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Der leere Zettel

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 201

 

Der leere Zettel.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.

 

1. Kapitel.

Rosendornen …

Von den vielen exotischen Abenteuern, die mein Freund Harald Harst mit mir zusammen durchkämpfte, ist das des leeren Zettels vielleicht das spannendste. Wenn ich hier die Namen der unmittelbar Beteiligten ein wenig verändert wiedergebe, so geschieht dies lediglich aus Rücksicht auf jenes unglückliche Wesen, das in heldenhafter Aufopferung all die Fehler und Unzuträglichkeiten der ihr Nahestehenden zu vertuschen suchte. –

Es war am letzten Juli. Wir hatten seit dem Fall Geraldine-Gerald (die Hand Gottes) nichts rechtes mehr zu tun gehabt. Vier Tage waren dahingegangen und diese Flaute hatten wir wirtschaftlich dazu benutzt, unsere Rosenbeete in Ordnung zu bringen.

So auch am Vormittag dieses letzten Tages eines Sommermonats, der an Wetterkatastrophen aller Art so überaus reich gewesen. Wenn wir im Garten arbeiten, tragen wir eine Arbeitskluft, die praktisch, aber nicht gerade elegant ist. Harald hatte so gegen elf Uhr gerade die letzten drei Stämme La France in Behandlung, und ich widmete mich in gleicher Weise unseren Marschall Niel, als er plötzlich über die Beete hinweg mir zurief:

„Aufhören!! Sofort! Hast du dich auch gestochen, mein Alter?“

„Nein!“ erklärte ich ohne langes Überlegen.

Dann aber fiel mir das merkwürdige dieses halben Befehls und der nachfolgenden Frage doch auf und ich sprang mit drei Sätzen neben meinen Freund, der jetzt an seinem rechten Zeigefinger energisch zu saugen schien.

„Was gibt’s eigentlich?!“ meinte ich ebenso erstaunt wie beunruhigt.

Harst spielte noch immer Säugling. Nun zeigte er mir aber seinen Finger, und das oberste Glied war dick geschwollen.

„Du könntest mir den Finger zur Sicherheit doch lieber abbinden,“ sagte er mit tief gefurchter Stirn. „Hier hast du Bast … Schnell!! Wer weiß, was man auf die Spitzen der Dornen gestrichen hat … Schnell!! Ein Gift natürlich … Schnell …!! – Ich möchte nur wissen, wer diese Schurkerei in Szene gesetzt hat … – So, das genügt, mein Alter … Jetzt werde ich hineingehen und mir die Stichstelle mit den Messern kreuzen, wie man’s bei Schlangenbissen zu tun pflegt. Dann ein Dauerbad von starkem übermangansaurem Kali, und ich hoffe, die Geschichte läuft glimpflich ab, obwohl das Teufelszeug zu den gefährlichsten Giften gehören muß … Da, der Finger schwillt immer mehr … Ich verschwinde … Da hast dich doch hoffentlich wirklich nicht geritzt …“

„Ich komme mit!“ rief ich äußerst befangen. „Ich werde den Wundschnitt ausführen …“

„Nein, nein … Sieh’ besser zu, ob du noch irgendwo Spuren von dem Lumpenkerl findest, der uns auf diese heimtückische Art hat morden wollen …“

Er eilte davon …

Und ich stand, und beschaute meine Finger. Nein, da war kein Kratzer, kein Stich …

Spuren?! – Harald hatte ganz recht. Nur in der verflossenen Nacht konnte dieser unbekannte Schuft, der uns am Tage vorher beobachtet haben mußte und daher seine gemeine Giftmischerei gerade bei den noch nicht fertigen Stöcken vorgenommen hatte, hier tätig gewesen sein. Spuren mußten zu finden sein.

Ich suchte. Unsereiner, der auf derartiges gedrillt ist, bemerkt unschwer Bodeneindrücke, die dem Laien vielleicht bedeutungslos erscheinen. So sah denn auch ich an verschiedenen Stellen flache viereckige glatte Flecke von etwa 35 mal 15 Zentimeter Größe.

Der Giftmischer war ein sehr vorsichtiger Mann gewesen. Er hatte sich viereckige Brettstücke unter die Schuhe gebunden gehabt! Sehr vorsichtig! Und diese Fährte ließ sich bis zum Zaune verfolgen. Auf dem Feldwege zwischen der Rückfront unseres Grundstückes und der Laubenkolonie war keine dieser Spuren mehr zu entdecken.

Und dann kam auch schon Harald mit dick verbundenem rechten Zeigefinger und einem Taschenmikroskop zurück.

Mikroskop …!

Wozu?!

Ich erstattete Bericht. – „Das dachte ich mir, mein Alter …,“ nickte er. „Ein Mensch, der einen solchen Giftmord plant und vorbereitet, ist auch schlau genug, seine Schuhsohlen zu entstellen … Nur eins wird er vielleicht nicht in Betracht gezogen haben …“

„Das wäre?“

„Fingerspuren, Max Schraut!“

„Wo?!“

„An der Rinde der Rosenzweige … Er mußte die Zweige doch festhalten, wenn er die Dornen vergiftete … – Schau’ mal her … Siehst du hier an diesem Dorn an der nicht gekrümmten winzigen Spitze den gelblich-weißen Punkt? – Nun ja, das ist das Gift, mein Alter … Eine höchst subtile Arbeit! Der Mann wird also den Zweig etwa hier festgehalten haben. Ich löse jetzt, nachdem ich den ganzen Zweig abgeschnitten und die Dornen entfernt habe, die Rinde vorsichtig ab … – So … – die Rinde ist trocken. Ich streue Graphit hinauf … blase es wieder weg … Aha! Der Bursche ist erregt gewesen, als er die Schufterei ausführte, seine Fingerspitzen waren schweißig-fettig … Da haben wir zwei tadellose Fingerabdrücke auf den Rosenstöcken … Ich lege sie unter das Mikroskop … – Tadellos, wirklich … Der Mensch hat am linken Daumen an der Spitze drei kleine Narben wie Löcher … In den Rillen des Hautmusters sind leere Stellen … Machen wir die Probe aufs Exempel an einem anderen Zweig …“

Ich war wieder mal gelehriger Schüler und eifriger Helfer. Schon eine halbe Stunde drauf hatten wir vom Daumen, Zeige- und Mittelfinger des elenden Wichtes tadellose Vergrößerungen.

Und dann, ein viertel eins war’s, kam Mathilde, die Köchin, hereingestampft und überreichte Harald eine Besuchskarte:

Georg Dennelitz,
Generaldirektor,

Berlin W. 86

Hohenzollerndamm 14.

Mathilde sagte geringschätzig:

„Wie’n Schnorrer sieht er aus … Im Flur steht er …“

„Rein mit ihm,“ befahl Harald …

Wir beide waren noch im Arbeitshabit. Aber das schadete nichts, denn Herr Dennelitz sah noch schäbiger aus.

… Ein kleiner, magerer Kerl mit Bartstoppeln, einem grünen billigen Anzug mit Harmonikahosen, Krawatte, buntem Eisenschlips, Gummikragen, Makohemd mit Einsatz ohne Manschetten, braune, seit Wochen ungeputzte Schuhe – – und so weiter …

Schäbig!!

Aber eine hohe sehnige Stirn, eine Kinnpartie – – alle Achtung!!, und eine Nase, scharf, ein wenig gekrümmt, und … Augen, nußbraun, halb zugekniffen, unheimlich lebendig, unheimlich stechend … Und eine Stimme – kalt und selbstbewußt, herrisch, fast frech …

„Generaldirektor Dennelitz …,“ stellte er sich vor und machte nicht mal die Andeutung zu einer Verbeugung. „Ich darf mich setzen, Herr Harst … Mein Name ist Ihnen bekannt?“

Ich – war Luft für ihn …

Und doch: der Mann gefiel mir. Das war einer, der wußte, was er wollte.

„Gewiß, Herr Generaldirektor … Sie sind der Gründer der Chidindam-Werke, des großen chinesisch-indischen-amerikanischen Handelskonzerns, der die Weltpreise für Tee und Opium bestimmt … – Nehmen Sie bitte Platz … Das hier ist mein lieber alter Freund Schraut, meine rechte Hand, mein halber Kopf …“

„Dann sind Sie zu bedauern, Herr Harst,“ meinte Dennelitz grob. „Ein Mann, der sich von einem andern die rechte Hand und den halben Kopf leihen muß, ist ein Krüppel. – Wollen Sie eine Million Goldmark verdienen, Herr Harst?“

„Wenn es auf interessante Art geschehen kann – warum nicht? – Bitte – Zigarre oder Zigarette gefällig, Herr Generaldirektor?“

„Danke. Ich habe keine derartigen Laster – interessant? Und ob! Sie beide sollen mich nach Indien begleiten. Meine Tochter Emma ist dort vor zwei Monaten verschwunden. Bisher weiß nur ich davon. Nicht mal meine Frau. Ich liebe Weibertränen nicht. Tränen ändern nichts. Nur die Tat. Die Tat ist alles. Das werden Sie, Herr Harst, am besten zu beurteilen wissen. Deshalb kam ich auch zu Ihnen. Was ich von Ihnen gehört und gelesen habe, gefällt mir. – Fragen Sie, was Sie zu fragen haben.“

Harald nickte Herrn Dennelitz freundlich zu. „Auch Sie gefallen mir … – Erzählen Sie mir bitte einiges über ihre Familie, Ihre Tochter, deren Reise nach Indien, Charakter, Verkehr, Neigungen – und so weiter. Ich werde Fragen einstreuen.“

„Gut. In aller Kürze. Ich war 1918 noch Steward auf einem dreckigen Passagierdampfer in den indischen Gewässern …“

„Halt … Als Deutscher, während des Krieges?“

Dennelitz schien diese Frage nicht recht gewesen zu sein. „Gut – ich nannte mich damals anders und galt als Engländer. Ich spreche acht Sprachen, hätte mich auch als Holländer oder Spanier ausgeben können. 1919 kam ich mit Frau und Kind nach Berlin, sah die kommende Inflation voraus, begann Großkaufmann zu spielen und versteuere heute ein Vermögen von siebzig Millionen.“

„Halt … Waren Sie früher wirklich Steward, Herr Generaldirektor?! Wir wollen hier mit offenen Karten spielen. Sie haben sehr ausgearbeitete breite Hände, und die schlecht entfernte Tätowierung auf ihrem linken Handrücken deutet eher darauf hin, daß Sie Schiffszimmermann waren.“

„Stimmt. Zuerst. Dann Steward. – Meine Tochter Emma ist heute dreiundzwanzig Jahre alt. Sie ist in der Schweiz erzogen worden, in allem moderne Weltdame, leidenschaftliche Jägerin und dennoch kaufmännisch außerordentlich gewandt. Deshalb schickte ich sie auch im April dieses Jahres nach Indien, damit sie meine bei Allahabad gelegenen Mohnplantagen wieder etwas in Schwung bringe. Lodderwirtschaft war dort eingerissen. Emma – sie selbst läßt sich stets Ehma nennen, Schrulle!! – schmiß den Verwalter mit fünf Aufsehern raus, bearbeitete die chinesischen Kulis mit der Reitpeitsche und steigerte den Ertrag um vierzehn Zentner … Am zweiten Juli brach sie zu einer Tigerjagd nach den Dschungeln von Peskar auf. Die Jagdexpedition kehrte ohne Ehma zurück. Meine Tochter hatte sich eines Abends aus dem Jagdlager entfernt und war seitdem verschwunden. Über die Einzelheiten orientieren Sie sich am besten an Ort und Stelle.“

Er faßte jetzt in die Jackentasche und holte aus einem dicken Lederetui, dessen Nähte zum Teil geplatzt waren, einen einmal gefalteten Zettel hervor.

„Hier, diesen leeren Zettel erhielt ich acht Tage nach Rückkehr der Jagdexpedition … Aus Allahabad. Am zweiten Juli abends als Einschreibebrief abgeschickt. Ein leerer Zettel. Hier ist auch der Umschlag, Herr Harst. Sie werden damit mehr anzufangen wissen als ich.“

Ich rückte mit meinem Sessel näher an Harst heran. Der Zettel war die Hälfte eines Briefbogens besten Papiers. Er war sehr fleckig, stellenweise gebräunt.

„Sie haben ihn chemisch behandelt?“ meinte Harald.

„Ja. Ich vermutete unsichtbare Schrift. Ein Irrtum. Absolut leer.“

Harst blickte starr auf des kleinen Herrn Hände.

„Seit wann haben Sie die roten Stellen an einigen Fingerspitzen, Herr Generaldirektor?“

„Seit ein paar Tagen …“

„Juckreiz?“

„Nein … Aber die Stellen sind hart.“

Er zeigte uns seine Hände von innen.

„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Dennelitz,“ sagte Harald nach kurzer Pause sehr ernst … „Gehen Sie zu einem Arzt! Ich will Sie nicht unnötig ängstigen. Aber als Mann, der lange im Orient geweilt hat, werden Sie mit der … Lepra vielleicht Bescheid wissen.“

Dennelitz verfärbte sich. „Wie – – Aussatz meinen Sie?!“ rief er beunruhigt.

„Ja … Ich fürchte, der leere Zettel war mit Leprakeimen absichtlich infiziert … Sie sollten krank werden, und allem Anschein nach ist der satanische Anschlag geglückt.“

Dennelitz holte tief Atem …

„Verdammt – Sie können recht haben!“

Dann sprang er auf … Setzte sich wieder, trocknete den kalten Schweiß von der Stirn …

„Haben Sie noch etwas zu fragen, Herr Harst?“

Er hatte sich schon wieder in der Gewalt.

„Ja … – Wer erbt Ihr Vermögen, falls Sie und Ihre Gattin sterben und Ihre Tochter ebenfalls verschollen bleibt?“

Dennelitz lachte schrill … „Mein Bruder, – das heißt, wenn er noch am Leben ist. Aber er ist wahrscheinlich tot … Wir waren nie Freunde, Fritz und ich …“

„Wahrscheinlich tot?“

„Ja … Fritz war mein Gegenpol, ein Phantast … 1924 gab ich ihm eine halbe Million, damit er seinen Herzenswunsch sich erfüllen könne, eine Durchforschung der noch wenig bekannten Gebiete von Zentralindien. Man hat seit 1925, Herbst, nie wieder was von ihm gehört.“

„Wie alt sind Sie – und Ihr Bruder? War er verheiratet?“

„Ja … verheiratet und geschieden. Er hatte Chemie studiert. War Doktor. Ich bin einundfünfzig, Fritz fünfundfünfzig. – Glauben Sie etwa, daß mein Bruder mir den Brief geschickt haben könnte – den … Lepra-Zettel?“

„Ich spreche nie über Dinge, die sich erst im Anfangsstadium befinden … – Wo wohnte Ihr Bruder zuletzt hier in Deutschland?“

„Er hatte schon immer einen Sparrn! – Kennen Sie die Havelinsel Lindwerder, Herr Harst? Dort hatte er bei dem Gastwirt zwei Zimmer gemietet – eigene Möbel … Ich bezahle die Wohnung noch heute …“

„Was haben Sie Ihrer Gattin über das Ausbleiben jeder Nachricht von Ihrer Tochter gesagt?“

„Ehma ist ungeheuer schreibfaul … Und meine Frau, – na, Ehma und ich, wir lieben uns, meine Frau ist Außenseiterin …“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Weiß jemand, daß Sie zu mir kommen wollten?“

„Nein …“ –

Gleich darauf verabschiedete er sich. Zu Fuß schritt er eilends davon, er, der sicherlich ein paar Autos hatte. Zu einem Arzt wollte er … Sofort!

„Wird dem armen Kerl wenig helfen, mein Alter!“ – und Harald nahm den Briefumschlag wieder zur Hand, nachdem er ihn sowie den Zettel nochmals mit dem elektrischen Bügeleisen gründlich durchhitzt hatte. „Die Schrift hier auf dem Umschlag ist ganz geschickt verstellt …“

 

2. Kapitel.

Der Schornstein.

Er sagte das in müdem, versonnenem Tone, und seine Augen blickten durch das rechte Fenster auf die stille Blücherstraße hinaus, wo gerade ein Autolastzug, mit Baumaterial hoch bepackt, vorbeiratterte. Unsere Fensterscheiben klirrten, das ganze Haus schwankte, und – – in Haralds Gesicht trat ein gequälter Zug. Ich wußte, gerade dieser moderne Lärm dieser Benzinfuhrwerke war ihm eine Pein!

„Geschickt verstellt … Und doch eine Frauenschrift – unverkennbar,“ fügte er hinzu. „Eine Frau, die sich die größte Mühe gegeben hat, schlichte steile Buchstaben dick hinzuhauen. Sie hätte nur nicht die Worte „Germany“ und „Berlin“ unterstreichen sollen. Diese feinen Striche mit den Schnörkeln am Anfang und Ende verraten ihr Geschlecht.“

Er legte den Briefumschlag weg, nahm eine Zigarette und warf sich in seinen Klubsessel am kalten Kamin, stützte die Füße auf den Kopf des Bärenfelles und meinte: „Sieh’ mal bitte im Adreßbuch nach …“

„Was denn?“

„Natürlich unter Dennelitz … Die geschiedene Frau des Doktor Dennelitz …“

Ich tat’s. Im Gegensatz zu Harald, der in seinem ganzen Verhalten eine gewisse Müdigkeit gegenüber dem neuen Auftrag bekundete, erschien mir der ganze Fall außerordentlich interessant und vielversprechend, zumal ich bereits überzeugt war, daß die vergifteten Rosendornen mit Sicherheit darauf hinwiesen, daß der Herr Generaldirektor trotz seines Ableugnens doch seine Absicht, uns mit den Nachforschungen nach dem Verbleib seines einzigen Kindes zu betrauen, irgendwie verraten haben müsse und daß „man“ uns daher rechtzeitig und gründlich ausschalten wollte.

Während ich im Adreßbuch blätterte, teilte ich Harald diese meine Ansicht mit.

„Das alles ist genau so selbstverständlich wie die Folgerung, daß es hier um das Riesenvermögen dieses kleinen, äußerlich so schäbigen Nabobs geht. Die liebe Verwandtschaft natürlich!! Und seine Frau, mit der er und dieses Fräulein Ehma, die mit der Reitpeitsche Kulis verdrischt, sehr schlecht zu stehen scheint, dürfte mit im Spiel sein. Nur sie kann nach den bisherigen und vorliegenden Tatsachen irgendwie seine Absicht, bei uns vorzusprechen, ausspioniert haben.“

Inzwischen hatte ich den Namen Dennelitz gefunden.

Da stand – und ich las vor:

„Dennelitz, Anna, Halensee, Trakehner Str. 15.
–, Ernst, Dr. phil., Privatgelehrter.
–, Irma, Malerin, – –“

Im übrigen gab es in Berlin außer dem Generaldirektor und den Seinen niemanden dieses Namens.

„Die geschiedene Frau und ihre Kinder,“ meinte Harst, indem er seinen verbundenen Zeigefinger betrachtete, „wie packen wir nun die Sache an, mein Alter? Am einfachsten wäre es, sich von den in Frage kommenden Personen Fingerabdrücke zu beschaffen und diese mit unseren „Rosenstempeln“ zu vergleichen. In Frage aber kämen: Frau Generaldirektor Dennelitz, die andere Frau Dennelitz und deren Kinder sowie der verschollene Vater dieser Kinder.“

„Hm – willst du letzteren etwa suchen?! Etwas umständlich!!“ Ich hatte mich an den Kaminofen gelehnt. Harst blickte auf.

„Umständlich? Inwiefern?! Der Mann ist doch jederzeit zu erreichen.“

„Ein Scherz?! Dann ist der Scherz sehr unangebracht!“ erklärte ich.

„Es könnte ein Scherz über deine Blindheit sein, das ja! Nimm doch mal gefälligst den Briefumschlag aus Allahabad zur Hand … – Ja, drehe ihn um … Betrachte die zugeklebte Briefklappe … Der, der sie zuklebte, hat den gummierten Strich mit einem Schwämmchen angefeuchtet und den Briefumschlag nachher mit nicht ganz trockenen Fingern zugeklebt, besser die Briefklappe angedrückt.“

Ich trat jetzt rasch mit dem Umschlag ans Fenster.

Und hier im hellen Tageslicht sah ich, wenn ich den Umschlag schräg hielt, etwa in der Mitte der Rückseite wie einen stumpfen Fleck einen Fingerabdruck.

Ich nahm das Vergrößerungsglas zu Hilfe.

„Harald, – – die drei Löcher in der Daumenhaut,“ rief ich. „Es ist genau derselbe Abdruck wie auf der Rosenrinde!“

„Allerdings. Und was beweist das weiter?“

Ich hob die Schultern.

„… Es beweist, daß der Mann Linkser ist. Wer eine Briefklappe mit dem linken Daumen andrückt, muß linkshändig sein.“

„Hm, das leuchtet mir nicht ein. Der Daumenabdruck auf der Rinde kann ja auch von der rechten sein.“

Harst lachte kurz auf. „Brechen wir diese Erörterungen vorläufig ab. Jedenfalls: der Briefumschlag hat noch eine andere Bedeutung. Schau’ dir den Stempel an … Eine plumpe Fälschung! Der Brief hat Indien nie gesehen. Die Infizierung des leeren Papierblattes wäre ja auch durch eine Reisedauer oder Beförderungszeit von nur zwei Wochen so gut wie wirkungslos geworden. Das sagte ich mir sofort, als ich die verdächtigen Flecke an Dennelitz’ Fingern sah. Gewiß – ich bin vorsichtig gewesen, habe Zettel und Umschlag geplättet[1]. Trotzdem: der Brief ist hier in Berlin „angefertigt“ und durch einen falschen oder bestochenen Postbeamten dem Generaldirektor ausgehändigt worden, als die Leprakeime noch ganz frisch waren.“

„Nun ja …,“ nickte ich, „das ist durchaus beweiskräftig, zugegeben! Aber – wo der Beweis, daß Doktor Fritz Dennelitz lebt und sowohl das Rosendornenattentat auf uns sowie das noch abscheulichere auf seinen Bruder ausgeführt hat, – zumal du vorhin behauptest, die Adresse habe eine Frau geschrieben …“

„Die Adresse, gewiß …! Warum auch nicht?! Können nicht zwei beteiligt sein?!“

Ich wurde ärgerlich. „Ich werde mir eine Zange holen, Harald …! Vielleicht ziehe ich dir dann deine Weisheit schneller aus dem …“

„… Keine Beleidigungen!! Meine Weisheit ist nichts als ein wenig Hirntraining und … offene Augen. – Natürlich sind zwei beteiligt, mindestens …! Und daß Doktor Fritz Dennelitz hier in Berlin weilt und die Fäden dieses großzügigen Planes in der Hand hat, daß er seine Mitspieler gleich Marionetten willenlos tanzen läßt, daß sein verbrecherisches Genie bis zur Phantastik – sein Bruder nannte ihn einen Phantast! – gesteigert ist, daß wir beide für diese gefährliche Marionettenspielergesellschaft die großen Kritiker, und daher wegzuräumen sind, daß wir zurzeit belauscht werden, ja, belauscht werden, das – – das – – aha – – schau’ in die Kaminfeuerung – –, was siehst du?“

Er beugte sich vor … Die verglaste Tür stand offen … Er packte im Dunkeln ein rundes schwarzes Etwas – eine Schachtel mit Drähten, packte die Drähte, riß daran, rief …: „Hinaus, Schraut, hinaus! Laß den Kerl vom Dach nicht entwischen …!! Schieße, wenn er nicht gehorcht …!“

Und ich in den Hof … Renne im Flur beinahe die dicke Mathilde um … Sie schimpft …

Ich schaue zum Dache empor …

Da – hinter dem linken Schornstein ein Arm, eine Hand …

Aha, Bursche …!!

Und brüllte: „Hände hoch! Oben geblieben!!“

Arm und Hand verschwanden …

Der Kerl nimmt Deckung … der Schornstein ist gerade der, dessen Schacht senkrecht in Haralds Kamin hinabläuft. In diesem alten Familienhause sind die Schornsteine nicht gerade nach dem Prinzip der Raumersparnis gebaut.

Aber der Kerl hat’s jetzt mit zweien zu tun …

Ich höre Haralds Stimme im Vorgarten …

Und der Mensch da oben gibt sich geschlagen, klettert sehr gewandt am Blitzableiter in den Hof hinab, steht vor mir – vor Harald, der rasch erschienen ist …

Ein kleiner magerer Kerl mit gelbbraunem Gesicht, grauem Spitzbart …

Schornsteinfeger-Verkleidung …

Freilich ohne Ruß … Schwarzer Leinenanzug, schwarze Kappe …

„Wer sind Sie?“ fragt Harst merkwürdig gelassen.

„Doktor Fritz Dennelitz, Herr Harst …“

„Also doch!!“

„Sollte ich etwa leugnen, Herr Harst?! Ich hatte ja Ihr Gespräch mit Ihrem Freunde mit Hilfe des Mikrophons belauscht. – Nicht war, Sie haben mich vom Garten aus bemerkt? Vorhin, – als Sie mit dem verbundenen Finger zurückkamen.“

„Allerdings …! – Kommen Sie nun mal mit herein, mein Herr … Bitte, Schraut, geh’ voraus … Herr Doktor Dennelitz ist stark fluchtverdächtig …“ – Und all das wieder in so eigenartigem Tone …! Man könnte fast sagen: in scherzhaft-ironischem Tone!! Und dies einem Manne gegenüber, der ein so scheußlicher Giftmischer war?! – Ich begriff das nicht recht …

In Harsts Arbeitszimmer dann die nicht minder seltsame Fortsetzung. „Herr“ Doktor Fritz Dennelitz hatte im Klubsessel am Kamin Platz nehmen müssen, an sich schon eine große Ehre: Haralds Stammplatz!!

Ich beschaute mir diesen Verbrecher nun genauer. Eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Herrn Generaldirektor war fraglos vorhanden, die Nasenform fast die gleiche.

Harst schloß die seidenen gelben Vorhänge und schaltete alle Beleuchtungskörper ein. Herr Doktor erlaubte sich, etwas verdrießlich zu lächeln. Beneidenswert kaltschnäuzig war der Kerl.

„Zeigen Sie mal Ihren linken Daumen, Herr Doktor,“ sagte Harald höflich und pflanzte sich dicht vor dem Lepra-Verbrecher auf.

„Bitte,“ – und Dennelitz drehte die Linke halb um. Ich trat neugierig näher. Da waren in der Tat die drei Narben, runde kleine Vertiefungen.

„Danke,“ meinte Harald. „Und nun was anderes … Sie sind Doktor der Chemie, nicht wahr?“

„Leider …“ Und der kleine gelbbraune Schuft grinste unglaublich unverschämt. „Dieses „Leider“ bezieht sich auf Sie, Herr Harst …“

„Hm – Sie denken an die Rosen?“

Dennelitz machte ein erstauntes Gesicht.

Dann nickte er jedoch verdächtig eifrig. „Natürlich – an die Rosen, natürlich, woran sonst?!“

„Und an die Lepra-Infektion?“ fragte Harald mild wie ein seelensguter Pastor.

Der Herr Doktor starrte Harald an. Seine Züge verrieten Unruhe, Zweifel, Hilflosigkeit. Nur für Sekunden wieder. Dann – genau so verdächtig eilfertig wie soeben: „Ja, ja, die Lepra-Infektion! Selbstredend!“

„Und an die Dynamitbombe …?“ begann Harst unbegreiflicher Weise zu schwindeln.

„Auch daran, Herr Harst …,“ nickte Dennelitz etwas zögernd.

„Wenn Sie Chemie studiert haben, Herr Doktor,“ schlug Harald plötzlich einen anderen Ton an, „so können Sie mir sicherlich angeben, ob Eisenvitriol und übermangansaures Kali in verdampftem Zustande sich verbindet und die Mischung H2 SO4 PN3 ergibt?“

Ich hätte beinahe laut losgelacht, denn das, was Harald da soeben gefragt hatte, war der hellste Blödsinn.

Wieder zeigte sich in Doktor Dennelitz Mienen ganz flüchtig ein Ausdruck von Verwunderung. Er erwiderte jedoch prompt: „Ihre Annahme stimmt, Herr Harst. Sie scheinen recht gründliche chemische Kenntnisse zu besitzen. Ich möchte jedoch sofort einen Irrtum Ihrerseits richtig stellen. Wenn ich vorhin „Leider“ sagte, so hatte das eine andere Bedeutung oder Ursache … Sie haben mich überrascht gefangen. Gut. Sie bilden sich nun ein, dadurch weiß Gott was erreicht zu haben. Verfehlt …!“ – Seine Ausdrucksweise erinnerte auffallend an die des Generaldirektors. – „Sie werden niemals Ihr Ziel – – oder sagen wir besser: diesen Kriminalfall zu einem gedeihlichen Ende bringen, wenn ich tot bin. Und das könnte ich jederzeit sein – nämlich tot. Meine Dispositionen sind so getroffen, daß nach meinem Selbstmord, da ja alle Fäden in meiner Hand zusammenlaufen, wie Sie selbst vorhin am Kamin hier sich ausdrückten, … daß also nach meinem Selbstmord auch die letzte Spur verwischt wird. Meine … Freunde, die nur Gespenster sind, verschwinden, und Sie haben das Nachsehen.“ Er fletschte plötzlich in höchst komischer Art die Zähne. „Bitte – hier der rechte obere Eckzahn … – ein Stiftzahn, lose, innen hohl … Ein starker Druck mit der Zunge, er ist heraus, – ihn verschlucken das Ende, denn er enthält ein Kügelchen Zyankali.“

„Sehr schlau, Herr Doktor!“

„Allerdings. Und weil mein Tod Ihnen mithin nur schaden kann, mache ich Ihnen den ernsthaft gemeinten Vorschlag, mich laufen zulassen. Ich verpflichte mich dafür, Fräulein Ehma – – Ehma!!, sehr fürnehm, oho!! – also mein Fräulein Nichte Ehma herauszugeben und den ganzen Plan fallen zu lassen.“

„Bravo!“ rief Harst vergnügt. „Bravo, – nun habe ich Sie da, wo ich Sie haben wollte!! Sie … sind ja gar nicht Doktor Dennelitz, Sie Männchen!! Sie sind irgendein Gescheiterter, den Ihr Auftraggeber irgendwo ausgegraben und Ihrer Ähnlichkeit mit dem Doktor wegen hierher geschickt hat. Sie haben weder von den vergifteten Rosendornen noch von den Leprabazillen noch von Chemie irgendeine Ahnung. Ihr Geldmann hat Sie scheußlich hineingelegt, hat Sie gut bezahlt und … Sie belogen! Mann, Sie haben einem ganz abgefeimten Verbrecher, der für den Galgen reif ist, Spionendienste geleistet. Ihre Zahngeschichte ist Schwindel!“

Und blitzschnell packte er den kleinen Burschen bei der Kehle, schob ihm die Kante eines Aschbechers in den Mund, packte den Eckzahn …

„Fest – – kein[2] Stiftzahn!“ lachte er und gab den kleinen Unglückswurm wieder frei.

Unglückswurm …!

Tatsächlich … Wie ein Häufchen Unglück hockte der Kerl jetzt in dem tiefen Sessel, rang nach Luft und stotterte:

„Ich … ich will alles … eingestehen, Herr Harst … Ich hoffte unbeschadet davonzukommen … Ich mag mit der Polizei nichts zu tun haben …“

Und dann bekam er einen Kognak, eine Zigarre und … berichtete.

 

3. Kapitel.

… Albrecht Marx hieß er. Wegen Unterschlagung drei Monate. Dann abwärts – abwärts …! Kein Hochkommen mehr. Kein Mensch stellte ihn ein. Nun war er seit zehn Jahren Winkelkonsulent, Berater von Berufsgaunern, Dirnen und Schiebern. Gestern früh war ein Herr in sein Büro gekommen, dick, blonder Vollbart, so etwa Typ: besserer Landwirt. Hatte ihm fünfhundert Mark hingelegt, hatte ihm eine Geschichte erzählt von einer den Eltern ausgekniffenen Maid, ganz harmlos: Liebesaffäre! Hatte gesagt, der verfl… Harst wolle sich einmischen, und so und so könnte man vielleicht herausbekommen, was Harst plane. Hatte dem Albrecht Marx dann genaueste Verhaltungsmaßregeln und noch fünfhundert Mark gegeben. Der biß auch ahnungslos an.

„Wie nannte sich der Blonde?“ fragte der verfl… Harst gleichgültig.

„Gar nicht … Ich sollte ihn heute, wenn alles geglückt sei, abends um elf auf dem Winterfeldtplatz treffen.“

„Glauben Sie, daß der Mann maskiert war?“

„Hm – schon möglich …“

„Und – eins haben Sie vergessen, Marx: die drei Narben am linken Daumen, die sind ganz frisch. Solche Narben erzielt man in so kurzer Zeit nur mit Hilfe von Säuren …“

„Das stimmt, Herr Harst. Das vergaß ich. Der Blonde hatte eine Art Zeichnung und Säuren mit. Nach der Zeichnung bearbeitete er meinen Daumen. Es brannte etwas. Nachher mußte ich stundenlang kühlen.“

Harald nickte zerstreut, entnahm seiner Brieftasche hundert Mark …

„Hier, Marx … Sie gehen also heute abend auf den Winterfeldtplatz und berichten ihrem Auftraggeber, daß alles gut abgelaufen sei und daß Sie gehört hätten, ich wolle mit Schraut schon heute nach Indien abreisen …“

„Indien?!“

„Ja, Indien … – Alles weitere überlassen Sie uns. Wir werden dem Elenden folgen, wenn Sie sich getrennt haben, und …, – aber das geht Sie schließlich nichts an. Sollten Sie jedoch etwa ein unehrliches Spiel treiben, so kommen Sie bestimmt ins Kittchen …“

Er weihte Albrecht Marx, der hoch und heilig beschwor, nur uns noch dienen zu wollen, in großen Zügen in die Sachlage ein. Das mußte er, sonst hätte Marx sich zu leicht verraten.

Des kleinen Winkelkonsulenten verkniffene Visage färbte sich dunkelrot vor Wut, als er nun merkte, wie schmählich der Blonde ihn belogen hatte und in welch’ oberfaule Geschichte er sich da eingelassen hatte …

„Herr Harst, verfügen Sie über mich … Ich bin nicht auf den Kopf gefallen … Ich …“

„Stopp!! Sie tun, was ich befahl, nichts mehr, nichts weniger … – Nun entfernen Sie sich durch den Garten …“ –

Wir waren allein. Harst ging im Zimmer auf und ab. Ich hatte die Vorhänge wieder geöffnet und auch die Fenster. Albrecht Marx hatte einen merkwürdigen Geruch bei uns zurückgelassen: irgendein billiges Parfüm und dazu der Schweißdunst eines ungepflegten Körpers!

Ich hatte mir derweil die Ereignisse des Vormittags nochmals durch den Kopf gehen lassen. Vieles war unbegreiflich gewesen, war ungeklärt. Unsere Unterhaltung vor dem Kamin war von Harsts Seite kühl erwogen, des Mikrophons wegen.

Dieses Mikrophon samt dem Zubehör, Taschenbatterien und so weiter, hatte Marx mitgenommen, um es dem Blonden wieder auszuhändigen. Harst hatte sich dieses Horchinstrument sehr genau betrachtet und erklärte mir nun: „Es war ein glänzend konstruierter kleiner Apparat. Ein sehr fachkundiger Bastler hat ihn angefertigt. Aber das ist nebensächlich. Wichtiger ist: Woher weiß der Blonde, daß gerade der letzte Schornstein hier in den Kamin hinabführt? Woher wußte er, daß die Kamintür jetzt immer stets offen ist?“ Er hatte sich an den Schreibtisch gelehnt … Er fuhr lebhafter fort: „Besinnst du dich auf den jungen Menschen, der vorgestern mit dem albernen Anliegen bei uns vorsprach, sein ihm gestohlenes Paddelboot zu suchen? Er nannte sich Bankbeamter Erwin Müller, trat sehr sicher auf, trug blaue Brille und litt an Bartflechte, wie er behauptete, sein halbes Gesicht war bepflastert. Ich wies ihn ab. Vielleicht – vielleicht war’s auch ein Spion oder der Blonde selbst. Heute erscheinen mir die blaue Brille und die Bartflechte sehr verdächtig.“

„Kann sein,“ nickte ich. Meine Gedanken waren anderswo. – „Harald, gestatte eine Frage … Hältst du wirklich Doktor Fritz Dennelitz für den Anstifter des satanischen Planes, das Riesenvermögen …“

„… – nein, nein, mein Alter. Jetzt weiß ich ganz bestimmt, daß der Doktor nicht in Betracht kommt, sondern daß nur der Verdacht auf ihn gelenkt werden sollte … Daher wurde auch Albrecht Marx zu uns geschickt. Deshalb wurden auf der Rinde der Rosenäste absichtlich die Daumenabdrücke mit den drei Narben und derselbe Abdruck auf dem Briefumschlag hervorgerufen. Der Blonde hatte ja eine Zeichnung mit, nach der er die Narben dem Winkelkonsulenten beibrachte. Also wieder ein Beweis, mit welch’ raffinierten Mitteln der wahre Täter arbeitet. Ich bin überzeugt: Doktor Dennelitz lebt, und er hat auch bestimmt diese Narben am linken Daumen. Aber all das ist vorläufig blasse Theorie. Es wird Zeit, daß wir zur Praxis übergehen … – Hallo, ein Postbote … Da – er kommt durch den Vorgarten … mit einem Rohrpostbrief … Nimm ihm den Brief ab und bringe den jungen Menschen mit herein. Es wäre vielleicht ratsam, ihm[3] genauer auf den Zahn zu fühlen. Denke an den gefälschten Einschreibebrief aus Allahabad!!“

Ich eilte in den Flur.

Der Fall Dennelitz erfüllte mein Hirn bis zum Platzen … Ich war Feuer und Fett für dieses neue Abenteuer. Es hat ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten. Hier war ein Gegner, würdig eines Harstes, den Boxkampf mit den Fäusten überlegener Intelligenz vor dem Weltforum.

Dann – der Postbote …

Ein junger Bursche … Einer von denen, die unsere Mathilde nicht leiden mag. Und doch ein geradezu sanftes sympathisches Gesicht … Dunkle melancholische Augen … Die blasse Gesichtshaut mit Schweißperlen bedeckt.

„Sie bringen?“

„Einen Rohrpostbrief – da!“ Der patzige Ton paßt wenig zu diesem Antlitz … Die Stimme klingt gepreßt.

Ich nehme den Brief …

Die Tür nach dem Arbeitszimmer ist offen. Harst spielt den Zuschauer.

„Warten Sie, Sie sollen noch ein paar Zigaretten haben,“ sage ich freundlich, von oben herab …

„Ick rooche nicht, danke …“ Wieder der patzige Ton …

Er wendet sich wieder der nur angelehnten Haustür zu.

Harald tritt vor.

„Einen Augenblick! – Schraut, schließe die Haustür …“

Das brauchte ich nicht … Das hatte schon der junge Bengel von draußen besorgt … von draußen …

Mein Versuch, ihn festzuhalten, – Haralds Sprung nach vorwärts: beides wurde jäh verhindert, da vor unseren Füßen mit dumpfem Knall etwas explodierte, das im Nu eine unheimliche Menge schwarzen Qualms entwickelte, das uns Tränenbäche vergießen und derart husten ließ, daß wir kampfunfähig wurden.

Wir flüchteten in Harsts Zimmer …

Ich rannte gegen die Schreibtischecke … Wir waren blind …

Aber auch das verging. Der beizende Qualm zog durch den Hinterflur nach dem Hofe ab.

Dann der Rohrpostbrief … Verstellte Handschrift … Verwischter Stempel … Fälschung …

Inhalt:

Herr Harst, hüten Sie sich vor den Rosen in Ihrem Garten! Öffnen Sie keinen Brief, keinen, bevor Sie ihn nicht stark erhitzt haben. Und wenn Sie nach Allahabad reisen sollten, so entfernen Sie sich mit der größten Vorsicht aus dem Hause und fahren Sie beide getrennt. – Eine, die es ehrlich meint!

Harald deutet auf den Umschlag, die Anschrift, den Strich unter „Blücherstraße 10“ …

„Verräterischer Strich … genau derselbe wie aus … Allahabad … – Nun wissen wir es …: der blonden Botin!“

„Botin?“

„Ja, mein Alter, war ein Mädel, der Postbengel … Die Geschichte von letztens macht Schule. Du weißt: Mathilde sprach damals von rundlicher Achterseite und doppelter Hühnerbrust … Hier dieselbe Sache: ein verkleidetes Weib …! Aber hier eine Mitteilung, die zu denken gibt. Das ist kein Betrug. Das ist echte Warnung. Dieses Mädchen, das bei dem Brief aus Allahabad mitgeholfen hatte, macht eigene Politik gegen den Giftmischer, macht nicht mehr mit …“

Und er lächelt versonnen. „Wir haben nun zwei Verbündete: Albrecht Marx und diese – ja, nennen wir sie die Melancholische. – Würdest du sie wiedererkennen?“

„Bestimmt!“

„Nun gut, dann wollen wir nach der Trabener Str. 15 fahren – sofort …“ Er trat in den Flur hinaus. Auf dem Läufer lag ein graues Häufchen Asche, ringsum eine Menge dünnster Glassplitter, etwa wie von einer Weihnachtsbaumkugel.

„Nebelbombe nennt man so was,“ sagte Harst. „Ziehen wir uns um … Keine Masken … In zehn Minuten bin ich fertig, Wiedersehen.“

Ich ging in meine Räume hinüber.

… Und um halb zwei sauste ein Auto mit uns gen Halensee, die Westfälische Straße empor, über den Henriettenplatz, über die Brücke mit den mächtigen Eisenbögen, vorbei an der Rückseite des Luna-Parks, am Bahndamm entlang …

Halensee … Erinnerungen: Schildkröte am Halensee!!

Und jetzt Nummer fünfzehn …

Kleine bescheidene einzeln stehende Villa … Rückfront am Bahndamm. Ein sauberer Garten, alles sehr freundlich …

Hier also wohnt die geschiedene Frau Doktor Anna Dennelitz mit ihren beiden erwachsenen Kindern Ernst und Irma …

Harst läutet an der Gartenpforte.

Keine Seele erscheint …

Die Fensterladen sind geschlossen …

Hinter dem Hause hervor erscheint ein buckliger alter Mann, abgerissen, ärmlich, eine Nickelbrille schief auf der blauroten Nase, in der Linken einen Fuchsschwanz, eine Säge.

 

4. Kapitel.

Der Springbrunnen.

„Die Herren wünschen?“ fragte er mit dem unklaren Gebrabbel alter zahnloser Leute. Und in der Tat: seine Gaumen waren völlig leer, bis auf einen einzelnen braun-schwarzen Hauer, der schräg nach vorn gewachsen war.

„Wir möchten Frau Doktor Dennelitz oder eins ihrer Kinder sprechen,“ erklärte Harst durch das Holzgitter der hohen Zauntür hindurch.

„Die gnädige Frau ist verreist. Aber Herr Doktor sind zu Hause,“ brummelte der Greis und prüfte mit den schmutzigen Fingern teilnahmslos die Schärfe seiner Säge. Dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf, ließ uns ein und fragte stumpf: „Wen darf ich melden?“

„Harald Harst und Max Schraut in dringender persönlicher Angelegenheit.“

Unsere Namen machten nicht den allergeringsten Eindruck auf den Alten.

„Bitte, – ich werde vorausgehen …“

Er führte uns in eine kleine Diele, die ein grünliches Glasdach, eine Tropfsteingrotte und einen Springbrunnen hatte. Die Grotte war gleichzeitig Aquarium. Wir setzten uns auf eine weißlackierte Bank vor der Grotte. Die kleine Fontäne hatte oben auf dem Wasserstrahl eine silbern glänzende, auf und ab tänzelnde Glaskugel.

Harald schaute sich kritisch um, nachdem der Alte durch eine der drei Türen verschwunden war.

Dann faßte er in die Schlüsseltasche …

Sagte leise: „Tu’ dasselbe …!“

Unsere Neunspeier wanderten in die rechten Jackentaschen. Die Sicherungen knackten leise. Nun waren wir gerüstet …

Ich spürte leichtes Jagdfieber. Ich liebe dennoch diese wundervollen Minuten einer unnennbaren Ekstase – vor irgendeinem entscheidenden neuen Vorgang …

Was bedeutet hiergegen die Erregung, die Nervosität zweier Boxkämpfer, was die schwitzende, keuchende sogenannte Begeisterung des Publikums mit ihrem nie zu verhehlenden Stich in brutale Erwartung, eine zerquetschte Nase und Blut zu sehen …

Und das Jagdfieber wuchs … Lief als feines Krieseln bis in die Zehenspitzen … Ließ das Herz den Gang beschleunigen …

Das aufgescheuchte Hirn gebar eilende Gedanken wie pfeilschnell dahinschießende Schwalbenschwärme …

Was wollte Harst hier bei der geschiedenen Frau und ihren Kindern? Wollte er in Irma Dennelitz den Postboten wiederfinden?

Vielleicht … vielleicht … –

Die silberne Kugel tänzelte graziös auf dem plätschernden Wasserstrahl …

Um übrigen Stille …

Und Harst hatte die rechte Hand jetzt auf dem rechten Knie liegen, das er über das linke gelegt hatte …

Mein Kopf drehte sich langsam hin und her – ganz langsam, als ob in dieser kleinen Vorhalle mit ihrer theatralischen Aufmachung nach einem Geschmack längst entglittener Zeiten Wunder was zu sehen wäre.

Harst!?

Harst – immer eine Erscheinung für sich, nie in einen Alltagsrahmen passend, stets durchgeistigt, das Körperliche ausschaltend und den Intellekt hervordrängend.

Ich ahnte nichts.

Und als der Moment kam, wo teuflische Schlauheit uns und unsere Waffen zu nichtssagenden Unbedeutendheiten[4] umnebeln wollte, streckte er nur wie ein geschickter Jongleur die Hand aus …

Nur …

Und das war, als der Wasserstrahl der kleinen Fontäne urplötzlich gleich wie unter einem überstarken Windstoß sich zu uns hin verneigte und die Silberkugel daher unfehlbar dicht vor uns auf dem Fliesenboden zerschellt wäre.

Er fing sie auf, ließ sie sofort in die Linke gleiten, hatte sofort die Clement aus der Tasche gerissen …:

Peng …!!

Der dünne Knall der Repetierpistole …

Kaum verhallt, kaum recht mit seinen Schallwellen den Raum füllend …: drüben hinter der Tür ein Schrei, ein dumpfer Knall …

Vier Panthersätze[5] Harsts um die Fontäne herum …

Tür fliegt auf …

Ein Mensch am Boden …

Der alte Mann mit der Säge!!

Harst reißt ihn hoch …

Der Streifschuß an der Schläfe hatte die grau-weiße Perücke verschoben und ein Stück echter Haut mit fortgenommen.

„Herr Doktor Ernst Dennelitz,“ sagt Harald ironisch, „Sie müssen das nächste Mal das Guckloch in der Türfüllung weniger auffällig bohren … Sie sehen, Ihr Anschlag ist mißglückt. Die Kugel, die oben auf der Fontäne tanzte, hatte zu verfängliche Ähnlichkeit mit jener, die von Ihrer Schwester benutzt wurde. Außerdem war auch der schwarze Seidenfaden, der von der Kugel nach der Decke führte, für schärfere Augen sichtbar. Der Faden war ja an sich nötig, da diese kleine Bombe von dem Wasserstrahl allein nicht gehoben werden konnte, weil zu schwer. Ich hätte in diesem Falle zusammengeknotete lange Frauenhaare benutzt, die es trotz der Bubi-Seuche doch noch unter den Damen Berlins gibt …“

Vielleicht hätte er diesen spöttisch-überlegenen Erguß noch fortgesetzt, wenn nicht ein Zwischenfall eingetreten wäre, der die Lage jäh gewendet hätte, falls …

Ein Zwischenfall …

Ernst Dennelitz, Sohn des verschollenen Doktor Fritz Dennelitz, hatte schlaff und matt und wie in sein Schicksal ergeben an der Türfüllung gelehnt …

Komödie …!! Dieser Tiger zeigte wieder seine Zähne …

Schlug zu …

Tadellos berechnet der Fausthieb nach Haralds linker Hand – nach der Glasbombe …

Gleichzeitig schnellte er sich rückwärts, überrannte mich …

Die Bombe zersplitterte auf der Türschwelle …

Eine grelle Stichflamme …

Prickelnde Schmerzen in meinen Augen …

Jemand packt mich, zerrt mich fort …

Zwei Männer stolpern halb bewußtlos die kleine Steintreppe hinab – – ins Freie, in ein Blumenbeet … Liegen still …

Zwei … Wir …

Wir keuchen, schnappen Luft …

Meine Augen sind feuerspeiende Berge …

Mein Leib eine Riesenschaukel …

Mein Magen krempelt sich um …

Aber – – das Schlimmste ist verhütet worden, das Allerschlimmste.

Schlimm genug ist auch dies noch.

Wir können uns nicht rühren …

Zeit schleicht …

Bis meine Augen sich wieder auf ihre Pflicht besinnen. Ich liege mit dem Gesicht in einem Busch Stiefmütterchen, und die bunten schalkhaften Mienen der zarten Sommerblüten schienen ausdrücken zu wollen: „Wer als Esel aufs Glatteis geht, bricht ein …!“

Zeit schleicht …

Harst stöhnt, spricht mühsam:

„Ein Teufelszeug muß es gewesen sein!! Wir haben noch sehr wenig davon eingeatmet, und dennoch diese …“

Schweigt …

Geräusche … nicht schön …

Seekrankheit …

Steckt an, so was …

Mein Magen spielt Fontäne …

Und … die Zeit schleicht …

Die Stiefmütterchen grinsen.

Dann sitzt Harst aufrecht. Hilft mir. Ich sitze auch … Stehe …

Haralds Gesicht ist gelbgrün … Kaum wiederzuerkennen. Die Augen eingesunken, wie erloschen …

Ja – – diese Glasbombe – – keine harmlose Nebelbombe …! Ach nein! Hier ging’s ums Leben, und Gevatter Tod hatte uns schon ziemlich fest in den Krallen.

Harst schaut mich an … Ich lese das Entsetzen in seinen Blicken …

„Sehe ich ebenso aus, mein Alter?“

Ich nicke …

Harald tastet auf dem Boden umher. Zwischen den Blumen haben sich Stauden von Sauerampfer eingeschmuggelt, und Harst pflückt die Blätter, kaut sie …

Da erst kommt mir zum Bewußtsein, daß ich einen scheußlichen Geschmack im Munde habe, gallenbitter …

Ich pflücke Sauerampfer, kaue.

Die Zeit schleicht …

Langsam, langsam …

Langsam erheben wir uns …

Langsam erheben wir uns …

Dann schreitet Harald der Haustür zu, die noch offen steht.

 

5. Kapitel.

Irma Dennelitz.

Sein Gang gleicht dem eines angetrunkenen Rückenmarkkranken. Aber mit jedem Schritt bezwingt die eiserne Energie meines Freundes mehr und mehr diese Schwäche der Muskeln. Der eiserne Wille feiert Triumphe. Hier ist’s ein leuchtendes Beispiel. Wollen ist alles. Training des Willens steht obenan.

So lehnen wir beide denn jetzt an der Haustür …

Schauen in die erleuchtete Diele hinein.

Der fatale Springbrunnen plätschert noch – aber schräg, und die Wasserfäden haben auf dem Fliesenboden einen See gebildet, von dem sich dünne blinkende Rinnsale abzweigen.

In einem dieser Bäche, der seinen Lauf nach jener Zimmertür genommen, in der außer dem Guckloch sich jetzt auch noch das Kugelloch eine Spanne rechts oben befindet, liegt auf dem Rücken der verkleidete Doktor Ernst Dennelitz.

Harst starrt ungläubig hin. Ich starre hin.

Dennelitz nun selbst ein Opfer des Teufelsgebräus der Bombe?! Wie ist das möglich? Er hat mich doch überrannt, entfloh …

Und nun liegt er regungslos …

Tot vielleicht … –

In Harsts Augen erwacht das Mißtrauen. Seine Pistole, die ihm entfallen, als er mich nach der Haustür zerrte, ruht als schwarzer Fleck neben Ernst Dennelitz …

Verdächtig nahe!!

Ich sage warnend: „Im Blumenbeet hat er uns nicht gut vollends abtun können … Vielleicht …“

Und ich nehme meine Clement, ziele, schreite zielend weiter. Hinter mir Harst:

„Unnötig, mein Alter!“

Er kniet schon neben Dennelitz …

Der blutige Strich an der Schläfe, die verschobene Perücke, die ganze Verkleidung – alles musterte ich nun ohne jedes Jagdfieber, noch zu unnatürlicher Ruhe abgestumpft durch die Nachwehen der halben Betäubung.

Harst sagt, indem er den Regungslosen aufhebt und zu dem kleinen Sofa neben dem Springbrunnen trägt: „Behalte die Türen im Auge … Sicher ist sicher …“

Dann ruht Dennelitz auf dem weißlackierten Sofa mit der bunten Dielenmöbelpolsterung.

Harst – eindringlich:

„Ich bitte Sie, Fräulein Dennelitz, die Komödie aufzugeben. Sie sind gar nicht bewußtlos. Ihr Puls jagt kräftig. Sie sind erregt.“

Ich glaubte mich verhört zu haben …

Aber – Dennelitz schlägt die Augen hinter der schmutzigen, blutbefleckten Nickelbrille auf …

Und Harald entfernt Bart, Perücke, Brille …

Ich erkannte den jungen Postboten, der den Rohrpostbrief brachte und der die Nebelbombe fallen ließ …

Irma Dennelitz!

Sie richtet sich auf … In das verschminkte Gesicht tritt ein bösartiger Ausdruck. Die Augen flackern …

„Sie … Teufel!!“ ruft sie schrill.

Harst lächelt sanft … „Muß das sein, Fräulein Dennelitz?“

Die Augen senken sich. Die Hände tasten nervös umher.

„Muß das sein – wirklich?!“ wiederholt er, indem er der Verwirrten, Verlegenen die Hand leicht auf die Schulter legt. „Weshalb wollen Sie uns beide nicht lieber zu Freunden haben? Zu Verbündeten …! Ich bin dazu gern bereit. Ich durchschaue die krassen Widersprüche … Sie tun mir leid …“

Redensarten nur?! – Ich begreife den Zweck nicht. Dieses Mädchen hätte uns um ein Haar ins Jenseits befördert – und Verbündete?!

Ihr Kopf schnellt hoch. Haß glüht in den Augen …

„… Sie … Sie schlauer Teufel!! Holen Sie doch die Polizei … Ich werde nichts leugnen …“

„Was werden Sie nicht leugnen?!“ Er lächelt sie an … „Liebes Fräulein, so kommen wir doch nicht weiter …! Sie spielen ein mir bis zu einem bestimmten Grade noch undurchsichtiges Spiel … Deshalb warnten Sie uns und leisteten Ihrem Bruder, der die Triebfeder dieses Kampfes um ihres Onkels Millionen ist, trotzdem Hilfe? Weshalb … haben Sie, während wir im Garten lagen, diese Maske angelegt? Der Streifschuß an der Schläfe, Fräulein Dennelitz, ist ja nur eine Schramme, niemals von einer Kugel! Ihr Bruder verlor dort ein Stück Haut … – Ich habe wirklich gute Augen …“

Jähe Röte schießt ihr bis zum Hirn. Ihre Mienen werden hilflos … In den Augenwinkeln perlen Tränen.

Sie möchte diese Rolle durchführen. Aber Weiberschwachheit hindert …

Dann … schlägt sie die Hände vor das Gesicht, weint … weint …

Harst setzt sich neben sie … Zieht ihr die Hände nach einer Weile sanft in den Schoß …

„Jetzt ganz vernünftig sein, Fräulein Dennelitz … Noch ist nichts verloren … Wie wär’s mit einem Bündnis? Wollen Sie?“

Er schaut sie an, der große Seelenbezwinger …

Sie tupft die Augen trocken …

„Mein Gott – vielleicht wäre es das Klügste …!“ seufzt sie schwach.

„Natürlich wäre am klügsten: offen sein, ganz offen! Keine Ausflüchte, keine Beschönigungen … Sprechen Sie. Ihr Bruder ist ja nun längst entflohen … – wird’s Ihnen so schwer? Soll ich helfen … Also: Ihre Mutter und die Frau Generaldirektor Dennelitz sind Schwestern. Zwei Brüder heirateten zwei Schwestern. Beide Ehen waren unglücklich. Ihr Vater läßt sich scheiden. Frau Generaldirektor Dennelitz, die es mit den Ihrigen hält und ihr eigenes Kind Ehma – Emma vielleicht haßt, ist mit im Bunde gegen die … Millionen. Ein großzügiger Plan wird entworfen, an dem auch Sie sich zunächst beteiligten, bis – die Reue kommt. Ihre Mutter, um kurz die Geschehnisse abzurollen, hat in Indien Ehma verschwinden lassen. Sie muß eine sehr energische und kluge Frau sein. Die Adresse des Briefes aus … Allahabad mit dem leeren Zettel haben Sie geschrieben. Wissen Sie, was der Zettel enthielt?“

„Natürlich …“ Sie wird abermals sehr rot, und die Tränen perlen reichlich … „Er enthielt … eine Erpressung …“

„So?! Hat man Ihnen das vorgelogen? – Der Zettel enthielt ganz frische Lepra-Kulturen, und Ihr Onkel Georg hat sich dadurch infiziert und ist ein verlorener Mann …“

Sie schnellt empor … Augen aufgerissen, blaß … zitternd …

„Das … ist nicht wahr!“

Und sinkt zurück, stammelt: „Oh – wenn Sie es sagen … Sie!“

Und in jäher Sehnsucht sprudelt’s ihr nun über die Lippen – Sehnsucht, all das Häßliche abzuschütteln …:

„Man hat mich belogen … Ich ahnte es längst … Man hat den Haß gegen Vater und Onkel künstlich in mir hochgezüchtet … Man hat mich nur halb eingeweiht, und ich war schwach, so schwach … Ich liebe das rauschende Leben … Man hat mich in Glanz und Luxus erzogen, mir die Gier nach Zerstreuung eingeimpft … Aber – – ich erwachte … Ich sah den Abgrund, wollte nicht stürzen …“

Sie weint … Sie lügt nicht … Sie hat uns gewarnt.

„Und weshalb ließen Sie Ihren Bruder fliehen und lieferten sich uns aus?“ fragt Harald mild …

„Weil Ernst mir geschworen hat, alles wieder … auszugleichen, den Plan aufzugeben … nach Indien zu reisen und …“

„Ein Meineid!“ sagte Harst kalt. „Wußten Sie, daß diese Bombe hier keine Nebelbombe war? – Nein, nein, Sie ahnten es nicht … Ich glaube Ihnen … Sie sollen nicht mehr weinen … Beruhigen Sie sich …“

Eine Stunde später wissen wir alles, was Irma Dennelitz weiß. Viel ist es nicht …

Sie verspricht uns, abzuwarten. Harst verspricht, die Angelegenheit ohne Aufsehen zu ordnen, soweit dies möglich.

Und als wir um halb acht heimgekehrt sind …? Wer war da?

Die Tragödie hatte weiter um sich gegriffen … Satan Geld hatte Opfer gefordert …

 

 

Das Hausboot.

 

1. Kapitel.

Der andere Zettel.

Daheim …

„Endlich!“ ruft Haralds Mutter uns entgegen. „Generaldirektor Dennelitz war vor einer Stunde hier und hat einen Brief zurückgelassen … Er war furchtbar erregt, konnte kaum sprechen …“

Der Brief …

Ihm entströmt ein scharfer Geruch nach Lysol … feucht der Umschlag … Adresse mit Tintenstift – verlaufen, der Brieftext ebenso.

Herr Harst,

ich habe Schluß gemacht. Ich war beim Arzt: Lepra! – Ich bin nicht der Mann, der auf sein Siechtum wartet. Ich werde aufräumen und gehen … Ich habe aufgeräumt. Ich habe mir überlegt, was geschehen … Ich bin nicht dumm … Ich habe mir meine Frau vorgenommen … Feige war die Kanaille … Winselte, heulte … Ihnen wollte ich’s nicht sagen, daß sie mit im Komplott sein muß … Schade, daß ich dann zu früh abdrückte. So konnte sie nichts mehr beichten … Aber – wären Sie Herr über Ihre Nerven geblieben, wenn Sie erfahren, daß eine Mutter ihr eigenes Kind verschleppen läßt und den Gatten vergiftet – so vergiftet!! Wären Sie da Herr Ihres Zeigefingers geblieben? Ich – – nicht!! – Wenn Sie dieses lesen, bin auch ich hinüber. Suchen Sie mein Kind, meine Ehma, auch meinen armen Bruder, der doch ein anständiger Kerl, wenn auch ein Phantast ist – – oder war! Verfügen Sie über meine Millionen! Und schonen Sie die andere Sippe nicht, die Bande Dennelitz aus der Trabener Straße! Hüten Sie sich vor denen!! Mutter und Sohn sind Hyänen!! Der Sohn ein geborener Verbrecher. – Leben Sie wohl … Ich hätte Ihnen gern noch die Hand gedrückt.

Ihr … gewesener Georg Dennelitz.

Harst legte den Brief, nachdem er ihn vorgelesen, beiseite.

„Entsetzlich!“ stöhnt seine Mutter aus der Tiefe des Klubsessels heraus.

„Vielleicht für ihn die beste Lösung,“ meint Harald ernst. „Ein Mörder, ein Selbstmörder, – – ein Mann!! Wer höbe den ersten Stein gegen ihn auf?!“

Er telephoniert … Polizei … Jetzt gibt’s nichts mehr zu verschweigen …

Nach Doktor Ernst Dennelitz muß gefahndet werden …

Die Kriminalpolizei arbeitet. Der Riesenapparat streckt seine unsichtbaren Krallen aus … Der Riesenapparat ist ein Muster an Exaktheit.

Aber: sowohl Ernst wie Irma Dennelitz: Spurlos! Beide.

Und im Palast Dennelitz, Hohenzollerndamm, einzige Villa mit Garten dort – mehr Park! zwei Tote, Verwirrung, Aufruhr … Mordkommission, Reporter, Ärzte …

Ein Berliner Sensationsblättchen bringt um Mitternacht Extrablätter heraus … Morgens bringen alle Zeitungen Berichte über die gräßliche Tragödie. Berlin hat für einen Tag sein Ereignis.

Wir lesen die Zeitungen beim Frühstück. Harald hat die Reporter ehrlich bedient. Nach der kleinen Villa in der Trabener Straße wird sich eine Völkerwanderung wälzen. Man hat es ja so bequem … Nachher geht man gleich in den Luna-Park und amüsiert sich …

Großstadt – – Menschen!! –

Um zehn kommt Kriminalrat Garnett zu uns.

„Herr Harst, ich habe Ihren Rat befolgt … Sämtliche Postämter wurden angefragt. W. 57 hat das Telegramm befördert – ganz wie Sie vermuteten: Geheimtext! – Hier ist die Abschrift – völlig unverständlich … Nur die Adresse …, aber lesen Sie selbst …“

Edward Stomyola,

Indien, Allahabad,

Stomyola-House.

Hund sofort hin besten Haus Fährte kommt Amme auflösen Hund nach Amme am anderswohin auf ihn ich auch Gurken. – Stern.

Harst prüft diese Depesche … Es dauert lange … Garnett und ich warteten geduldig.

„Amme ist natürlich Ehma – Emma,“ sagt Harald dann, nimmt Papier und Bleistift und schreibt …

„Ich habe die Lösung nur flüchtig im Auto versucht,“ wirft der Kriminalrat ein …

„Ja – sonst hätten Sie sie auch sicherlich gefunden … „Hund“ das bin ich … Immerhin – einige Schwierigkeiten … Weil jede Interpunktion fehlt und alle Worte … – aha, wir haben’s … Bitte …

Hund auf Fährte. Emma sofort anderswohin. Hund kommt hin. Ich auch. Am besten Emma nach Gurken-Haus. Ihn auflösen. – Ernst.

Das hat Sinn, Herr Rat …“

„Allerdings …“ Garnett schaut Harald über die Schulter. „Also so haben Sie’s gemacht!“

„Ja, mit Hilfe von „Hund“, „Fährte“ und „auf“. Das schien auf mich gemünzt zu sein …: Hund auf Fährte! – Ernst Dennelitz hat den Text erst entworfen und dann jedes fünfte Wort aus diesem Text hintereinander geschrieben. So kam das sinnlose Telegramm zustande. Er hätte die Depesche fraglos noch vorsichtiger abgefaßt, wenn er mehr Zeit gehabt hätte. Ich behaupte, bei der eiligen Flucht vergaß er etwas aus der Villa Trabener Straße mitzunehmen: den mit seiner Mutter verabredeten Chiffreschlüssel. Ich denke, wir suchen danach, Herr Rat … Der Chiffreschlüssel kann Schraut und mir sehr nützlich sein.“

Das Dienstauto Garnetts brachte uns nach der Villa hinaus. Während der Fahrt drehte sich die Unterhaltung natürlich um den Inhalt der Depesche. Wenn drei Fachleute zusammen sind, so ergänzt einer den anderen. Unklar blieben in dem Telegramm lediglich die Sätze oder Bezeichnungen „Gurkenhaus“ und „auflösen“. Harst meinte, daß dieses Gurkenhaus ein versteckt liegendes Gebäude sein müsse, das irgendwie mit Gurken etwas zu tun habe. Garnett dagegen behauptete, „Gurken“ sei lediglich irgendein Deckname. Ich vertrat die Ansicht, Dennelitz habe die Depesche undeutlich geschrieben und es solle Gartenhaus heißen. Hierüber einigten wir uns ebensowenig wie über „ihn auflösen“. Harst erklärte mit aller Bestimmtheit, dieses „ihn“ bezöge sich auf den verschwundenen Doktor Fritz Dennelitz. Er führte aus, daß, wie jetzt festgestellt sei, Frau Dennelitz aus der Trabener Straße bereits im Januar angeblich aus Gesundheitsrücksichten nach Italien gereist sei – in Wahrheit natürlich nach Indien, und daß sie dort wahrscheinlich ihren geschiedenen Gatten aufgefunden und noch vor dem Eintreffen Emmas, ihrer Nichte, in ihre Gewalt gebracht habe. Jetzt solle sie ihn „auflösen“ – töten und für immer verschwinden lassen.

Garnett kam dies zu phantastisch vor …

„Lieber Herr Harst,“ meinte er, „Sie als Liebhaberjäger und wir als Berufsjäger unterscheiden uns voneinander in einem Punkte ganz wesentlich. Wir sind die nüchternen Logiker, Sie sind der logische Dichter. Überlegen Sie mal: Wie sollte Frau Dennelitz ihren verschwundenen geschiedenen Mann so schnell, so plötzlich aufstöbern können, wo doch die Behörden sich darum seit Jahren erfolglos bemüht haben!“

Das Auto hielt. Wir stiegen aus, und das Thema „auflösen“ und „ihn“ blieb unerledigt.

In der Villa, die noch von drei Kriminalbeamten bewacht wurde, begaben wir uns sofort in Doktor Ernst Dennelitz’ Arbeitszimmer im ersten Stock.

Hier nun zeigte sich wieder einmal, daß der logische Dichter Harst doch sehr oft ins Schwarze traf.

„Das wird ein mühseliges Suchen werden!“ meinte Garnett und schaute sich in dem elegant möblierten Raume prüfend um.

„Vielleicht auch nicht, Herr Rat …“ – und Harst schritt auf ein offenes Bücherregal zu und zog einen Band heraus.

„Hier …

Kultusstätten am Ganges!“

sagte er und schlug das illustrierte dicke Buch auf. „Jemand, der wie Ernst Dennelitz bei einer so wichtigen Depesche die Umstellung von Worten bevorzugt, wird auch wohl mit seiner Mutter eine „Wortgeheimschrift“ vereinbart haben. – So – – bitte, Herr Rat … Hier, was sehen Sie!“

„Ein Zettel …“

„Ja, ein Zettel, aber kein leerer, sondern beschrieben … alles Hauptwörter … Ein Entwurf einer anderen Depesche, behaupte ich. Sehr leichtsinnig von dem Herrn! – Und hier, Seite zwei – – bitte, hier sind sechs Wörter unterstrichen … immer in derselben Zeile zwei:

ich – Kultur
habe – Reise
Tempel – Vater

Und Seite drei: acht Wörter in derselben Weise …“

Er blätterte weiter. Es zeigte sich, daß auf jeder Seite in verschiedenen Zeilen immer je zwei Wörter so gekennzeichnet waren.

„Es stimmt also,“ nickte Harst. „Frau Dennelitz hat genau dasselbe Buch mit genau denselben unterstrichenen Wörtern mit nach Indien genommen. Und jetzt will ich diesen Zettel mit Hilfe des Buches entziffern.“

Die Arbeit dauerte eine halbe Stunde.

Der Erfolg – verblüffend:

Er will sich an den Detektiv Hart wenden. (Harst kam in dem Werk eben nicht vor.) Ich werde dafür sorgen, daß er durch Lepra ausscheidet und Hart durch Gift. Hart könnte uns alles verderben. Was macht er im Gurkenhaus? – Stern.

Garnett verzog das intelligente, abgeklärte Gesicht.

„Jetzt gebe ich mich geschlagen, Herr Hart – Harst,“ sagte er mit der neidlosen Anerkennung all jener großangelegten Naturen, die sich selbst weder überschätzen noch unterschätzen. „Der erste „Er“ ist der tote Generaldirektor, der zweite „er“ dessen Bruder. Dieser Zettel, der nicht leer ist, wird Herrn Doktor „Stern“ für immer ins Zuchthaus bringen.“

Er verwahrte das Papier, das so klar Ernst Dennelitz Handschrift zeigte, in seiner Brieftasche und hörte still zu, was Harst nunmehr über unsere Fahrt nach Indien vorschlug. Er brauchte dazu die Mitwirkung der Kriminalpolizei, denn nur sie konnte uns so schnell ein großes sicheres Flugzeug verschaffen und anderseits auch verhüten, daß unsere Absicht, Ernst und Irma Dennelitz (denn beide befanden sich nach Haralds Überzeugung getrennt unterwegs nach Indien) zuvorzukommen, irgendwie bekannt werden könnte. –

Am selben Abend um 23 Uhr stieg vom Flugplatz Tempelhof ein großer Rumplerapparat[6] nach Konstantinopel auf. Die beiden Monteure des Führers waren allen Angestellten des Flugplatzes fremd. Es sollten zwei Engländer sein, die sich für Weitstreckenflüge ausbilden lassen wollten.

 

2. Kapitel.

Edward Stomyola.

Allahabad … Stadt Gottes: Allah Abad …

Von mir in diesen Bänden schon wiederholt genannt …

Auch das enge, übelduftende Eingeborenenviertel, in dem an 200 000 fleißige braune, gelbe, olivenfarbene oder bronzehäutige Anbeter Allahs, Brahmas und vieler anderen Gottheiten in Lehmhütten, Holzhäusern, Steinbauten oder Bretterbuden dicht beieinander leben, schuften, lieben, sterben …

Auch das Europäerviertel und die Gegenden, wo die reichen Inder sich neuerdings in allem europäischem Luxus und doch auch wieder mit jenem strengem Festhalten an altüberlieferten Sitten und Gebräuchen sich niedergelassen haben, – auch diese Märchengärten, Bungalows, Villen und Paläste beschrieb ich schon.

Immerhin: Als wir von Bombay aus, wo der Riesenvogel uns nach sechstägiger glücklicher Fahrt nachts in aller Stille abgesetzt hatte, nach ermüdender eintöniger Reise auf der Eisenbahn in Allahabad anlangten, waren wir doch über die Veränderungen erstaunt, die hier in vielem als langsam sich auswirkende Folge des Weltkrieges dem aufmerksamen Zuschauer sich darboten. Die große Pilgerstadt hatte ein anderes Aussehen angenommen. Als wir, die wir von Bombay ab die unauffällige Verkleidung persischer Kaufleute bescheideneren Schlages gewählt hatten, von der Karawanserei Gosgur, wo wir abgestiegen waren, zum ersten Male seit drei Jahren wieder durch das Eingeborenenviertel schlenderten, konnte es uns unmöglich entgehen, daß das Angesicht der Volksmassen eine Wandlung erfahren hatte, die für das britische Imperium kaum günstig zu deuten war. Der Inder, selbst der einfache Kuli, hat in seinen Zügen in der überwiegenden Mehrzahl entweder etwas Melancholisch-Demütiges oder etwas Hochmütiges, Ablehnendes, Verschlossenes. Die erstere Art war aus dem Straßenbilde so gut wie verschwunden. Die zweite aber hatte das Hochmütige in finsteren Haß verwandelt, während die Bescheidenen von einst, die Demütigen auf dem besten Wege waren, diesen Haß gleichfalls dem Ausdruck der stillen Fanatikeraugen anzugewöhnen.

„Die Seele der Inder spürt Rußland,“ erklärte mir Harald. „Der Bolschewismus sprießt auch hier … Er ist die primitive Hoffnung der farbigen Völker …“

Wir bogen aus der Basarstraße auf den Platz des Chandu-Tempels ein …

Hier, hatten wir in Erfahrung gebracht, lag das Verwaltungsgebäude der Dennelitz-Plantagen. Hier wollten wir den ersten Hebel ansetzen.

Es war sieben Uhr. Allahabad war erst vor einer Stunde erwacht. Die Nachmittagshitze hatte nachgelassen, und das Geschäftsleben pulste mit der ganzen lärmenden Kraft des Orients.

Das neue Backsteinhaus mit dem Riesenfirmenschild war hier inmitten der alten würdigen Baulichkeiten wie ein Schlag in das Gesicht uralter Überlieferungen. Protzig, frech, unschön wirkte es … Die vergitterten großen Fenster, die ungeheuren elektrischen Bogenlampen vor dem Portal: Reklame für das Gift des Opiums!

Wir betraten das Haus. Ein Portier in Hoteltracht, ein riesiger Inder, mustert uns unverhohlen geringschätzig. Als Harst auf englisch fragt, ob der Direktor Jörgensen zu sprechen sei, deutet der indische Lümmel auf eine der Bänke in der Vorhalle – schweigend …

Persische Händler sind in Indien wenig beliebt. Sie verderben das Geschäft. Sie sind, mehr noch als die Chinesen, die Juden des 200-Millionenreiches.

Harst reicht dem vergoldeten Flegel einen Zettel …

„Bring’ ihn Sahib Jörgensen – sofort!“

Der Herr Pförtner knickt höflich zur ersten Verbeugung zusammen …

Es ist immer, überall dasselbe: Diese braunen Kerle, scharf angefaßt, verlieren im Nu die großspurige Frechheit.

Auf dem Zettel steht nichts als:

In Sachen Emma. – Harst.

Daß der Inder deutsche Schrift lesen kann, ist ausgeschlossen. Der Kerl ist im Nu zurück, führt uns in das Allerheiligste …

Die gepolsterte Tür schließt sich. Wir stehen in einem ganz modern eingerichteten Privatkontor.

Axel Jörgensen, der durch Ehma Dennelitz eingesetzte neue Plantagendirektor, drückt uns die Hand. Sein gelbliches Gesicht beweist, daß Indiens Luft ihm nicht bekommt. Schwede ist er von Geburt, seit Jahren schon in den Tropen, erst auf Samoa. Jetzt hier Herr über fünftausend Arbeiter und ein Gebiet so groß wie eine halbe deutsche Provinz.

Weltmann – natürlich … Sehr beherrscht. Und doch vermag er sein Erstaunen über unser Auftauchen kaum zu verhehlen.

Er läßt Erfrischungen bringen. Erzählt, daß auch hier in Allahabad die Vorgänge in Berlin längst bekannt sind, auch unsere Rolle bei dem geplanten Verbrechen.

„… Sie kommen Fräulein Dennelitz wegen, meine Herren …,“ sagt er dann weit angeregter. Das schmale Gesicht färbt sich. „Ich wünschte, Sie hätten Erfolg. Aber – leider fürchte ich, daß auch Sie hier nichts ausrichten können … Der Fall ist hoffnungslos. Ich habe Ihren hiesigen Kollegen Edward Stomyola, ein Genie, zwei Monate lang mit Geld gespickt. Nichts ist unversucht geblieben. Die Polizei war tätig. Man hat nichts versäumt – nichts. Es bleibt dasselbe Rätsel: Fräulein Dennelitz hat sich abends aus dem Jagdlager entfernt und ist seitdem verschwunden. Drei englische verheiratete Offiziere mit ihren Frauen und vierzig Leute, alle zuverlässig, alle, bildeten zusammen mit Fräulein Dennelitz die glänzend ausgerüstete Expedition. Die Offiziere sind bekannte Großwildjäger, und …“

Harst unterbrach Jörgensen …

„Wie sagten Sie: Edward Stomyola?“

„Ja … Der einzige Privatdetektiv hier in Allahabad … Ein früherer Amerikaner …“

„Seit wann ist er hier tätig?“

„Seit Februar dieses Jahres.“

„Und wohnt Stomyola-House?“

„Allerdings. Kennen Sie ihn, Herr Harst?“

„Noch nicht. – Machte Stomyola den Jagdausflug mit?“

„Nein … Aber er traf kurz nach dem Verschwinden Fräulein Ehmas mit der Expedition zusammen … Auch er ist passionierter Jäger.“

Harst raucht ein paar Züge …

Sein Blick begegnet dem meinen. Wir denken an dasselbe:

Daß Ernst Dennelitz’ Depesche an Edward Stomyola gerichtet war!

Harald schaut dann den Plantagendirektor sinnend an.

„Herr Jörgensen, Sie sind Junggeselle …“

„Gewiß …“

„Verzeihen Sie: Haben Sie an Fräulein Ehmas Auffindung ein persönliches Interesse?“

Axel Jörgensen errötet flüchtig.

„Ja, Herr Harst … Ich will Ihnen nichts verschweigen … Ich lernte Fräulein Dennelitz während der Überfahrt von Suez nach Bombay kennen. Ich wollte in Suez eine Stellung annehmen. Wir … fanden Gefallen aneinander, und ich glaube, wir wären längst verlobt, wenn … wenn …“ – und er schloß den Satz mit einer trüben Handbewegung.

Harst reicht ihm die Rechte … „Offenheit gegen Offenheit, Herr Jörgensen …! Ich pflege sonst meine Trümpfe nicht sofort zu zeigen. Hier wollen wir drei einmal anders vorgehen … – Eine Frage: Hat sich dieser Stomyola Ihnen angeboten?“

„Für die Nachforschungen? Ja!“

„Und er hat hier als Detektiv Erfolge zu verzeichnen gehabt?“

„Sehr – erstaunliche Erfolge! Er spielt hier in der Europäerkolonie eine große Rolle. Gestohlen wird hier übergenug. Stomyola hat die Diebe zumeist erwischt oder doch die Beute wieder herbeigeschafft.“

Harst lächelt …

„Die ganze Beute?“

„Hm – allerdings, wohl doch nur immer einen Teil …“

„Sehr schlau …“

„Was heißt das, Herr Harst?“

„Oh – das heißt: Stomyola steht mit den Dennelitz’-Herrschaften im Bunde. Vor seiner Flucht aus Berlin hat er noch ein mit „Stern“ unterzeichnetes Telegramm an Stomyola geschickt, dessen dechiffrierter Text lautet:

Hund auf Fährte. Emma sofort anderswohin. Hund kommt hin. Ich auch. Am besten Emma sofort nach Gurken-Haus. Ihn auflösen. – Ernst.

Der Hund bin ich. Das Gurken-Haus kenne ich nicht.“

Jörgensen ist aufgesprungen …

„Setzen Sie sich nur wieder … Es stimmt schon. Stomyola ist ein Lump, der wahrscheinlich auch Fräulein Ehma entführt hat. Sein Erscheinen bei der Jagdexpedition ist sehr verfänglich. – Wo liegt sein Haus? Hat er zahlreiche Diener?“

Jörgensen war noch zu sehr in den Gedanken verstrickt, daß Edward Stomyola ein untadeliger Ehrenmann sein müsse. Er gestattete sich, sehr zweifelnd die Achseln zu zucken und zu erwidern:

„Herr Harst, ich bin nur Kaufmann, aber … Menschenkenner. Sie müssen diese Ansicht über Stomyola entschieden korrigieren …“ Er verbesserte sich … „Ich meine Ihr Urteil – über einen Herrn, den Sie nicht einmal persönlich kennen …“ Er sprach jetzt wieder sehr beherrscht und kühl abwägend. „Stomyola genießt hier …“

Harst winkte ab …

„Herr Jörgensen, hier liegen Tatsachen vor – unumstößliche Tatsachen. Die Depesche des Giftmischers Ernst Dennelitz war an diesen Stomyola gerichtet. – Lassen wir das aber jetzt … Wo wohnt er?“

„Sein Bungalow erhebt sich dicht am Kanal … neben dem neuen Gebäude der französischen Mission … Sie kennen Allahabad, und Sie …“

„Danke … – Dann schlage ich Ihnen vor, uns diese Nacht zu begleiten. Wir können uns um elf Uhr an der ersten Schleuse treffen. Besitzen Sie ein Boot?“

„Motorboot …“

„Gut. Also um elf. Wir möchten uns hier nicht länger aufhalten. Stomyola spioniert fraglos – auch hier herum. Wir müssen den Charakter von Händlern wahren. Deshalb bitte ich Sie auch, mit uns irgendein Scheingeschäft abzuschließen …“

„Wie Sie wünschen …“ – Man merkte, daß Jörgensen dies alles für sehr überflüssig hielt. –

Um halb neun waren wir wieder in unserer Karawanserei, wo wir ein Loch von Stube innehatten. Allahabad stand gerade im Zeichen der jährlichen Reismesse, und die billigeren Unterkunftshäuser waren sämtlich überfüllt. Wir hatten unterwegs noch Früchte, Brot, ein Brathuhn und zwei Flaschen Limonade eingekauft. Unser Abendessen verlief schweigsam, denn die Wände hier bestanden nur aus Brettern.

Aus Brettern …

Schweigsam das Abendessen … Beim Lichte einer stinkenden Petroleumlampe … Für Zerstreuung sorgten die linken Nachbarn … Das waren lebhafte Herrschaften aus dem Süden, und beim Würfelspiel lärmten sie schlimmer als eine Horde Betrunkener.

Harst nahm eine Zigarette. Ich warf die abgenagten Hühnerknochen in den Hof hinab. Aber Harsts Feuerzeug flammte nicht auf. Sein Blick ruhte unverwandt auf dem kleinen Schranke, der so ziemlich das einzige Möbelstück in dieser jämmerlichen Bude darstellte …

Die Tür war nur angelehnt …

Ich folgte der Richtung von Haralds Blick …

Im Lampenlicht glitzerten im Dunkel des Schrankes zwei kleine Diamanten, bewegten sich – hin und her – her und hin …

So bewegt sich nur der Kopf einer zusammengerollten Kobra …

 

3. Kapitel.

Vorpostengefechte …

Harst schob die Schranktür mit dem Fuße zu. Ein Schloß besaß dieser Kasten, Schrank genannt, nicht, nur einen Riegel aus Holz.

Dann blitzte das Feuerzeug auf …

Dann saß ich neben Harald, und er flüsterte mir zu:

„Wir werden beobachtet … Die Spieler nebenan … Komödie!!“

Meine Nerven waren nach dieser Luftfahrt und nach der Eisenbahnreise bei vierunddreißig Grad (Reaumur!![7]) nicht eben in bester Verfassung. Die Kobra im Schranke hatte mich allzusehr an die tausend Möglichkeiten erinnert, die sich hier in Indien einem kühnen Mörder bieten, unliebsame Leute abzutun.

Wir wurden beobachtet …!!

Natürlich Stomyola!

Wer war dieser Schuft?!

Ein Amerikaner?! – Woher kannte er Ernst Dennelitz?!

Fragen zuckten auf … versanken unbeantwortet.

Harst rauchte, mit untergeschlagenen Beinen auf der dreckigen Matte sitzend, mit beneidenswertem Gleichmut seine Zigarette und starrte ins Leere.

Wer war Edward Stomyola?! – Und weshalb hatte Harst angezweifelt, daß Stomyola stets die ganze Diebesbeute wieder herbeigeschafft habe?!

War Stomyola ein Dieb, der unter der Maske des Diebesfängers hier sich betätigte?! –

Ich hatte mir eine Zigarre angesteckt. Sie schmeckte nicht, und dann auch: es gab natürlich Flöhe hier!! Zahllos – wie in allen Karawansereien …

Harst saß still da …

Seine Augen wanderten …

Hierher, dorthin …

Ein Loch in der Bretterwand?!

Wo?!

Die Wand war mit buntem Leinen bespannt, der einzige Luxus hier …

Das Leinen hatte große Phantasieblumen …

Ich fand kein Loch …

Harst rauchte.

Im Schranke war eine Kobra. Vielleicht auch zwei, drei …

Es war ungemütlich …

Die Flöhe stachen jetzt schon.

Die Schlangen konnten stechen.

Die Zigarre schmeckte immer weniger.

Stomyola war hinter uns her …

Unser Leben war kein Brathuhn wert, und ich – war hundemüde.

Es stank hier in der Karawanserei nach Kamelmist, Opium und Bratöl.

Es war alles in allem ein trostloser Anfang für Allahabad.

Die Lampe stank auch.

Und jetzt krochen hinter der Blumenleinwand ganze Regimenter Wanzen hervor.

Harst rauchte.

Ich rauchte nicht. Ich mußte mich kratzen.

Die Zeit schlich …

Würde Harald immer so stumm bleiben?! –

Jeder, der nicht gerade sehr robuste Nerven hat, kennt das merkwürdige Gefühl bei einer langsam sich steigernden Erregung – das Gefühl, als ob ihm unter der Nase aus der Oberlippe feine Schweißperlchen hervortreten.

Unter meiner Nase saß jetzt ein sehr echt wirkender persischer buschiger Hängeschnurrbart. Ich fürchtete, die Schweißperlchen, die ich spürte, könnten den Klebstoff erweichen und der Schnurrbart abfallen, obwohl der von uns zu solchen Zwecken benutzte Klebstoff selbst im Wasser kaum löslich ist. Doch in solcher Lage fürchtet man das Unmöglichste …

Ich besinne mich genau, daß diese Gedanken mich beschäftigten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde, für einen Moment ein halbwüchsiger, schmieriger Inder sichtbar wurde und sofort auch wieder, gleichsam durch unseren Anblick überrascht, zurücksprang, die elende Brettertür zuwarf und bei dieser hastigen Flucht seine eine zerfetzte Sandale halb in unseren Salon schleuderte.

Das spielte sich in Sekunden ab.

Noch schneller aber war Harald. Im Nu hatte er sich durch eins der kleinen Fenster hindurchgezwängt, ließ sich hinabfallen, verschwand.

Wir wohnten im Quergebäude der Karawanserei, die drei Höfe, aber nur einen Eingang von der Basarstraße her hatte. Alle Fenster gingen nach den Höfen hinaus. Die Treppen ebenso. Am Eingang hockten beständig Tag und Nacht zwei Diener des Besitzers, die den Verkehr überwachten, denn die meisten Händler und Kaufleute pflegen ja wertvolle Waren mit sich zu führen. Diese Diener könnte man als Hausdetektive bezeichnen. Es sind stets erprobte Leute mit großer Menschenkenntnis und durch langjährige Übung geschultem Personengedächtnis.

Unser Salon lag zwei Treppen hoch. Aber die niederen Stockwerke machten einen Sprung, wie Harald ihn getan hatte, völlig ungefährlich. Bei Harsts Gewandtheit und Schnelligkeit mußte er den Eingang noch vor dem indischen Bengel erreichen. Weshalb er es auf diesen so energisch abgesehen hatte, war mir freilich etwas unklar.

Als sichtbares Zeichen des entflohenen Burschen, wohl eines Gelegenheitsdiebes, lag vor mir die schäbige graubraune Ledersandale.

Ich schaute genauer hin …

Meine Augen wurden schärfer …

Ich streckte die Hand aus und zog aus der Sandale einen zerknitterten schmierigen Zettel hervor.

Entfaltete ihn … stutzte …

Und nickte befriedigt …

Schob ihn rasch wieder in die Sandale hinein und warf einen mißtrauischen Blick auf die bespannten Wände …

Die Lampe hatte ich vorher niedriger geschraubt. Mein Oberkörper sperrte das Licht nach der Sandale hin ab. Sie lag im Schatten. Ich durfte hoffen, daß ein Spion von nebenan kaum gesehen haben könnte, was ich in der Sandale gefunden.

Von der Aufschrift hatte ich nur den unten stehenden Namen gelesen: Jörgensen!

Axel Jörgensen war also ein gelehriger Schüler gewesen. Harald hatte ihm allerlei Verhaltungsmaßregeln gegeben, auch hinsichtlich Nachrichten eiliger und diskreter Natur.

Harald erschien wieder. Setzte sich und flüsterte: „Der Bengel war schon entwischt. Die Türhüter kennen ihn. Er ist ein braver Bursche, der von Botengängen und kleinen Gelegenheitsarbeiten lebt. Ich gebe zu, daß ich mich in diesem Falle verhauen habe, mein Alter. Ich hielt ihn für – lache mich nicht aus – für Irma Dennelitz …“

Und dann – wieder ein Beweis, wie scharf er denkt: „Hast du die Sandale schon untersucht? Es dürfte eine Meldung von Jörgensen sein … Ein Zettel wird …“

„ist darin, Harald, – von Jörgensen …“

„Also wirklich! – Du hast ihn hoffentlich nicht gelesen?“

„Nur die Unterschrift …“

„Auch das war zuviel … Die würfelnden vier Chinesen nebenan sind fraglos Stomyolas Kreaturen … Wir[8] werden vorsichtiger denn je sein müssen. Ich habe soeben mit dem Karawansereibesitzer kurz gesprochen. Der Mann ist Parse, also vertrauenswürdig. Er behauptet, einer der Chinesen, die heute nachmittag angeblich aus Kalkutta eingetroffen sind, sei ein hiesiger Barbier.“

Nebenan …

Ja, da ging es noch immer äußerst lebhaft zu …

Aber das änderte sich jäh. Die quäkenden lärmenden Stimmen verstummten. Eine andere Stimme redete laut und energisch …

„Er verlangt Ausweispapiere, der Parse,“ flüsterte Harst.

Wir lauschten …

Zehn Minuten drauf sind die vier Nachbarn an die frische Luft gesetzt.

Der Parse und wir untersuchen die Wand … Finden in Schenkelhöhe drei Löcher … Die Leinenbespannung ist an den betreffenden Stellen gerade im Blumenmuster verbrannt: Löcher, durch eine Zigarre hervorgerufen! – Sehr schlau, ganz unauffällig.

Der Parse setzt sich zu uns. Er spricht das Englische fehlerfrei.

„Ich habe den vier Chinesen zwei von meinen Leuten nachgeschickt,“ sagt er schlicht. „In unserem Beruf lernt man allerhand Kniffe. Es wird jetzt in Allahabad ja so sehr viel gestohlen.“

Die Parsen (Feueranbeter) sind nicht lediglich geborene Perser. In Indien bilden sie das Element der anständigen Kaufleute und Gewerbetreibenden.

Harst weiht nun unseren Wirt vollkommen ein.

Mirza Chans feistes Gesicht mit den biederen Hängebacken wird sehr ernst, als Harald Stomyola erwähnt.

„Unmöglich!“ meint der Parse dann. „Stomyola kann mit …“

Also wieder dieselbe Geschichte wie bei Jörgensen.

Harst unterbricht ihn, hat den Zettel entfaltet … liest … sagt.

„Ich wäre auf diese Nachbarn nicht aufmerksam geworden, wenn die Kerle nicht so dumm gewesen wären, nebenan ihre Lampe so zu stellen, daß durch eins der Gucklöcher ein Lichtstrahl zu uns hereinfiel. Und nun – Stomyola!! Hören Sie, was Herr Jörgensen schreibt – deutsch, deutsche Schrift:

St. ist zehn Minuten nach Ihnen unter einem Vorwand bei mir erschienen und hat mich zu heute abend zu einer Partie Skat zu sich eingeladen. Ich habe angenommen. Ich hatte das bestimmte Empfinden, daß er spionieren wollte.

Jörgensen

Nun, Mirza Chan?!“

Der Parse murmelt unsicher: „Ein so angesehener Mann!! Ich selbst bin ihm zu Dank verpflichtet. Einem Perlenhändler aus Colombo wurden hier bei mir zwei Beutel Perlen vor kurzem gestohlen. Er schaffte sie wieder herbei. Der Dieb war ein fremder Siamese, bei dem freilich nur ein Teil der Perlen …“

Harst lachte. „Natürlich – nur ein Teil, natürlich! Und der arme Teufel von Siamese ist sicherlich an dem Diebstahl so unschuldig wie ich! Hat der Mann denn gestanden?“

„Nein – er leugnete hartnäckig und behauptete, jemand müsse ihm die Perlen in sein Gepäck eingeschmuggelt haben.“

„Wie auch der Fall gewesen sein wird, Mirza Chan! Der Dieb ist Stomyola.“

Es klopfte, die Tür ging auf …

Es war einer der Leute des Parsen, der uns melden kam, daß die vier chinesischen Händler spurlos entwischt seien. Sie hätten ein Durchgangshaus am Bahnhof benutzt und seien nicht wieder aufzufinden gewesen.

Jetzt war Mirza Chan gründlich kuriert. Er war nunmehr zu allem bereit, wollte uns in jeder Weise gegen Stomyola helfen.

Um zehn Uhr abends verließen drei Kaufleute aus Nepal mit hochbepackten Dromedaren die Karawanserei und wandten sich dem Dschamna-Kanal zu.

An einsamer Stelle schlüpften aus den Tragkörben der Kamele wir beide mit unseren kleinen Koffern. Die Nepalesen zogen weiter vorwärts.

Dicht am Kanal erwartete uns bereits einer der Vertrauten des Parsen und führte uns auf dessen eleganten Sampan (ein breites Boot mit Segeln), der abseits vertäut lag.

Die beiden Perser – wir – verwandelten sich in der wohnlichen Kajüte in zwei ältere indische Kulis.

Da hatten wir jede Spur hinter uns verwischt. Stomyolas Spione hatten das Nachsehen gehabt.

 

4. Kapitel.

Irmas Visitenkarte.

Unsere Verabredung mit Jörgensen war nun durch unerwartete Ereignisse zwar so hinfällig geworden wie jene, die wir in Berlin mit Albrecht Marx, dem Winkelkonsulenten, getroffen gehabt hatten.

Marx war ausgeschieden aus dem großen Spiel um die Millionen wie das Ehepaar Generaldirektor Dennelitz und Frau. Marx lebte. Die beiden Dennelitz waren tot. Nur ihr Kind lebte, Emma – Ehma, – – als Gefangene – – wo?!

Gurken – Haus, Gurkenhaus!

Und daran erinnerte ich Harald, als um Mitternacht in aller Heimlichkeit Mirza Chan an Bord des Sampan erschien und neue Nachrichten brachte.

Er hatte einen seiner Leute nach dem elenden Gäßchen geschickt, wo jener chinesische Barbier sein Geschäft betrieb: oben Barbierstube, unten Opiumhölle.

Der Chinese war nicht daheim: verreist – angeblich!!

Also auch das traf zu.

Und nun, wo wir drei beieinander saßen und die Dinge nochmals durchsprachen, wurde von mir das Gurkenhaus erwähnt.

„Wissen Sie etwas darüber?“ fragte Harald den Parsen.

„Nein …“

Aber Mirza verbesserte sich sofort: „Das heißt: Gurkenhäuser nennt man hier die Hausboote der Obsthändler, die zumeist die Form einer kurzen dicken Gurke haben … Die Inder sagen: „Ramna – dars“, und das kann ebenso gut „dickes“ Schiff wie „Gurkenhaus“ bedeuten.“

„Dann, mein lieber Mirza, lassen Sie einmal durch Ihre Leute nachfragen, ob Stomyola ein solches Hausboot erworben hat.“

„Das läßt sich unschwer feststellen, Herr Harst,“ nickte der Parse eifrig. „Ich habe sehr weitverzweigte Beziehungen.“

„Und noch etwas: Geben Sie morgen früh mit äußerster Vorsicht Herrn Jörgensen Nachricht, wo wir uns befinden …“

„Ja …“ Mirza Chan war mit einem Male sichtlich zerstreut …

„Woran denken Sie, Mirza?“ fragte Harst dringend. „Ihnen scheint da soeben etwas Besonderes eingefallen zu sein …“

„Das ist richtig, Herr Harst … Stomyola besitzt, wie ich mich erinnere, beim Dorfe Akbara, dort, wo der Kanal in den Ganges mündet, ein weites Stück Dschungel, mehr Morast als Dschungel. Er als eifriger Jäger soll dort ein paar Tiger in einem festen Gehege halten … Ich weiß nicht, wer mir das erzählt hat … Aber es wird schon stimmen …“

Harald beugte sich vor. „Mirza, ob sich ein Wasserlauf durch diesen Dschungel zieht?“

„Ja … Ein sumpfiger Bach …“

„Ah – wenn Sie nun noch erführen, daß Stomyola ein Hausboot gekauft hat, so … so werden wir rasch ans Ziel gelangen, sehr rasch … Allerdings fast zu rasch. So schnellen Erfolgen traue ich nie recht …“

Mirza Chan verabschiedete sich wieder. Auch wir waren müde.

Dieser Sampan, den man schon mehr als indische Luxusjacht bezeichnen konnte, war für uns ein ideales Heim. Die Wandsofas der geräumigen Kajüte ließen sich im Nu zu Betten umgestalten, und die kleine Küche, der Baderaum, die durch Akkumulatoren gespeiste elektrische Beleuchtung, die beiden großen Ventilatoren, die Dauerberieselung des Daches, die angenehme Kühle schaffte: besser konnten wir es kaum haben!

Mirza Chan hatte uns übrigens ein Paket dagelassen: Ein luftdicht verschließbares Einmacheglas, mit reinem Weingeist gefüllt, eine liebenswürdige Aufmerksamkeit von ihm, ein nettes Andenken, denn in dem Glase lagen die abgeschnittenen Köpfe von drei Kobras – – aus dem Schranke unserer Stube der Karawanserei. Diese hatte Edward Stomyola vorsorglich dort einschmuggeln lassen, als wir bei Axel Jörgensen, dem blassen Verliebten waren, der sich um Ehmas Verschwinden grämte und sich in Sehnsucht verzehrte, – würde ein Dichter sagen.

Dichter …

Man gestatte mir, lieber Leser, es für kurze Zeit zu sein. Begleite mich nun hinauf auf das Deck des Sampan, lieber Leser, hinaus in den bläulichen Dunst der stillen Mondnacht Indiens.

Harald war zu prosaisch dazu. Er entkleidete sich bereits. Ich, Max Schraut, von jeher Schwärmer und Phantast, lehnte am Mast des Sampan, äußerlich ein dreckiger Kuli, innerlich ganz und gar Deutscher mit starkem Einschlag zum Romantisch-Naturfreudigen.

Bläulicher Dunst … Zart wie die wundervollen Kaschmirschleier, duftend wie der Atem einer gepflegten, heißblütigen Frau.

Leser, du kennst nicht diese Strecke des Dschamna-Ganges-Kanales, in der hier der Sampan lag, nicht die Mohnfelder, die Indigofelder, die wie farbige wogende Wellen im Nachtwind über das flache Land hinzuziehen scheinen, nicht die Geräusche der indischen Nacht, die so ganz andere sind als daheim.

Träge wiegt sich der Sampan vor seinen Ankern. Die Ketten klingen leise, und das Gurgeln und Pusten eines Krokodils dort am Uferstein klingt wie das verschlafende Atmen des Kanals selbst.

Zu Tausende kommen die kleinen fliegenden Laternchen der Leuchtkäfer aus den feuchten, sumpfigen, noch nicht urbar gemachten Dschungelteilen herbeigesegelt – glühende, blinkende Wolken, Geister, ständig die Form wechselnd … – In der Ferne scheinen Rinder dumpf zu brüllen – wie auf holländischen Marschen in lauen Nebelnächten. Keine Rinder … Riesenfrösche sind’s, groß wie ein Jägerhütchen, voller Warzen wie die Gesichter alter Weiblein und nach Moschus duftend wie jene Wasserratten dort, deren scharfe Schnauzen den Spiegel des Kanals mit Rissen zu bedecken scheinen, die plötzlich tauchen, – – und dann schiebt sich der Rachen eines Gangeskrokodils in die Höhe …

Neben dem Sampan träumen andere Sampans, Kähne, Jachten, Motorboote und ein paar Hausboote, deren matt erleuchtete Gazefenster durch die Nacht glotzen wie die Scheiben eines Palastes unbekannter Wassergötter …

Herrlich solch’ eine Kanalnacht.

Nur – nur der Mensch sollte solche Nächte nicht entweihen …

Sollte nicht auf die Dummheit anderer Menschen rechnen, auf die meine …

Sie mag vorhanden sein … Aber so groß ist sie doch nicht, daß sie nicht ein paar schwimmende echte Krokodile von Krokodilkopfattrappen unterscheidet, die einen Menschenkopf verbergen.

Mein Traum war aus.

Meine Blicke fraßen sich fest auf den Schädeln dort, vor denen die regsame Rotte der Ratten auseinanderstiebte.

Allerhand Achtung vor Stomyola!!

Und ich schaute wieder weg, rauchte wieder meine Zigarre, spielte den Harmlosen …

Gähnte … gähnte …

Stomyola war uns auf den Fersen geblieben. Da waren drei, die uns belauerten … Vielleicht auch vier …

Hut ab vor Stomyola!

Und ich gähnte ein letztes Mal, reckte und streckte mich und stieg wieder hinab in den Zigarettenduft Harst’scher Mirakulum und in den Sandelholzgeruch der polierten Wände mit meiner großen Neuigkeit.

Womit es wieder mal nichts war, mit dieser Neuigkeit …

„Nette Krokodile? Vier sind’s,“ empfing Harald mich und trat vom Fenster des Baderaumes zurück, dessen Tür er angelehnt hatte, … damit das Licht nicht hineinfiele …

Meine stolze Freude über meine überraschende Entdeckung sank zusammen wie ein schlecht eingerührter Kuchen im Ofen.

Harst schaltete das Licht aus. Die Eingangstür blieb unverschlossen, und wir lagen auf unseren Betten, Clement entsichert in der Hand … Mit der Poesie war’s ganz aus.

In der Kajüte Dämmerlicht. Sechs Gazefenster schimmerten als helle Vierecke … Das Licht genügte … Und wenn die vier chinesischen Krokodilattrappen kommen und üble Dinge versuchen wollten, würde ich bestimmt dort treffen, wo ich wollte.

Der Sampan schwankte leicht, und die plätschernden Töne der kleinen Wellen verklangen, lebten auf, verklangen. Bis ein Schleppdampfer keuchend vorüberstampfte und die ihm folgenden Frachtkähne den stillen Kanal zu emsigeren Wogen aufrührten, die unseren Sampan hin und her warfen und starke Rucke an den Ankerketten erzeugten. Dieser Lärm war den vier menschlichen Krokodilen offenbar sehr erwünscht gewesen.

Vor dem hellen Gazeviereck draußen ein verschwommener Fleck … ein Menschenkopf …

Verschwindet wieder …

Der Schleppzug ist vorüber … Der Kanal beruhigt.

Ich blicke zu Harst hinüber. Er liegt auf dem rechten Arm, Gesicht nach dem nahen Fenster …

Eine Viertelstunde mag verstrichen sein …

Da erscheint an demselben Fenster, wo der Kopf sichtbar gewesen, ein Arm, eine Hand, gleitet abwärts … Eine Messerklinge blitzt matt im Mondlicht. Die Gaze klafft, und der Arm verschwindet … verschwindet nach einer letzten ruckartigen Bewegung. Irgend etwas schlägt dumpf auf den Linoleumbelag der Dielen der Kajüte auf – irgend etwas …

Kobra?!

Ich blinzele … sehe … Etwas Blankes liegt da – wie ein großer Käfer mit Beinen, die alle nach einer Seite gerichtet sind.

Welche Teufelei hat Stomyola nunmehr ersonnen? Ist’s eine Höllenmaschine?

Mir rinnt der Schweiß über das Gesicht …

Mein Herz hämmert Sekunden, Minuten … Der Riesenkäfer explodiert nicht.

Und durch die Kajüte dringt ein klares, vorsichtiges Flüstern von Haralds Bett:

„Ein Schildpattkamm …!“

Ich schaue nochmals hin. Es ist ein ziemlich großer Schildpattkamm …

Merkwürdig!

Dann erhebt sich Harst in seiner ganzen dürren muskulösen Länge …

„Du solltest den Kamm kennen,“ sagt er ohne irgendwelche besondere Betonung. „Er gehört Irma Dennelitz. Sie ist also doch schon in Indien … Sie muß wie wir ein Flugzeug benutzt haben …“ Er öffnet schon die Kajütentür und tritt auf das Deck hinaus. Ich bin sofort hinter ihm. Neben der Mittelluke liegen vier Körper, vier bewußtlose Chinesen … jeder mit einer Beule mitten auf dem Schädel, die bereits faustdick angeschwollen ist.

„Irma Dennelitz hat Vorsehung gespielt und schlägt eine derbe Handschrift,“ meint Harald. „Binden wir die Bande … Und dann wollen wir die Skatpartie stören. Mirza Chan sagte, daß es bis zu Stomyolas Haus keine zehn Minuten sind. Jetzt wo Fräulein Irma Dennelitz hier aufgetaucht ist und ihre Visitenkarte abgegeben hat, dürfte es zweckmäßig sein, mit Herrn Stomyola sofort abzurechnen …“

Von dieser Idee, die ich nicht richtig bewerten kann, da ich die Zusammenhänge nicht überschaue, bin ich keineswegs entzückt. Aber hiernach fragt Harst nicht.

 

5. Kapitel.

Das Gurkenhaus.

Die Europäer, die dazu verdammt sind, auch die heiße Jahreszeit in den Städten der indischen Ebenen zu durchschwitzen, machen die Nacht zum Tage. Nur nachts erwacht das Hirn und freut sich der kargen Genüsse eines Klubabends, eines Soupers und einer Spielpartie. – Wenn wir auch erst kurz vor zwei Uhr morgens die Treppe zu Stomyolas Bungalow emporschlichen, so besagten die erleuchteten Fenster und die lauten Stimmen uns doch schon von weitem, daß wir Stomyolas Gäste noch beisammen finden würden. – Die breite Veranda lag im Wandschatten. Wir richteten uns vor dem einen Fenster auf und schauten in das große Zimmer hinein. An drei Tischen saßen je vier Herren. Chinesen in schneeweißen Anzügen bedienten lautlos und gewandt.

Das Fenster war weit offen. Harst deutete auf den neben Axel Jörgensen sitzenden bartlosen Herrn, einen mageren Mann mit grauweißem Scheitel und ein paar großen ruhelosen Augen.

„Stomyola,“ flüsterte er.

„Woher weißt du das?!“

„Die Augen – – wie der Sohn!!“

Dann hustete er laut … Vierzehn Köpfe fuhren herum. Harst stieg durch das Fenster in das Zimmer …

„Entschuldigen Sie meine Herren, aber meine Sache duldete keinen Aufschub … Mein Name ist Harald Harst. Dies hier ist mein Freund Schraut, auch nicht ganz unbekannt …“

Die Herren und die Chinesen sitzen, stehen wie die Bildsäulen. Nur Stomyola erhebt sich langsam …

„Ja, Sie wollte ich sprechen, Frau Anna Dennelitz,“ wendet sich Harald an den Grauen, Mageren mit den faltigen brutalen Zügen. „Meine Herren, es wird Sie alle interessieren, daß diese Frau, die jetzt von Berlin steckbrieflich gesucht wird, Sie alle über ihr Geschlecht getäuscht hat. Edward Stomyola ist ein Weib, ist Mutter eines Sohnes, der ein vielleicht noch größerer Verbrecher als sie selbst ist.“

Stomyola lächelt verzerrt …

„Also doch – – das Ende, ich ahnte es,“ sagt er gepreßt – sagt sie gepreßt. Und doch – eine gewisse Größe, etwas Imponierendes liegt in ihrer ganzen Art. „Als ich die Depesche aus Berlin erhielt, Herr Harst, daß Sie hinter uns her sind, da wußte ich den Ausgang … Was ich hier gegen Sie unternahm, waren die letzten Versuche, Sie abzuschütteln …“

Sie schaut sich ironisch ihre Gäste an …

„Meine Herren, ich war Ihnen eine interessante Persönlichkeit … Ich verabschiede mich …“

Und ehe noch jemand zuspringen kann, knallt ein Schuß, mischt sein Todesdröhnen in den jammervollen Aufschrei, der vom anderen Fenster her erklingt …

Eine Gestalt im Sportanzug, schlank, rank, fliegt auf die Umsinkende zu …

„Mutter – – zu spät!“

Ich glaube, keiner von denen, die diese Szene mit erlebt haben, wird dieses „Mutter!!“ jemals vergessen …

Frau Anna Dennelitz ist tot. Ihre Doppelrolle ist ausgespielt.

Oberst Lindgrave, einer der Anwesenden, nimmt nachher die völlig gebrochene Irma mit sich in sein Heim.

Nachher …

Der Morgen graut schon, als wir beide und Axel Jörgensen sowie zwei Polizeibeamte im Motorboot den Kanal entlangjagen – hinein in den Riesenstrom, den heiligen Ganges, dann westwärts – in eine tiefe sumpfige Bucht, in einen verkrauteten Bach.

Jörgensen weiß, daß Stomyola ein Hausboot gekauft hat. Er weiß auch, daß Stomyola in seinem Dschungel hinter hohen Bambusgittern, die mit Stacheldraht durchflochten sind, mehrere junge Tiger hält und daß Stomyola öffentlich vor dem Betreten seines Tierparks gewarnt hat.

Harst bleibt dabei, daß sowohl Emma Dennelitz als auch Doktor Fritz Dennelitz dort irgendwo auf dem Hausboot gefangen gehalten würden.

Wir haben vier Snider-Repetierbüchsen an Bord, und Harald betont, daß wir sie gebrauchen werden.

Die Stimmung auf dem schnellen Boot gleicht der einer Menschenmenge, die den waghalsigen Kunststücken eines Luftpiloten zuschaut, dessen Maschine immer wieder in den Wolken verschwindet, so daß niemand sagen kann, ob der Pilot nicht im nächsten Moment abstürzt.

Um uns her ist Wildnis … Sonnenglanz flimmert auf klebrigen Blättern ungeheurer Guama-Lianen, die das Gestrüpp wie grüngelbe Schlangenleiber überziehen. Verfaulte Bäume, erstickt durch Schmarotzerpflanzen aller Art, sind in den Bach gestürzt. Auf Sandbänken sonnen sich faule Krokodile. Affentrupps turnen kreischend von Ast zu Ast und flüchten vor dem knatternden Störenfried.

Plötzlich dicht vor uns ein Bambuszaun, quer durch den Bach gezogen, gut sieben Meter hoch – mit verrosteten Stacheldrähten verflochten …

Stomyolas Tierpark …

Tierpark, um die Gefangenen sicherer zu bewachen, hat Harst gesagt.

In dem Zaun eine Wasserpforte – zwei Schlösser. Über der Pforte eine Warnungstafel …

Axthiebe kreischen im glasharten Bambus. Unser Boot schlüpft durch die Pforte …

Und abermals fahren wir zehn Minuten, bis der Bach sich zum See erweitert …

Sumpf, Dschungel, Morast …

Wasserbüffel, Vogelschwärme, zahllose Krokodile … Rechts eine plumpe Anlegebrücke …

Unser Boot wird vertäut.

Harst besieht …

Nur wir beide, jeder eine Snider-Büchse im Arm, schleichen den schmalen Pfad in die Deckung hinein. Das Boot wird mit Stoßstangen weiter vorwärtsgetrieben – am Ufer entlang, lautlos, um die Landzunge herum, – wir verlieren es schnell aus den Augen.

Um uns her brütet die feuchte Hitze des Dschungels …

Schlangenparadies hier …

Peitschenschlangen kleben an den Zweigen … Eine Boa wälzt sich in einer Lache …

Mückenschwärme schweben wie Wölkchen im Sonnenglanz …

Uns läuft das Wasser die Brust entlang – – Schweiß …

Wir sind nicht mehr die indischen Kulis, tragen unsere alten derben Sportanzüge …

Lauschen, schauen, spähen … Finger am Drücker …

Dann blinkt vor uns Wasser …

Dann vor uns der ungeheure Wurzelballen eines gestürzten Baumriesen … Die Wurzeln eine Treppe …

Wir stehen oben …

Stehen …

Der Baum liegt mit der halb verfaulten Krone im See. An der Baumkrone liegt ein Hausboot.

Wir schreiten über die Naturbrücke des Stammes hinweg, sehen noch mehr … Machen halt … Riechen … Der Wind kommt vom Boote her … Verwesungsgestank … Auf dem einst weißen Dache ein Toter in Matrosentracht zwischen zwei faul sich rekelnden Tigern …

Dann plötzlich erscheint in dem einen Fenster der Oberleib eines Mannes mit verwildertem dunklen Bart … Ein Gesicht von erschreckender Magerkeit …

Der Mann winkt …

Im selben Moment schlägt die eine der Bestien nach dem winkenden Arme …

Schlägt nie wieder …

Der Peitschenknall der Snider-Büchse jagt Scharen von Vögeln hoch …

Der eine Tiger schnellt empor, taumelt ins Wasser …

Auch ich schieße … Es ist mein zweiter Tiger, den ich erlegen durfte … Das Fell fraßen leider die Krokodile … wie den ganzen Tiger.

Der Mann im Fenster brüllt … winkt …

Harst läuft … stößt den Toten mit dem Fuße beiseite: ein Chinese in Matrosentracht, Gefangenenwächter, eine Kobra hat ihn gestern erledigt, erzählt Doktor Dennelitz nachher.

Nachher, als wir bereits Ehma Dennelitz, die mit vierzig Grad Sumpffieber bewußtlos darniederliegt, in das Motorboot geschafft haben.

Er erzählt noch mehr … Wie ihn die Geldgier der Seinen zur Scheidungsklage gezwungen habe, wie er nachher in Indien absichtlich für immer verschwinden wollte; ein seelisch gebrochener Mann, verfolgt von dem Haß seiner Familie … Und wie ein unseliger Zufall ihn dann im Mai nach Allahabad führte, wo „Stomyola“ ihn erkannte und durch seine Chinesen auf dem Hausboot einkerkern ließ: Stomyola, seine eigene Frau!

Und wie dann vor fünf Tagen auch seine Nichte Emma, die bisher in Stomyolas Haus im Keller gefangen gehalten wurde, ihm Gesellschaft leisten mußte, erkrankte, wie der Wächter starb, wie die Tiger ihn belagerten …

All das ist nun vorüber …

Das Ringen um eine Millionenerbschaft verklingt versöhnlich. Doktor Fritz Dennelitz gewinnt seine Tochter zurück, und Emma Dennelitz ist längst Frau Jörgensen …

Und wir sind wieder daheim … Bestellen unseren Garten, Herbstarbeit … –

Heute, wo ich die Schlußzeilen zum Leeren Zettel schreibe, kommt mir nochmals so recht klar zum Bewußtsein, wie schnell Harst doch damals in Allahabad „Stomyola“ durchschaut hatte …

Heute lese ich in der Zeitung, daß der in Bombay seinerzeit verhaftete und an Deutschland ausgelieferte Doktor Ernst Dennelitz zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist … Vormittags sind wir als Zeugen vernommen worden.

Das Drama ist aus … Der Vorhang fällt …

Und ich rauche mir eine der Zigarren des Mr. Goulderlay an, über die das nächste Mal noch manches zu sagen ist.

Gute Nacht.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „geglättet“. Tatsächlich ist aber „geplättet“ gemeint, da Harst den Zettel und Umschlag ja mit einem heißen Bügeleisen („Plätteisen“) behandelt hat.
  2. In der Vorlage steht „nein“.
  3. In der Vorlage steht „ihn“.
  4. In der Vorlage steht „Unbedeutenheiten“.
  5. In der Vorlage steht „Pantersätze“.
  6. Berliner Flugzeughersteller – siehe auch Wikipedia: Rumpler-Werke.
  7. Etwa 42,5 Grad Celsius.
  8. In der Vorlage steht „Wer“.