, namens Richard-Gerald. Dieser Sohn und Erbe war jedoch ein allzu leichtes Pflänzchen gewesen, hatte allerlei Dummheiten gemacht, die ihn auch mit den Behörden in Konflikt brachten, und war schließlich mit seinem Rennboot, als er wegen fahrlässiger Tötung neuerdings verhaftet werden sollte, absichtlich gegen eine Sandbank und ein paar Steinblöcke gefahren, der Motor war explodiert und Richard-Gerald nur noch als halbverkohlte Leiche aus dem brennenden Wrack herausgeholt worden[5]. – Der alte Garring nahm von dem Tode seines Sohnes, von dem er sich schon vorher völlig losgesagt hatte, keinerlei Notiz. Richard-Gerald existierte für ihn nicht mehr. Dies geschah im Februar 1927. – Im April trat Geraldine Garring ihre Europareise an – in Begleitung lang erprobter Bediensteter: des Dieners, des Kochs, des Chauffeurs und der Zofe. Diese fünf bezogen das Sommerhaus Rüttgers in Cladow. Außerdem hatte Geraldine Garring aber noch in der Kaiserallee in Berlin, Nr. 21, Hochparterre[6] rechts, eine feudale möblierte Vierzimmerwohnung gemietet, in der sie sich freilich nur selten aufgehalten hatten. Verkehr hatte sie nicht gepflegt. Ihre Lehrerin, die Kammersängerin Marzella Emmich, bei der sie ihren wundervollen Sopran veredeln und auch ihr Talent als Pianistin in ein geordnetes Studium lenken ließ, schilderte Miß Garring als bescheiden, höflich, sehr ernst und schwerblütig. Die Annahme, daß Geraldine als Straßenräuberin sich betätigt haben könnte, verwarf sie halb empört und halb belustigt. – Was man sonst noch über Geraldines Tun und Lassen hier in Berlin feststellen konnte, war sehr wenig. Sie hatte mit dem Rüttgerschen Motorkreuzer auf den Gewässern der Berliner Umgebung fast jeden Tag längere Fahrten unternommen, wobei sie stets von dem Chauffeur und dem Diener begleitet gewesen war. – Dann das Wichtigste: am 3. Juni war ganz unerwartet ihr Vater in Chikago verstorben, und sie wurde Erbin eines Riesenvermögens. Da sie zu der Beerdigung nicht mehr rechtzeitig eintreffen konnte, war sie in Berlin geblieben, hatte weder Trauer angelegt noch sonstwie sich anmerken lassen, daß ihr der Trauerfall irgendwie näherging. Frau Marzella Emmich hatte hierzu erklärt, sie habe aus Geraldines ganzem Verhalten den Eindruck gewonnen, daß irgendein anderes seelisches Leid bei der Millionenerbin jede andere Regung überwuchert habe. Ein bekannter Berliner Anwalt war hier der Rechtsvertreter der Erbin geworden, und auch er als guter Menschenkenner äußerte sich über Charakter und Gemütsverfassung seiner Klientin ähnlich wie die Kammersängerin. – Die Harfenhupe, die wir immer nachts gehört, fand sich in dem Motorkreuzer tatsächlich vor, und in dem Sommerhause hatte die Polizei auch eine Karbidlaterne mit grüner Scheibe entdeckt: im Badezimmer im Ofen!! – Das Haus selbst mit seinen vier Räumen und dem Anbau war natürlich mehrmals ganz eingehend durchsucht worden. Was man außer der Laterne fand, war ohne Belang. – Dann hatte sich die Tochter einer Plätterin, die für Geraldines Bedienstete tätig gewesen, bei der Polizei gemeldet und drei Paar elegante Schuhe mitgebracht, die ihr von Miß Garring geschenkt worden waren. Diese Schuhe stimmten mit den Spuren der Mörderin oder des Mörders des Unbekannten genau in Größe, Breite, Länge, – – sehr belastend!! –

Nun will ich noch aus den Angaben der acht von dem Monokel ausgeplünderten Personen einiges hervorheben. Alle acht betonten, es sei ausgeschlossen, daß der Straßenräuber etwa ein verkleidetes Weib gewesen sein könnte. Als man ihnen jedoch eine Photographie Geraldines vorlegte, die diese ihrer Lehrerin geschenkt hatte, wurden alle acht stutzig und erklärten, eine gewisse Ähnlichkeit sei unbedingt vorhanden.

Und hiermit will ich nun die Aufzählung dieser Ermittlungsergebnisse beenden und nur noch abermals hervorheben, daß die fünf Amerikaner spurlos verschwunden blieben und daß am Mittag nach jenem Tage, wo wir in aller Frühe das Rüttgersche Sommerhaus leer gefunden, mein stiller, verdrießlicher Freund Harald gegen halb eins im Garten mit Feuereifer Erdbeeren verpflanzte, Kürbisse düngte und dazu ungezählte Zigaretten rauchte und … den großen Schweiger spielte. Ich saß zu derselben Zeit – der Himmel war bewölkt und die Luft wieder schwer und drückend – ganz oben in unserem alten Kirschbaum und pflückte schöne große, schwarze Knupperkirschen. Durch eine Lücke in den Zweigen konnte ich Harst beobachten, der jetzt gerade am Komposthaufen mit dem Spaten den Kompost gegen ein schräg gestelltes großes Sieb warf und die gesiebte Erde nachher für Erdbeerbeete verwenden wollte.

Jedenfalls, ich sah ihn, und wenn ich auch hier oben scheinbar unbekümmert immer wieder „den kleinen Meier am Himalaya“ pfiff, so war’s in meinem Innern weit weniger fidel … Haralds Stimmung machte mir Kopfzerbrechen.

Und dann wurde ich Zeuge eines kleinen Zwischenfalls, der meine Tätigkeit als Kirschenpflücker jäh beendete.

Harst hatte eine Ruhepause gemacht, stand auf den Spaten gestützt da und starrte regungslos über den Zaun und den Feldweg hinweg nach den Lauben hin, die drüben, ein idyllischer großer Garten, jeden Naturfreund das moderne Kleingärtnerwesen preisen lassen.

Eine der nächsten Lauben hatte einen turmartigen Taubenschlag. Die Tauben kreisten unruhig in der Luft. Das machte auch mich aufmerksam. Ich hatte den Laubenbesitzer, unseren alten Freund Renftal, Postschaffner a. D., vorhin noch gegrüßt, als er mit seinem Rucksack heimwanderte. Ausgeschlossen, daß er seine Tauben fliegen ließ, wenn er nicht da war. Wer also hatte den Taubenschlag geöffnet??

Und da – – hob Harald plötzlich blitzschnell den Spaten und hielt sich das blanke große Spatenblatt vor die Brust, warf sich gleichzeitig schräg nach vorwärts zu Boden.

Trotzdem hatte ich noch einen hellen klingenden Ton gehört, der mir sofort sagte, daß Harst das Spatenblatt gerade noch rechtzeitig als Schutzschild benutzt hatte.

Ich turnte eilends vom Kirschbaum herab. Harst lief bereits, in der Rechten die Repetierpistole, die er auch sonst bei der Gartenarbeit nicht bei sich zu tragen pflegte, über den Feldweg.

Mein Pflückkorb fiel schneller als ich …

Schneller als ich es beschreiben kann, war ich unten, rannte hinter Harald drein.

Und – was fanden wir?!

Oben am Taubenschlag lehnte zusammengesunken ein bartloser Mann mit einem Schußloch im Hinterkopf – tot. Soeben erst erschossen, vor Sekunden …

Neben ihm lag eine jener Luftbüchsen amerikanischen Fabrikates, deren Herstellung verboten werden müßte, denn sowohl die Zerlegbarkeit als auch die Durchschlagskraft dieser Waffen sind geradezu eine Aufforderung zu heimtückischen lautlosen Überfällen.

Aber – dieser bartlose, ältere, gut gekleidete Mensch mit dem brutalen Gesicht, der Attentäter, war tot … Eine andere Kugel, die durch die offene kleine Tür des Taubenschlages den Weg in seinen Hinterschädel gefunden, hatte ihn ausgelöscht.

„Benachrichtige die Polizei,“ sagte Harald kurz. „Es ist der Zweite …!“

Ich stand unter ihm auf der Leiter. „Der Zweite – was heißt das?!“

„Geh’ – telephoniere! Und – von dem … Zweiten zu niemandem ein Wort! Ich mische mich nicht in Dinge, die ich im Grunde nur billigen kann, wenn sie auch auf eine recht primitive Auffassung von Gesetz und Vergeltung zurückzuführen sind.“

Nach diesen reichlich rätselhaften Sätzen untersuchte er die Taschen des Toten.

Die Mordkommission kam. Harald hielt sich wieder vollkommen zurück. Der, der den Attentäter kurz nach dem Schuß auf Harald durch eine Kugel aus einer anderen Luftbüchse ausgelöscht hatte, war von verschiedenen Laubenbesitzern gesehen worden: ein alter Hausierer, etwas bucklig, Stahlbrille und dicken Krückstock, – so lautete übereinstimmend die Beschreibung, den Hausiererkasten nicht zu vergessen.

Dieser Hausierer, dessen Fußspuren an der Stelle, wo er hinter einem Fliedergebüsch hervor den tödlichen Schuß abgegeben hatte, sehr klar im regenfeuchten Boden eingedrückt waren, konnte nur wieder Geraldine Garring gewesen sein.

Nach zwei Stunden war die Polizei aus dem Laubengelände wieder verschwunden. Die Treibjagd auf Miß Garring und ihren Anhang sollte nun mit verstärkter Energie, wenn dies überhaupt noch möglich war, fortgesetzt werden. Man wußte, sie war in Cladow, und man hoffte sie jetzt, wo der Kreis der Nachforschungen weit enger gezogen, bestimmt in kurzem festnehmen zu können. Bisher hatte man auch, und dies in Rücksicht auf die immerhin noch in vielen Punkten recht unklare und widerspruchsvolle Sachlage, der Presse nähere Nachrichten vorenthalten und von einer Mithilfe des Publikums durch Säulenanschlag und Aussetzen einer Belohnung Abstand genommen. Jetzt sollte dies nachgeholt werden. –

Als wir beide uns gegen drei Uhr mit Haralds Mutter in der Veranda zu Tisch setzten, als Harst seiner Mutter wortkarg schilderte, daß der Erschossene in seinen Taschen genau wie der in der Bauhütte in Cladow ermordet aufgefundene nicht das geringste bei sich getragen habe, was über seine Person hätte Auskunft geben können, da fügte er nach einer längeren Pause seltsam versonnen hinzu: „Wenn wenigstens die Stiefelsohlen unseres zweiten Toten recht dicke gewesen wären! Wie die des anderen, wo doch der Zettel mit dem rätselhaften Wort Karpfenderbank gefunden wurde …! dann – ja, dann …“

Mathilde, die Köchin, erschien in diesem Augenblick …

„Herr Harald, Herr Kommissar Bechert hat soeben angeläutet und läßt sagen, daß der rechte Halbschuh des Ermordeten unter der Einlegesohle genau denselben Zettel mit dem einen Wort enthalten habe … Er will abends herkommen, Herr Harald, so gegen neun …“

Und dann entschwand die Dicke wieder …

Ich schaute Harald an …

Er zerschnitt zerstreut sein Kalbsschnitzel und nickte vor sich hin, bewegte die Lippen und sagte dann völlig geistesabwesend:

„Es … wird … schon … so sein, – es … muß so sein, oder – – ich kann mich zur Ruhe setzen wegen gänzlicher Untauglichkeit …“

Hierauf begann er aufs lebhafteste über das Veredeln von Obstbäumen zu sprechen. Frau Auguste Harst und ich kannten das: er wollte nichts gefragt sein, wollte vorläufig für sich behalten, was ihm fraglos vorhin zur Gewißheit geworden: daß irgendeine Theorie über den Fall Garring, die sein nimmermüdes Hirn endlich gefunden, stimmen müsse!

Theorie – – welche?!

Geraldine Garring, die Doppelmörderin?! Nein – niemals würde ich daran glauben, niemals auch, daß sie „das Monokel“, der Straßenräuber, gewesen …!

 

2. Kapitel.

Ich komme ihm etwas hinter seine Schliche …

Nach Tisch behauptete Harald, er sei müde und wolle eine Stunde schlafen.

Müde – – er?! Und schlafen – – am Tage – – er?! Das mochte er jemand anderem vorreden, nicht mir!

„Ich bin auch müde,“ log ich genau so unverfroren. „Diese schwüle Luft ist mir unerträglich. Also – gute Nacht!“ Wir trennten uns im Vorderflur. Ich öffnete meine Tür, klappte sie wieder zu, ohne eingetreten zu sein, und schlich auf dem dicken Läufer zur Hoftür, nahm auf dem Hofe die Leiter und lehnte sie gegen Haralds offenes Schlafstubenfenster. Ich hatte es eben wieder mal gründlich satt, auch jetzt wie so oft mit unklaren Andeutungen wie ein unreifes Kind abgespeist zu werden. Wenn Harald nicht freiwillig Farbe bekannte, so wollte ich ihm eben beweisen, daß ich doch mein Ziel erreichte, nicht durch Bitten, sondern auf krummen Wegen.

So stieg ich denn lautlos in sein Schlafzimmer ein und schlich zur Tür, die nach seinem Arbeitszimmer führte.

Ich lauschte …

Alles still.

Diese Tür hatte auf der anderen Seite schwere seidene indische Vorhänge an einer Nubierlanze mit Ringen. Ich wagte es, drückte die Klinke abwärts, öffnete ein wenig …

Horchte …

Da schlug die alte englische Wanduhr drinnen halb vier Uhr … – Sie ging auf die Sekunde, diese Präzisionsuhr. Ihr Ton war ein wenig blechern und schrillte unangenehm nach. Kaum war der letzte Schlag verhallt, als ich das metallische Knacken hörte, das anzeigt, daß jemand den Telephonhörer von der Gabel genommen.

„Hier Hermann Harrig,“ war das nächste, was ich verstand, da mir Amt und Nummer, die Harst angerufen, durch Mathildes keifende Stimme (sie ärgerte sich auf dem Hofe über unsere Hühner) entgangen war.

Dann: „Ah – sehr gut, lieber Marengo … Vortrefflich! Ich bin sofort bei Ihnen … Schluß … Wiedersehen …“

Ich zog mich schleunigst zurück, war im Nu in meinen eigenen Räumen, hatte im Nu mein Äußeres zweckentsprechend verändert …

Dieser Harald!! Also mit Emil Marengo steckte er unter einer Decke!! Den hatte er sich als Helfer erkoren, und ich – – wurde ausgeschaltet! –

Ein buckliger, rotbärtiger Kerl stand auf der Schmargendorfer Brücke …

Ich …

Wartete …

Nicht lange. Aus dem „Patzenhofer“ traten zwei Männer heraus, Arbeiter … scheinbar. Tadellose Masken, ohne Kragen, und doch Harald und Emil Marengo – nur für meine Augen. Im übrigen nahm niemand von den beiden Notiz, auch von mir nicht, da ich dreißig Schritte hinter ihnen blieb.

Zu meinem Erstaunen schlugen sie die Richtung nach der Westgrenze jenes Laubengeländes ein, in dessen Ostteil sich gegen eins die neue Tragödie abgespielt hatte. Dieser Westteil geht in noch unbebaute Straßenzüge über. Ein einzelnes Wohnhaus erhebt sich hier in der Andreasstraße, eine bescheidene Villa hinter hohen uralten Linden und Kastanien. Von unserer Veranda aus können wir es in der Ferne sehen, und Harald hat diese grüne Oase inmitten der von Unkraut überwucherten Bauparzellen längst unter uns „Das Märchenschloß“ getauft. Es soll dort einmal an jener Stelle ein Dorffriedhof gelegen haben. Der reiche Baumbestand des Grundstücks macht dies wahrscheinlich, und auch die Mauer, die es umgrenzt, ist aus verwitterten früheren Gemäuerbrocken und Feldsteinen errichtet und oben mit einem Kletterschutz in Gestalt von Glasscherben, die in Zement gebettet sind, versehen. Das Haus gehört, soviel uns bekannt, einem früheren Farmer aus Südwest.

Auf das Märchenschloß wanderten meine beiden „Vorgänger“ also zu …

Ich mußte weiter zurückbleiben, wenn ich nicht auffallen wollte. Es gab hier an den Straßenrändern übergenug hohe Unkrautstauden, und eins dieser Dickichte nahm mich schützend auf.

So sah ich denn, wie die beiden „Arbeiter“ kurz vor dem Grundstück ihre Rucksäcke, über die je zwei Holzstiele herausragten, abnahmen und mit Spitzhacken das Pflaster zu bearbeiten begannen. Nach zehn Minuten ratterte an mir ein Handwagen vorüber, der von einem dritten Arbeiter gezogen wurde, und allerlei Gerätschaften enthielt.

Der Wagen machte an der Arbeitsstelle halt. Die zwei Leute (der dritte war zweifellos Marengos Frau!) errichteten eins jener Leinenzelte, wie die Angestellten des Elektrizitätswerks sie auf den Bürgersteigen bei Reparaturarbeiten an den unterirdischen Kabeln aufzustellen pflegen. Dann schritten zwei von der „Kolonne“ denselben Weg zurück: Frau Marengo und Harald, trennten sich bald, und da Harst die Richtung nach Hause einschlug, beeilte ich mich, vorher daheim zu sein, was mir auch gelang.

Als Harald (durch den Gemüsegarten kommend) ins Haus geschlüpft war, begegnete ich ihm „zufällig“ im Flur.

Lachte … „Keinen Nachmittagsschlaf!! Wo kommst du her?“

Er zuckte ärgerlich die Achseln …

„Du hättest auch fünf Minuten länger liegen bleiben können!!“ Und verschwand in seinem Arbeitszimmer, ahnte nichts …

Ich frohlockte.

Und als wir dann beim Kaffee saßen, hatte ich mein Fernglas mit in die Veranda gebracht, benutzte es fleißig, um angeblich die Lauben drüben zu beobachten … „Vielleicht erspähe ich das Monokel, Harald …!“

Da blickte er mich schief von der Seite an …

Sagte: „Wenn du wieder mal die Verbindungstür nach meinem Arbeitszimmer öffnest und horchst, so denke daran, daß die Vorhänge sich in der Zugluft bewegen, sobald in beiden Zimmern die Fenster offen sind. Und wenn du nachher hinter uns drein schleichst, so erinnere dich an meinen kleinen[7] Hohlspiegel … Ich brauche mich nicht umzusehen und … sehe trotzdem alles!“

Frau Harst lächelte. Ich wurde blaurot vor Ärger.

„Was treibt ihr dort vor dem Märchenschloß?“ fragte ich ziemlich schroff.

„Wir bessern natürlich das Pflaster aus – was sonst?!“

„Harald!!“, mahnte Frau Auguste Harst sanft. „Du reizt[8] den guten Schraut wirklich zu sehr!“

„Oder er mich, Mutter!! Wenn er nur so viel Vertrauen zu mir hätte, sich selbst zu sagen, daß nur die schwerwiegendsten Gründe mich veranlaßt haben, ihn hier auszuschalten! Es ist doch wahrlich kein Kinderspiel, das wir hier treiben. Oder haltet ihr beide eine Kugel aus einem Luftgewehr für einen Scherz?! Wir kämpfen gegen Leute, die mit unerhörter Rücksichtslosigkeit und Schlauheit vorgehen. Ich brauche Reserven, falls mir etwas zustößt. Diese Reservearmee bist du, mein Alter. Hand her …! Mach’ ein anderes Gesicht …! Und damit du nun alles weißt: Marengo und seine Frau, die ja auch Schauspielerin gewesen, stehen in meinem Solde, haben heute den „Hausierer“ mittags verfolgt, da ich sie im Laubengelände postiert hatte, weil ich eben von dort her … einen Angriff erwartete.“

Ich hielt den Atem an. Auch Frau Harst hatte sich vorgebeugt …

„Das Märchenschloß,“ fuhr Harald leiser fort, „beherbergt seit zwei Tagen als Mieter eine Artistengruppe, die dort ein paar neue Tricks einüben wollen. Der bisherige Eigentümer ist verstorben, und die Erben sind froh, daß sie von den Fratellis einen solchen Mietspreis erzielt haben. Jongleure und Radfahrer sind’s diese Fratellis, und sie jonglieren mit … Menschenleben und Luftbüchsen und radeln … in die Hölle …“

„Harald, Harald, wie kann man nur hierbei noch Scherze machen!! Du bist doch heute mittag nur durch deine eigene Geistesgegenwart der Kugel entgangen und …“

„Nein, Mama – durch die Tauben, – die haben mich gewarnt! Und – Scherze?! Man muß das Leben nicht allzu ernst nehmen. Nur wer über die Gefahr lächelt, entgeht ihr. – Jedenfalls wissen wir nun, wo Miß Garring mit ihrem Anhang steckt, und das Ehepaar Marengo, sehr brauchbare Leute übrigens, werden dort als Pflasterer schon herauskriegen, was ich gern festgestellt haben möchte …“

„Aber – so benachrichtige doch die Polizei und lasse das Nest ausheben!“, rief Frau Harst unwillig. „Wozu erst noch etwas feststellen – ich bitte dich!!“

Harald schaute sie liebevoll an. „Du bist um mich besorgt …! Du verkennst die Sachlage. Der heutige Anschlag gegen mich ging doch nicht von Miß Garring aus. Im Gegenteil. Der Attentäter büßte seinen Versuch, mich zu beseitigen, auf der Stelle mit seinem eigenen Blute. Das ist doch außerordentlich wichtig.“

„Sie bleibt eine Mörderin, dieses Mädchen!“, grollte Frau Harst. „Und du – bleibst mir unverständlich, mein Junge!“

„Schon möglich – – vorläufig! Der Fall liegt ja kompliziert genug. Es hat lange gedauert, bis ich in allem klar sah. Erst Becherts telephonischer Anruf vorhin gab mir die Gewißheit, daß meine Theorie richtig ist. Der zweite Zettel mit „Karpfenderbank“ war die Bestätigung dessen, was ich erwartet hatte. Ich hoffe verhüten zu können, daß noch ein dritter Zettel dieser Art gefunden wird. Und was die Benachrichtigung der Polizei anbetrifft, liebe Mutter: Ich will Geraldine Garring nicht fangen, sondern schützen!“

„Das begreife ein anderer!!“ – und Frau Harst trank ihre Tasse leer und griff wieder nach ihrer Handarbeit.

Wir beide gingen in den Gemüsegarten, wo Harald ganz so, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als dies, wieder den Kompost zu sieben begann. Ich kletterte in den Kirschbaum empor, nahm mein Glas mit und beobachtete das Märchenschloß, in dem nun die „Fratellis“ hausten. Mein gutes Triederbinokel[9] brachte mir das Grundstück und die Umgebung so nahe, daß ich Marengo ganz genau mit der Spitzhacke arbeiten sah, während der zweite Pflasterer, seine Frau, vor dem Zelte über einem lustig qualmenden Ofen anscheinend Kaffee in Blechflaschen wärmte.

Nach einer Weile, als ich wieder durch das Glas geschaut hatte, rief ich Harald zu: „Ein Auto hält vor der Gitterpforte … Zwei Personen stiegen aus … dazu zwei große Hunde, anscheinend Dobermann-Rasse … außerdem wurde noch ein großer Koffer hineingetragen …“

„Aha, – – dein Ausguck ist gut, Max Schraut! Sehr gut … Nun ist es also auch drin!“

„Wer?“

„Das Monokel natürlich …“

„Etwas umständlich, in einem Koffer sein Heim betreten zu müssen!“, klang’s von meinem Baume herab und zwar mit dick unterstrichener Ironie.

„Bemühe dich bitte wieder auf die Erde zurück, mein Alter! Jetzt wollen wir zupacken. Deine Meldung über den Koffer ist wichtiger als du ahnst.“

 

3. Kapitel.

Die fünf Fratellis.

Wir gingen ins Haus. Aber nicht in Haralds Arbeitszimmer, sondern nach oben auf den Boden. Schweigend lehnte Harst hier die Leiter an die Dachluke. Schweigend kletterte er voran, schritt auf dem Laufbrett, das für den Kaminkehrer bestimmt war, bis zur Fahnenstange, knotete hier die Zugschnur los und befestigte daran ein Stück hellgrüne Seide, das er aus der Tasche zog, also schon für diesen Zweck bereit gehalten hatte.

„Nimm dein Glas,“ sagte er. „Die Marengos werden das Signal erwidern, das nichts anderes bedeutet als: Wir kommen!“

Ich stellte das Fernglas ein. Aus dem eisernen Öfchen vor dem Zelte der Pflasterer quoll plötzlich eine dicke Rauchsäule hervor.

„Rauch!“ meldete ich.

„Gut – erledigt! – Nun rasch, mein Alter … Kostüm sieben, je drei Ersatzbatterien für die Taschenlampen und die zusammenklappbaren Brecheisen und Stahlsägen.“ –

Eine Viertelstunde später wanderten zwei Leute, die an den Mützen das Abzeichen der Reichspost, Telegraphenamt, trugen, der grünen Oase mit ihren Handwerkstaschen zu. Als wir noch hundert Meter von dem Märchenschloß entfernt waren, blieb Harst stehen und zündete sich umständlich seine Tabakspfeife an. Seine Augen glitten[10] dabei über die nächsten Bauparzellen hin, auf denen das Unkraut genau so üppig wucherte wie hier am Straßenrande. Und ich sah, wie aus verschiedenen hohen Büschen von Disteln und wildem Spargelkraut sich je eine Distelstaude langsam höher und höher hob und sich dann wieder senkte.

Wir gingen weiter. Ich wußte Bescheid. Das Märchenschloß war regelrecht eingekreist, belagert!

„Kriminalpolizei?“ fragte ich …

„Nein, stellungslose Schauspieler, Bekannte von Emil Marengo, die bei ihm im Patzenhofer verkehren, gern ein paar Mark verdienen und zuverlässig sind.“

Über den Baumkronen der grünen Oase stiegen jetzt kurz hintereinander drei Papierdrachen auf, jene in jedem Spielwarengeschäft erhältlichen bunten Vögel, die so tadellos bei leichtem Wind größere Höhen erreichen: alle drei von grüner Farbe!

„Es klappt,“ nickte Harald. „Auch die andere Seite ist auf dem Posten! Das Monokel kann uns nicht entschlüpfen!“

Wir hatten das Ziel erreicht. Emil Marengo hatte bereits eine ganze Menge Kopfsteine herausgehoben und sauber aufgeschichtet. Er schwitzte wie ein Sommerleutnant von ehedem, und seine Begrüßungsworte: „Verdammte Schweinerei das!“ klangen ziemlich erschöpft.

Harst lachte. „Machen Sie getrost Pause, Kollege! Aber – Augen auf! Keine Maus darf heraus. – Wieviel sind es im ganzen?“

„Mit meiner Frau und mir elf …“

Rechts neben dem Gittertor, das innen mit Eisenblech verkleidet war, lag die Pforte, Eisen. Im Gemäuer war ein Briefeinwurf und ein Messingschild mit dem Namen „Bendix“ angebracht. So hatte der frühere Besitzer geheißen. Über dem Messingschild hing ein Papptäfelchen, mit Nägeln befestigt:

Fratelli.

Harst drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke. Dann schaute er mich prüfend an, fragte: „Auch bei mir alles in Ordnung?“

Ich musterte sein bärtiges Gesicht …

„Tadellos! – Ausgeschlossen, daß uns jemand erkennt.“

Wir horchten. Hinter der Pforte Schritte und Knurren von Hunden …

Dann fiel die Sehklappe der Pforte herab. Ein bartloses, verkniffenes Männerantlitz wurde sichtbar. Diese so überaus charakteristischen Züge, diese kleinen listigen Mausäuglein … – ich bekam geradezu einen Schreck!

„Sie wünschen?“, fragte der Mann in gebrochenem Deutsch.

„Wir kommen von’s Reichstelejraphenamt … Wir sollen ’n Defekt in’s Kabel suchen, wo hier die Straße langläuft … Wir müssen Ihr Telefong ausprobiern … Hier is unser Ausweis …“

Der Mann hinter der Pforte – irrte ich mich?! – verzog ironisch den Mund, erwiderte sofort: „Bitte …!“

Und öffnete die eiserne Tür, die scheußlich in den Angeln kreischte.

Er hielt zwei große stämmige Dobermanns kurz an der Leine, trat zur Seite und ließ uns ein.

Mein erster Blick galt seiner nun sichtbaren Unterpartie. Diese O-Beine. Es stimmte, es war John Winnepp.

Hinter uns fiel die Tür wieder zu.

Der Mann schritt die verwilderte kurze Allee entlang, die vor dem Hause eine scharfe Krümmung machte, so daß man das Gebäude ganz plötzlich vor sich hatte.

Auf dem Rasenplatz vor der Freitreppe war aus rohen Brettern eine niedere große viereckige Bühne errichtet, auf der drei Männer in Trikots auf Zweirädern übten.

Wahrhaftig: diese Geraldine mit ihren vier Getreuen führte die Artistenkomödie bis ins einzelne durch! Sehr schlau war das, sehr schlau!

Harst machte Halt …

„Also sind Sie wirklich von’s Theater,“ meinte er und schaute zu …

„Wie Sie sehen!“ nickte der Mann mit den O-Beinen, der einen grüngrauen Sportanzug anhatte.

Ich hatte inzwischen in einem der Radler, der zum Trikot eine ganz lose Seidenjacke und eine Sportmütze trug, trotz des kleinen Bärtchens und der Bartkoteletten Geraldine Garring wiedererkannt.

Die drei „Kunstradfahrer“ nahmen keinerlei Notiz von uns beim Betreten des Hauses. Der Mann führte uns durch eine Diele in ein mit Jagdtrophäen aller Art geschmücktes Herrenzimmer. Hier stand auf einem helleichenen Schreibtisch das Telephon.

Das Zimmer hatte zwei Fenster, lag im Hochparterre und war ebenso stilvoll wie behaglich eingerichtet.

Der Mann war an der Tür stehen geblieben. Die Hunde saßen vor ihm.

„Sie brauchen mich wohl nicht,“ meinte er gleichgültig …

„Doch, John Winnepp, wir brauchen Sie!“ erwiderte Harst rasch. „Sehr sogar! Sagen Sie, Kollege, was bedeutet dies alles?! Sind etwa auch die anderen Bediensteten Miß Garrings von der Detektei Lower u. Komp., Neuyork?! Kinder, auf welch’ faule Geschichten …“

John Winnepp ließ plötzlich die Hundeleine aus der Hand gleiten, sprang zurück, warf die Tür zu und schloß von außen ab. In demselben Moment wurden draußen die Fensterladen vorgelegt, Riegel kreischten …

Wir standen im Dunkeln …

Die Läden schlossen so dicht, daß auch nicht ein winziger Lichtstrahl in den Raum hereindrang.

Dieser infame Streich des amerikanischen Berufskollegen war so überraschend gekommen, daß wir ihn in keiner Weise hatten verhindern können, – um so infamer dieser Streich, weil wir John Winnepp seit Jahren persönlich kannten, und ihn als äußerst klugen, energischen und auch vornehm denkenden Menschen bis dahin sehr geschätzt hatten. Der Angestellte von Lower u. Komp., Neuyork, mußte also sehr gewichtige Gründe zu diesem unfairen Verhalten gehabt haben. Er hatte uns bereits an der Pforte erkannt. Sein ironisches Verziehen der Mundwinkel war also meinerseits kein Irrtum gewesen.

Das schoß mir so durch den Kopf, während meine Augen wie gebannt auf der Stelle hafteten, wo die Augen der Hunde im Dunkel wie große Leuchtkäfer funkelten …

Die starken Bestien knurrten dumpf … Wenn sie uns ansprangen, konnte die Geschichte unangenehm werden.

Harst kam dem zuvor …

Seine Taschenlampe blitzte auf. Der grelle Lichtkegel traf die beiden hochbeinigen Tiere, die jetzt verwirrt durch die Lichtfülle sich dicht an die Wand drückten.

Kostbare Sekunden waren so verstrichen …

Draußen im Garten das Rattern eines Automotors … Dann das harte metallische Aufkreischen bei der Umsteuerung … Wir hörten deutlich, wie das Auto unter den Fenstern hinwegglitt und sich entfernte …

„Nicht schießen!“ warnte Harald, als ich nach der Clement griff. „Die Sache verläuft ganz programmäßig … Weshalb die Tiere töten?! Sie tun nur ihre Pflicht, wenn sie uns anknurren … – Geh’ rückwärts nach der Türklinke … Ich folge …“

Und er packte als Waffe für alle Fälle einen der schweren Eichenstühle …

Die Hunde, stets von dem Lichtkegel umspielt, konnten uns unmöglich sehen. Wir gelangten bis an die Tür. Ich versuchte: sie war verschlossen. Aber es war eine Flügeltür, und dem gemeinsamen Druck unserer Schultern widerstand sie nicht lange.

Als die Türflügel knallend und splitternd aufsprangen, als nun auch Tageslicht ins Zimmer fiel, schnellten sich die beiden Bestien gleichzeitig vorwärts. Harst schleuderte ihnen den Stuhl entgegen. Sie heulten auf …, und ich warf die Türflügel wieder zu, während Harald einen Tisch dagegen lehnte.

Mir lief der Schweiß über das Gesicht. Dieser Zwischenfall war immerhin etwas aufregend gewesen. Und doch vergaß ich diese letzte Minuten vollkommen über der einen Äußerung Haralds, die Sache sollte ganz programmäßig verlaufen sein?! – War das ein Scherz?! Programmäßig, wo uns diese „Fratellis“ mit ihrem Auto doch sicherlich wieder ausgekniffen waren?!

„Sehen wir, wie’s draußen ausschaut,“ meinte Harst mit einer beneidenswerten Ruhe. „Das Bild kann ich mir allerdings leidlich vorstellen … Die Marengos und die anderen Hilfstruppen werden wie begossene Pudel … – Aha, da brüllt unser Emil schon … – Fenster auf …! Hallo, hier sind wir … Nein, uns ist nichts zugestoßen, gar nichts, lieber Freund … Wieviel Leute saßen denn im Auto einschließlich des Chauffeurs?“

„Fünf und drei Koffer …“

„Vier!“ – und Harald wiederholte: „Vier – in der Eile habt ihr alle doppelt gesehen! Da wir nun hier so schön versammelt sind, wollen wir den fünften auch gleich suchen. Aber eins sage ich euch, Herrschaften: Wer von alledem, was hier geschehen und geschieht, auch nur eine Silbe verrät, geht der Extrabelohnung von je zehn Mark unbedingt verlustig! – Nun weiter – immer zu zweien. Durchsucht den Garten … Aber Augen auf! Laßt den fünften nicht auskneifen!“

So waren wir die Bande denn glücklich los … Und was für eine Bande!! Alle Schmierentheater waren hier vertreten, alle Altersstufen …

Ach – auch ich hatte ja einst zu dieser glückselig-traurigen Horde gezählt … einst!

Jetzt?! Jetzt war ich Max Schraut, Harsts Schatten … Jetzt fragte dieser Schatten keck und kühn: „Wer soll dieser fünfte sein?“

„Das Monokel …! Natürlich!“

Ich war so ziemlich sprachlos. „Verkohlst du mich etwa?!“

„Bewahre! Ich habe nur die anderen beschwindelt.“

„Inwiefern?“

„Suchen wir, mein Alter! Du hast noch immer die unangenehme Angewohnheit zu viel zu fragen … – Suchen wir …!“ –

Das Haus war alt, verbaut, die Keller sehr weitläufig …

Harst hatte es gerade auf diese Keller abgesehen. Und für Leute unseres Schlages ist es nicht eben schwer, selbst ein noch so fein ausgeklügeltes Versteck herauszufinden. Aber im Keller war es nicht. Nein, dicht neben der Rückseite des Gebäudes lag inmitten einer Gruppe prachtvoller Tannen eine Grabplatte – von früher her, als der Garten noch Friedhof gewesen.

Harst lächelte sanft, als er neben dieser Grabplatte auf frische Spuren deutete. Diese Schuhe, die hier das feuchte Erdreich gestempelt hatten, entsprachen genau denen des Mörders aus Cladow …!

 

4. Kapitel.

Nicht Mann, nicht Weib …

Sanft lächelte Harst … Schaute dann nach oben, wo ein schenkeldicker Ast einer nahen Eiche sich durch die Tannen hindurchgeschoben hatte. Um diesen Ast war, verdeckt durch Zweige, ein Tau geschlungen, nein, eine richtige Winde!

„Ja, so hebt man den Stein am leichtesten, mein Alter …! Ich hätte Freund John Winnepp doch für schlauer gehalten. – Ich werde emporklettern …“

Es konnte nicht ausbleiben, daß sich auch einige unserer Hilfskräfte sich sehr bald an dieser Stelle versammelten und wacker mit ziehen halfen, nachdem die Eisenhaken der Winde an der Platte befestigt waren. Langsam hob sich die zwei Meter lange und ein Meter breite Platte – ganz langsam wurde sie dann zur Seite geschwenkt. Die Gruft lag frei – ein tiefes, gemauertes Loch. Und in diesem Loche stand aufrecht dieselbe junge Dame, die uns damals spät abends das Versprechen abgenommen, ihr nicht weiter nachzuspüren. Neben ihr lagen allerlei Dinge, die sie zu längerem Aufenthalt in diesem Versteck nötig hatte.

Harst half ihr galant empor …

Schweigend standen wir anderen dabei …

„Miß Garring,“ sagte Harald, „Sie gestatten, daß ich Sie als Gast in mein Haus aufnehme. Bitte begleiten Sie mich …“

Während ich die Geldverteilung an die Helfertypen vornahm, während Harald und Marengo die Hunde in den Zwinger brachten und ihnen genügend Hundekuchen und Trinkwasser zurückließen, lehnte Geraldine Garring mit gleichgültigster Miene an einem Baume. Sie trug wieder den losen weiten Gummimantel, und in ihren Augen war ein Ausdruck von kaltblütigster Ergebenheit in ein unabänderliches Schicksal. – Nachdem das Haus und die Mauerpforte verschlossen worden waren, verabschiedeten wir uns von unseren freudestrahlenden Armen und wanderten, Miß Garring zwischen uns, zur Blücherstraße. Es begann sachte zu regnen, und als wir gerade unter Dach und Fach waren, goß es in Strömen. –

Ich habe in einem der letzten Bände von dem „Geheimnis“ des Harstschen Hauses gesprochen, von jenem Kellergelaß, nein, jenem verborgenen Wohnraum, den einer der Vorfahren Haralds in der Zeit der Napoleonischen Wirren angelegt hatte.

In dieses bescheiden ausgestattete, aber sicher verschließbare Gemach führten wir Geraldine hinab. Sie hatte bisher auf keine Frage geantwortet, keine Silbe gesprochen. Und dieselbe Taktik befolgte sie auch weiter.

Hochmütig – ablehnend stand sie neben dem uralten Glanzledersofa ihrer Zelle, und selbst Haralds eindringlichsten Vorstellungen brachten sie nicht zum Reden.

Ich mußte Bettwäsche, Essen, Trinken, und vieles andere noch herbeischleppen.

Geraldine blieb Statue[11]

Eisig, entschlossen, stumm …

Und als dann ihr Quartier hergerichtet war, als Harald dicht vor sie hintrat und nochmals sagte: „Haben Sie mir wirklich gar nichts zu erklären?!“ da erst fragte sie leise und überstürzt: „Was haben Sie mit mir vor, Herr Harst?“

„Vorläufig will ich Sie nur vor sich selber schützen – vorläufig! Bis ich den dritten habe, der Ihnen bisher noch entgangen ist …!“

Sie senkte den Kopf, hob ihn wieder. Ihre Züge waren unheimlich verzerrt. Ihre Augen sprühten einen vernichtenden Haß.

„Er – – wird doch daran glauben müssen!“ stieß sie hervor …

„Nein, – diese letzte Abrechnung überlassen Sie besser der Vorsehung! – Gute Nacht … Sie haben alles, was Sie brauchen, auch Lektüre … Morgen früh auf Wiedersehen …“

Er verschloß die starke Tür. Wir kletterten die in dem Schacht lehnende Leiter empor und klappten die Falltür zu.

Ich – ich aber wandelte wie im Traumland nach oben in Harsts Arbeitszimmer. Ich verstand nichts von alledem. Wir legten unsere Masken ab, setzten uns zu Tisch … Es donnerte und blitzte, und Harald erzählte seiner Mutter in launigster Weise, wie wir die Miß aus dem Grabe herausgeholt hatten. Doch – über die fehlenden Glieder in dieser Kette von Rätseln und Widersprüchen verlor er kein Wort … –

Dann kam Freund Fritze Bechert, der Ahnungslose. Saß im weichen Klubsessel, rauchte, trank duftenden Chateau La Rose und verlangte Haralds Ansicht über den Fall „Garring“ zu hören.

Ich – – saß wie auf Nadeln. Scheußliche Situation: Wir hatten Geraldine im Hause und spielten die Nichtwisser!

Doch nein – mein unberechenbarer Harald wollte es anders …

„Möchten Sie Miß Garring sehen?“ fragte er Bechert und nahm eine neue Mirakulum.

Bechert zuckte empor. „Wo – – ist sie, Harst?“

„Kommen Sie mit … Ich hoffe, unser Gast wird noch nicht zu Bett gegangen sein. Nachher aber lesen Sie bitte hier diesen Artikel aus dem Chikagoexpreß vom 11. November 1926, der mir sehr wichtige Aufschlüsse gegeben hat und den ich seinerzeit meinen Sammelmappen einverleibte, weil mich die medizinische Seite der Angelegenheit stark interessierte. Schraut kennt diesen Aufsatz ebenfalls noch nicht, und so will ich ihn besser euch beiden vorlesen unter Weglassung alles Überflüssigen.

Mann oder Weib? – Die Tragödie in einer Millionärsfamilie.

„Durch die Verhaftung des einzigen Sohnes des bekannten Millionärs G. wegen Straßenräuberei ist ein Geheimnis enthüllt worden, das von den Eltern G. G.’s sorgsam gehütet wurde. Mit einem Wort: der junge G. G. gehört zu jenen unfertigen, von der Natur geradezu mißhandelten Geschöpfen, bei denen die Geschlechtsbestimmung infolge anormaler anatomischer Bauart unmöglich ist. – Zwitter hat es zu allen Zeiten gegeben. Im alten Ägypten spielten diese Wesen, die gleichzeitig Mann und Weib waren, beim Isis- und Osiriskult eine große Rolle. – Allen Bekannten der Familie G. war es schon längst aufgefallen, daß die Ähnlichkeit zwischen der um ein Jahr jüngeren Tochter mit dem jungen G. G. nicht nur geradezu verblüffend war, sondern daß der Erbe des Riesenvermögens auch zum Teil ausgesprochen weibliche Neigungen, dazu auch eine Stimme hatte, die vollkommen der seiner Schwester glich. – Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Mr. G. sein ältestes Kind, das dem Geschlecht nach doch wohl mehr der[12] weiblichen Psyche zuneigen mag, nur deshalb als Knaben erziehen und aufwachsen ließ, um sich einen männlichen Erben zu sichern. Wie tragisch eine solche Vergewaltigung seelischer Regungen [sich][13] rächen kann, ist nunmehr zutage getreten. Der junge G. G., in schlechte Gesellschaft geraten, wurde ein Opfer der Unausgeglichenheit seines Innenlebens, beging die übelsten Streiche und dürfte jetzt nur deshalb wieder frei gelassen werden, weil die Irrenärzte ihm den Freipaß der mangelnden Zurechnungsfähigkeit zubilligen müssen.“

Alles weitere sind rein medizinische Erörterungen,“ sagte Harst und legte den Zeitungsausschnitt beiseite. „Ihr seid nun völlig im Bilde, hoffe ich …,“ – und er stand auf …

„Aber … die Morde … und die beiden Zettel mit dem rätselhaften Wort Karpfenderbank?!“ meinte Bechert zögernd.

„Das erledigen wir alles unten bei Gerald Garring, meine Lieben, denn unser Gefangener ist der Zwitter Garring, nicht Mann, nicht Weib – ein Unglücklicher, Verirrter! – Fünf flohen im Auto aus dem Märchenschloß, Max Schraut! Ich log: nur vier, denn ich suchte nicht den fünften, sondern den sechsten, den Bruder Geraldines: das Monokel! – Gehen wir!“ –

Gerald Garring saß am Tisch seiner Zelle und … schrieb, schrieb seinen Lebensroman.

Schade, daß ich diese Niederschrift hier nicht wiedergeben kann. Der geringe Umfang der Harstbände verbietet es.

Wir nahmen Platz. Garring in seiner Frauentracht mit dem Bubikopf lächelte sehr anmaßend, als Harald begann: „Der Fall Garring ist geklärt …“

Pause …

„So – – geklärt?!“ meinte Gerald Garring gedehnt. „Da bin ich wirklich neugierig!“

„Keine Ursache …! – Sie sind nicht Geraldine, sondern Gerald Garring, der angeblich im Motorboot verbrannte. Sie wollten verschwinden, täuschten den Tod vor. Nur Ihre Schwester ahnte die Wahrheit und ließ nach Ihnen durch vier Angestellte der Detektei Lower u. Komp. forschen. Man ermittelte Ihren neuen Aufenthaltsort, Berlin, und Ihre Schwester kam mit den vier Detektiven hierher, um sie aus den Krallen Ihrer drei bösen Geister, der internationalen Verbrecher, Karpf, Ender und Bank zu befreien, die Sie auch hier bereits wieder zu neuen Gewaltstreichen verführt hatten – Sie, das gefürchtete Monokel!“

Gerald Garring hatte die Lippen fest aufeinander gepreßt … Und doch nickte er zustimmend …

„Nach Ihrem letzten Straßenraub, dem Überfall auf Anni Inna, gelang es Ihrer Schwester und deren Helfern endlich, sich Ihrer zu bemächtigen und Ihnen klar zu machen, daß jene drei Schurken Sie nur ausnutzten. Infolge Ihrer seelischen Veranlagung schlug die bisherige krankhafte Neigung zu Karpf, Ender und Bank in tödlichen Haß um. Ihre Schwester kam zu mir und bot alles auf, uns von einer weiteren Verfolgung der Angelegenheit abzuhalten. Dann die Nacht, in der sie einen der drei Schurken …“

„Ender war’s, Herr Harst …“

„… mit dem Totschläger beseitigten, nachdem der Elende uns niedergeschlagen hatte … Und als dann zwei Tage drauf ein anderer der drei …“

„… Karpf war’s …“

„… mich erschießen wollte, erschossen Sie ihn!“

Wieder nickte Gerald Garring und lächelte dazu … „Auch er hatte es verdient, Herr Harst! Schade, daß nicht auch Bank noch …“

„… auch er wird gefaßt werden …! – Nicht wahr[14], Sie hatten doch Ihren Verführern schon früher jene Zettel mit dem Worte „Karpfenderbank“ in die Schuhe eingeschmuggelt …?“

„Nein – nicht heimlich hineingetan, nein, – wir vier trugen jeder einen solchen Zettel als Talisman im Schuh … Eine Laune von mir war’s … Ich habe seltsame Launen, Herr Harst … Ich bin in der Tat ein völlig mißlungenes Geschöpf. Alles ist halb an mir, in mir … Nur eins überragt diese Halbheit: Meine verbrecherischen Instinkte, meine blinde Mordgier und … die Liebe zu meiner Schwester …!“

„Wissen Sie, wo dieser letzte der drei, Bank, jetzt stecken mag?“

„Nein, – aber ich hätte ihn gefunden. Bank war einst Damenimitator und trägt stets Frauentracht … Er ist schlank, mittelgroß, hat blonden Bubikopf, große dunkle Augen und am Kinn ein kleines rundes Muttermal. Er ist der gefährlichste meiner drei … Freunde gewesen. Hüten Sie sich vor ihm, Herr Harst! Oder besser: Geben Sie mich frei! Ich finde ihn bestimmt!“ Abermals funkelte der Haß in seinen Augen … Abermals verzerrte sich sein Gesicht … –

Was wir noch mit Gerald Garring besprachen, brauche ich hier nicht mehr zu erwähnen. Er blieb in seiner Zelle …

 

5. Kapitel.

Die Hand Gottes.

Mitternacht war’s, als Harald und ich Freund Bechert bis auf die Straße hinausgeleiteten. Das Gewitter hatte ausgetobt, der Himmel war sternenklar und die Luft frisch und rein.

Bechert schritt eilends davon. Er wollte Morgen in aller Stille Gerald Garring nach der Irrenanstalt Herzberge bringen lassen.

Harst hatte seinen Arm in den meinen geschoben …

„Herrliche Nacht,“ schwärmte er und blickte zum Firmament empor. Dann gähnte er ganz laut … „Marsch – ins Bett! Morgen beginnt die Jagd auf Thomas Bank, der eine ganze Menge auf dem Kerbholz hat …“

Im Flur sagten wir uns gute Nacht. Ich war hundemüde. Kein Wunder weiter. Die zurückliegenden Tage waren reichlich ausgefüllt gewesen. Ich schlief wie ein Murmeltier. Daran hat es mir ja nie gefehlt. Als ich um neun Uhr erwachte, als ich das Konzert der Spatzen, Hühner und Enten auf unserem Hofe vernahm, als durch die Ritzen der Fensterläden schmale Sonnenfäden ins Zimmer schwebten wie die feinen Streifen einer größtenteils abgeblendeten elektrischen Lampe, da streckte ich mich nochmals so recht wohlig aus und überdachte mit der ganzen Frische eines ausgeruhten Verstandes den Fall Garring. All das, was dunkel, voller Widersprüche und Ungereimtheiten gewesen, lag als helles klares Wandelpanorama vor mir. – Arme Geraldine! Wie hatte sie sich abgemüht, den armen Bruder vor weiteren Torheiten zu bewahren! Was mochte in ihr vorgegangen sein, als sie erfuhr, daß der unberechenbare Gerald den Mann in der Bauhütte erschlagen hatte! Ohne Zweifel war Gerald ihr wieder entwischt und erst wieder eingefangen worden, nachdem er seinen zweiten Verführer in dem Taubenschlag erschossen hatte! Eingefangen!! Nun verstand ich Haralds Frage, ob der Koffer groß gewesen, der aus dem Auto in das Märchenschloß getragen wurde. In dem Koffer hatte Gerald gesteckt, der unzurechnungsfähige Mörder, den wir nachher in der alten Gruft fanden. –

Meine lieben Leser und Freunde, ich könnte auch hier nochmals in aller Genauigkeit die Vorgänge des Falles Garring gleichsam genauer erklären. Könnte …! Weshalb aber?! Ist es nicht viel wertvoller, wenn ihr selbst euch die Mühe gebt und aus eigenem Prüfen und Abwägen heraus ergründet, wo Geraldine und wo Gerald handelnd auftrat, ob der „alte Hausierer“ immer nur Geraldines Maske gewesen, und was sonst noch an Fragen, die im Grunde leicht zu beantworten, zu stellen wäre. Und schon hier an dieser Stelle weise ich daraufhin, daß der Verlag aus Anlaß der Herausgabe dieses 200. Harstbandes allen denen, die die obigen Fragen richtig lösen und diese Lösung binnen vier Wochen nach dem Erscheinen dieses Bandes an den Verlag nebst dreißig Pfennig Porto und Unkostenerstattung in Briefmarken einsenden, gratis einen Harst-Roman zugestellt erhalten. Für die drei besten Lösungen setzt der Verlag außerdem je einen wertvollen Buchpreis aus. Die Namen dieser drei Preisträger werden in einem der nächsten Harstbände veröffentlicht werden. Ich hoffe, daß meine Absicht, meine Leser zum Nachdenken anzuregen, auch jetzt gute Früchte trägt.

Und nun zurück zu der Schlußtragödie des Falles Garring. – Als ich um halb zehn Haralds Arbeitszimmer betrat, traf ich nur die dicke Köchin Mathilde an, die den Parkettboden wachste und die mir knurrend zurief: „Der Kerl aus’n Keller is morgens Glock’ sechs ausgekniffen, und Herr Harst ist hinter ihm her. Vorhin war Herr Bechert hier und wollte ihn ins Irrenhaus überführen, aber da war nischt mehr zu machen … Der Vogel war schon ausgeflogen!“

Das war ja in der Tat eine allerliebste Bescherung!! Gerald wieder frei!! Das konnte nette Folgen geben!

„Wann ist denn Harald aufgestanden?“ fragte ich trüber Ahnungen voll.

„Nu um finfe rum … Und nu jehn Sie man wieder raus, Herr Schraut … Sie stören mir …!“

Ich verbeugte mich und verduftete. Mit Mathilde ist nicht gut Kirschen essen.

Auf der Veranda traf ich Haralds Mutter. Ich frühstückte. Sie lächelte so eigen, als ich von Geralds Flucht sprach. „Wissen Sie, lieber Schraut, ich glaube beinahe, daß Harald den Ärmsten absichtlich hat laufen lassen …,“ sagte sie und nahm die Brille ab, nickte mir zu. „Vielleicht wollte er diesen Garring vor der Irrenanstalt bewahren.“

„Unmöglich!“ rief ich. „Garring würde sofort diese gute Gelegenheit benutzen und Thomas Bank ermorden. Ich kann mir …“

Mathilde stampfte herein …

„Herr Schraut, das Telefong – schnell …!! Herr Harald is an ’n Apparat …“

Ich eilte in Harsts Arbeitszimmer, glitt auf dem teppichlosen blitzblanken Parkett aus, ramponierte mir die Kehrseite, fluchte, erhob mich …

„Hier Schraut … Morgen, Harald …“

„Morgen … komm’ sofort im Auto nach Johannisthal, Fliegerstraße, Restaurant Zum lustigen Piloten … Bringe unseren Lederlasso und den Fallschirm mit … Schluß … Beeile dich!“

Lasso – – Fallschirm?! Was hieß denn das wieder?!

Aber ich überlegte nicht lange. Ich saß im Auto, und da erst kam ich ein wenig zu Verstand. Aber aller Verstand half hier nichts … Was Harst mit Lasso und Fallschirm wollte, ahnte ich nicht.

So sauste ich denn gen Johannisthal. Um elf Uhr war ich vor dem Lustigen Piloten. Aus der Kneipe trat mir Harald entgegen.

„Gut – sehr gut,“ lobte er, als er im Auto die beiden Requisiten sah, deren Zweck mir heute unklar war.

Er nahm Lasso und Fallschirm an sich …

„Komm’! Thomas Bank ist in der stillgelegten Minerva-Fabrik eingekreist. Ich habe natürlich Garring die Flucht erleichtert, denn ich war überzeugt, daß er den Aufenthaltsort Banks kannte. Und das stimmte. Aber leider ist Gerald mir entwischt, und nur Bank als blondes süßes Mädchen verkleidet, liegt in der Falle. Das Fabrikgebäude ist von Emil Marengo nebst Hilfskorps eingeschlossen … – Schneller, schneller … Weit haben wir es nicht … die zweite Querstraße …“

Ich keuchte hinter Harst drein. Mir ging ein Mühlrad im Kopf herum … Bank eingekreist?! Garring entwischt?!

„Harald, was willst du mit dem Lasso und dem Fallschirm?!“

„Bank ist am Fabrikschornstein bis zur halben Höhe emporgeklettert … Er ist bewaffnet … Ich will ihn lebend fangen …“

Und er schlug einen leichten Trab an, und dies bei einer drückenden Schwüle, während von Westen her eine schwarze Regenwolke immer näher heranzog …

Dann die Fabrik … Vor dem Tore der Pförtner und Freund Marengo … Und dort der hohe Turm … Dort oben eine weibliche Gestalt …

Harst knotete das eine Ende des Lassos an den Fallschirm …

Harst zog mich mit sich fort – hinauf auf das Dach – auf die Eisenleitern des dicken Schlotes …

Aber Thomas Bank gab das Spiel so leicht nicht verloren, kletterte höher – immer höher …

Und – – feuerte auf uns: Repetierpistole! Traf auch … Jedoch nur den seidenen Fallschirm, den Harst als Schild über sich hielt …

Thomas Bank hatte die Spitze des Fabrikschlotes erreicht, saß dort, nur mit der Linken den Blitzableiter umklammernd, mit der Rechten die Waffe haltend …

Feuerte abermals … Abermals ohne Erfolg … Schleuderte dann die zwecklose Pistole hinab, brüllte: „Ich stürze mich in die Tiefe, wenn Sie nicht hinabsteigen, und Sie beide reiße ich mit hinab!“

Die helle Gestalt des Verbrechers zeichnete sich klar gegen den finsteren Wolkenhintergrund ab … Wir waren keine fünf Meter mehr unter ihm … Und da – warf Harald die Schlinge des Lassos zum ersten Male – doch ohne Erfolg …

Da … hörte ich irgendwo das Surren eines Flugzeugpropellers …

Da … warf Harst abermals …

Ohne Erfolg …

Das Propellersurren blieb über uns, scheinbar über der Wolkendecke …

Und dann zerteilte sich das Gewölk, und aus dem breiten Riß schien jetzt eine Geisterhand von gewaltigen Abmessungen nach der Spitze des Schlotes, nach Thomas Bank zu greifen …

Bank sah es …

Bank kreischte …

Und nie werde ich diese schrillen Töne vergessen … kreischte:

„die Hand Gottes!!“

Richtete sich auf …

Und – – die Lassoschlinge glitt ihm über Kopf und rechten Arm … Ein Ruck … Bank verlor das Gleichgewicht, stürzte ins Leere …

Was dann geschah, wird sich wohl niemals wieder in so grauenvoller Eigenart abspielen …

Der Fallschirm breitete sich aus, trug den Verbrecher sanft nach unten … Bis ein jäher Wirbelwind Fallschirm und Anhängsel wieder emporriß …

Und als Thomas Bank etwa hundert Meter von uns ab in einer Höhe mit der Turmspitze dahinsauste – nach oben – da schoß aus dem Gewölk im rasenden Gleitflug ein schnittiges Flugzeug hervor, eine jener allermodernsten Reklamemaschinen: Ein Wolkenschreiber!!

Schoß wie ein Habicht auf den Fallschirm herab, … und Sekunden später lagen Thomas Bank und Gerald Garring, der, als Sportflieger mit der Bedienung eines solchen, Rauchmassen ausspeienden Vogels wohlvertraut, vom nahen Flugplatz Johannisthal einen der „Wolkenschreiber“ entführt hatte, um Thomas Bank, den Turmkletterer, irgendwie zu vernichten, [tot am Boden.][15]

Ob Gerald „Die Hand Gottes“ absichtlich an den Himmel geschrieben hatte, ob hier ein eigenartiger Zufall vorlag, das wird nie aufgeklärt werden.

Garring und Bank waren sofort tot gewesen. –

– Es gibt für mich über den Fall Garring kaum noch etwas zu berichten. Alle Zeitungen haben damals die ungeheuerliche Tragödie weidlich ausgeschlachtet, in allen Zeitungen stand zu lesen, daß Geraldine die Leiche ihres Bruders mit nach Amerika nahm und daß … für Gerald, den Millionenerben, dieser jähe Tod eine Erlösung gewesen.

Emil Marengo? – Oh, der ist heute in einer westlichen Industriestadt ein vielgesuchter Privatdetektiv …

Und wir beide?! Wir sind, was wir waren: Freunde derer, die Freundschaft verdienen, Feinde aller Schädlinge der menschlichen Gesellschaft, leidenschaftliche Jäger nach dem Absonderlichen und … in den Mußestunden eifrige Rosenzüchter … –

Auch Rosen haben Dornen …! Das lehrte uns der … leere Zettel. Davon spreche ich das nächste Mal …

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „unseren“.
  2. In der Vorlage steht: „Anna“.
  3. Wacholderschnaps.
  4. In der Vorlage steht: „Rüttgersschen“.
  5. In der Vorlage steht: „werden“.
  6. In der Vorlage steht: „kleine“.
  7. In der Vorlage steht: „hochparterre“.
  8. Die in der Vorlage folgenden drei Zeilen sind um zwei Zeilen zu hoch gerutscht.
  9. Prismenfernglas.
  10. In der Vorlage steht: „glitte“.
  11. In der Vorlage steht: „Statur“.
  12. In der Vorlage steht: „dem“.
  13. Fehlendes Worts „sich“ ergänzt.
  14. In der Vorlage steht: „war“.
  15. Hier fehlt das Ende des Satzes. Text sinngemäß ergänzt.