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Der Kampf gegen Lionel Barring

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 109

 

Der Kampf gegen Lionel Barring

 

Erzählt von

Max Schraut

(Walther Kabel)

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Eine Warnung und eine Drohung.

„Da ist er schon wieder!“ sagte Harald Harst zu mir, als wir kaum im Speisesaal des Atlantic-Hotels in Melbourne Platz genommen hatten, um in aller Behaglichkeit bei den Klängen einer erstklassigen ungarischen Kapelle unser Abendessen zu vertilgen.

Der Kellner reichte uns die Speisekarte. Erst nachdem wir ein Menü zusammengestellt hatten, konnte ich meinen Freund daher fragen:

„Wen meinst Du eigentlich mit diesem „Da ist er schon wieder“?“

Harald entfaltete die Abendnummer der Melbourner Times und erwiderte:

„Wir sind vorgestern hier eingetroffen, nachdem wir volle fünf Tage dem Geheimnis der namenlosen Jacht gewidmet hatten, das uns weit hinaus in entlegene Meeresbreiten führte. Vorgestern, als die Australia uns kaum im Hafen an Land gesetzt hatte, bemerkte ich den eleganten Herrn zum ersten Male. Er hat uns seitdem unauffällig weiter beobachtet. Als wir gestern draußen auf der Relly-Farm der Kaninchenjagd beiwohnten, war er ebenfalls als Zuschauer anwesend. Jetzt hat er soeben dort drüben an einem Tische links von dem Pfeilerspiegel sich niedergelassen.“

Kaninchenjagd!! – Die Erinnerung an diese sogenannte Jagd auf die schädlichen, sich so ungeheuer schnell vermehrenden Nager, die in Australien zeitweise zur Landplage werden, war scheußlich genug. Dieses Massenmorden hatte mich mit Ekel erfüllt. – Aber all das vergaß ich jetzt gegenüber Harsts[1] beunruhigender Mitteilung, es hätte sich ein Verfolger, Spion oder dergleichen an unsere Fersen geheftet.

„Etwa ein Mitglied der Garde jener Helen Jones[2], die hohnlachend den Kelch mit dem vergifteten Sekt leerte?“ fragte ich hastig weiter.

Harald hob zweifelnd die Schultern. „Ich glaube es nicht. Helen Jones’ Kavaliere dürften sämtlich in dem Massengrab auf der Insel der Seligen ruhen. Immerhin – wir werden vorsichtig sein.“ (Vergl. den vorigen Band „Die namenlose Jacht“.)

Ich hütete mich, nun etwa in auffälliger Weise zu dem eleganten Fremden hinüberzustarren.

Harald las die Times. Nach einer Weile gab er mir das Hauptblatt …

„Da – überfliege mal diese Zusammenstellung! Eine nette Serie!“

Übersicht über die unaufgeklärt gebliebenen großen Raubüberfälle des letzten Jahres.

4. Januar 1922. – Plünderung des Strand-Postamtes in London. – Beute: 68 500 Pfund.

28. Januar. – Überfall auf die Kasse der Paperlon-Werke, Paris. – Beute: 4 Mill. Franken.

1. Februar. – Einbruch in die Tresors der Ostindischen Handelsbank, Amsterdam. Beute: 14 Mill. Gulden.

5. März. – Überfall auf die Santa-Margarinefabrik, Berlin. – Beute: 29 Mill. Mark.

12. März. – Überfall auf die Kassenboten der Greif-Löwe-Werke, Stettin. – Beute: 32 Mill. Mark.

26. März. – Plünderung des Olfor-Postamtes, Kopenhagen. – Beute: (Gesamtsumme nicht zu ermitteln).

3. April. – Überfall auf das Kassengebäude der Stockholmer Stahlwerke. – Beute: 2,5 Mill. Kronen.

9. April. – Einbruch bei Graf Söderholm, Stockholm. – Beute: rund 5 Mill. Kronen.

Diese Probe aus der Zusammenstellung von Kapitalverbrechen aus dem Jahre 1922, deren Täter nicht ermittelt wurden, mag hier genügen. Im ganzen waren es genau 24 Verbrechen. Die Gesamtbeute ergab die stattliche Summe von 6,8 Millionen Pfund Sterling nach englischem Gelde. Entnommen war diese Übersicht den statistischen Blättern der Londoner Geheimpolizei.

Als ich die Zusammenstellung gerade überflogen hatte, brachte der Kellner die Suppe.

Ich warf jetzt einen flüchtigen – scheinbar flüchtigen Blick nach dem eleganten Herrn hinüber.

Hm – der sah nun wirklich nicht wie eine fragwürdige Persönlichkeit aus. Im Gegenteil: er war der urechte Typ des vornehmen englischen Globetrotters!

Nachdem der Kellner die leeren Teller weggeräumt und das Zwischengericht serviert hatte, fragte ich Harald etwas zögernd:

„Der Herr macht mir durchaus nicht den Eindruck, als ob er …“

Ich schwieg. Der Hoteldirektor war neben unserem Tische aufgetaucht.

„Eine Kabeldepesche für Sie, Mr. Harst,“ sagte er mit einer Verbeugung.

Harald nahm das Telegramm und öffnete es.

Der Hoteldirektor blieb stehen. „Auch ein Brief ist für Sie abgegeben worden, Mr. Harst,“ erklärte er. „Ich soll Ihnen den Brief jedoch nur unter vier Augen im Büro aushändigen, bat der Überbringer, ein noch sehr junger Europäer, der mir fremd ist.“

„Danke. Nach Tisch kommen wir zu Ihnen ins Büro.“

Der Direktor entfernte sich.

Harald las die Depesche. Ich beobachtete sein Gesicht.

„Merkwürdig!“ meinte er. „Hör’ mal zu …

Ich bitte Sie, Mr. Harst, schnellstens nach Schottland zu kommen. Ich brauche Ihre Hilfe. Benutzen Sie die günstigste Fahrgelegenheit. Die Kosten spielen keine Rolle. Ich habe Ihnen bei der Bank of Australia 3000 Pfund angewiesen, die Sie sofort abheben können. Es handelt sich um drei Menschenleben. – Lord Allan Howard Gnirable, Schloß Gnir, Bahnstation Lammerty, Schottland.“

„Was findest du daran merkwürdig?“ fragte ich nun. „Es ist ein Auftrag – weiter nichts. Wahrscheinlich eine recht einträgliche Sache.“

Er antwortete nicht. Er aß mit mechanischen Bewegungen und sichtlich zerstreut und – erhob sich plötzlich.

„Ich hole mir den Brief,“ sagte er kurz.

Jetzt hatte ich Zeit, über dieses „Merkwürdig!“ nachzudenken. Die Depesche lag noch neben Haralds Teller. Ich nahm sie, las sie nochmals, sann und sann …

Und da fiel zufällig mein Blick auf den Pfeilerspiegel, glitt nach links …:

Der Platz des eleganten Fremden mit dem blonden Spitzbart war leer!

Ob der Mann meinem Freunde etwa gefolgt war?!

Suchend schaute ich mich um. Der Saal war gut besetzt. Kellner eilten gewandt hin und her. Neue Gäste kamen. Alles, was sich in Melbourne zu den oberen Zehntausend rechnete, gab sich hier ein Stelldichein.

Harald schritt von der linken Saaltür her langsam durch die Tischreihen. Seine Gestalt, sein braunes Gesicht mit den scharfen Zügen fielen auf. Frauenaugen folgten ihm. Männeraugen neideten der so selbstsicheren und kraftvollen Erscheinung dieses Äußere.

Er nahm wieder neben mir Platz.

„Noch merkwürdiger!“ sagte er nun und schob mir einen kleinen Briefumschlag zu.

Auf dem weißen Umschlag stand mit Tintenstift in schräg nach links liegenden steifen Buchstaben:

Mr. Harald Harst,

Atlantic-Hotel.

„Wenden!“ befahl Harald leise.

Ich drehte den Umschlag um.

Und – auf der Rückseite, dort, wo man den Absender hinzusetzen pflegt, las ich mit Bleistift hingekritzelt:

Fahren Sie nicht nach Schloß Gnir!

„So – und nun der Brief selbst, mein Alter,“ munterte Harst mich auf. „Maschinenschrift, wie Du siehst. Eine Maschine, die fehlerlos schreibt.“

Ich hatte den Briefbogen herausgezogen. Quer über die erste Seite stand da:

Wenn Sie Lord Gnirables Auftrag annehmen, werden Sie Schloß Gnir niemals lebend erreichen. Lionel Barring.

„Was sagst Du dazu?!“ meinte Harald leise und leicht erregt. „Der Brief enthält außen eine Warnung und innen eine Drohung. Wer ist dieser Barring, der mir droht?! Ich habe den Namen Lionel Barring noch nie gehört, noch nie!“

Meine Aufmerksamkeit galt dem Spitzbärtigen, den ich soeben am dritten Tische rechts von uns, halb hinter einem Zeitungsungetüm versteckt, bemerkt hatte. Er hatte also seinen Platz gewechselt und sich näher an uns herangepirscht.

Der Kellner trug den Braten auf.

„Zahlen!“ sagte Harald kurz. „Ich wünsche zu morgen früh die Rechnung. Das Gepäck muß um 9 Uhr am Hafen sein. Wir reisen mit der Ozeana ab.“

„Sehr wohl, Mr. Harst.“

Wir begaben uns in den ersten Stock in unsere Zimmer. Im Wohnsalon auf dem Sofatisch … lag ein Zettel, – – dieselbe kritzlige Schrift wie auf der Rückseite des Umschlages:

„Reisen Sie nicht mit der Ozeana, Mr. Harst! Sie werden hier heimlich beobachtet.“

„Toll – – toll!“ rief Harald leise. „Was bedeutet das alles?! Dieser Zettel, die zweite Warnung, kann doch soeben erst geschrieben worden sein, denn erst vor zehn Minuten habe ich im Büro des Hotels mich für die Ozeana entschieden. Es ist der schnellste Dampfer der Australia-Linie …“

Er starrte auf den Zettel, fügte hinzu:

„Und der unbekannte Warner ist hier trotz der Patentschlösser an den Türen bei uns eingedrungen! Etwas unheimlich!“

Dann schaute er auf und mich an.

„Die Wechselkasse der Bank of Australia ist bis Mitternacht geöffnet. Vielleicht erfahren wir dort etwas.“

Bereits eine Viertelstunde später wußten wir, daß Lord Gnirable für Harst tatsächlich 3000 Pfund angewiesen hatte. Das Geld lag zu sofortiger Auszahlung in der Wechselkasse bereit. Harald hob es ab, nachdem er sich legitimiert hatte, und steckte die Banknoten zu sich.

Er ahnte nicht, daß er in dem Moment, als er über den Empfang quittierte, Lionel Barring sozusagen den Krieg erklärte.

Und dieser Krieg war das ärgste und seltsamste, was wir je an Kämpfen gegen verbrecherische Intelligenz durchgemacht haben, war ein Übermaß gefahrvoller Überraschungen, jäher Zwischenfälle und rätselhafter Einzelszenen. Es war eben – der Kampf gegen Lionel Barring, über den die Zeitungen aller Länder spaltenlange Berichte brachten, die leider … zumeist der üppigen Phantasie schlecht unterrichteter Reporter entsprungen waren.

 

2. Kapitel.

Maria Gould.

Als wir das Bankgebäude verlassen hatten und dem Hotel wieder zuschritten, als uns im strahlenden Lichte der hellen Hauptstraßen das lebhafte Getriebe der ersten Nachtstunden umwogte, hängte sich Harald in meinen Arm ein und sagte ganz unvermittelt:

„Der elegante Blondbärtige, also der Spion, – zweitens der Mann mit der kritzligen Schrift, – drittens der Mann, der sich Lionel Barring nennt und mir drohte, ich würde Schloß Gnir nicht erreichen, – viertens vielleicht noch der junge Europäer, der den Brief dem Hoteldirektor ausgehändigt hat, – – diese vier Personen müssen uns nun zunächst beschäftigen. Möglich, daß die vier bei näherer Prüfung zu zweien zusammenschmelzen. Wir werden das feststellen. Der Hoteldirektor hat mir bereits auf meine Beschreibung des Blondbärtigen hin mitgeteilt, daß der Herr ebenfalls im Atlantic wohnt, und zwar seit einer Woche. Er traf hier ein, angeblich von Bombay kommend, als wir gerade mit dem elenden Rattenkasten, dem Südpol, die Jagd auf die Australia begannen, das heißt den hiesigen Hafen verlassen hatten …“

„Ah – sehr interessant!“ warf ich, ehrlich gespannt auf das weitere, hin.

„Ja, sehr interessant! denn der Herr … hat sich in die Hotelliste als Lionel Barring, Advokat, eingetragen.“

„Donnerwetter!! Und – das sagst Du mir erst jetzt?!“

„Vielleicht sage ich’s zu früh, mein Alter! Ich habe noch immer bisher die Erfahrung gemacht, daß eine Sache schief ging, wenn ich Dich sofort in alle Einzelheiten der Anfänge meiner Nachforschungen eingeweiht hatte. Da ich also niemals von meiner von Dir zu Unrecht stets gerügten Methode, zunächst Geheimniskrämerei Dir[3] gegenüber zu treiben, abweiche, muß ich wohl sehr gewichtige Gründe dafür haben. Und – die habe ich auch. Kurz gesagt: ich glaube, daß wir beide noch nie in so ernster Gefahr geschwebt haben wie jetzt, wie dieses Mal! Ich will die Verantwortung für unsere Sicherheit nicht allein tragen!“

Ich war ein wenig verwirrt durch diese Eröffnung. Eine mit Schreibmaschine getippte Drohung ist doch noch lange keine Gefahr! Woher wußte Harald, daß die Dinge so ernst lagen?!

„Höre weiter,“ fuhr er fort und schwenkte in eine Seitenstraße ein, in der wir sofort aus dem Fenster eines schmalen, dunklen Hauses leise angerufen wurden …

Es war eine berüchtigte Gasse, eine Gasse, wo die käufliche Liebe ihr Domizil aufgeschlagen hatte.

Die Anrufe wiederholten sich – in allen Sprachen, begleiteten uns förmlich. Nur wenn ein ernster, dunkelhäutiger Policeman vorüberkam, wurde aus den lockenden Stimmen ein girrendes Dirnenlachen.

„Höre weiter … – Nachdem der Direktor mir im Büro erklärt hatte, daß der bewußte Herr Lionel Barring heiße und Nr. 9 uns schräg gegenüber bewohne – übrigens hatte er Wert darauf gelegt, dieses Zimmer zu erhalten –, ging ich in den Lesesaal des Hotels, der zugleich Schreibzimmer ist und besichtigte die drei dort aufgestellten Schreibmaschinen, System Allargy, Birmingham. Die Drohung ist mit einer dieser Maschinen geschrieben.“

„Ah – welch kapitale Dummheit!“

„Hm – ob es eine Dummheit war?! Ich zweifle daran. Jedenfalls: Barring, Advokat Barring, kann also wirklich der Absender der Drohung sein, genau so, wie er der Spion ist, der sogar bis nach Relly-Farm hinter uns blieb.“

„Gut – und die ernste Gefahr?“

„Warte doch ab. Deine Sorge um Deinen gut genährten Kadaver bereitet Dir nur zu oft …“

Er blieb stehen. Vor uns war aus einer Haustür ein verschleiertes schlankes Weib mit aufgelöstem Blondhaar herausgehuscht. Sie trug ein loses, helles Gewand, eine Art Morgenkleid, und hatte über dem linken Arm ein schimmerndes großes Stück schottische Seide hängen.

Eine nahe Laterne beschien unsere Gesichter. Das in den dunklen Schleier gehüllte Antlitz der Frau lag im Schatten.

Hastig flüsterte sie – und es war eine junge, angenehme Stimme:

„Mr. Harst, lassen Sie sich warnen! Benutzen Sie nicht die Ozeana! Später … mehr!“

Ehe Harald noch zupacken und die Fremde zurückhalten konnte, war sie schon wieder mit zwei langen gewandten Sätzen hinter der Haustür verschwunden.

Wir hörten, daß ein Schlüssel hastig von innen im Schloß umgedreht wurde. Harst legte zu spät die Hand auf den Drücker. Der Riegel hatte sich schon vorgeschoben.

Harald zuckte die Achseln. „Ich muß Klarheit haben! – Policeman – he – – Policeman!“ rief er laut.

Der Beamte kam rasch herbei.

„Wir wurden hier von einer Frauensperson belästigt,“ erklärte Harst. „Ich wünsche, daß die Frau festgestellt wird.“

„Sehr wohl, Mister …, sehr wohl …“

Der farbige Polizist faßte den Drücker …

Und – die Tür ging auf.

Hinten in dem langen Flur schimmerte Licht. Eine elektrische Birne verbreitete trübe Helle.

„Es ist ein Durchgangshaus nach der Queen-Straße, Mister,“ meinte der Beamte unschlüssig. „Es dürfte wenig Zweck haben, die Frau zu suchen …“

„Gut – lassen wir’s. – Da – bitte, – – Sie rauchen doch?“

„Sehr wohl, Mister. – Danke …“

Wir gingen weiter.

Mit einem Male lachte Harald leise auf.

„Alterchen, Alterchen, – beeilen wir uns! Ich habe einen glänzenden Gedanken! – Auto – halt. – Steig’ ein! – Chauffeur, Atlantic-Hotel.“

Vor dem Hotel stiegen wir aus, bezahlten die Taxe und setzten uns in den Vorraum seitwärts hinter eine Palmengruppe.

Die große Hoteluhr hier im Vorraum zeigte genau zehn.

Wenn Gäste oder Hotelangestellte durch die Pendeltüren im Hintergrunde hindurchschritten, vernahmen wir stets ein paar abgerissene Takte der Musik aus dem Speisesaal, wo jetzt die Tanzvorführungen begonnen hatten. Der leicht parfümierte Springbrunnen in der Mitte des Vorraumes plätscherte leise und unaufhörlich, und in der durch die Ein- und Ausgänge streichenden Zugluft wehten die Blätter der Fächerpalmen, die aus riesigen, versenkten Kübeln rings um den Marmorbrunnen hervorwuchsen, würdevoll hin und her. – Uns gegenüber lagen das große Milchglasfenster und die Tür des Hotelbüros. Wir sahen auf dem Fenster die scharfen Silhouetten zweier Männer – unverkennbar in den Profillinien: der Direktor und der spitzbärtige Advokat Lionel Barring!

„Barring begleicht seine Rechnung,“ sagte Harald leise und blätterte weiter in einem Buche, das er rasch aus dem Lesesaal geholt hatte.

Das Buch war der englische Adels-Almanach.

„Barring wird also wohl ebenfalls die Ozeana benutzen,“ meinte ich und streckte die Beine von mir, daß der Rohrsessel knarrte.

„Ohne Zweifel …“ Und in einem Atem sprach er weiter, oder besser las er vor:

„Allan Howard Torky Gnirable, Lord und Pair von England, Sohn des Herzogs Allan Howard Richard Gnirable, verstorben am 2. März 1920. – Unverheiratet, Besitzer der Herrschaft Gnirable, 250 …“

Plötzlich verstummte er, flüsterte, – hatte also auch beim Lesen den Eingang im Auge behalten:

„Achtung – – warte!“

Und erhob sich, schritt auf die Dame zu, die soeben die Vorhalle betreten hatte.

Eine Dame in langem Seidenmantel, einen weichen, rehfarbenen Lederhut auf dem dunkelblonden Haar, – jung, schlank, mit elastischen, ausgeglichenen Bewegungen.

Ich war ebenfalls nähergetreten.

„Mistreß, einen Augenblick,“ sagte Harald höflich mit leichter Verbeugung. „Wenn ich bitten darf – dort in den Lesesaal. Er ist jetzt leer.“

Kühle, graue, hochmütige Augen musterten Harst von Kopf bis Fuß. Dann eine energische und ebenso hochmütige Handbewegung, und die Dame wollte wortlos an Harald vorüber.

Er stellte sich ihr in den Weg.

„Soeben in der Raffalar-Street hatten Sie Ihren schottischen Seidenmantel über dem linken Arm und eine blonde Perücke auf, Mistreß,“ sagte er hastig. „Wünschen Sie, daß ich den Hoteldirektor hole?“

Ihr Gesicht ward von Röte überflutet. Die Lippen preßten sich fest aufeinander.

„Bitte!!“ wiederholte Harald und deutete auf die Tür des Lesesaals.

Die Frau gehorchte jetzt, wenn auch zögernd.

Wir folgten ihr. – Harald schaltete im Lesesaal die Deckenbeleuchtung ein. Die Dame hatte sich an den langen, mit Büchern und Zeitschriften bedeckten Mitteltisch gelehnt. Der eisige Hochmut in ihrem Gesicht war jetzt wieder der am meisten hervorstehende Zug ihres schönen Gesichts, das man liebreizend hätte nennen können, wenn nicht um Mund und Augen so merkwürdig scharfe Falten gelegen hätten.

Harst nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift, legte beides auf den Tisch und sagte zu der Unbekannten:

„Schreiben Sie, was ich Ihnen diktiere. – Bitte. Weigern Sie sich nicht. Ich pflege durchzusetzen, was ich wünsche!“

Die Dame hob die Schultern, lächelte verächtlich. Dann gehorchte sie abermals. Harst hatte für sie einen Stuhl an den Tisch gerückt. Sie nahm Platz.

„Schreiben Sie ganz schnell – ich betone: ganz schnell:

Reisen Sie nicht mit der Ozeana, Mr. Harst!

Schneller – schneller!! – So, danke. Das genügt mir.“

Die Frau erhob sich.

„Sie wohnen hier im Hotel?“ fragte er nun.

Ein Nicken.

„Und Ihr Name, Mistreß?“

„Maria Gould …“

„Danke. Es stimmt. Sie sind gleichzeitig mit einem Herrn Lionel Barring hier im Atlantic abgestiegen. Ihr Name steht unter dem Barrings in der Fremdenliste. – Wollen Sie uns nicht freiwillig über einiges Aufschluß geben?“

Die Frau hob wieder die Schultern. Das sollte wohl heißen: „Ich wüßte nicht, worüber?!“

Leider betraten jetzt drei Herren den Lesesaal in recht lärmender Weise. Sie beachteten uns zwar nicht, da sie über Börsengeschäfte sprachen. Immerhin mußte Harst nunmehr Maria Gould entlassen.

„Ich danke Ihnen, Miß Gould,“ sagte er leise. „Versuchen Sie nicht, uns zu entwischen. Ich werde mir erlauben, Sie nach zehn Minuten auf Ihrem Zimmer aufzusuchen.“

Miß Gould drehte sich kurz um und ging hinaus. Harst schaute ihr durch die Tür nach. Sie schritt die Haupttreppe empor.

„Nimm den Zettel,“ winkte Harald mir zu. „Wir wollen doch vorsichtig sein.“

Und wir blieben hinter Miß Gould, sahen sie im ersten Stock in Nr. 14 verschwinden.

 

3. Kapitel.

Die beiden Büchsen.

„Hm – wir könnten eigentlich auch sofort zu ihr hinein,“ meinte Harst etwas erregt. „An dieser Miß Gould gefällt mir mancherlei nicht. Es ist besser, wir lassen ihr keine Zeit …“

Er hatte mir den Zettel abgenommen und einen flüchtigen Blick auf die Schrift geworfen.

„Lies,“ rief er keuchend. „Lies! Das ist ja unglaublich!“

Und ich las … las …

Da stand nichts von dem, was Harald diktiert hatte. Da stand:

„Finden werden Sie mich nicht, Mr. Harst!“

Und – es war tatsächlich eine auffällige Ähnlichkeit zwischen der kritzligen Schrift und dieser Schriftprobe Miß Goulds unschwer festzustellen! –

Harald war weitergeeilt, hatte schon die äußere Tür von Nr. 14 geöffnet und klopfte.

Klopfte abermals.

Rüttelte an der Innentür …

Warf sich plötzlich mit der Schulter dagegen.

Die Tür widerstand.

Und hatte bereits den verstellbaren Patentdietrich gezogen, hatte die Schlüsselzange in der Hand.

Ein Etagenkellner kam, blieb stehen. Es war derselbe, der auch uns auf Nr. 6 und 7 bediente. Er wußte, wer wir waren: Leute, deren Handlungen einwandfrei sind, selbst wenn der Schein dagegen spricht.

„Etwas vorgefallen, Mr. Harst?“ fragte er nur.

„Ja. Holen Sie Mr. Ollan, den Hoteldetektiv.“

„Sehr wohl. Sofort.“ Er lief dem Fahrstuhl zu.

Harald drehte mit der Zange den Schlüssel um, der von innen steckte. Die Tür ging auf.

Das Zimmer war leer, das eine Fenster offen. Am Fensterkreuz war ein dunkler Strick befestigt, der an der Außenwand bis auf den Gartenweg des Hotelparks hinabhing.

Harald nahm seine Taschenlampe und leuchtete draußen das Fensterblech ab. Ich schaute mich im Zimmer um. Und – auf dem Teppich unweit des großen Kleiderschrankes lag ein weißes Stückchen Papier, handgroß, aus einem Notizbuch herausgerissen.

Ich hob es auf. Und … las:

„Wozu das alles?! Begreifen Sie denn nicht, Mr. Harst?!“

Harald riß mir den Zettel aus der Hand, knüllte ihn in der Faust zusammen und sagte zu Mr. Ollan, dem Kollegen, der gerade eintrat:

„Miß Gould ist durch das Fenster entflohen, wie Sie sehen. Gehen Sie doch bitte hinunter und suchen Sie nach Spuren, Mr. Ollan.“

Der alte Herr Ollan, der hier im Hotel jetzt als Beamter a. D. sich etwas zu seiner Pension dazuverdiente, hatte sich längst mit uns bekannt gemacht. Der behäbige Sechziger, der für scharfe Getränke weit mehr Vorliebe besaß als für dienstliche Aufregungen, wollte erst noch allerlei Fragen stellen.

„So gehen Sie doch, Mr. Ollan,“ meinte Harald jedoch. „Spuren, Fußeindrücke finden Sie fraglos besser als wir.“

Diese plumpe Schmeichelei wirkte. Ollan schoß davon und warf hinter sich die Tür ins Schloß.

Harald lachte leise. „Die Gould ist niemals durch das Fenster gestiegen. Auf dem Fensterblech liegt der berühmte rotbraune Melbourne-Staub fingerdick und ohne jeden Kratzer. Miß Gould ist dort hinaus.“

Und er zeigte auf den Kleiderschrank, zog die nur zugedrückte Tür auf, leuchtete hinein, bewies mir, daß das Mittelbrett der Rückwand herausgeschnitten und nur festgeklemmt war, stellte es beiseite, stieg in den Schrank und winkte.

Der Schrank verdeckte die Tür zu Nr. 15 – die Verbindungstür. Diese Tür war nur eingeklinkt. In Nr. 15 hing vor ihr eine dicke Portiere, an der ein Rohrsofa gestanden hatte. Dieses war mitten ins Zimmer geschoben.

Die Flurtür[4] von Nr. 15 war von außen versperrt. Der Schlüssel steckte. Wir mußten nach Nr. 14 zurück, fanden hier den etwas verstörten Hoteldirektor vor.

„Mr. Harst – was bedeutet das?“ fragte der aufgeregte Repräsentant des vornehmen Hotelpalastes.

„Wer wohnte in Nr. 15?“ meinte Harald kurz.

„Ein älterer Herr, ein Professor Tougreeve, ein Holländer.“

„Seit wann?“

„Hm – seit – – seit …“

„Seit dem Tage, an dem Miß Maria Gould einzog, nicht wahr?“

„Ja. Ganz recht.“

„Und – wo ist dieser Tougreeve jetzt?“

„Er hat soeben seine Rechnung beglichen und ist mit seinem schäbigen großen Koffer davongefahren. Er war ein großer Sonderling.“

„Allerdings, denn er war zugleich auch – – Miß Gould!“

„Nicht möglich!“

„Bitte …!!“ – Und Harald hatte die beiden Koffer Miß Goulds, die auf einem Gestell standen, rasch aufgebrochen. Sie enthielten nur gebündelte alte Zeitungen.

Der Direktor war sprachlos.

Indem trat auch schon Mr. Ollan wieder ein.

„Nicht die Spur von einer Spur, Mr. Harst!“ rief er strahlend. „Der Strick ist Blendwerk der Hölle! Das Weib hat niemals den Weg durch das Fenster genommen.“

„Leider nein,“ nickte Harst. „Das Weib ist als Professor Tougreeve davongefahren. Sie brauchen sie aber nicht zu verfolgen, Mr. Ollan. Es ist lediglich eine Abenteurerin, die hier stehlen wollte, jedoch das Feld räumen mußte. Die Sache ist damit erledigt. – Gute Nacht, meine Herren.“

Und Harst ging den Flur hinab nach Nr. 6 und 7, verriegelte die Tür unseres Wohnsalons hinter uns und meinte: „Na, nun will ich Dir etwas zeigen.“

Er hatte den Kronleuchter angeknipst, hatte auch die Wandleuchter aufflammen lassen, bückte sich, hob unter dem Sofatisch zwei schwarze Blechbüchsen auf, die dort zwischen den vielen Tischfüßen kaum zu bemerken gewesen.

Von der einen Büchse führten zwei Drähte in die andere Büchse – zwei besponnene Kupferdrähte. Und der eine Draht war durchschnitten.

„Mit meiner Nagelschere – als Du den Zettel studiertest,“ erklärte Harald leise. „Also ein Geschenk von Maria Gould!!“

„Nettes Geschenk!“

„Ja … – Horch, da tickt ziemlich lautlos ein Uhrwerk. Die eine Büchse ist eine elektrische Batterie, die andere enthält das Uhrwerk und die Sprengladung.“

Er zerschnitt auch den zweiten Draht. „So, nun ist die Sache leichter zu verpacken. Wenn wir auf der Ozeana Zeit haben, untersuche ich diese Höllenmaschine.“

Dann machten wir beide uns daran und durchstöberten Salon und Schlafzimmer aufs allergenaueste. Wir fanden nichts Verdächtiges mehr. Trotzdem blieb Harald bis 2 Uhr wach. Dann löste ich ihn ab. Um 7 Uhr weckte ich ihn. Um 8 Uhr standen wir im Büro dem Hoteldirektor gegenüber.

„Wann ist Mr. Barring abgereist?“ fragte Harald.

„Vor fünf Minuten ließ er sich zum Hafen fahren. Er hat eine Kabine auf der Ozeana belegt, Mr. Harst.“

„Danke. – Ein Auto steht für uns bereit?“

„Sehr wohl …“ –

Auch wir fuhren zum Hafen. Unterwegs sagte Harald: „Nun werden wir also Mr. Barring kennen lernen. Lionel Barring. Hübscher Name. Lionel klingt weich wie Butter. Und Barring wie Röstbrot mit Kaviar.“

Ich sah ihn von der Seite an. Er witzelte selten. Wenn er es tat, hatte das stets seinen Grund.

Aber jetzt schwieg er und rauchte mit Behagen seine Mirakulum. –

Am Kai lag die prächtige Ozeana mit ihren vier dicken gelben Schornsteinen.

Arme Ozeana …!! – Doch – davon später.

Zunächst: Schon um 10 Uhr, als wir kaum eine Stunde unterwegs waren, als die Küste Australiens uns zur Linken wie ein dunkler Strich am Horizont immer undeutlicher wurde, hatte uns Kapitän Gloowyter die Passagierliste insgeheim vorgelegt und dabei erklärt: „Mr. Harst, ein Lionel Barring hatte allerdings die Kabine Nr. 4 bestellt und bis Bombay bezahlt, und zwar gestern spät abends, so gegen 11 Uhr, durch einen Hotelportier. Heute früh aber, es mag 6 Uhr gewesen sein, zog er die Bestellung persönlich zurück, und deshalb habe ich Nr. 4 einem Professor Dr. Tougreeve überlassen.“

Als wir dann diesen Tougreeve aufsuchten (er packte gerade Bücher aus), sahen wir auf den ersten Blick, daß der Gelehrte nicht etwa ein maskiertes[5] Frauenzimmer war. Und Tougreeve bewies uns auch sehr bald, daß er in Australien mineralogische Studien getrieben habe und gestern abend erst in Melbourne angelangt sei – aus dem Innern! Er wetterte gehörig, weil da irgendeine Hochstaplerin seinen berühmten Namen benutzt hatte. Er war harmlos – gänzlich harmlos.

 

4. Kapitel.

Die Walnuß.

Weniger harmlos war diese Seereise auf der Ozeana.

Wenn der Leser Zeitungen vom 5. März 1923 noch zur Verfügung hat, wird er unter „Auslandstelegrammen“ die Meldung finden, daß der Australia-London-Steamer Ozeana am 4. nachts halb zwölf unweit der Karimon-Djawa-Inseln[6], also kurz vor dem Hafen von Batavia, durch vier Explosionen in den Gepäckkammern schwer leck wurde und daß der größte Teil der Passagiere infolge einer Panik die Boote stürmte und in der hochgehenden See jämmerlich ertrank.

Wir beide hüteten uns, diesen Wahnwitz der durch nichts zu beruhigenden Menge mitzumachen, obwohl die Ozeana infolge Versagens einiger Türen der wasserdichten Abteilungen sehr bedenklich nach Backbord überlag. Nein, wir blieben auf dem Schiff, waren allerdings, als die Explosionen den Dampfer erbeben machten, aus dem Rauchsalon für alle Fälle in unsere Doppelkabine geeilt, wo dann wieder einer der … Kritzelzettel uns bewies, daß entgegen unserer bisherigen Annahme Miß Gould auch an Bord war und daß sie diesen Zettel soeben erst in die Kabine durch die kleine Luftscheibe vom Gange aus hineingeworfen haben konnte.

Dieses Lebenszeichen Miß Goulds lautete – auch eine Überraschung:

Sollte die Ozeana sinken, so kommen Sie ganz nach vorn, wo Ihnen sichere Rettung winkt.

Wir packten das Allernötigste in unsere Handtaschen und stürmten dann wieder an Deck, wo wir Zeugen des irrsinnigen Angriffs auf die Boote wurden. Harald ließ es an nichts fehlen, die verängstigten Gemüter zur Vernunft zu bringen. Kapitän Gloowyter schoß sogar zwei Chinesen nieder, die sich als Hauptschreier hervortaten. Wie gesagt: es half alles nichts!

Als die Boote in der Dunkelheit verschwunden waren, als nun auf dem Oberdeck nur noch ein Häuflein von etwa dreißig Menschen beieinander stand, da zog Harst mich beiseite.

„Komm’ nach vorn,“ sagte er.

Wir schritten mühselig auf den schiefen Deckplanken zum Bug hin. Wir … fanden dort einen jener großen Kabinenkoffer amerikanischen Patents, die im Falle der Not als Rettungsfloß benutzt werden können.

Mehr fanden wir nicht. Daß der Koffer für uns bestimmt, unterlag keinem Zweifel. Er war in Ordnung. Seine aufgeschnallten beiden Traggerüste hätten uns tagelang über Wasser gehalten.

Harald schüttelte immer wieder den Kopf.

„Korrigieren wir unsere bisherigen Vermutungen,“ meinte er ernst. „Miß Gould hat uns niemals die Höllenmaschine ins Hotelzimmer gestellt. Das tat Lionel Barring, dessen Gegnerin diese rätselhafte Verkleidungskünstlerin ist. Sie muß noch an Bord sein. Suchen wir sie.“

An Bord waren außer der Besatzung noch 42 Passagiere zurückgeblieben, darunter auch Tougreeve, der Professor.

Miß Maria Gould war nicht herauszufinden.

Morgens 7 Uhr langten die beiden funkentelegraphisch aus Batavia herbeigerufenen Bergungsdampfer bei der Ozeana an. Nachmittags 2 Uhr lag unser Steamer im Hafen von Batavia. Polizei kam sofort an Bord. Alle Passagiere wurden auf Herz und Nieren geprüft. Harald half dabei.

Weder Lionel Barring noch Miß Gould wurden entdeckt. Die Explosionen im Gepäckraum blieben vorläufig unaufgeklärt. – –

Ich überspringe einen Zeitraum von vierzehn Tagen.

Harald hatte schon, das muß ich hier nachholen, von der Ozeana am Vormittag unserer Ausreise ein Funkentelegramm an Lord Gnirable gesandt des Inhalts, daß er den Auftrag annehme. In Bombay hatten wir dann eine Londoner Zeitung vom 12. Februar 1923 in die Hände bekommen, in der folgendes zu lesen war:

„Die Ermordung der drei Angestellten Lord Gnirables, über die wir gestern eingehend berichtet haben, ist bisher in keiner Weise geklärt. Der Lord hat sofort zwei Londoner Beamte von Scotland Yard kommen lassen (Geheimpolizisten), die ebenfalls nichts ausrichten konnten. Jedenfalls steht fest, daß die drei Unglücklichen gewaltsam von der Euston-Klippe auf die Uferfelsen hinabgestürzt worden sind. Von einem Unfall kann keine Rede sein.“

In Genua hatten wir den Dampfer verlassen und waren verkleidet über Paris nach London gereist, dann weiter bis zur Bahnstation Lammerty in Schottland, die nur eine Viertelmeile von Schloß Gnir abliegt. Von London fuhren wir in getrennten Abteilen, ich als ältere Dame, Harald als älterer Herr. Unsere Vorsichtsmaßregeln hatten sich bewährt. Wir hatten jetzt bestimmt keinen Verfolger auf unserer Spur.

Wir langten abends 9 Uhr in Lammerty an. Dieses einzige Städtchen am Rande eines Hochmoores ist den größeren Teil des Jahres über in Nebel und … dünne Rauchschwaden gehüllt. Der Rauch stammt von dem unterirdisch brennenden Torfmoor von Besty Barry[7], das in einer Fläche von rund 8000 Quadratmetern seit Menschengedenken schwelt.

Es stiegen außer uns noch etwa zwölf Personen aus. – Wir hatten schon vorher in London alles genau vereinbart. Ich nahm mir einen Jungen, der meinen Koffer trug, und begab mich zu dem würdigen Pfarrer von Lammerty, Reverend Mr. Stuart Wellery, den uns in London der Kollege Albert Ernest Alverson[8], ein alter Bekannter von uns, empfohlen und an den er auch einige aufklärende Worte depeschiert hatte.

Mr. Wellery, Junggeselle und Besitzer eines netten Häuschens in der Nähe der Kirche, empfing mich sehr liebenswürdig, wenn auch etwas erstaunt über meine treffliche Maske. Gleich darauf trat Harald ein. Wellery, der nur mit einem alten Diener wirtschaftete, den er uns als unbedingt verschwiegen pries und der auch auf uns einen vorzüglichen Eindruck machte, hatte ein nicht minder vorzügliches Abendessen bereit. Bei Tisch kam das Gespräch dann sehr bald auf den dreifachen Mord.

„Ja, da ist mir vorhin etwas sehr Merkwürdiges zugestoßen,“ sagte der alte Herr bedächtig. „Ich war mit einem der Ermordeten, dem Schloßbibliothekar Dr. Gustav Lorm, übrigens ein Deutscher von Geburt, so ein wenig befreundet. Lorm wohnte in einem Anbau des Schlosses. Als man am Morgen des 9. Februar die drei zerschmetterten Toten gefunden hatte, holte ich mir abends aus Lorms Zimmer Bücher ab, die ich ihm geliehen hatte. Und in einem der Bücher lag ein Zettel, auf den Lorm geschrieben hatte, ich solle doch ja die Walnüsse, die er mir in einem Päckchen zur Aufbewahrung im Rauchfang übergeben, recht sorgfältig behandeln. – Sie wissen, meine Herren, Nüsse halten sich nur in trockener Luft, und Schloß Gnir ist feucht wie ein Keller mit Grundwasser. – Heute abend habe ich nun, da ich die Walnüsse doch wohl als mein Eigentum betrachten durfte, ein paar davon gegessen. Und da … – aber warten Sie, ich zeige es Ihnen …“

Und er ging und brachte zwei genau aneinander passende Nußschalenhälften, die durch dunklen Siegellack verklebt gewesen. Es war eine außergewöhnlich große Nuß, und statt des Kerns hatte ein in Watte gewickelter Diamant, ein wahres Prachtstück, in den Schalen gelegen, die durch den Nußknacker nur ganz leicht zersplittert war.

Der alte Herr schilderte uns wortreich seine ungeheure Überraschung über diesen Fund. „Ich habe bisher niemandem etwas davon mitgeteilt, auch James nicht (das war ein bejahrter Diener),“ fügte der Pfarrer hinzu. „Ich wollte erst mit Ihnen darüber sprechen, Mr. Harst.“

„Sehr verständig, Ehrwürden,“ nickte Harald. „Schweigen Sie auch weiterhin.“ Und er drehte den großen, wertvollen Edelstein zwischen den Fingern und fuhr leise fort: „Ich … kenne diesen Stein nämlich. Und ich glaube bestimmt, daß der Mord an den drei Herren mit diesen Diamanten irgendwie in Verbindung steht.“

Der Reverend beugte sich vor.

„Wie das, Mr. Harst?“

„Nun, der Stein hat einem Bekannten von mir gehört, dem Grafen Söderholm in Stockholm. Am 9. April des Vorjahres, als Schraut und ich gerade in Arabien waren, wurde bei Söderholm eingebrochen und auch dieser Diamant gestohlen.“

Jetzt ruckte ich zusammen wie unter einem Fausthieb …

Hotel Atlantic in Melbourne … Speisesaal … Die Melbourne-Times und die Zusammenstellung der unaufgeklärten großen Verbrechen fielen wie ein …

Ich starrte Harald an. Aber – ein verstohlener Wink von ihm hieß mich schweigen …

Ich starrte auf die Schalen der Walnuß.

Ich hörte Harald sagen: „Diese Nuß, Ehrwürden, wird mir viel nützen. Verbergen Sie den Edelstein sorgfältig. Die Nußschalen und die Watte stecke ich zu mir.“

Da der Diener eintrat, sprachen wir wieder über den dreifachen Mord. Um 11 Uhr gingen wir zu Bett. Unsere Zimmer lagen nach hinten hinaus im Hochparterre nebeneinander. Ich galt als des Pfarrers neue Wirtschafterin, Harst als sein Studienfreund. So ward es auch James eingetrichtert.

 

5. Kapitel.

Doktor Lorms Beichte.

In den Öfen unserer Zimmer knisterten und knallten Buchenscheite. Es waren sehr alte Öfen, mit einem kaminartigen Unterbau versehen, – genau wie das Haus des Geistlichen mindestens zweihundertfünfzig Jahre stehen mochte. – Ich saß vor dem Kamin in Haralds Zimmer, hatte die Altweiberperücke abgelegt und ebenso die Frauenkleider. Ich war wieder Max Schraut mit der bekannten Hornbrille. So saß ich denn und wartete auf den Freund, der nochmals zu Mr. Wellery hinübergegangen war, um sich den Beutel mit Walnüssen auszubitten.

Draußen brauste ein nächtlicher wütender Märzsturm von der nahen Küste her über das Meer und die Stadt hinweg. Die schweren eichenen Fensterläden, von außen vorgelegt und am Fensterkreuz verschraubt, klapperten zuweilen leise. Im Ofen heulte die Windsbraut, und trotz des Unwetters jaulte auf dem Hofe der Pfarre ein verliebter Kater in herzerweichenden Tönen.

Ich wartete und rauchte und sann und sann. – Was war das nun eigentlich mit diesem Lionel Barring, den wir nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten?! Und – wer war dieser Unmensch eigentlich, der da mit so freventlichem Gleichmut den Dampfer Ozeana hatte versenken wollen, um uns beide zu beseitigen?! – Harald hatte dem Reverend gegenüber diesen Namen noch nicht erwähnt. Auch in Batavia hatte er der Polizei gegenüber verschwiegen, was er von den Explosionen im Gepäckraum hielte. Kurz: Diese Person dieses Lionel Barring schwebte für uns noch wie ein Nebelgebilde ungreifbar, undeutlich in der Luft. –

Dann kehrte Harald mit dem Nußbeutel zurück, schob den großen Tisch an den Kamin, stellte eine altehrwürdige Petroleumlampe zurecht und breitete die Nüsse auf der Tischdecke aus.

„Jede einzeln – und recht sorgfältig!“ sagte er nur.

So fanden wir denn bei dieser Untersuchung noch siebzehn Nüsse heraus, die mit bräunlichem Siegellack unauffällig zugeklebt waren. Nachdem wir sie vorsichtig geöffnet hatten, lagen vor uns … sechzehn prächtige große Perlen von wunderbarem Glanz, Perlen von so auserlesener Größe und Güte, wie man sie selten antrifft. Sechzehn Perlen. Und in der siebzehnten Nuß hatte ein ganz eng zusammengefalteter Zettel gelegen, mit Tinte eng beschrieben, – eine der wichtigsten Urkunden, die wir je in der Hand gehabt haben.

Sie lautete:

„Ehrwürden! Sie haben einem Manne Ihre Freundschaft geschenkt, der – – ein Verbrecher war! – Ich sage „ein Verbrecher war,“ denn ich weiß, daß Sie nur nach meinem Tode sich mit Recht als Erben des Nußbeutels als einer wertlosen Sache betrachten und dann vielleicht diesen Zettel sowie die Perlen und den Edelstein finden werden – – vielleicht! Sollten diese Dinge einem anderen durch einen Zufall in die Hände geraten, so flehe ich den Betreffenden an, die Juwelen dem Grafen Söderholm in Stockholm, Karl Johanns-Gate 15, persönlich und verschwiegen zu überbringen. Der Graf wird ihm dann eine hohe Belohnung auszahlen und bestimmen, was zur Unschädlichmachung dieses rätselhaften menschlichen Ungeheuers, das sich Lionel Barring nennt, zu unternehmen ist. – Nun wende ich mich wieder an Sie, Ehrwürden, und zwar mit genau derselben Bitte. Senden Sie die Juwelen dem Grafen, dieses mein Bekenntnis aber an den Berliner Privatdetektiv Harald Harst, der einzig und allein diesen Lionel Barring, meinen Mörder, zu entlarven imstande ist. – Ich behaupte: Barring ist mein Mörder! Mögen die Begleitumstände meines Todes auch noch so sehr auf einen Unfall oder ein natürliches Ende schließen lassen: all das trügt! Ich bin bestimmt beseitigt worden! – Damit Sie, Ehrwürden, oder auch Graf Söderholm oder mein Landsmann Harald Harst über dieses letzte Jahr meines unseligen Lebens genau unterrichtet sind, damit Sie wissen, wie und wo Sie Barring zu suchen haben, teile ich Ihnen folgendes mit: – Ich bin tatsächlich Doktor der Philosophie und Bibliothekar. 1921 ging es mir so schlecht, daß ich aus Not aus der Staatsbibliothek in London verschiedene seltene Bücher stahl. Ich wollte sie in London verkaufen. Ein Zufall führte mich mit Lord Allan Gnirable zusammen, der dann seinen Rechtsbeistand, den Advokaten Lionel Barring, zu mir schickte, da der Lord Bedenken hatte, ob die Bücher auch einwandfreier Herkunft seien. Barring sagte mir auf den Kopf zu, daß ich die Werke gestohlen habe. Er hatte mich ganz in der Hand und hätte mich der Polizei übergeben können. Mit zynischer Offenheit erklärte er mir, er wolle mich schonen und mir auch eine Anstellung bei Lord Gnirable verschaffen, wenn ich seinen Befehlen fernerhin blindlings gehorche. Ich – – wurde so sein willenloser Sklave, mußte ein Schriftstück mit dem Eingeständnis des Diebstahls unterzeichnen, wurde Bibliothekar auf Schloß Gnir und zugleich – – Mitglied einer seltsamen Verbrechergemeinschaft, deren Oberhaupt Barring ist. Sie nennt sich „Die große Null“ und ist in Sektionen zu je drei Mann eingeteilt. Nur die drei Mitglieder einer Sektion kennen sich. Im übrigen gibt es innerhalb der „großen Null“ verschiedene Grade. Zu den Versammlungen, die stets nachts in den Tokkara-Höhlen stattfinden, erscheinen die Mitglieder maskiert. Ich habe drei solcher Versammlungen mitgemacht. In der letzten am 3. Oktober 1922 wurde ein Mitglied der Sektion 8 zum Tode verurteilt wegen Verrats der Bundesgeheimnisse. Ich weiß, daß der Mann jener Thomas Gould war, der als Ingenieur ebenfalls in den Diensten des Lords stand. Er wurde von der Euston-Klippe in die Tiefe gestürzt. Alle Welt hat an einen Unfall geglaubt. – Ich, ferner der Stallmeister des Lords, Mr. Beckerley[9], und der Chauffeur Evans gehörten zur Sektion 6. Wir drei haben unter Anleitung Lionel Barrings den Einbruch bei dem Grafen Söderholm verübt. Von der Beute unterschlugen wir den Edelstein und eine Perlenkette, da wir entschlossen waren, nach Amerika zu fliehen, um Barrings Tyrannei zu entgehen. Wir drei leben nun in ständiger Angst, daß Barring uns wegen Unterschlagung der Beutestücke in den Tokkara-Höhlen aburteilen läßt. Er scheint zu ahnen, daß wir ihn belogen und den Stein und die Perlenkette nicht verloren haben, wie wir angaben. Findet man uns also einmal tot auf, so sind wir – – gerichtet worden! – Barring wohnt zumeist in London, Welwerstreet 18. Sie, Ehrwürden, kennen ihn ja persönlich. Dieser elegante, blondbärtige, liebenswürdige Schein-Gentleman ist in Wahrheit das gefährlichste Ungeheuer, ein Tiger in Menschengestalt. Wüßte der Lord, der trotz seiner Schwächen ein so grundgütiger, vornehmer Charakter ist, wem er sein volles Vertrauen als seinem Vermögensverwalter, eben diesem Barring, schenkt, dann würde er diese Bestie schleunigst den Gerichten ausliefern. Und doch dürfte es sehr schwer sein, Barring zu überführen. Wir drei, Beckerley, Evans und ich, leben fraglos nicht mehr, wenn Sie dies lesen. Als Zeugen können wir nicht mehr auftreten, und diese Niederschrift wird Barring als das Erzeugnis eines irren Geistes hinstellen. Er hat mächtige Freunde. Seine Beziehungen reichen bis zur englischen Königsfamilie hinauf. Ich gebe daher Harald Harst den Rat, zunächst nur die Tokkara-Höhlen zu beobachten und zu versuchen, die „große Null“ bei einer Versammlung zu überraschen. Nur so wird er Barrings Untaten aufdecken können. – Nochmals danke ich Ihnen, Ehrwürden, für die Stunden, die ich mit Ihnen in angeregter Unterhaltung verleben durfte. Verzeihen Sie, daß ein Verbrecher es gewagt hat, Ihre Hand in die seine zu nehmen. – Dr. Gustav Lorm.“

Nachdem Harald mir dieses Bekenntnis leise vorgelesen hatte, sagte er sinnend:

„Nun wissen wir, weshalb Maria Gould nach Australien gekommen war. Sie will ihren ermordeten Gatten rächen. Nun wissen wir genug, um den Kampf gegen Lionel Barring beginnen zu können.“

Hätte Harald damals geahnt, wie wenig wir in Wahrheit über Barring wußten, würde er diese letzte Äußerung nicht getan haben.

Jedenfalls: Der Kampf begann! –

Wie er begann?! – – Lieber Leser, Deine Phantasie reicht da nicht aus, wirklich nicht! Du wirst das sehr bald zugeben müssen …

 

 

Die drei Rauchsignale.

 

1. Kapitel.

Lionel Barring – ein Phantom!

Es war inzwischen Mitternacht geworden. Irgendwo im Hause schlug eine alte Standuhr dröhnend zwölfmal.

Ich zählte die Schläge mit, schaute dabei auf Harst, der mit Lorms Zettel in der Linken tief in einem alten Lehnstuhl lag und die Füße dem Kamin zugestreckt hatte, eine Mirakulum rauchte und die Augen halb geschlossen hatte.

Der Märzsturm verschlang mit seinem Toben zuweilen das Dröhnen der lauten Uhrschläge, daß ich ganz scharf hinhorchen mußte, um richtig mitzählen zu können.

Nun der letzte Schlag …

„Zwölf!“ sagte ich unwillkürlich halblaut.

Da geschah etwas Seltsames.

Haralds lässige Gestalt bekam Leben. Sein linker Arm fuhr nach vorn, und Doktor Lorms zu einem kleinen Ball zusammengeknüllter Zettel verschwand in der weit offenen Tür des Ofens – mitten in die flammenden Buchenscheite hinein …

Dann wandte Harst den Kopf, sah mich sehr ernst an und flüsterte rasch:

„Wie konnten wir nur! Unsere Clementpistolen liegen noch im Koffer!“

Und wieder da ein Neues, Unerwartetes: Die nur angelehnte Tür nach meinem Zimmer flog auf.

Auf der Schwelle stand … Lionel Barring, in einen dunklen Pelz gehüllt, auf dem Kopfe einen schwarzen Velourshut.

Lionel Barring – genau so, wie ich sein Gesicht aus dem Atlantic in Melbourne noch in Erinnerung hatte: vornehm, schmal, frisch, mit etwas blasiert zugekniffenen Augen!

Er zog den Hut und sprach mit halb zurückgewandtem Kopf in das dunkle Nebenzimmer hinein:

„Ihr kennt Eure Instruktion!“

Dann verbeugte er sich vor uns und sagte mit einer wirklich schleimigen, heiseren Stimme, die so scheußlich war, daß sie das angenehme Gesicht sofort vergessen ließ:

„Guten Abend, meine Herren. Sie gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze. Wir dürften einiges zu klären haben.“

Er nahm einen Stuhl und wollte an der Schmalseite des Tisches, am weitesten vom Kamin und von der Lampe weg, Platz nehmen.

Mit einem Male bemerkte er da die sechzehn Perlen. Blieb einen Moment wie erstarrt, lächelte sofort …

„Ah – sehr interessant! Sehr! Der Söderholm-Schmuck!“

Dann setzte er sich, knöpfte seinen Pelzmantel auf, der einen breiten Persianerkragen hatte, legte den Hut in den Schoß und schlug ein Bein über das andere.

Obwohl er halb im Schatten saß, konnte ich doch feststellen, daß sein blondes gescheiteltes Haupthaar recht dünn war, und daß er über dem rechten Auge nach der Schläfe zu eine rötliche geschlängelte Narbe hatte. –

Die Handschuhe behielt er an, faßte nun in die Innentasche des Pelzes und brachte ein Pappschächtelchen Zigaretten zum Vorschein. Etwas umständlich brannte er eine Zigarette mit Korkmundstück an und sagte dabei:

„Eine abscheuliche Nacht, meine Herren. Trotzdem habe ich die Mühe nicht gescheut und bin hierher geeilt, um Sie beide vor weiteren Unvorsichtigkeiten zu warnen und um Ihnen das absolut Zwecklose einer Einmischung in mein Tun und Treiben klarzumachen.“ Er rauchte ein paar Züge. „Ich wohne zur Zeit wieder einmal im Schlosse Gnir als Gast meines … Prinzipals, des Lords,“ fuhr er fort. „Das heißt: ich bin gleichzeitig auch in London und anderswo, Mr. Harst, da ich die Fähigkeit besitze, mein Ich zu vervielfältigen.“

„Hm!!“ machte Harald ironisch und gähnte dann ungeniert.

Lionel Barring verneigte sich nach Harst hin. „Sie werden sehr bald merken, daß ich nicht phantasiere. Wenn Sie morgen früh in London telephonisch beim Traveller-Klub anfragen wollen, wird man Ihnen antworten, daß Rechtsanwalt Barring um diese Zeit dort mit Lord Baldrouf und Sir Garnalan Karten gespielt hat, umgeben von genug Zeugen, die jederzeit beeiden könnten, daß dies der Wahrheit entspricht. – Wie denken Sie sich also wohl Ihr Eingreifen in meine Liebhabereien, Mr. Harst? Ich bin unmöglich zu fassen. Man wird Sie auslachen, wenn Sie etwa behaupten wollten, ich hätte den Dampfer Ozeana versenken wollen. Denn – Advokat Barring ist noch nie in Australien gewesen, könnten tausend Menschen bezeugen. Advokat Barring hat sich seit Januar des Jahres stets nur für wenige Tage aus London entfernt. Also – wie denken Sie sich das alles?“

„Meine Sache!“ erklärte[10] Harald kühl.

Barring rauchte hastiger. „Sie wollen also tatsächlich nach Schloß Gnir, Mr. Harst, – so scheint es! Gut, ich habe nichts dagegen. Durchaus nicht.“ Sein Lächeln war boshafter Hohn. „Gehen Sie nur hin! Und dann reden wir morgen weiter. Dann werden Sie bereits eingesehen haben, daß Sie einem Phantom nachjagen. In Schloß Gnir machen Sie dann auch die Bekanntschaft zweier kompletter Narren von der Londoner Polizeigarde, des Detektiv-Inspektors Groubby und des Wachtmeisters Scheffer, die Seiner Lordschaft sich verschrieben hat, damit sie den dreifachen Mord aufklären!! Wie albern! Die drei Männer sind einfach betrunken gewesen und im Schnee an der Klippe abgerutscht.“

Harst gähnte abermals.

„Ah – Sie sind müde. Dann will ich nicht weiter stören, meine Herren. Also morgen auf Wiedersehen bei Seiner Lordschaft. – Die Perlen nehme ich mit. Den hübschen Söderholm-Stein habe ich übrigens schon. Bitte – hier ist er. Der gute Reverend hatte ihn in einer Vase versteckt.“

Er erhob sich, trat an den Tisch heran und nahm die Perlen langsam in die Hand, eine nach der anderen.

„Wo ist Frau Gould geblieben?“ fragte Harald ganz unvermittelt.

Barring blickte erstaunt zu Harst hinab.

„Frau Gould?! – Meinen Sie die Gattin des verunglückten Ingenieurs Gould?“

„Eine Frau Gould meine ich. Ob ihr Mann Ingenieur war, weiß ich noch nicht. Jedenfalls war Frau Gould in Melbourne.“

Barring stand minutenlang reglos. Dann sagte er achselzuckend:

„Mir gleichgültig, Mr. Harst! Die Dame geht mich nichts an.“

Er las die letzte Perle vom Tisch auf.

„Sie geben zu, diese Perlenschnur dem Grafen Söderholm gestohlen zu haben?“ fragte Harald da ebenso unvermittelt.

„Ja und nein. Lionel Barring stahl die Juwelen – gewiß, aber – wer ist denn Lionel Barring?! Ein sehr angesehener Advokat von 36 Jahren in London, der gleichzeitig auch anderswo und auch an einem dritten Orte sich zeigt. Welches Gericht würde mich verurteilen?!“

Er stand dicht neben Harald – so dicht, daß dieser nur zuzupacken brauchte …

Und – – er tat’s.

Er fuhr empor, umfaßte Barrings Handgelenke mit eisernem, blitzschnellem Griff …

„Schraut – ein Stück Schnur her!“ rief er. „Der Schurke tat nur so, als hätte er im Nebenzimmer Verbündete! Rasch – –!“

Meine Augen glitten zur Tür – – unwillkürlich.

Und – – keuchend sagte ich:

„Gib ihn frei, Harald! Da stehen drei Männer mit Masken vor …“

Harst hatte Barring schon losgelassen und setzte sich wieder. Sein Gesicht war blaß geworden.

Barring winkte mit dem Kopf nach der Tür hin. Zwei der Maskierten verschwanden. Der dritte nahm die lang herabfallende schwarze Seidenmaske ab und kam schnell bis an den Tisch in den Lichtkreis der Lampe.

Dieser Mann glich in Anzug und Gestalt, Gesicht, Haartracht und Größe genau Lionel Barring. Sogar die Narbe war vorhanden.

Ich starrte abwechselnd den einen, den anderen an …

Hörte kaum hin, daß Barring uns gute Nacht wünschte …

Starrte den beiden nach …

Bis die Tür zum Nebenzimmer ins Schloß fiel …

Und blickte dann auf Harst.

Der langte nach einer neuen Mirakulum, flüsterte zwischen den Zähnen hindurch:

„Bei Gott, mein Alter, ich habe doch schon manches erlebt!!“

Mehr sagte er nicht. Aber auch das genügte. Das gab meine eigene Stimmung treffend wieder.

 

2. Kapitel.

Die Wahnsinnige.

Minutenlang schwiegen wir. Ich fühlte, daß meine Hände vor innerer Erregung eiskalt geworden waren. Ich stand auf und holte aus dem einen Koffer die Reiseflasche mit Kognak, schraubte den Aluminiumbecherdeckel ab, und … ein Papier flatterte auf den Teppich.

Ein Streifen Papier, der in dem Deckel gelegen hatte. Und darauf war mit Maschine geschrieben:

„Wohl bekomm’s! Sie haben es nötig! – Barring.“

Mir zitterte plötzlich die Hand.

Dieser Mensch hatte sich also hier bereits eingeschlichen gehabt, hatte genau vorausgesehen, in welcher Verfassung zum mindesten ich nach seinem Besuch zurückbleiben würde!!

Harst las den Streifen und – – sagte nichts. Aber auch er trank drei Becherchen Kognak.

Die Standuhr schlug halb eins, – – zwei Schläge.

Harald ging ins Nebenzimmer, nahm die Lampe mit.

Was – – fanden wir? Was?!

Leser, strenge Deine[11] Phantasie bis zum äußersten an. Errätst Du es?! – Nein – – niemals!

Stelle Dir vor, daß Du dieses Zimmer betrittst, um Dich zu vergewissern, ob die vier Männer es wirklich verlassen haben.

Stelle Dir vor, daß der Lichtschein der Petroleumlampe Dir plötzlich eine auf dem Bett reglos daliegende weibliche Gestalt zeigt, daß du sofort in dieser Frau – – Maria Gould erkennst!!

Stelle Dir das alles vor, bedenke dabei auch, daß Lionel Barring als glänzender Komödiant ganz so getan hatte, als ob ihm Frau Gould so gut wie fremd wäre!

Und nun lag sie da auf meinem Bett in all ihrer lieblichen Schönheit, der selbst die tiefen Runen des Seelenschmerzes um Mund und Augen wenig Abbruch taten.

Harst gewann als erster seine Fassung zurück.

„Sie lebt, sie ist nur durch Äther betäubt,“ sagte er nach kurzer Untersuchung.

Wir trugen sie ins andere Zimmer, legten sie auf den Diwan, den wir vor den Kamin schoben.

Nach zehn Minuten hatte Harald sie ins Leben zurückgerufen.

Leider – – leider!!

Denn, was wir dann mitmachten, war grauenvoll, griff ans Herz, ließ jeden feinsten Nerv vibrieren.

Kaum hatte Frau Gould sich etwas erholt, kaum mit bewußtem Blick uns angesehen, als sie einen gellenden, wahnwitzigen Schrei wildester Angst ausstieß …

„Geht – – geht!!“ kreischte sie überlaut. „Habt Erbarmen! Nehmt – – nehmt die Schlange weg!“

Sie schnellte auf, stolperte, verkroch sich in der einen Ecke von Kamin und Wand, wimmerte, heulte auf …

Wir standen dabei – blaß untätig …

Wir hatten Schweißperlen auf der Stirn …

Und von draußen donnerte jetzt der Reverend gegen die Tür …

„Ha – was ist geschehen?! Wer schreit da?!“

Ich öffnete.

„Die – – die Schlange!!“ kreischte die arme Wahnsinnige. „Oh – – sie erdrückt mich! Ich … ich sterbe – – sterbe!“

Und mit einem qualvollen Seufzer sank sie plötzlich in Ohnmacht.

Harst legte sie auf den Diwan zurück. – Der alte Herr bebte ebenfalls an allen Gliedern. – Der Diener erschien.

Harald wandte sich an den Reverend.

„Sie haben Telephon, Ehrwürden. Ich möchte Lord Gnirable anrufen. – Bitte, fragen Sie nichts. In Gegenwart Seiner Lordschaft sollen Sie alles hören.“

James rief: „Ich hole den Apparat. Dort ist eine Schaltdose.“

Er kehrte sofort zurück. Harald rief das Postamt an, bekam auch nach einer Weile Verbindung mit Schloß Gnir. Ein Diener des Lords meldete sich.

„Wecken Sie sofort Seine Lordschaft und bestellen Sie, daß Harald Harst ihn im Pfarrhause von Lammerty erwartet. Seine Lordschaft soll auch die beiden Londoner Detektivbeamten mitbringen. – Halt, noch eine Frage … Wohnt Mr. Barring zur Zeit im Schlosse? – Ja? – Dann soll er nichts davon erfahren, daß Seine Lordschaft das Schloß verläßt. Verstehen Sie: nichts! Bestellen Sie auch das dem Lord.“

Das Gespräch war beendet. – Harald entnahm unserer Reiseapotheke ein Schlafmittel und flößte es mit meiner Hilfe Frau Gould ein.

„Wir werden sie in eine Anstalt schaffen müssen,“ sagte er zu dem Geistlichen. „Sie ist irgendwo vor Angst irrsinnig geworden.“

Der Reverend saß mit gefalteten Händen im Lehnsessel. Der alte Diener stand hinter dem Sessel – beide genau so verstört wie wir.

„Die arme, arme Frau!“ meinte der Pfarrer mit zitternder Stimme. „Mr. Harst, ich habe sie ja getraut, die hübsche Maria Everson und den stattlichen Gould, der nachher von der Klippe stürzte. Sie waren erst zwei Jahre verheiratet. Maria Everson war vorher Kinoschauspielerin …“

„Ah!“ machte Harst. „Daher – – daher!!“

Der Reverend warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Frau Gould war in Melbourne, Ehrwürden,“ erklärte Harald. „Und zwar in verschiedenen Masken, so auch als Professor Tougreeve.“

„Nicht möglich!“

„Sie war ja Filmschauspielerin, verstand mit Perücken, Schminken und so weiter umzugehen …“

„Allerdings – allerdings. Sie stellte im Film vielfach Hochstaplerinnen in Männerkleidung dar. – Doch – was bedeutet dies alles? Wer ist Mistreß Gould …“

„Später, Ehrwürden … Wenn der Lord ein Auto benutzt, kann er in zehn Minuten hier sein. – Hat er ein Auto?“

„Drei, Mr. Harst.“

„Er ist reich?“

„Hm – unter uns, – er spielt. Er ist ständiger Gast in Monte Carlo. Als er Lord Gnirable wurde, als sein Vater gestorben war, übernahm er nichts als Schulden. Dann … Aber das interessiert Sie kaum?“

„Nicht sehr, Ehrwürden. – Etwas anderes. Gibt es hier in der Nähe eine Höhle, die Tokkara heißt?“

„Ja – eine sehr ausgedehnte Höhle, aber schwer zugängig.“

Ich hatte zufällig des Dieners James Gesicht flüchtig gemustert, als Harald nach der Höhle fragte. Vielleicht auch halb in dem Gedanken, James könnte darüber Auskunft geben. So sah ich denn, daß James’ Augen mit einem Male schreckhaft sich weiteten und daß seine Blicke wie gebannt auf Harald hafteten.

Aber auch Harst war dies nicht entgangen.

„Nun, James, haben Sie noch etwas zu bemerken?“ meinte er leichthin.

Dem alten Graukopf schoß das Blut ins Gesicht. „Ich – ich?!“ stammelte er. „Ich kenne die Höhle nicht. Selbst als Junge bin ich nicht dort unten gewesen, Mr. Harst.“

Der Reverend wandte den Kopf. „James, Du vergißt, was Du mir letztens erzählt hast,“ sagte er gütig. „Besinne Dich – von den drei Rauchsäulen, die Du …“

„Aber Ehrwürden,“ platzte der Diener heraus, „das – das ist doch nur ganz nebensächlich, denke ich.“

„Nun, so sehr nebensächlich kam mir das doch nicht vor, lieber James,“ erklärte der Pfarrer. „Teile mal Mr. Harst Deine Beobachtungen mit.“

„Was gibt’s da viel zu berichten,“ brummte der Alte widerwillig. „Wenn ich mir recht überlege: ich habe da aus einer Mücke einen Elefanten gemacht!“

„Oho,“ meinte der Reverend. „Plötzlich so anders gesonnen, James?! Deutetest Du mir damals vor etlichen Wochen nicht an, daß es mit den drei Rauchsäulen was Besonderes auf sich haben müßte?!“

Harald, der an der Kaminecke lehnte, sagte nun freundlich: „James, ich bin verschwiegen. Also sprechen Sie.“

„Hm, ja – die Sache ist also die, Mr. Harst. Mein Bruder ist verheiratet und wohnt jenseits des Lammerty-Moors, dicht an der Küste als Pächter eines kleinen Bauerngehöftes. Alle Sonntag besuche ich ihn und wandere dann zu Fuß nach Tokkara-Roof, so heißt der Pachthof. Schon im vorigen Herbst fiel mir da auf, daß aus der Gegend, wo sich etwa die Tokkara-Höhlen unter den felsigen Hügeln entlang ziehen, häufig drei Rauchsäulen aus diesen Hügeln emporquellen. Meist war es schwarzer Rauch, aber auch weißen und gelben habe ich beobachtet. Einmal ging ich aus Neugierde in die Hügel hinein, die sonst kein Mensch betritt, weil es dort nur Steine und Moor gibt. Ja – und da verschwanden die drei Rauchsäulen plötzlich. Das wäre alles.“

Der Pfarrer warf jedoch noch ein: „James glaubt, es seien Signale, Mr. Harst.“

Harald konnte nichts weiter fragen, da jetzt sehr derb an der Zugglocke der Gartentür gerissen wurde.

„Der Lord!“ rief der Reverend.

„Ja,“ nickte Harald. „Ich hörte das Auto trotz der Sturmstöße. Gehen wir in Ihr Studierzimmer, Ehrwürden.“

 

3. Kapitel.

Der echte Barring.

Lord Allan Gnirable war ein Mann schwer bestimmbaren Alters mit einem bartlosen, blassen Gesicht. Seine Haltung war schlaff und müde, seine Bewegungen langsam und bedächtig. Er trug einen kurzen Sportpelz und darunter einen dunklen Anzug, dessen Westenausschnitt weiß eingefaßt war. Das volle, in der Mitte gescheitelte Haupthaar war bereits an den Schläfen etwas ergraut. Aus dem Westenausschnitt hing eine dünne Seidenschnur heraus, an der ein Monokel ohne Fassung befestigt war. Er benutzte dieses Einglas sehr oft, da sein rechtes Augenlid ein wenig herabfiel, offenbar eine nervöse Schwäche. Klemmte er das Monokel ein, so war dieser Fehler des rechten Auges weniger bemerkbar.

Er begrüßte uns mit einer vollen, aber sehr bedächtigen Stimme mit herablassender Freundlichkeit. Dem Pfarrer nickte er nur zu. Sehr leutselig war dieser Herr jedenfalls nicht.

Seine Begleiter Groubby und Scheffer hatten typische Polizeigesichter, waren klein und sehnig und schienen vor Seiner Lordschaft vor Respekt zu ersterben.

Der Lord setzte sich in des Pfarrers Schreibsessel und winkte mir zu, gleichfalls Platz zu nehmen.

Dann wandte er sich sofort an Harald.

„Mr. Harst, weshalb soll denn mein Vermögensverwalter Mr. Barring nicht erfahren, daß ich hierher gebeten wurde?! Überhaupt – weshalb sind Sie beide hier bei dem Reverend abgestiegen?!“

„Ich soll den dreifachen Mord aufklären, Mylord,“ erwiderte Harst kühl. „Meine Detektivarbeit erfordert volle Handlungsfreiheit. Ich bin kein Spitzel, Mylord, der Material für Ehescheidungsklagen sammelt. Ihre dreitausend Pfund stehen Ihnen wieder zur Verfügung.“

Der Lord klemmte rasch sein Einglas ein und warf Harald einen halb belustigten Blick zu.

„Mr. Harst, danke für die Richtigstellung unserer Beziehungen. Wenn man nur von katzbuckelnden Kreaturen umgeben ist, wird man noch hochmütiger. – Also – was ist’s mit Lionel Barring?“

„Er wohnt jetzt im Schloß, Mylord. Wann ging er heute zu Bett?“

„Heute …? – Hm – wir saßen bis etwa Mitternacht in der Bibliothek und prüften Rechnungen. Dann verabschiedete Barring sich.“

„Also bestimmt um Mitternacht?“

„Ja. Es mag ein paar Minuten vor zwölf gewesen sein. – Weshalb fragen Sie so merkwürdig, Mr. Harst?“

„Weil Barring Punkt zwölf hier in der Pfarre war.“ Und er erzählte nun ganz kurz die Geschehnisse, ohne jedoch Doktor Lorms Geständnis zu erwähnen.

Lord Gnirable schüttelte immer wieder den Kopf.

„An Ihren Angaben ist gar nicht zu zweifeln,“ meinte er darauf. „Und trotzdem klingt das alles wie ein Kapitel aus einem Schauerroman: ein Beutel Nüsse, Juwelen, Diebstahl, ein Mann, der sich rühmt, an mehreren Orten gleichzeitig weilen zu können, eine arme Irrsinnige, drei Maskierte …, – was sagen Sie dazu, Inspektor?“ fragte er Groubby.

Der zuckte die Achseln. Sein listiges Fuchsgesicht blieb undurchdringlich. – „Mister Barring ist ein Ehrenmann,“ meinte er.

„Den wir sofort herbeirufen werden,“ fügte Gnirable hinzu. „Ich werde telephonieren.“

Er tat’s. Da das Fremdenzimmer Barrings ebenfalls Telephon hatte, sprach der Lord mit dem Anwalt selbst.

„Noch nicht im Bett, Barring? Noch arbeiten? Das trifft sich gut. Kommen Sie sogleich hier zu Reverend Wellery. Harst ist da. – Ja – Harald Harst, denken Sie! – Wie?! Deutlicher, Barring! Ihre chronische Heiserkeit verlangt, daß Sie langsam sprechen. – Gut – beeilen Sie sich!“

Er legte den Hörer weg und sagte zu Harald: „Barring war nicht schlecht erstaunt, daß Sie plötzlich hier aufgetaucht sind. – Doch nun zu dem dreifachen Mord. Inspektor, berichten Sie!“

Groubby hatte mancherlei zu erklären. Daß er kein Dummkopf war, merkte man schon an der streng logischen Art seiner Ausführungen. Jedenfalls hatte er ganz unumstößliche Beweise dafür, daß die drei Männer weder betrunken gewesen waren noch verunglückt sein konnten. Sie mußten gewaltsam hinabgeworfen worden sein. – Zum Schluß kam er mit seinem letzten Trumpf hervor:

„Sie waren gefesselt, kurz bevor sie zerschmettert wurden und starben. Ihre Handgelenke zeigten noch die Hautabschürfungen brutaler Fesselung. Und bei zweien fand ich im Mund Wollfäden von Knebeln. Man hat sie alle drei gebunden zur Euston-Klippe geschafft, behaupte ich.“ Und er schaute Harst dabei an, als ob der ihm recht geben sollte.

Harald schwieg.

Lord Gnirable meinte in seiner müden Sprechweise: „Wer soll sich aber an den dreien vergriffen haben, Inspektor?! Es waren harmlose, pflichttreue Männer.“

„Wo wurden sie zum letzten Male an jenem Abend gesehen?“ fragte Harald jetzt, indem er sein Zigarettenetui hervorzog.

„Gegen 10 Uhr,“ erwiderte der Detektivinspektor. „Ein Kaufmann aus Lammerty traf sie unweit der Felsenhügel auf dem Moor. Sie schienen nur spazieren zu gehen, rauchten und unterhielten sich lebhaft.“ –

Ich war nun vollends überzeugt, daß die „große Null“ die drei verurteilt und beseitigt hatte.

Harald rauchte. Auch der Lord hatte sich eine der Zigarren des Pfarrers angezündet.

Eine geraume Weile blieb es still. Der Sturm draußen hatte sich noch verstärkt.

Dennoch hörten wir alle, da wir jetzt in einem der Vorderzimmer saßen, das rasch sich nähernde Geräusch eines Autos. Es hielt vor dem Hause.

„Wie, schon Barring?!“ rief der Lord. „Das ist ja …“

Er brach mitten im Satze ab.

Das Auto fuhr weiter. Das Rattern des Motors ging im Heulen der Windsbraut unter.

„Seltsam,“ murmelte Gnirable.

Harst winkte mir. „Wir sind sofort wieder da,“ sagt er zu den übrigen Herren.

Wir gingen über den Flur in sein Zimmer.

Der Diwan war leer. Maria Gould fehlte.

„Man hat sie also wieder entführt,“ meinte Harald. „Ich dachte mir so etwas. Es wird Barring gewesen sein.“

Er bückte sich, zeigte auf das eine Kissen des Diwans, wo noch der Eindruck des Kopfes der armen Frau sichtbar war. In dieser Einbeulung des Kissens lag … eine der Söderholm-Perlen.

Harst seufzte und blickte mich an. „Barring!! Wer ist Barring?! Ein Phantom!“ sagte er trübe. „Der Mensch fängt an mir fürchterlich zu werden.“

Dann kehrten wir in das Vorderzimmer zurück, wo die Meldung von Frau Goulds Verschwinden die größte Aufregung hervorrief.

Lord Gnirable wollte durchaus festgestellt haben, wie die Entführer ins Haus gelangt waren. Wir alle schritten zur Hintertür, die auf den Hof mündete. Sie war … weit offen.

James fanden wir nebenan in der Küche am Tisch fest eingeschlafen vor. Er hatte nichts gehört, gar nichts, behauptete er.

Und – das war der zweite Umstand, der mir den Alten verdächtig machte. Ich war überzeugt, daß er kein ganz reines Gewissen haben konnte. Seine zögernden Angaben über die Rauchsäulen und sein fast entsetzter Blick hatten schon vorher mein Mißtrauen erregt. Nun traute ich ihm nicht mehr. –

Als wir wieder im Nebenzimmer Platz genommen hatten, wurde abermals Autogeräusch vernehmbar. Diesmal war es wirklich Lionel Barring.

Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Spannung ich auf die Tür schaute, durch die er eintreten mußte.

James riß die Tür auf, meldete:

„Mister Barring …“ –

Barring … Lionel Barring …!

Phantom …!

Rätselwesen …!

Barring – genau derselbe Barring wie die beiden anderen – genau: Pelzmantel, Velourshut, Krawatte, dünnes Haar, Narbe, Stimme – – alles – – alles stimmte!!

Er verbeugte sich. Der Lord stellte uns ihm vor.

Er reichte uns die Hand.

„Sehr erfreut, Sie beide kennen zu lernen.“

Er hatte ein gewinnendes, liebenswürdiges Lächeln. Nur – – die Stimme war scheußlich, wie bei den anderen Barrings! – Wie viele gab es davon?! Drei – vier?! – – Unglaublich!! –

Harst berichtete abermals die Ereignisse.

Barring, jetzt ohne Pelz und Handschuhe, hörte wortlos zu. Nachher sagte er nur:

„Ich war um Mitternacht mit Seiner Lordschaft in der Bibliothek des Schlosses, Mr. Harst. Also kann ich unmöglich hier gewesen sein.“ Dann lächelte er. „Übrigens – ich habe bereits mehrfach über mich seltsame Dinge gehört. Bisher ließen diese Gerüchte mich kalt. Jetzt aber“ – sein Gesicht verfinsterte sich – „wünsche ich diesem Unfug ein Ende zu machen. Sie haben an mir keinen schlechten Verbündeten, Mr. Harst. Verfügen Sie über mich!“

Harald nickte. „Gut, Mr. Barring. Ich werde Sie nicht vergessen. – Haben Sie Brüder?“

„Nein, nur eine Schwester. – Sie meinen, es könnten Zwillingsbrüder[12] von mir sein?!“

„Möglich ist alles, Mr. Barring. – Wir können nun also wieder an unsere Nachtruhe denken, meine Herren. Ich werde morgen oder besser heute mittag nach Schloß Gnir kommen, Mylord.“

„Bitte, dann um 1 Uhr zum Frühstück, Mr. Harst.“

Die Schloßbewohner brachen auf.

Das Schrillen des Telephons störte diesen Aufbruch. – Der Reverend meldete sich, sagte dann zu Harald: „Sie werden gewünscht.“

Harst rief seinen Namen in die Muschel …

„Ah – Mister Barring … Wie meinen Sie? – So, danke …“ – Und er legte den Hörer weg.

„Mylord,“ erklärte er, „Lionel Barring hat Frau Gould in die Nervenheilanstalt des Doktors Mainargar gebracht. Dies wollte er mir mitteilen. Weiter nichts.“

Der echte Barring wurde rot vor Grimm.

„Das – das ist ja unerhört!“ rief er. „Das ist Unfug, Mißbrauch meines Namens.“

Harst sagte langsam: „Das ist weit mehr, Mr. Barring. Das ist ein Kampf gegen Gespenster. Aber – ich nehme diesen Kampf auf! – Gute Nacht …“ Er verbeugte sich. Wir gingen in unsere Zimmer hinüber.

 

4. Kapitel.

Eingekreist.

Hier warf Harald sich erschöpft in den Lehnsessel. „Das kostet Nerven, mein Alter! Das kostet Nerven!“

Ich setzte mich ihm gegenüber. „Was nun?!“ fragte ich. „Was wirst Du beginnen?“

„Warte …!“ – Er stand auf und trat halb in den Flur.

„Ehrwürden – einen Augenblick!“ rief er.

Die Autos mit den Schloßbewohnern fuhren gerade von dannen.

Der Pfarrer kam.

„Ehrwürden, wie weit ist es bis zum Sanatorium Doktor Mainargars?“

„Zu Fuß eine Stunde, Mr. Harst, immer den Küstenweg entlang nach Süden.“

„Danke. – Könnten wir einen Imbiß mitnehmen?“

„Aber – aber Sie wollen doch nicht etwa …“

„Ich muß, Ehrwürden.“ –

Und zehn Minuten später wanderten wir beide, jetzt unmaskiert, in scharfem Tempo den Weg entlang, umtobt vom Sturme, von gelegentlichen Regenschauern, in tiefster Finsternis.

Was machte uns das aus?! Nichts – gar nichts!! Wir hatten appetitliche, dick belegte Brotschnitten mit, hatten Kognak. Wir aßen, stärkten uns, sprachen über Lionel Barring, den echten Barring, der ja fraglos harmlos, ein Ehrenmann war.

Sprachen über die unechten Barrings, über Maria Gould, über die „große Null“ mit ihren Dreimänner-Sektionen …

Hatten in den rechten Außentaschen der Mäntel die gespannten und gesicherten Clementpistolen.

Wanderten wie die Lederstrumpf-Rothäute auf dem Kriegspfade – die Augen überall – stets lauschend – alle Sinne anstrengend.

Keinem Menschen begegneten wir. Nur ein Hund trabte an uns vorbei, knurrte …

Nach einer Viertelstunde ging’s in einen langen, tiefen Hohlweg hinab. Hier verstummte der Sturm plötzlich. Die Küstenberge fingen den Wind ab. Diese Stille nach dem fortwährenden Brausen und Fauchen wirkte fast beängstigend. Und gleichzeitig teilte sich die schwarze, am Himmel dahinjagende Wolkenmasse und gab einen Teil der Sterne und den Vollmond frei. Mit einem Schlage war die Umgebung in mildes Dämmerlicht gehüllt. Der Wolkenriß verbreiterte sich immer mehr.

Und da – blieb Harald mit einem Male stehen, legte mir die Hand auf den Arm.

„Sieh,“ sagte er nur.

Ich folgte der Richtung seiner Blicke. Wir standen noch hoch genug, um über die Wände des Hohlweges hinabschauen zu können in das dunkle Land.

Ich sah nicht allzu fern neben dem Hohlweg drei flatternde Säulen, die rasch an Dicke und Höhe zunahmen: drei Rauchsäulen. Ich sah, daß sie nicht die gleiche Farbe hatten. Die mittlere war die schwärzeste.

„Rauchpatronen,“ erklärte Harald. „Also Signale! Das – – behagt mir nicht!“

Die Qualmfäden drüben schossen tatsächlich wie Fontänen empor. Niemals rührten sie von einem Feuer her.

Plötzlich krallte sich Harsts Hand um meinen Arm zusammen …

„Hörst Du …? Ein … Auto,“ flüsterte er. „Hinter uns. Noch nicht zu erkennen, da es ohne Laternen und Scheinwerfer fährt. Ich denke, wir … drücken uns!“

Er zog mich rasch seitwärts hinter ein Gestrüpp. Hier duckten wir uns zusammen – ganz klein, nahmen die Mehrlader hervor …

Eine Möwe kreischte irgendwo in der Luft.

„Ein … Mensch, ein neues Signal,“ erklärte Harst, und ich merkte, daß seine Stimme leicht schwankte.

Die Möwenschreie wiederholten sich …

Hier – – dort – – immer aufs neue …

„Eingekreist!“ flüsterte der Freund neben mir. „Richtig eingekreist! Die … große Null veranstaltet ein Kesseltreiben auf uns! – Ah – – das Auto!“

Rechts blitzten die strahlenden Streifen von Scheinwerfern – nahten rasch …

Harald warf sich lang hin. „Kriechen!“ befahl er. „Bleib’ hinter mir!“

Jede Bodenvertiefung nutzte er aus. Wir kamen nur langsam vorwärts.

Da war eine lange heckenartige Buschreihe. Auf die steuerte Harst zu.

Das Autogeräusch war verstummt. Desto lebhafter wurden die Möwenschreie.

Harald schob sich in die Büsche. Ich sah nur noch seine Beine.

Dann – aus dem Gestrüpp ein dumpfer Schlag.

Harsts Beine zuckten wie im Krampf …

Und plötzlich lagen zwei … drei Kerle auf meinem Rücken. Eine Hand suchte meine Kehle. Aber … ich schoß … schoß blindlings mit zurückgebogenem Arm …

Bis ich einen Hieb auf den Hinterkopf erhielt und bewußtlos alles über mich ergehen lassen mußte.

Der letzte Eindruck, den meine schwindenden Sinne von der Außenwelt noch verarbeiten konnten, war der Klang weiterer Schüsse, die nicht aus meiner Clement kamen. – –

Und ich tappte mich schwerfällig wieder ins Bewußtsein zurück – ganz allmählich …

Hörte, daß eine bekannte Stimme sagte:

„Mistreß, weiß der Teufel, Sie haben tadellos gezielt. Die drei Kerle sind mausetot.“

„Und drei andere sind von Ihnen angeschweißt worden, Mr. Alverson – bestimmt! – Ah – Harst kommt wieder zu sich.“

Alverson … Alverson?! Wer war das doch – wer?! – Ich strengte mein wirres Hirn an. Dann die Erleuchtung, dann ein Ruck …

Ich saß aufrecht da, hatte die Augen offen …

In einer jener aus Torfstücken ausgeführten[13] Schäferhütten befand ich mich, wie man sie noch heute hier und da auf den schottischen Hochmooren antrifft. – Ein kleines Holzfeuer brannte. Eine Laterne hing an der Wand mir gegenüber.

Albert Ernest Alverson, der Freund und Kollege aus London, der uns an den Reverend empfohlen hatte, saß neben mir, stützte mich. Und Harald wieder hatte eine zartere Stütze … – Ja – ich traute meinen Augen nicht: Maria Gould war’s – Maria Gould in einem Sportanzug mit Kniehosen! Neben ihr lag ein kurzer Pelzmantel. Ihr Blondhaar war unter einer dunklen weichen Sportmütze verborgen.

„Hallo, Boys!“ lachte Alverson leise. „Das war für Euch beide Hilfe zur rechten Zeit! Das habt Ihr Mistreß Gould zu verdanken.“

„Wasser – Wasser!“ lallte Harald.

„Hier ist Tee. Trinken Sie, Harst. – So – –! Und nun Sie, lieber Schraut. – Boys, Boys, ich sag’ Euch, ein blutiger Strauß mit den zehn Schuften war’s. Die Bande hatte Euch schön eingekesselt. Wenn Mistreß Gould nicht durch die drei Rauchsäulen …“

„Halt – erzählen Sie im Zusammenhang, Alverson. Oder besser, Frau Gould, – tun Sie es!“

„Gern, Mr. Harst.“ Sie legte ein paar Holzscheite auf das Feuer und begann: „Ich will mich recht kurz fassen. Ich war etwa ein halbes Jahr verheiratet, als ich merkte, daß mein Mann plötzlich völlig verwandelt war. Ihn bedrückte irgend etwas. Ich habe bisher nicht ermitteln können, was ihn so verändert hat. Monate vergingen. Dann wurde er tot unterhalb der Euston-Klippe aufgefunden. Ich glaubte an keinen Unfall. Ich ahnte, daß er ermordet worden war. Da ich Geld genug besaß, mich die Sache etwas kosten zu lassen, beauftragte ich Mr. Alverson, den Tod meines Gatten aufzuklären. Ich wollte ihm dabei helfen. Wir hatten jedoch keinerlei Erfolg. Nur eins stellten wir fest: daß es irgendwelche Leute gab, die in der Maske Lionel Barrings, des Londoner Anwalts und Sachwalters des Lords, dunkle Pläne verfolgten. Was – blieb uns verborgen. Endlich aber hatte ich, und das war im Januar dieses Jahres, insofern Glück, daß ich endlich entdeckte, daß einer der falschen Barrings, der unechten, der zweite Kammerdiener Lord Gnirables war, ein Mann namens Edward Tesgore. Und dieser Tesgore reiste dann kurz nach der Ermordung der drei anderen Opfer der Euston-Klippe nach … Australien. Ich wußte längst durch Mr. Alverson, daß Sie beide ebenfalls in Australien waren. So … begleitete ich denn insgeheim diesen Tesgore bis Melbourne. Was sich dort zutrug, ist Ihnen bekannt. Ich hatte erst die Absicht, mich Ihnen zu offenbaren, Mr. Harst. Aber Sie wurden so scharf beobachtet, daß ich mich darauf beschränkte …“

„Weiter – und nach der Rückkehr nach England, Frau Gould?“

„Geriet ich in die Gewalt einer Anzahl von Maskierten, die mich in London bei dichtem Nebel in ein Auto verfrachteten und mit mir davonfuhren. Sie hatten mich chloroformiert, diese Schurken, und als ich zu mir kam, lag ich in einer sehr heißen Höhle, während neben mir eine Lampe brannte. Ich war gefesselt. Stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als plötzlich eine große Schlange …“

„Wie entkamen Sie?“ warf Harald wieder ein.

„Ich entkam nicht. Die Schurken verscheuchten das Reptil, ließen mich Äther einatmen, und – ich erwachte auf dem Diwan in ihrem Zimmer, Mr. Harst. Ich erkannte Sie leider nicht, spielte die Wahnsinnige und …“

„Wohin brachten die Verbrecher Sie dann?“

„In das Sanatorium. Sie hielten mich offenbar wirklich für wahnsinnig. Einer der unechten Barrings übergab mich dem Anstaltsleiter. Aber der Arzt hat dann nachher Mr. Alverson, der mich holen kam, geglaubt, daß ich nur …“

„Sie waren also ohne Frage im selben Zuge mit mir nach Lammerty gekommen, lieber Alverson?“ fragte Harst gespannt.

„Ja. Frau Gould hatte mich zum Schweigen verpflichtet, daß ich in ihren Diensten hier tätig sei.“ –

Das Gespräch ging weiter. Es wurde eine der geistvollsten Unterhaltungen, der ich je beigewohnt habe. Zum Schluß erklärte Harst: „Sie besorgen also drei Rauchpatronen, Alverson. Morgen oder vielmehr heute gegen Abend brennen Sie sie in den Felsenhügeln ab, damit die Mitglieder der „großen Null“ auf dieses Signal hin sich zur Versammlung in der Tokkara-Höhle einfinden. Sie sorgen auch für polizeiliche Hilfe. All das überlasse ich Ihnen. Schraut und ich werden anderes erledigen: den wahren Schuldigen, den wahren Anführer der Bande festnehmen!“

„Und der ist – wer?“ fragte Alverson begierig.

„Ich weiß es noch nicht bestimmt. Haben Sie Geduld. – Jetzt führen Sie uns auf den Weg nach Lammerty.“

Die Torfhütte lag sehr versteckt. Frau Gould blieb darin zurück. Alverson geleitete uns auf die Straße. Wir hatten es bis Lammerty nicht allzu weit. – Im Pfarrhause schliefen wir fest und traumlos bis 11 Uhr vormittags. Dann machten wir Toilette für den Besuch bei Lord Gnirable: Frack – nach englischer Sitte. – Um halb eins holte uns des Lords Auto ab.

 

5. Kapitel.

Der Herr der „großen Null“.

Schloß Gnir ist ein uralter Bau mit zwei angeklebten modernen Flügeln. – An der Frühstückstafel saßen wir nur zu vieren: der Lord, der echte Barring und wir beide. – Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um den Überfall auf uns und um das tatkräftige Eingreifen Frau Goulds und Alversons. – Die Leichen der drei Erschossenen waren nicht gefunden worden. Und Harald – seltsam genug – erwähnte auch jetzt keine Silbe von Doktor Lorms schriftlichem Geständnis, noch weniger von den Rauchsignalen und unseren Vereinbarungen mit Alverson.

Um halb drei erhoben wir uns von Tisch. Der echte Barring hatte in London dringend zu tun und fuhr um 3 Uhr nach Lammerty zum Schnellzuge nach London. – So waren wir denn mit Gnirable jetzt allein in der Bibliothek, wo uns Mokka und Zigarren von einem Diener gereicht wurden.

Der Lord entschuldigte sich für ein paar Minuten. Er wollte mit seinem Oberinspektor etwas besprechen.

Inzwischen war mir doch bereits eine Vermutung aufgestiegen, wer der wahre Anführer der Verbrecherbande sein könnte. – Kaum war der Lord hinausgegangen, als ich mich über den Tisch beugte.

„Harald, eine Frage …,“ bat ich. – Merkwürdig – wie bleischwer mir plötzlich die Zunge im Munde lag! Und – wie müde ich wurde! Wie müde! Wie undeutlich ich nur noch Harst erkannte – wie durch Schleier hindurch.

„Der Kaffee – – der Mokka – – Schlaftrunk!!“ schoß es mir durch das träge Hirn …

Und gewaltsam die Augen aufreißend sah ich nun, weshalb Harald nicht antwortete: er … schlief bereits in dem tiefen Klubsessel!

Taumelnd stand ich auf … – Ich wollte hinaus, wollte Hilfe herbeirufen. Und – mir gegenüber erschien da wie aus der getäfelten Wand heraussteigend einer der … Barrings: im Pelzmantel, ohne Hut, mit Handschuhen.

Die schleimige heisere Stimme höhnte sofort: „Bemühen Sie sich nicht, Mr. Schraut …“ – Und im selben Moment packte mich ein Schwindel. Ich fühlte, daß ich zusammensank. –

Stunden waren verflossen. Da kam ich zu mir. Da war ich neben Harald an die Platte eines dicht vor dem geheizten Kamin umgekippten Tisches sitzend festgebunden. Da stand uns schräg gegenüber an der Wand … Lionel Barring im Frack, elegant, vornehm, – aber ein Satanslächeln um die Lippen. – Auch Harst war bei Besinnung. Und er war’s, der jetzt zu dem Verbrecher sagte:

„Die Komödie ist zu Ende, Mylord! Nehmen Sie nur getrost den falschen Bart ab.“

Also doch – – meine Ahnung: der Lord!!

Gnirable nickte. „Ich habe nichts anderes erwartet, Mr. Harst.“ Er entfernte den Bart, setzte dafür eine Scheitelperücke auf, war Lord Gnirable, auch was die Stimme betraf. „Woran haben Sie mich erkannt, Mr. Harst?“

„An Ihren Händen. Gestern im Pfarrhause als Barring behielten Sie die Handschuhe an, rauchten mit Handschuhen. Ich sah, daß Sie eine ungewöhnlich lange schmale Hand hatten – auch im Handschuh. Dieselbe Hand fand ich bei Lord Gnirable vor, als ich ihn dann im Studierzimmer kennen lernte. Andere Umstände, Kleinigkeiten, ließen den Verdacht zur Gewißheit werden. – Nun frage ich Sie: weshalb schickten Sie Ihren Diener nach Melbourne und mir die Depesche und das Geld?“

„Weil es aufgefallen wäre, wenn ich nicht alles getan hätte, den dreifachen Mord aufzuklären. Und dieses „alles“ war mit Ihrer Berufung erschöpft. Deshalb sollten Sie reisen und mit der Ozeana untergehen. Schade – es glückte nicht. Nun werden Sie beide hier sterben.“ – Und er trat an den Kamin, schob ein paar Buchenscheite so in die Glut, daß das Feuer nach außen weiterfraß und auch den Holzvorrat vor dem Kamin ergriff. – „Nun wird ein Teil des Schlosses Gnir herunterbrennen, Mr. Harst, und Sie beide mit – – ein Unfall, beklagenswert! Dann sind Sie beide ausgetilgt. Und dann kommen Alverson und Frau Gould an die Reihe, denen Sie nach Ihrer bekannten Methode völliger Geheimniskrämerei sicherlich nicht mitgeteilt haben, wer der unechte Barring ist. Übrigens hat der echte Barring sich gestern nacht täuschen lassen. Ich hatte die Uhren hier, auch die seine, um eine halbe Stunde vorgestellt. Um halb zwölf trennten wir uns, nicht um zwölf!“

„Ein abgenutzter Trick,“ sagte Harald kühl. „Ich würde Ihnen raten, einmal zum Fenster hinauszuschauen. Die drei Rauchsäulen, die ich bestellt habe, steigen jetzt hoch …“

Gnirable fuhr zusammen.

„Sie denken wohl,“ sprach Harst weiter, „daß wir nichts von der großen Null wissen! Sie irren sich! Ich habe in der Melbourne-Times eine genaue Zusammenstellung der Räubereien der einzelnen Sektionen Ihrer Bande gefunden. Die Beute hat Sie reich gemacht. Für die Welt waren Sie Spieler, nichts weiter! – Schloß Gnir ist umstellt. Retten Sie ihren Hals vor dem Strange, Sie Mörder! Versuchen Sie es!“

Der Lord sprang zu, riß die Feuerbrände auseinander, warf sie in den Kamin, trat die Glut des schwelenden Teppichs aus. Dann verschwand er wortlos. – Wir hörten hinter uns das Zufallen einer Tür. Nun Stille … zehn Minuten lang. Bis Maria Gould, Groubby und Scheffer lärmend eindrangen, Revolver in den Händen …

„Gott sei Dank – Sie leben!“ rief Frau Gould strahlend. „Denken Sie, wir haben Barring abgefaßt, als er im Auto fliehen wollte!“

Harst schnitt ein Gesicht. „Wenn’s nur der wahre Schurke ist!“ meinte er. –

Leider – er war’s nicht. Gnirable war entkommen. – Abends zehn Uhr wurden in den Tokkara-Höhlen zwölf Männer verhaftet, also vier Sektionen der „großen Null“, – leider nur zwölf! Denn daß der unheimliche Bund noch mehr Mitglieder zählte, merkten wir sehr bald. Der Kampf gegen das Phantom Lionel Barring ging ja weiter und brachte noch übergenug Überraschungen.

 

Nächster Band:

Das Geheimnis der Tokkara-Höhlen.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Harsts“ / „Harst’s“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Harsts“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „Janes“. – Zwei Vorkommen auf „Jones“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „dir“.
  4. In der Vorlage steht: „Furtür“.
  5. In der Vorlage steht: „markiertes“.
  6. In der Vorlage steht: „Karimon-Djava-Inseln“. – „Djawa“ (mit „w“) ist die alte Schreibweise für „Java“.
  7. In der Vorlage steht: „Besty Baany“. – Im folgenden Heft wird dieses Hochmoor aber „Besty Barry“ genannt (drei Vorkommen). Einheitlich und bandübergreifend auf „Besty Barry“ geändert.
  8. In der Vorlage steht: „Atverson“.
  9. „Beckerey“ / „Beckerley“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Beckerley“ geändert.
  10. In der Vorlage steht: „erkärte“.
  11. In diesem und den folgenden drei Sätzen stehen: „deine“; „du“ und „dir“ als eine direkte Anrede an den Leser. Geändert auf „Deine“; „Du“ und „Dir“.
  12. In der Vorlage steht: „Zwillingsbruder“.
  13. In der Vorlage steht: „aufgeführten“.