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Das Geheimnis der Tokkara-Höhlen

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 110:

 

Das Geheimnis der Tokkara-Höhlen

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der neue Lord.

Schloß Gnir, Stammsitz des alten Geschlechtes der Lords Gnirable, unweit der Küste und drei Kilometer nordöstlich des kleinen schottischen Städtchens Lammerty gelegen, war im April 1923 der Schauplatz jener Ereignisse, denen nicht nur die englischen, sondern auch ausländische Zeitungen spaltenlange Artikel widmeten.

Der letzte Sproß dieses Geschlechtes, Lord Allan Howard Gnirable war von Harald Harst als Oberhaupt einer Verbrechergeheimgesellschaft entlarvt worden, die sich den Namen „große Null“ zugelegt hatte, in Sektionen von je drei Mann eingeteilt und so trefflich organisiert war, daß nur immer die Mitglieder einer Sektion sich kannten.

Allan Howard Lord Gnirable hatte es jedoch an jenem 8. April verstanden, spurlos zu verschwinden. Er, der als Lionel Barring, also in der Maske eines hochgeachteten Londoner Anwalts in einem Jahre (1922) nicht weniger als vierundzwanzig Einbrüche und Raubüberfälle verübt hatte, – er, dieser fraglos hochintelligente, schauspielerisch außerordentlich befähigte, dabei persönlich tollkühne und wieder auch verschlagene und vorsichtige Mensch machte all unsere Nachforschungen insofern sehr bald zum Gegenstand öffentlichen Gespötts, als er jeden Tag vom 8. April ab eine der Londoner Zeitungen durch den Fernsprecher anrief und dem betreffenden Redakteur genau mitteilte, was Harald Harst, Max Schraut und unser Londoner Freund und Kollege Alverson in den verflossenen 24 Stunden zur Ergreifung Lionel Barrings unternommen hätten.

Natürlich wurden diese sensationellen Mitteilungen des flüchtigen Verbrechers in noch sensationellerer Aufmachung dem Publikum stets gesperrt gedruckt serviert, wobei nie am Schluß ein paar ironische Bemerkungen über Harald Harsts Mißgeschick, diesen kühnen, witzigen Anführer der großen Null nicht fangen zu können, zu fehlen pflegten.

Dieses ärgerliche Spiel dauerte volle vier Tage.

Wir hatten unser Quartier jetzt im Schlosse selbst aufgeschlagen, nachdem wir zunächst im Pfarrhause bei Reverend Wellery sehr gut aufgehoben gewesen waren, wo ja auch der Kampf gegen Lionel Barring, in Wahrheit Allan Lord Gnirable, begonnen hatte. (Vergl. den vorigen Band.)

So dämmerte denn für uns, die wir bis spät in die Nacht hinein am 12. April die Umgebung von Schloß Gnir abermals abgesucht hatten, ein neuer Morgen herauf, der des 13. April.

Es gibt Übergenug abergläubische Gemüter, die vor der Dreizehn einen heiligen Respekt haben.

Ich auch. Genau so, wie ich nie meinen Weg fortsetze, wenn eine Katze vor mir die Straße kreuzt. – Da kehre ich lieber um und benutze eine Seitenstraße. Harst lacht mich natürlich dieserhalb aus. Selbstverständlich. An ihn reicht derlei Unsinn nicht heran.

Der dreizehnte April also. Und mit dem Frühstück zugleich brachte uns der Diener Baptiste die Londoner Morning Post.

Wieder stand darin so ein infamer Artikel. Lionel Barring hatte wiederum sich telephonisch mit dem Blatt in Verbindung gesetzt. Und – wiederum (das war ja die größte Frechheit!) hatte er von einem Dorf nahe bei Schloß Gnir die Zeitung angerufen. – Der heutige Erguß des sogenannten Lionel Barring, wie wir ihn auch weiter nennen wollen, enthielt für uns jedoch eine bedeutsame Neuigkeit. – Ich gebe den betreffenden Absatz hier wörtlich wieder.

„Ich habe erfahren (so hatte Barring-Gnirable dem Redakteur erklärt), daß entsprechend den Erbfolgebestimmungen meiner Familie, nach denen jeder Unehrenhafte von der Erbfolge ausgeschlossen ist, bereits Schritte eingeleitet worden sind, mir den Lordtitel und das Anrecht auf Schloß Gnir zu nehmen und beides meinem entfernten Vetter John Backhurst als dem nächsten Erbberechtigten zu übertragen. John Backhurst ist mir bisher völlig unbekannt. Er gehört zu einer nichtadligen Seitenlinie meines Geschlechts und drückt zur Zeit noch den Kontorschemel eines kleinen Bankgeschäfts in London. Ich warne John Backhurst hiermit öffentlich, sich ja nicht einfallen zu lassen, diese Erbschaft anzunehmen und etwa als neuer Herr und Gebieter nach Schloß Gnir zu kommen, wo ich noch immer residiere – trotz Harald Harst, der heute am 12. April morgens im Park tiefsinnig auf und ab ging und dabei vier seiner berühmten Mirakulum rauchte.“

(Nebenbei bemerkt: dies traf zu. Es waren genau vier Zigaretten gewesen!)

„Mr. Harst sollte daher besser seine Koffer packen und nach Berlin zurückkehren. Als er heute mittag gegen halb eins mit seinem Intimus Schraut und dem behäbigen Alverson über das Lammerty-Moor wanderte, hätte ich ihm am liebsten von Angesicht zu Angesicht diesen Rat, seine heimischen Penaten wieder aufzusuchen, in höflichster Form gegeben. Ich war nämlich der alte Schäfer mit dem langen Strickstrumpf, an dem die drei Herren vorüberkamen. – Weiter hätte ich Ihnen heute nichts mitzuteilen, Herr Redakteur. Ich telephoniere von dem Gasthof des Dörfchens Castle Black aus und trage zur Zeit die Maske eines Hausierers mit frommen Schriften, eine Verkleidung, die den Vorzug hat, nirgends Verdacht zu erregen, da Schottland von solchen frommen Händlern stets überschwemmt wird. – Auf Wiedersehen, Herr Redakteur.“

Diesem Diktat Barring-Gnirables hatte der Herr Redakteur aus sich selbst heraus hinzugefügt:

„Unseres Wissens befinden sich in Schloß Gnir außer den drei Privatdetektiven Harst, Schraut und Alverson noch Detektivinspektor Groubby und Detektivwachtmeister Scheffer von der Londoner Geheimpolizei, ferner vier Beamte aus der Bezirksstadt, – also insgesamt neun Herren, die auf Barring Jagd machen. Mit welchem Erfolg, zeigt Barrings heutige Telephonmeldung! Dürfte es sich nicht empfehlen, vielleicht noch ein Bataillon Infanterie nach Schloß Gnir zu senden oder vielleicht ein paar hundert arbeitslose Filmstatisten?!“

– Diese bissige Schlußbemerkung entlockte Harald ein ehrliches herzhaftes Lachen.

Und dieses Lachen war noch nicht verklungen, als der Diener Baptiste aufs neue unseren Wohnsalon betrat und Harst eine Depesche reichte.

Sehr gespannt öffnete Harald das Telegramm.

Es kam von … John Backhurst aus London, von dem neuen Erben … und lautete:

Treffe nachmittags 4 Uhr auf Bahnstation Lammerty ein, da zuständige Behörde mich soeben in alle Rechte eines Lord Gnirable eingesetzt hat. Bringe die nötigen Urkunden und meinen Freund Tossing mit. Bitte Auto zur Bahn zu senden. – Lord John Allan Howard Gnirable, bisher John Backhurst.

Harald hatte mir die Depesche vorgelesen.

„Das kann ja heiter werden!“ meinte er nun. „Bisher hat Lionel Barring, abgesetzter Lord Gnirable, sich uns gegenüber verhältnismäßig anständig benommen, denn ich bin überzeugt, es wäre ihm ein leichtes gewesen, uns nach seiner Flucht jeden Tag niederzuknallen. Jetzt aber dürfte der neue Herr von Schloß Gnir in dieses Idyll hier einigen Unfrieden durch sein Erscheinen hineintragen.“

Es klopfte. Es war Freund Alverson. – „Morgen allerseits, Boys!“ begrüßte er uns. „Hallo – eine Depesche?! Her damit!“

Auch er machte ein sehr langes Gesicht. „Hm – der neue Lord, der bisherige Kontorbockreiter! Wer weiß, was das für’n Pflänzchen ist!“ –

Und kurz vor fünf Uhr nachmittags standen wir drei, ferner der Schloßverwalter, der Oberinspektor der Ländereien und der Diener Baptiste auf dem kleinen Bahnsteig und erwarteten den Zug, mit dem der neue Gebieter eintreffen sollte. Also ein ganz feierlicher Empfang. –

Ich möchte nun hier von vornherein den Leser davor warnen, etwa seinerseits Detektiv spielen zu wollen und die immerhin naheliegende Vermutung zu hegen, daß Lionel Barring, der Komödiant erster Güte, etwa als John Backhurst sich frisch und frei auf Schloß Gnir einfinden würde. Nein – das stimmt nicht. Das riskierte er doch nicht, oder besser, er hatte es nicht nötig, diesen Trick anzuwenden. –

Der Zug traf ein. Aus einem Abteil erster Klasse stiegen zwei Herren aus, der eine lang und hager, der andere etwas kleiner und etwas bucklig.

Der Lange war der neue Lord. – Nun, der sah gar nicht so übel aus. Sein hageres Sportgesicht mit der ein wenig großen Nase erinnerte kaum an einen zahlenschmierenden Bankmenschen. Sein Freund Tossing dagegen – ein wandelnder Witz!! Trotz des gelinden Buckels war er ganz wie ein Fatzke gekleidet: Jimmy-Schuhe, rotbraun, hellgraue seidene Strümpfe, Beinkleider, die recht kurz und scharf gebügelt waren, ein kurzer heller Sportpelz (wir hatten noch 5 Grad Kälte!) und ein hochmoderner weicher Filzhut, dazu ein Gesicht mit einem dünnen Prinz-Edward-Vollbart, Monokel im rechten Auge, und – – Bewegungen, die einem Clown, der einen Herzog kopiert, alle Ehre gemacht hätten. – Im übrigen war dieser Harry Tossing aber ein ebenso beschränkter wie bescheidener Jüngling, der in Hochachtung vor Harsts Berühmtheit erstarb und selten den Mund auftat, was nur klug war, da dieser Mund lediglich Blödsinn vorbrachte.

Der neue Lord benahm sich den Umständen entsprechend, hatte ein sicheres Auftreten und begrüßte uns alle durch Handschlag, bestimmte dann, daß er mit uns beiden im vordersten Auto nach Schloß Gnir fahren wollte.

Unterwegs erklärte er sofort: „Mr. Harst, ich bin verlobt. Meine Braut ist sehr in Sorge um mein Leben infolge der Drohungen des Verbrechers Barring. Ich bin durchaus nicht furchtsam, habe Marry aber doch versprechen müssen, Sie beide so lange in meiner Nähe zu behalten, bis Barring verhaftet ist.“

„Gut, wir bleiben vorläufig auf Schloß Gnir, Mylord,“ erwiderte Harald freundlich.

Das offene, ungekünstelte Wesen des neuen Herrn von Gnir gefiel ihm. Und mir gefiel es ebenfalls. –

Um sieben Uhr war dann im Speisesaal große Empfangstafel, ein Souper von acht Gängen, das sich bis gegen elf hinzog. Die kurze Tischrede des neuen Lords, für uns und seine Beamten als Begrüßung gedacht, vervollständigte nur noch das sympathische Charakterbild dieses dreißigjährigen frischen Mannes, dem ein Zufall einen berühmten Namen und einen feudalen Besitz in den Schoß geworfen hatte. – Erst nach Mitternacht suchten wir beide unsere Zimmer auf. Ich hatte den verschiedenen Weinsorten und den Likören alle Ehre angetan und befand mich in ziemlich gehobener Stimmung, die jedoch wie durch eine eisige Dusche rasch auf den Gefrierpunkt sank, als Harald mir in unserem Wohnsalon leise erklärte:

„Du wirst Gelegenheit haben, Deinen heißen Kopf gründlich abzukühlen. Wir werden den Rest der Nacht vor Lord Johns Schlafzimmertür wachen. Ich bin das seiner Braut schuldig.“

 

2. Kapitel.

Auf Posten!

Im stillen wünschte ich Miß Marry Danham, jüngste von fünf Töchtern des Pfarrers von Wingate bei London, in die Hölle. Denn nachts im Mittelbau des Schlosses im Flur Posten stehen, während andere ihren Rausch ausschlafen, ist ein klägliches Vergnügen. –

Unsere drei Zimmer lagen im Ostflügel. Dieser sowie der Westflügel waren keine fünfzig Jahre alt. Der Mittelbau aber war 1583 fertig geworden und ein Steinkasten, in dem es selbst im Sommer eisig kühl sein mußte.

Harald hatte sich in die eine Ecke des Klubsofas gesetzt und den Spiritus unter der Kaffeemaschine angezündet.

„Bringe Tassen,“ meinte er. „Bewege Dich etwas. Du mußt rasch normal werden. Es handelt sich diese Nacht um wichtigere Dinge als Du ahnst.“

Schweigend, wütend stellte ich die Tassen auf den Tisch.

„Setz’ Dich nun,“ meldete Harald sich wieder. „Du kennst doch Schillers Räuber?“

„Welche Frage!“ brummte ich.

„Und auch aus den Personen des Stückes den alten Daniel, der dem eingekerkerten alten Grafen Moor heimlich Speise und Trank zuträgt?“

„Welche Frage!“

„Baptiste, der Diener, dieser würdige weißhaarige Mann, ist … Daniel.“

Da wurde ich mit einem Schlage aufmerksam.

„Was heißt das?“

„Bitte leiser! – Das heißt,“ flüsterte er, „daß ich schon in den beiden vorletzten Nächten, wenn Du wie ein abgehetzter Jagdhund schnarchtest, im Mittelbau des Schlosses nächtliche Promenaden unternommen habe, die mir den Beweis lieferten, daß der alte Baptiste regelmäßig gegen zwei Uhr morgens mit einem vollgepackten Rucksack das Schloß verläßt.“

„Ah – –!“

„Ja – ah!! Das glaube ich! – Und das, was er wegschleppt, sind Lebensmittel. Ich habe den Rucksack nämlich heute vormittag in Baptistes Zimmer untersucht. Er roch noch nach Räucherschinken, und eine halbe Hand voll Kaffeebohnen lag noch in einer Ecke des dunkelgrünen Tragebeutels.“

„Baptiste bringt Lionel Barring Lebensmittel!“

„Wahrscheinlich. Aber nicht Barring allein, sondern auch mehrere von dessen Kumpanen ernährt er so. Denn für einen einzelnen Menschen war der Rucksack zu dick, zu schwer, enthielt zu viel Lebensmittel.“

„Du bist dem Alten gefolgt?“ – Ich war jetzt total nüchtern.

„Nein, und dies aus dem einfachen Grunde, weil Baptiste die Sache sehr schlau anfing. Er war vorsichtiger als vorsichtig. Beide Male verschwand er mir spurlos in der Ahnengalerie im Erdgeschoß. Heute werden wir’s ergründen. Du wachst vor Lord Johns Tür, und ich verberge mich in der Ahnengalerie.“

Der Kaffee war fertig und sehr stark. Wir tranken, rauchten, und Harald gab mir genaue Verhaltungsmaßregeln.

Um ein Uhr brachen wir auf. – Im Schlosse herrschte Totenstille. Lautlos huschten wir über Treppen und Flure bis in den ersten Stock des Mittelbaus, wo Lord Johns Schlafzimmer neben dem seines Gigerl-Freundes lag. Links von Lord John schlief Baptiste als neuernannter Kammerdiener in einem schmalen einfenstrigen Raume – erst seit heute, auf Lord Johns Befehl.

Diesen drei Räumen gegenüber, deren Fenster nach dem Parke hinausgingen, befand sich die Bibliothek des Schlosses, jenes lange Zimmer, in dem Lionel Barring uns beide hatte … ausräuchern wollen. – Harst hatte mir geraten, die Tür dieses Zimmers etwas offen zu lassen und mich dicht dahinter auf einen Stuhl zu setzen.

Nachdem er mich so an Ort und Stelle begleitet hatte, verließ er mich.

Ich tat, wie er’s mir anempfohlen, saß nun dicht hinter der zwei Handbreit geöffneten Tür und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Es mochte dreiviertel zwei sein, als ich das leise Knarren einer Tür vernahm.

Baptiste – ohne Zweifel! – Das Knarren kam aus der Richtung seines Zimmers!

Dann nichts mehr.

Der Kaffee hatte mich munter gemacht, und der Jagdeifer half mit, all meine Sinne in steter Anspannung zu halten. –

Zwei Uhr jetzt. Ich hatte soeben auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr geblickt, hatte sie noch in der Hand, als ich durch ein neues Geräusch in leichte Erregung geriet.

Und diese Erregung stieg.

Das Geräusch kam nicht aus dem Flur, sondern – – aus der Bibliothek selbst.

Es klang wie ein Scharren und Kratzen …

Kaum war ich mir darüber klar, daß es von der linken Wand der Bibliothek her ertönte, als ich auch schon den Stuhl vorsichtig bei Seite setzte, die Tür ebenso leise ins Schloß drückte und ebenso schnell auf meinen weichen Morgenschuhen auf dem Teppich vorwärtskroch – bis unter den großen Mitteltisch.

Es war hier in dem langen Raume so dunkel, daß nicht einmal die vier Fenster sich als hellere Vierecke abhoben.

Abermals das Scharren. Dann ein metallischer Klang, und plötzlich von der linken Wand ein greller Lichtkegel.

Da stand ein mir unbekannter Mann mit starkem Vollbart, ließ den Leuchtkegel rasch über das Zimmer hingleiten, schritt zu einem der hohen Bücherregale, zog ein Buch heraus und blätterte darin, schien auch zu schreiben, stellte das Buch wieder weg und wandte sich der linken Wand zu, deren Täfelung, uralt und tief nachgedunkelt, mit ihrer reichen Schnitzerei jeden Bildhauer entzückt hätte.

Doch – bis zur Wand kam der Unbekannte nicht.

Anderes kam …

Urplötzlich von draußen – vom Flur her ein so gellender Hilferuf, daß der Fremde jäh herumfuhr und auch ich zusammenzuckte.

Der Schrei wiederholte sich – wurde noch lauter, wurde zum Kreischen …

Eine zweite Stimme war zu unterscheiden.

„Hilfe – – Hilfe!! Mörder!“

Ebenso jäh aber verstummte auch der Lärm, in dem man noch das dumpfe Krachen umstürzender Möbel unterscheiden konnte.

Ebenso jäh …

Und ich?! – Ich hatte drei kostbare Minuten infolge der Anwesenheit des Unbekannten nutzlos verstreichen lassen. Ich war denen, die ich bewachen sollte, nicht zu Hilfe geeilt!

Dann schon Baptistes Stimme im Flur:

„Mylord – Mylord, – – öffnen Sie!! Öffnen Sie!! Hier ist Baptiste!“

Plötzlich glitt jetzt der Fremde zur Tür, zog sie auf – sehr langsam, schaltete seine Taschenlampe aus. Ich hörte, daß er mit Baptiste hastig flüsterte. Und – abermals dann der Lichtkegel seiner Lampe, abermals eilte er zur linken Wand, zog hier rasch eines der hohen Felder der Täfelung auf und trat tief gebückt in diese uns bisher völlig entgangene Geheimtür ein, zog sie hinter sich zu – und ich war allein.

Vernahm auch bereits jetzt im Flur Alversons tiefe Stimme, dazu die der beiden Londoner Detektivbeamten.

Die Hilferufe hatten das ganze Schloß alarmiert.

Ich überlegte.

Ich durfte nicht zeigen, daß ich hier in der Bibliothek versteckt gewesen. Ich lief, öffnete die Tür zum Nebengemach, hastete durch drei Zimmer, schlich dann erst in den Hauptflur, konnte nun leicht den Anschein erwecken, als käme ich aus unseren Fremdenzimmern im Ostflügel.

Alverson, die beiden Londoner, Baptiste und der Schloßverwalter standen noch ratlos vor Lord Johns Schlafzimmertür.

„Wo ist Harst?“ rief Alverson sofort. „Teufel – dieses Schloß hier hält nur zu gut!!“ Und er warf sich abermals mit voller Kraft gegen die Türfüllung – ohne Erfolg!

„Schraut – wo ist Harst?“ keuchte er wieder.

„Im Park,“ log ich.

Ein Diener erschien mit einem großen Hammer.

Alverson schlug die Türfüllung ein.

Splitternd flogen die Holzstücke nach innen. Durch das Loch schimmerte Licht. Lord Johns Schlafzimmer war erleuchtet.

Alverson faßte durch das Loch hindurch und schob den Riegel zurück, drehte den Schlüssel um, die Tür ging auf.

Ein umgekippter Rauchtisch, Blutspritzer auf dem Bett, an der Wand, eine Blutlache auf dem Teppich …

Aber kein Mensch hier – kein Lebender, kein Toter!

Wir stürmten durch die offene Verbindungstür in Harry Tossings Zimmer.

Hier dasselbe[1] blutige Bild.

Hier ebensowenig ein Ermordeter.

Nur – hier stand ein Fensterflügel offen, und am Fensterkreuz hing eine derbe Strickleiter, die nach unten bis auf den Rasen reichte, bis auf die zu dieser Jahreszeit noch welke, fahle Grasnarbe eines Beetes, das sich bis an die Mauer erstreckte.

Auch die Strickleiter war blutbefleckt. Alverson und ich kletterten hinab. Beim Scheine unserer Taschenlampen konnten wir genau den Weg verfolgen, den die drei Mörder genommen hatten. Es waren drei. Das bewiesen die deutlich ausgeprägten Spuren, die durch den Park bis zur Landstraße quer über Rasenflächen und durch Büsche liefen. Auf der Straße hatte ein Auto gewartet und die drei Mordgesellen und die beiden Opfer vorläufig uns entzogen.

Alverson und ich liefen zum Schlosse zurück.

„Teufel – wo steckt Harst!“ schalt der Londoner Kollege.

„Ich werde mal in unseren Zimmern nachsehen,“ suchte ich einen Vorwand, ihn los zu werden.

Ich eilte ins Erdgeschoß, in die Ahnengalerie. Niemand sah mich. Alles war im ersten Stock versammelt.

Ich wußte, daß Harald sich hier in der langen, schmalen Galerie hinter den Vorhängen des dritten Fensters hatte verbergen wollen.

Ich rief seinen Namen, schlug die Vorhänge zurück – – und stutzte …

An der einen Portiere hing ein Zettel, mit einer Stecknadel befestigt.

Harsts Schrift war’s – sehr flüchtig hingekritzelt:

„Der am 12. Oktober 1688 hingerichtete Lord Edward Gnirable. Auf Messingschild drücken. Mir folgen.“

Ich begriff sofort. Ich kannte die lebensgroßen Ahnenbilder mit dem schweren Goldrahmen längst. Die Bilder waren mit starken Haken an der Wand befestigt.

Ich trat vor das Bild des wegen angeblichen Hochverrats enthaupteten Lord Edward, das wie all diese Gemälde in der Mitte des Unterteiles des Rahmens mit einem Messingschild mit den Hauptdaten aus der Lebensgeschichte des betreffenden Familienmitgliedes versehen war.

Als ich auf die Messingplatte mit äußerster Kraft drückte, schnellte die rechte Seite des Bildes von der Wand weg, und als ich es nun noch mehr in den unsichtbaren Angeln drehte, enthüllte ich so eine eiserne Tür in der Mauer, die nach innen schlug und nur angelehnt war.

Haralds Zettel nahm ich mit. Die kleine Eisentür bildete den Eingang zu einem gemauerten Schacht, in dem eine eiserne Leiter nach unten führte.

Ich zog das Bild wieder an die Wand heran, bis es in den Riegel einschnappte. Ich stand dabei in der Türöffnung, den Rücken also dem Schachte zugekehrt.

Als ich mich nun umdrehte, fiel der grelle Schein einer Karbidlampe auf mein Gesicht. Im ersten Moment dachte ich an Harald. Aber der hatte nur eine elektrische Taschenlampe zur Verfügung.

Bevor ich noch der plötzlich aufgetauchten Gefahr mir bewußt wurde, sagte bereits eine tiefe, volle Stimme:

„Harst erwartet Sie, Mr. Schraut. Kommen Sie!“

Es war … Lionel Barring, der Exlord.

Der zurückfallende Schein der Laterne spiegelte sich matt in dem dunklen, breiten Lauf einer Selbstladepistole wider, die auf meine Stirn gerichtet war.

 

3. Kapitel.

Die pendelnden Arme.

Barring ließ mich vorüber und kletterte dann hinter mir die Leiter hinab in die Tiefe.

Unten[2] empfingen mich zwei Leute, die ebenfalls Laternen trugen. Von hier lief ein gemauerter Gang nordwärts, ein feuchter, endloser Gang, dessen Wände, Decke und Fliesenbelag mit gelblichem Schimmel dicht überwuchert waren.

Barring, ohne Maske, in einem Lederanzug mit Ledermütze, sagte, als er neben mir stand:

„Es tut mir leid, daß Sie beide mir schon heute in die Hände geraten sind, Mr. Schraut. Ich hätte Sie beide gern noch mehr blamiert und dann erst verschwinden lassen. – Folgen Sie mir!“

Er ging voran.

Durch eisige Moderluft wanderten wir, hinter mir die beiden anderen Verbrecher, etwa eine Viertelstunde dahin.

Schweigend – in einer Stille, die nur durch das Geräusch unserer Schritte unterbrochen wurde.

Bis Barring mit halb zurückgewandtem Kopf sagte:

„Als Lord Gnirable kenne ich die Geheimtüren des Schlosses. Diesen unterirdischen Gang, der in den Tokkara-Höhlen endet, hat mein Ahn Lord Richard, der Sohn des hingerichteten Lord Edward, angelegt.“

Dann schwieg er wieder.

Meine Gedanken schwiegen nicht, hielten Zwiesprache mit mir, erwogen die Aussichten eines gewaltsamen Fluchtversuchs.

Ich hatte es hier mit drei Leuten zu tun, deren Leben, falls sie verhaftet wurden, verwirkt war. Es waren Mörder. Die „große Null“ hatte mehr als einen Mord auf ihrem Konto. Rücksicht, Schonung gegenüber diesen Schuften wäre eine Dummheit gewesen.

Meine Clement steckte in meiner rechten Beinkleidtasche – gespannt, gesichert.

Wenn ich sie unbemerkt hervorholen konnte, stand die Partie für die drei Halunken schlecht.

Ich mußte handeln.

Harst war Gefangener. Daß Barring uns umbringen würde, war gewiß.

Man hatte mich nicht gefesselt. Ich schritt zwischen den dreien, einer vor mir, zwei hinter mir, mit pendelnden Armen dahin.

Ich wagte es. Wenn mein rechter Arm nach vorn schwang, knöpfte ich rasch einen Knopf meiner dicken Sportjacke auf, so rasch, daß es kaum den beiden Kerlen hinter mir auffallen konnte.

Ich wagte noch mehr, als die Jacke vollends offen war. Da ich in die Beinkleidtasche nicht hineinfassen durfte, denn dies hätte bemerkt werden müssen, wollte ich aus meiner Westentasche mein Federmesser herausnehmen und das Beinkleid dann auftrennen, ebenso die Tasche.

Ich schwitzte jetzt vor innerer Aufregung, als ich wirklich das Messerchen glücklich zwischen den Fingern hielt.

Die Klinge zu öffnen, war nicht schwierig. Sie war haarscharf.

Dann der erste Schnitt über den rechten Oberschenkel hinweg.

Jetzt noch einer – mit jeder Pendelbewegung einer.

Schließlich fühlte ich, daß der Stoff zerfetzt war und die Klinge über Metall hinwegglitt – über die Clement.

Und da gerade wandte Barring wieder den Kopf …

Mein Herzschlag stockte …

Aber Barring sagte nur in seiner selbstbewußt nachlässigen Art:

„Wir sind sofort am Ziel!“

Und drehte das Gesicht wieder nach vorn.

Ich atmete auf.

Noch ein Schnitt – ein rasches Tasten mit den Fingern.

Ich … spürte das Metall der Waffe. Die Tasche war ebenfalls zerfetzt.

Nun das Messer weg – zurück in die Weste.

Nun ein kecker Griff – ein Ruck – ein schnelles Zurückschieben der Sicherung …

Und dann – mit dem Metallkolben ein blitzartiger Schlag nach vorn – auf Barrings Hinterkopf …

Ein Herumschnellen …

Die Kerle hatten ihre Pistolen schon halb erhoben.

Auf kaum vier Schritt feuerte ich …

Zweimal …

Die Laternen polterten zu Boden – auch diese Laternen …

Auch diese beiden Gegner knickten um – für immer …

Und Barring lag da – regungslos, auf dem Gesicht, wie ein gefällter Baum.

Ein Schwindel packte mich …

Jetzt, wo der Streich gelungen, kam der Rückschlag nach der ungeheuren Aufregung.

Die drei Laternen brannten auf den Fliesen mit teilweise zertrümmerten Gläsern weiter.

Barrings Kumpane waren übereinander gestürzt. Ich hatte nur zu gut getroffen. Stirnschüsse wirken ja meist blitzartig.

Ich stierte auf die Toten …

Dachte da an den nur bewußtlosen Barring. Und wurde wieder Herr über meine Nerven.

Fesselte, knebelte Barring mit Taschentüchern, mit dem Gürtel seiner Lederjacke.

Löschte zwei der Laternen aus, nahm die dritte unter meine Jacke, verhüllte den Lichtschein und wartete, ob jemand von den Tokkara-Höhlen her nahen würde, herbeigelockt durch die beiden Knalle der Clement.

Im Dunkeln lehnte ich an der feuchten, von Schimmel schlüpfrigen Wand. Horchte – horchte, hielt die treue Waffe bereit.

Nichts … nichts …

Totenstille.

Hinter mir lagen ja auch zwei Tote.

Ich begann zu zählen. Nach fünf Minuten wollte ich weiter – weiter den Tokkara-Höhlen zu, die ich mit Harst bereits dreimal in den letzten Tagen durchforscht hatte. Wir hatten dort keinerlei Beweis gefunden, daß dort jemand sich verborgen hielt, hatten sämtliche Nebengrotten aufs genaueste durchsucht, auch auf geheime Türen hin.

Ich zählte, horchte …

War bis 163 gekommen, als ich aufschreckte.

Jemand kam …

Ohne Zweifel …

Ich hörte nur hin und wieder ganz schwache Geräusche. Ich drückte mich eng an die Wand. Wollte die Laterne enthüllen, sobald der Nahende oder die Nahenden über Barrings Körper stolperten. Wollte feuern – rücksichtslos …:

Auge um Auge, Zahn um Zahn!! …

Ich hörte nichts mehr …

Ich beugte den Kopf vor.

Hörte nichts – fühlte den Schweiß über meine Wangen laufen – fühlte meine Knie zittern …

Lange hielt ich diese furchtbare Anspannung aller Nerven nicht mehr aus …

Umsonst bohrte ich meine Augen in die Finsternis vor mir …

Bis – da ein ganz dünner Lichtfaden aufzuckte wie ein weißer Strich und Barrings Gesicht traf und – – erlosch.

Und – jemand leise sagte:

„Bist Du in der Nähe, mein Alter?“

 

4. Kapitel.

Ein anständiger Handel.

Meine Jacke gab die Karbidlampe frei.

„Harald – Du?!“ – Das war Überraschung, Freude, war die Seligkeit, hier mit diesen Schrecken der Unterwelt nicht mehr allein zu sein.

Er schaltete seine Taschenlampe wieder ein und sah nun die Toten.

„Sie haben’s verdient,“ meinte er nur … „Eine böse Nacht – für Barring!“

Er bückte sich und untersuchte die Fesseln des Bewußtlosen, zog sie schärfer zu, nahm noch sein Taschentuch zu Hilfe.

„Komm!“ sagte er dann. „Du wirst staunen!“

Er kehrte um, kehrte nach den Tokkara- Höhlen zurück.

Und berichtete im Gehen: „Ich hatte geahnt, daß eins der Bilder der Galerie dem alten Baptiste als Durchschlupf gedient hatte. Ich probierte daher allerlei, um den Trick herauszufinden, wie sich eins der Gemälde von der Wand wegrücken ließe. So entdeckte ich das bewegliche Messingschild, stieg in das Türloch hinein, nachdem ich den Zettel für Dich geschrieben hatte, und wurde unten an der Leiter von drei Kerlen überrumpelt, die plötzlich an meiner Kehle hingen und mir noch einen Hieb gegen die Herzgrube versetzten. Sie schleppten mich durch diesen Gang davon. Wohin – das wirst Du jetzt sehen.“

Ja – ich sah, daß der Gang ein Ende hatte, daß aber ein Loch im Boden halb durch eine eiserne verrostete Leiter ausgefüllt war.

Harst stieg abwärts. Ich hinterdrein. Die Leiter stand mit ihrem Fußende in einer etwas über Manneslänge hohen Grotte, in der acht brennende Laternen an den Wänden verteilt waren.

„Bitte,“ sagte Harald. „Dies ist Barrings Schlupfwinkel.“

Ich sagte nichts. Ich schaute nur.

Wahrlich – behaglicher ist wohl noch nie eine Räuberhöhle eingerichtet gewesen wie diese! Klubsessel, Schränke, Tische, Ruhebetten, Gestelle mit Büchern, Teppiche, Wandbehänge, ein großer eiserner Ofen, ein Kochherd, ein Geschirrschrank – – nichts fehlte hier!

Aber das war nicht alles!

Auf dem größten Tisch lagen drei Männer, die Gesichter nach oben, festgeschnürt mit Stricken, geknebelt.

„Gestatte, daß ich Dich mit Sektion eins der großen Null bekannt mache,“ meinte Harald völlig ernst und trat an den Tisch heran. „Dies hier ist Mr. James Olden, früher Reitknecht des Lord Allan Gnirable, verschwunden seit dem 8. April. – Dies ist der zweite Inspektor des Schloßgutes, Mr. Barne, ebenfalls verschwunden seit dem achten. Und dieser Herr schließlich ist der sehr ehrenwerte Mr. Tabergoul, weiland zweiter Chauffeur seines Herrn, des Gebieters über Schloß Gnir und über die große Null. Auch er ist seit jenem Tage überfällig. – Diese drei bilden Sektion eins der großen Null, wie Barring mir anvertraute, als ich dort in jenem Sessel, bewacht von den Revolvern der Sektion eins, recht weich und warm saß. Der Ofen ist ja geheizt. Dann verließ Barring mit den Überresten der Sektion drei, nämlich den beiden Leuten, die Du jetzt erledigt hast, diesen Schlupfwinkel und empfahl mich der Obhut der drei Herren, die nun hier gefesselt liegen und uns so wenig freundlich anblicken. Ich saß also dort im Sessel, und Sektion eins dachte, ich sei nun für immer unschädlich gemacht. So sicher waren die Herrschaften ihrer Sache, so sehr vertrauten sie ihren Revolvern, daß sie mir erlaubten, eine Zigarette zu rauchen …“

Als er all dies mit seiner so unendlich überlegenen Ironie vorgebracht hatte, als er jetzt die Zigaretten erwähnte, ging mir … ein Licht auf.

„Ah – die linke Seite des Etuis!“ sagte ich rasch.

„Ja – die linke Seite, wo stets die präparierten fünf Mirakulum stecken,“ nickte Harald. „Die drei Herren waren so höflich, sich zu bedienen, als ich ihnen das Etui hinhielt. Sie sahen ja, daß mir die Zigarette nichts antat. Freilich – die meine war die letzte der rechten Seite, der unpräparierten. Natürlich wurde den Herren dann sehr bald schwindelig, und diesen Umstand durfte ich in aller Ruhe für mich ausnutzen. So fand sich Sektion eins nachher auf dem Tische wieder vor. – Ich werde jetzt Barring holen, mein Alter. Und dann …“

Ich konnte nicht länger schweigen.

„Lord John und Harry Tossing sind ermordet worden,“ platzte ich heraus.

Haralds Augen weiteten sich.

„Erzähle!“

Ich tat’s in aller Hast.

„Gut – Barring wird reden müssen!“ meinte Harst in unheilvollem Tone. „Warte hier. Ich hole ihn.“ –

Lionel Barring, der entthronte Lord, saß fünf Minuten später uns gegenüber in einer Ecke der Grotte in einem der Sessel. Zwischen uns stand ein Rauchtischchen mit Kupferplatte und kupfernem Rauchservice darauf.

Barring war bei Bewußtsein und hatte sich auch von dem Hiebe mit dem Pistolenkolben vollständig erholt. Sein vornehmes Gesicht, denn daß dieses Verbrecherantlitz etwas ausgesprochen aristokratisches an sich hatte, mußte man diesem Schurken schon zubilligen, – sein Gesicht war von einem heiteren, sorglosen Lächeln in eine Maske zwanglosen Sicherheitsgefühls verwandelt, das in dieser Lage unmöglich echt sein konnte.

Harald beobachtete ihn eine geraume Weile und sagte dann:

„Sie haben verspielt, endgültig verspielt. Nach sechs Wochen wird man Sie aufknüpfen. Ihr Maß ist voll. Diese beiden Morde in dieser Nacht liefern Sie in kürzester Zeit dem Henker aus.“

Barrings Lächeln blieb. – Ich aber wunderte mich über diese banalen Redensarten Harsts. Hatte Harald diesem Scheusal nichts anderes zu sagen?! – Barring lächelte weiter und schwieg.

Da beugte Harst sich halb über das Tischchen. Seine Stimme war messerscharf. „Mensch, glauben Sie mich betrügen zu können?!“ meinte er, wohl absichtlich langsam sprechend. „Was Schraut mir über das wüste Aussehen der beiden Schlafzimmer und über die deutlichen Spuren bis zur Straße erzählt hat, läßt mich mit Bestimmtheit annehmen, daß Lord John eben entführt wurde, und daß die Zimmer künstlich von Harry Tossing so zugerichtet wurden.“

Barring wurde ernst und ich hielt vor Spannung den Atem an. – Was sollte das?! Harry Tossing sollte also mit Barring im Bunde stehen?!

Und dieser Barring verbeugte sich nun. „Allerhand Achtung, Mr. Harst. Sie haben’s also gemerkt …!“

„Ja, bei dem Empfangssouper. Da sah ich Ihre oder besser Tossings Hände, was ja auch dasselbe ist. Wer so lange, schmale aristokratische Hände hat wie Sie, trägt ein untrügliches Kennzeichen mit sich herum.“

Barring nickte. „Leider – leider! – Ich hatte mich an John Backhurst schon vor einem halben Jahre in der Maske des Tossing herangemacht, da ich damit rechnete, daß man mich eines Tages entlarven und John mein Nachfolger als Lord Gnirable werden würde. Ich wollte auf John rechtzeitig Einfluß gewinnen. Die Telephongespräche mit den Redaktionen in London hat ein Freund für mich besorgt. Ich war in London.“

Oh – welch ein Schurke war das nur!! Ein Schurke, dessen raffinierte Verderbtheit beinahe meine Bewunderung erregte!

„Im übrigen sind Sie im Irrtum, Mr. Harst,“ fuhr er ebenso kaltblütig fort. „Ich bin nicht verloren. Es sei denn, daß Sie Lord John verhungern lassen wollen. Ich habe ihn, nachdem ich ihn betäubt hatte, mit Hilfe der beiden von Mr. Schraut erschossenen Leute an einen Ort gebracht, wo Sie ihn nie finden werden – nie! Diesen Ort kenne nur ich, und die beiden Toten kannten ihn auch. Sonst niemand. Mein Ehrenwort darauf. Wenn John also befreit werden soll, müssen Sie auch mir die Freiheit schenken. Ich will Sie beide, sobald Sie mir die Freiheit zugesichert haben, an jenen Ort führen. Sie werden dann zugeben, daß dieses Versteck von Ihnen niemals gefunden worden wäre. – Ich spiele hier jetzt ein ehrliches Spiel, Mr. Harst. Mein Leben gegen das Lord Johns! Es ist ein anständiger Handel.“

Harald blickte Barring durchdringend an. Der hielt diesen Blick ruhig aus.

„Gut,“ sagte Harst. „Wenn ich feststelle, daß der Ort für mich unauffindbar gewesen wäre, sollen Sie frei sein.“

Er erhob sich und entfernte die Fesseln von Barrings Füßen.

 

5. Kapitel.

In der Zelle.

Barring trat an den großen Tisch heran, auf dem die drei Leute von Sektion eins lagen.

„Ich verabschiede mich von Euch,“ sagte er nicht ohne Herzlichkeit. „Ihr habt mir treu gedient. Man wird Euch ins Zuchthaus sperren, mehr nicht. Die Hoffnung bleibt Euch. Diese Hoffnung bin ich, das wißt Ihr!“

Harst mit der schußfertigen Clement in der Rechten meinte ungeduldig: „Vorwärts Barring! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Auch der alte Diener Baptiste, der schon Ihrem Vater in Wahrheit ehrlich und treu diente, kennt ebenfalls das Geheimnis des Ahnenbildes. Wenn er Detektivinspektor Groubby hierher führt, ist unser Handel hinfällig.“

Barring hatte sich mit einem Ruck umgedreht. Sein Gesicht drückte mehr Staunen als Bestürzung aus. Dann verzog sich sein Mund zu einem geringschätzigen Lächeln. „Baptiste kennt das Geheimnis der Tokkara-Höhlen nicht!“ sagte er achselzuckend. „Folgen Sie mir!“

Und er schritt der Eisenleiter zu, blieb neben ihr stehen. „Hier hinauf, bitte …!“

Harst kletterte voran, nachdem er Barrings Hände vor der Brust gefesselt hatte, daß der Verbrecher die Sprossen fassen konnte.

Als wir drei dann oben in dem feuchten, eisigen Gange standen, sagte Barring wieder: „Hundert Meter von hier zweigt ein verborgener Seitengang ab. Bitte – suchen Sie die Tür.“

Harst zählte durch Schritte hundert Meter ab. Aber – die Tür fanden wir nicht. – Barring lächelte im Lichte der Laternen. „Sofort! – Geben Sie acht!“ meinte er, bückte sich und schob die beiden Mittelfinger in eine Fuge des schimmelbedeckten Mauerwerks. Im selben Moment vor uns von der Decke des Ganges ein Knarren und Kreischen: ein langes viereckiges Stück der Decke, nur ein eichenes starkes Brett, senkte sich mit der einen Kante herab bis zum Boden. Auf dem Brett befanden sich Leisten, die das Heraufsteigen erleichterten.

Barring mußte als erster empor. Oben fanden wir eine Grotte, die ebenfalls zu den Tokkara-Höhlen gehörte. – Das Brett hatte Barring rasch wieder in die alte Lage zurückgebracht. Nun fragte er: „Hätten Sie diese Falltür entdeckt, Mr. Harst?“

„Nein,“ antwortete Harald ehrlich.

„So – dann will ich Ihnen zeigen, daß man auch von der Haupthöhle nicht in diese Grotte hineinfindet.“

Er schritt vorwärts, schritt durch ein Labyrinth von kleinen Höhlen und Gängen – bis an eine Stelle, wo ein unterirdischer Fluß als Wasserfall über einen schroffen Felsen hinabstürzte und durch ein Loch im Boden verschwand. Diesen Fluß kannten wir, da er auch in der Haupthöhle eine Strecke entlangströmte. – Barring deutete auf das Felsloch, das fast ganz mit gurgelnden, schäumenden Wassern ausgefüllt war. „Wer den Mut hat, sich dem Flusse und diesem Kanal anzuvertrauen, gelangt in die Haupthöhle – anders nicht! Aber – er gelangt als Leiche dorthin. Drei meiner Leute haben’s versucht. – So, und nun kehren wir um, Mr. Harst. Ich will frei sein!“

Zurück ging’s, abermals durch das Labyrinth in einer engen Spalte, die wir schon vorhin passiert hatten.

„Hier befindet sich der Eingang zur Lord Johns Zelle,“ erklärte er. „Suchen Sie!“

„Es genügt, Barring. Öffnen Sie den Eingang.“

Barring hob die gefesselten Hände. „Sehen Sie hier diese Zacke – dann die – dann die – im ganzen acht. Man kann mit Hilfe dieser Vorsprünge bequem nach oben klimmen. Die Decke dieser Felsspalte hat nach links hin, von hier unsichtbar, eine breite, hohe Ausbuchtung, in der man aufrecht stehen kann. Dort befindet sich eine eiserne Tür mit drei Riegeln.“

Harst kletterte empor. Barring folgte gewandt. Und ich kam als letzter nach oben.

Die eiserne Tür war in eine Spalte eingefügt worden, deren übrige Teile man durch Felsstücke zugemauert hatte.

Harald schob die Riegel weg, sagte zu mir: „Bei dem geringsten Anzeichen von Hinterlist schießt Du Barring nieder.“

„Das wird nicht nötig sein,“ meinte Barring kühl.

Die Tür ging auf. Wir hatten eine kleine Grotte vor uns, die mit einigen Möbelstücken versehen war. Auf einem Tische brannten zwei Petroleumlaternen.

Barring rief plötzlich – und daß er erschrocken war, merkte ich seiner Stimme an:

„Lord John ist nicht hier! Mein Gott, sollte er etwa …“

Ich hatte mich an Barring vorbeigedrängt. Seine Bestürzung war so echt, daß auch Harald für Sekunden alle Vorsicht außer acht ließ und nun suchend den Raum überblickte.

Dann – ein Knall hinter uns …

Barring war zurückgesprungen, hatte die Tür zugeworfen, hatte die Riegel vorgeschoben.

Und von draußen durch die Eisentüre nur ganz schwach seine Stimme:

„Es war ein ehrlicher Handel! Daß Lord John sich selbst den Tod gegeben, ahnte ich nicht!“

Dann – Stille …

Harald schaute mich an. „Deine Schuld! Du hättest hinter ihm bleiben sollen.“

Ich senkte beschämt den Kopf und schwieg.

Wir waren gefangen.

Aber – wo war Lord John – – wo?! – –

Dies und anderes kläre ich in … fünf Sekunden auf.

 

 

Um fünf Sekunden.

 

1. Kapitel.

Der Backofen.

Ich habe bereits im vorigen Band erwähnt, daß das Städtchen Lammerty bei Nordwind zumeist in Nebel und dünne Rauchschwaden gehüllt ist. Diese Rauchschwaden rühren von einem unterirdisch brennenden Teile des Lammerty-Hochmoores, Besty Barry genannt, her. 8000 Quadratmeter umfaßt dieses in den Tiefen des Torfmoores seit Menschengedenken wütende Feuer, und die Oberfläche von Besty Barry ist zu jeder Jahreszeit so heiß, daß kein Halm auf der braunen Erde gedeiht, daß kein Schnee dort liegen bleibt. Dieser Teil des unendlichen Lammerty-Moores liegt nun nach Osten zu und wird hier von jener kahlen felsigen Hügelreihe begrenzt, in der sich die Tokkara-Höhlen hinziehen.

Ich muß dies alles hier nochmals erwähnen, da es zum Verständnis des Folgenden nötig ist. Außerdem dürfte es aber auch angebracht sein, die Nerven des Lesers durch diese Randbemerkungen ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. –

Der freundliche Leser wird sich nun wieder etwas erholt haben und mag mich nach jener kleinen Grotte zurückbegleiten, die Lionel Barring nicht ganz unzutreffend als Zelle bezeichnet hatte.

Ich senkte also unter Haralds berechtigten Vorwürfen beschämt den Kopf und … hielt den Mund. In solchen Momenten ist es besser, sich Harst gegenüber nicht zu verteidigen oder zu entschuldigen. Er wird dann meist ironisch, und das ist noch scheußlicher als eine Rüge hinnehmen zu müssen.

Ohne mich weiter zu beachten ging er zur Tür und untersuchte sie und das dicke Mauerwerk.

Dann wandte er sich um, schritt auf einen Lehnstuhl mit rissiger Polsterung zu, drehte ihn so, daß er von dessen Sitz aus die Grotte überblicken konnte, und ließ sich mit einem halben Seufzer hineinfallen.

Ich hatte mich an den Tisch gelehnt, der vor einem mit braunem Glanzleder überzogenen Ruhebett stand. Ich kannte meinen Harst. Ich wußte schon, wie ich ihn versöhnen könnte.

So begann ich denn (dies fiel mir gerade jetzt ein!) zu erzählen, was ich in der Bibliothek des Schlosses erlebt hatte, als ich auf dem Stuhl hinter der ein wenig geöffneten Flurtür saß.

Erst hörte Harald kaum hin, sondern legte umständlich aus einem Pappschächtelchen neue Mirakulum in sein Zigarettenetui, rechte Seite, unter das straffe Gummiband.

Dann fragte er plötzlich: „Wirst Du das Buch wiederfinden, daß der Fremde aufgeschlagen hatte, der nachher mit Baptiste flüsterte?“

„Ja. Bestimmt.“

„Vortrefflich, mein Alter, vortrefflich! – Dein kleines Erlebnis ist von größter Bedeutung,“ fügte er hinzu. „Wir wissen jetzt ja, daß der greise Baptiste die Lebensmittel nicht Barring gebracht hat, und daß er ebensowenig das Geheimnis des Ahnenbildes kennt. Es drängen sich uns daher zwei Fragen auf …“

Mit weit vorgestreckten Beinen setzte er eine Zigarette in Brand.

„… Zwei Fragen …“ Und er blies zwei Rauchwölkchen in die hier völlig trockene und sogar angenehm warme Luft. (Ein Ofen war nicht vorhanden!)

„Erstens: Wem brachte Baptiste die Lebensmittel?“

„Hm – wahrscheinlich doch dem Fremden, der durch die versteckte Tür die Bibliothek betrat.“

„Sehr richtig, lieber Alter. Ganz meine Meinung. – Nun gleich die Unterfrage zu Frage eins: wer war der Fremde?“

„Ich halte ihn für einen Mann aus gebildeten Kreisen. Sein Anzug war zerknittert, aber von gutem Schnitt. Seine gepflegten Hände sah ich sogar ganz deutlich, als er in das aufgeschlagene Buch etwas hineinschrieb.“

„Das muß uns vorläufig über ihn genügen. – Jetzt Frage Nummer zwei: Wenn Baptiste das Ahnenbild nicht zum Verlassen der Galerie benutzt hat, wie verschwand er dann die beiden Male so schnell, wie ich hinter ihm drein war?“

„Vielleicht hat die Ahnengalerie noch eine zweite Geheimtür …“

„Bravo! Auch ich nehme das an.“ – Er rauchte hastig und starrte auf seine Stiefelspitzen. „Gehen wir nun auf eine Erörterung der letzten Ereignisse über. Du hörtest wie ich, daß Barring uns durch die Tür zurief, er habe nicht ahnen können, daß Lord John sich selbst den Tod gegeben. – Wie verstehst zu dies?“

„Ich verstehe es überhaupt nicht.“

„So … so. – Schau doch mal dort nach rechts hin. Was siehst Du?“

„Einen am Boden liegenden umgekippten Stuhl.“

„Aha! – Und was siehst Du auf der Platte des Tisches, an dessen anderer Seite Du lehnst?“

Ich drehte mich halb um.

„Hm – das sind Spuren – staubige Spuren von Schuhen.“

„Ja – von den Schuhen eines Menschen, der hier in der Grotte sich die Sohlen mit Staub beim Hin- und Hergehen schmutzig gemacht hatte. Also: der Mann ist auf den Tisch gestiegen. – So, und jetzt betrachte mal das Sitzbrett des umgekippten Holzstuhles.“

„Ah – auch Staubspuren …!“

Ich hatte begriffen. Ich nahm den Stuhl und stellte ihn auf den Tisch, stieg dann auf den Tisch, dann auf den Stuhl und konnte nun die natürliche Felsendecke der Grotte mit den Händen bequem betasten.

„Bravo!“ rief Harald wieder. „Nur weiter so! Ich glaube, Du bist auf der richtigen Fährte.“

Ja – das war ich!

Der höckerige Fels der Decke hatte da eine sehr verdächtige Rille in Form eines großen Sechsecks. Als ich die Hände flach unter die Mitte dieses Sechsecks legte und kräftig drückte, hob sich der sechseckige Teil der Decke nach oben und ließ sich mit geringer Mühe vollends nach oben hochklappen. Es war ein flaches Stück Fels, das sich in zwei derben Scharnieren bewegte.

Aus dem so entstandenen Loche über mir quoll eine heiße, stickige Luft hervor – so heiß, daß ich unwillkürlich zurückprallte.

Es war wie der glühende Atem irgend eines dort oben in der Finsternis lauernden Ungetüms, das mich drohend anblies und verscheuchen wollte.

Harald reichte mir schon eine der Laternen.

„Ich helfe Dir weiter empor,“ sagte er und schwang sich auf den Tisch.

Mit seiner Unterstützung konnte ich mich, nachdem ich um den Rand des Loches die Finger gelegt hatte, leicht in die über der „Zelle“ liegende große Höhle hineinarbeiten.

Flüchtig nur ließ ich hier das Licht der Laterne umhergleiten. Dann half ich Harst nach oben.

„Backofen!“ meinte er nachdenklich, als er neben mir stand. „Das Geheimnis der Tokkara-Höhlen hat viele Seiten, die noch kein Mensch umgeblättert hat – wenigstens kein ehrlicher Mensch außer Lord John und uns. Lionel Barring kennt diesen Backofen natürlich und nun verstehe ich auch seine Bemerkung über Lord Johns[3] Selbstmord. – Die Hitze hier ist fraglos eine Folge des brennenden Besty-Barry-Moors. Und …“

Er schwieg, packte meinen Arm …

Flüsterte: „Da – da huschte soeben etwas vorüber – dort hinten …“

Er hatte auch die zweite Laterne mitgebracht, hob sie hoch empor … mit der Linken, in der Rechten die treue Clement.

„Komm,“ sagte er leise.

Wir gingen ein paar Schritt nach Norden zu. Da lag … ein Haufen Kohlblätter, geschnitzelte Rüben und ein Häufchen Hafer.

Und – zwischen den Kohlblättern saß ein kleines Kaninchen und blinzelte scheu in das Licht der Laternen.

Harst lachte in sich hinein.

„Wahrhaftig ein Kaninchen!“ meinte er. Und – – pfiff plötzlich durch die Zähne …

„Vorsicht!!“ sagte er in ganz anderem Ton. „Erinnerst Du Dich an Frau Maria Goulds wirre Angaben über ihre Gefangenschaft in den Tokkara-Höhlen?“

Ob ich mich besann! So etwas vergißt man nicht.

Frau Maria Gould lag jetzt krank im Hause des freundlichen Pfarrers von Lammerty – krank an Nervenfieber nach all den unerhörten Aufregungen die sie durchgemacht hatte. – Ihr Gatte war Ingenieur im Dienste Lionel Barrings auf Schloß Gnir gewesen, war von Barring umgarnt und zum Mitglied der „großen Null“ gemacht worden, nachher aber von dem Geheimbunde zum Tode verurteilt und von der Euston-Klippe unten auf die Uferfelsen gestürzt – also ermordet worden. Seinen Tod hatte Maria Gould aufklären wollen, war dabei für kurze Zeit Barrings Gefangene gewesen und hatte uns im Pfarrhaus in Lammerty in gut gespieltem Anfall von Wahnsinn berichtet, daß ein Reptil von ungeheurer Größe sie in den Höhlen bedroht hätte. – Leider hatten wir sie nach diesen Dingen nicht ausfragen können, da sie am 8. April dann kurz nach Barrings Flucht aus dem Schlosse plötzlich einen völligen Nervenzusammenbruch erlitt. Ihre Weibernatur hatte doch schließlich von all den Aufregungen kapituliert. In bedenklichstem Zustande wurde Maria Gould damals zu Pfarrer Wellery[4] transportiert. –

Und nun hier – – ein Kaninchen! Hier in der unbekannten Nebenhöhle der Tokkara-Höhlen, in denen nach Frau Marias Angaben eine Riesenschlange hausen sollte!

Ein Kaninchen – – Schlangenfutter!

Harald flüsterte mir jetzt dasselbe soeben von mir gedachte Wort zu:

„Schlangenfutter! – Also hat Maria Gould nicht geträumt. Sie muß hier in diesem Backofen eingekerkert gewesen sein. – Doch – weiter, mein Alter, weiter! Ich fürchte für Lord John!“

Die Höhle verlief nach Norden zu in verschiedener Breite, hatte aber keinerlei Abzweigungen.

Harst ging voran, den Arm mit der Laterne weit vorgereckt.

Mir drang der Schweiß aus allen Poren. Die Hitze nahm zu. Die Höhle senkte sich ziemlich steil.

So hatten wir etwa zweihundert Schritt zurückgelegt, als Harst stehen blieb.

Ich sah ebenfalls, daß da vor uns am Boden eine Gestalt lag – ein Mann …

Es war Lord John. Er lag auf dem Gesicht, die Finger in das Steingeröll gekrallt.

Harald drehte den reglosen Körper um, fühlte nach dem Herzschlag.

„Er lebt,“ sagte er leise und atmete erleichtert auf. „Er lebt! Tragen wir ihn rasch in die Zelle.“

 

2. Kapitel.

Der Schlangenkopf.

Lord John ruhte auf dem Glanzlederdiwan. Harst hatte ihm den Oberkörper entblößt und verschiedene schwere Quetschungen an den Rippen festgestellt.

Hier in der Zelle war noch eine Kanne mit Tee vorhanden. Wir flößten Lord John den Tee ein und sahen schließlich unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt: er kam wieder zu sich!

Ein namenloses Grauen sprach noch aus den verschwommenen Blicken, mit denen er uns erstaunt musterte.

Harald sagte herzlich: „Sie sind in Sicherheit, Mylord. Ich bin Harald Harst.“

Lord John schloß wieder die Augen. Ein Zittern lief über seinen Leib hin.

„Es … es war entsetzlich!“ hauchte er …

„Die Schlange – nicht wahr?“

„Ja … ja!!“ Er riß die Augen wieder auf.

„Die Schlange … mit dem Menschenkopf!!“ hauchte er. „Mit dem … Weiberkopf …“

Harald warf mir einen Blick zu. Ich verstand: Lord John war durch die Angst irrsinnig geworden!

Doch – wir täuschten uns! Wir hatten die Widerstandsfähigkeit des neuen Herrn von Schloß Gnir unterschätzt. Er hatte Harsts Blick sehr wohl bemerkt, setzte sich mit einem Ruck aufrecht und sagte laut:

„Geben Sie mir eine Zigarette – bitte …“ – Er holte tief Atem. „Ich – – bin nicht verrückt vor Angst geworden, obwohl das Scheusal mich bereits vollständig umwickelt hatte und mir die Rippen zu zerdrücken drohte. In meiner Todesangst schrie ich um Hilfe, und das mag die Schlange verscheucht haben. Ihre Ringe glitten von mir ab, und ich fiel in Ohnmacht.“

Harst reichte ihm eine Mirakulum.

Der Lord rauchte und versuchte zu lächeln. „Das Reptil hatte wirklich einen Weiberkopf,“ behauptete er wieder. „Ich will Ihnen alles der Reihe nach erzählen. – Nach dem Souper saßen Harry Tossing und ich noch in meinem Schlafzimmer plaudernd beisammen und tranken ein Glas Rotwein. Ich wurde mit einem Male sehr müde und schlief ein.“

„Der Rotwein enthielt ein Schlafmittel, Mylord,“ bemerkte Harald kurz.

John Gnirable schüttelte den Kopf. „Das kann wohl nicht sein, Mr. Harst.“

„Es ist so, Mylord. Ich muß Ihnen leider eröffnen, daß Harry Tossing und Lionel Barring eine und dieselbe Person waren. Barring hat das bereits zugegeben. Er wollte Sie in seinem Sinne beeinflussen können.“

Lord John starrte Harst entsetzt an. Dann lächelte er schmerzlich. „Also deshalb war dieser Tossing angeblich Handlungsreisender und so oft von London abwesend – deshalb.“ – Er zog gedankenvoll an seiner Zigarette. Er mußte diese Enttäuschung erst verwinden. Dann sprach er weiter: „Also – ich schlief ein und kam erst in dieser kleinen Höhle wieder zu mir. Ich war allein. Drei Petroleumlaternen beleuchteten den Raum. Dort auf dem Tischchen, wie noch jetzt, lag ein Brot und eine Büchse Konservenfleisch, stand auch die Kanne mit Tee. – Ich ahnte sofort, daß ich in Lionel Barrings, meines verbrecherischen Vetters, Gewalt war. Ich wollte fliehen, untersuchte die Tür, die Felswände …“

„Und entdeckten das Sechseck, Mylord …“

„Ja – mehr durch einen Zufall. – Ich kletterte auf Tisch und Stuhl, nahm die eine Laterne mit und hoffte in der heißen Grotte oben einen Ausgang ins Freie zu finden. Ich wanderte mutig dahin – immer weiter – trotz der Hitze, die mir fast den Atem benahm. Kaninchen liefen vor mir davon. Ich wußte nicht, daß …“

„Und dann überfiel die Riesenschlange Sie?“

„Nein – nein, Mr. Harst. Gedulden Sie sich. Ich habe noch mehr erlebt. Als ich an eine Stelle gekommen, wo ein ungeheurer Abgrund mir den Weg versperrte, in dessen Tiefen ein Wasser zu rauschen schien, sah ich jenseits des Abgrundes in der Ferne einen Lichtschein – in weiter Ferne! Die Höhle ist da sehr hoch und sehr breit, geht steil abwärts. Ich roch auch faden Brandgeruch …“

„Das schwelende Moor, Mylord …!“

„Ah – das wird es sein! Sie haben recht. Das kann es nur sein …!“

Er griff nach der Teekanne und trank in langen Zügen.

„Ja – und der Abgrund scheuchte mich zurück, Mr. Harst … Da traf ich die erste Schlange – ohne Weiberkopf. Ich rannte wie gehetzt davon, lief der zweiten in den Weg, sah noch, daß sie statt des Schlangenhauptes einen Frauenkopf mit blonden Locken hatte, verlor die Laterne, stolperte, wurde von dem Reptil umschlungen – im Dunkeln – den Rest kennen Sie besser als ich.“

Er trank abermals und bat um eine zweite Zigarette.

Harald rauchte ebenfalls, sagte nun:

„Jetzt sollen Sie vernehmen, Mylord, was sich in Schloß Gnir zugetragen hat. Sie werden sich hoffentlich inzwischen [so][5] weit erholen, daß Sie uns nachher bis an den Abgrund begleiten können …“

„Niemals! Nie wieder betrete ich die Schlangengrotte!“ rief Lord John ehrlich. „Das können Sie nach dem, was ich dort erlebt habe, nicht verlangen!“

Harst nickte. „Ihre Weigerung ist verständlich, Mylord. Hören Sie also …“

Er berichtete in aller Kürze, was er von mir über das blutige Bild der beiden Schlafzimmer erfahren und wie wir dann mit Barring zusammengetroffen waren und den Pakt „Leben gegen Leben“ mit ihm abgeschlossen hatten. – Zum Schluß sagte er noch: „Ruhen Sie sich also hier aus, Mylord. Schraut und ich wollen versuchen, in den Abgrund hinabzuklettern und von dort irgendwie das Freie zu gewinnen. Glückt dies, so holen wir Sie. Stößt uns etwas zu, so müssen Sie zusehen, ob Sie sich selbst irgendwie retten können.“

Lord John wollte uns zurückhalten, warnte uns eindringlich und drückte uns dann, als all sein Reden nichts fruchtete, zum Abschied kräftig die Hand.

Wir kletterten in die obere Grotte hinein, nahmen zwei Laternen und außerdem einen Strick mit, den wir aus den Gurten der Polsterung des Ruhebettes zusammengeknotet hatten.

Hinter uns klappten wir den sechseckigen Stein wieder herab und standen nun abermals in der heißen, weiten Grotte … – –

Wenn der Leser sich das Titelbild dieses Harstbandes betrachtet, ohne den Inhalt der beiden in diesem Heft vereinigten Erzählungen zu kennen, wird er fraglos denken: „Gröbste Effekthascherei! Welch ein Unsinn, einen solchen Karnevalsulk dem Publikum aufzutischen!“

Ich brauche mich gegen diesen Vorwurf nicht zu wehren. Der Fortgang unseres Abenteuers erklärt auch die Schlange mit dem Frauenkopf in ganz überzeugender Weise. –

Was uns auf dem Wege nach dem fernen Abgrund zustieß, darauf weist das Titelbild hin.

Ich kann mich daher kurz fassen.

Wir waren vielleicht fünfhundert Meter nach Norden vorgedrungen, als der vor uns hertanzende Schein der Laternen auf einen einzelnen tischartigen Felsblock traf, auf dem zusammengeringelt jenes Reptil lag, das den neuen Herrn von Schloß Gnir fast zerquetscht hatte: Die Schlange mit dem Weiberhaupt!

Wir blieben stehen …

„Also wirklich!“ flüsterte Harald.

Das Reptil wand sich langsam auf uns zu, glitt von dem Felsen herab …

Harst schoß – schoß nochmals …

Ich hörte, daß die Kugeln gegen Metall klatschten, das hohl wie ein Topf klang …

Auch ich feuerte … – ohne Wirkung.

Und immer rascher glitt die Boa Konstriktor (denn dieser Gattung gehörte das gut sechs Meter lange Ungeheuer an) auf uns zu …

„Auf die Stelle dicht unter dem Kopf zielen!“, schrie Harald und riß mich zurück, stand still, feuerte …

Das blecherne Peng Peng der Pistolenknalle hallte überlaut in der Grotte wider[6], weckte ein vielfaches Echo …

Und auch ich drückte wieder ab …

Bis das Ungetüm da vorn jäh hochschnellte und sich kerzengrade bis zur halben Länge des buntschillernden Leibes aufrichtete, um dann sofort wieder zurückzusinken …

Eine Kugel hatte ihr die Wirbelknochen zerschmettert und das Rückenmark zerstört.

Ein Todeskampf nun, wie er furchtbarer, wilder, dämonischer kaum gedacht werden konnte, ein Todeskampf mit einem fortwährenden blitzschnellen Hin- und Herschleudern des Leibes, mit förmlichen Sprüngen …

Und während dieses Todeskampfes fortwährend das Dröhnen des metallenen Kopfes, der an die Felsen stieß … –

Harst machte dem grauenvollen Schauspiel ein Ende indem er keck sich näher wagte und durch die leeren Augenöffnungen des Metallkopfes auf das Schlangenhaupt schoß – das Hirn zerschmetterte.

Nun lag das Untier, nur hin und wieder noch zuckend, vor uns.

Nun konnten wir den Weiberkopf aus Metall, dessen Lockenpracht ebenfalls lediglich Metall und gelb angestrichen war, in Ruhe betrachten.

Der Kopf der Schlange war durch ein Loch in der Rückseite des Metallhauptes gesteckt und wurde durch zwei Stahlbügel, die im Genick sich eng anschmiegten, festgehalten.

Das Metallhaupt stammte ohne Zweifel von irgendeiner Statue. Wäre es nicht Metall gewesen, hätte die Boa es leicht zerschlagen können.

Staunend sah ich mir diese seltsame Maskerade an. Ich begriff nicht, was für einen Zweck sie haben könnte.

Harald hatte den Metallkopf jetzt losgemacht und erklärte schlicht:

„Fraglos eine Erfindung Barrings, um jeden Fremden von hier zu verscheuchen. Er wird die Schlangen – wie viele es sind, wissen wir ja noch nicht – von einer Tierhandlung bezogen haben. Hier in der warmen Höhle mußten die Bestien sich ganz wohlfühlen. Barring wird diesem Reptil von Zeit zu Zeit den Metallkopf abgenommen und ihn einem anderen aufgesetzt haben, damit die Ungeheuer sich sättigen konnten – durch die Kaninchen. Natürlich befand sich diejenige Schlange, die den Metallkopf tragen mußte, stets in wildester Wut, da sie das schwere Ding infolge der Stahlbügel nicht loswerden konnte. – Jedenfalls: Dieser Mummenschanz ist ganz sicher für abergläubische Gemüter bestimmt. Und – die Schotten sind abergläubisch!“

All das war logisch. Nur eins wollte mir nicht recht in den Sinn: daß Barring nach Harsts Ansicht den Metallkopf bald dieser, bald jener Schlange aufzwängte! – Wie sollte Barring die Bestien wohl so weit gezähmt haben, daß sie ihn an sich heranließen?!

Ich äußerte diese Bedenken auch unverhohlen.

„Oh – Barring wird die Schlangen irgendwie betäubt haben,“ meinte Harald. „Das läßt sich durch die verschiedenartigsten Mittel bewerkstelligen. – Doch, – jetzt … weiter …! Wir dürfen uns hier nicht länger aufhalten.“

 

3. Kapitel.

Ein neues Geheimnis.

Ungehindert gelangten wir bis an den Abgrund. Eine zweite Boa, ohne Frauenkopf, sahen wir nur von weitem. Wir ließen sie vorläufig unbehelligt.

Das ebenso grandiose wie eigenartige Bild des in endloser Ferne in der endlosen Riesengrotte brennenden Torfmoors hier eingehend zu schildern, würde Seiten und Seiten erfordern. Außerdem hat Professor Knax aus London eine solche Beschreibung geliefert, die in allen Zeitungen erschienen ist, auch in deutschen. Wir selbst haben den Gelehrten später in die Grottenwelt hinabgeleitet. Er mag es mir nicht verargen, wenn ich hier behaupte, daß diese seine Schilderung der feurigen Wunder der Tokkara-Höhlen trocken und reizlos wie ein altes Stück Brot ist. Er hätte diesen wundervollen Stoff wahrlich interessanter gestalten können. Schade darum!

Wir beide jedenfalls standen trotz der wahnsinnigen Glutwellen ringsum in andächtigem Staunen am Rande des Abgrundes, der hier die Grotte wie ein tiefer Messerschnitt von Gigantenfaust zerteilte.

Wir standen vor diesem fernen Naturwunder der unterirdischen hier zu Tage tretenden Feuer minutenlang regungslos.

Bis Harald flüsterte:

„Genug! Reißen wir uns los von diesem Bilde, das vielleicht das unheimlichste und wunderbarste ist, was ich je geschaut habe.“ –

So begannen wir den Südrand des etwa acht Meter breiten Schlundes nach der Möglichkeit eines Abstiegs zu untersuchen.

Nach zehn Minuten fand Harald an der Ostwand der Höhle eine Stelle, die weniger schroff abfiel. Er ließ die eine Laterne an dem Strick herab und stellte fest, daß eine Menge Zacken und Vorsprünge, Risse und schmale Grate einen gefahrvollen, aber immerhin gangbaren Weg in die Tiefe bildeten.

Harst kletterte wieder voran. Es ging leichter als wir gedacht hatten. Selbst meine Behäbigkeit wurde mit den Schwierigkeiten dieser Kletterpartie fertig. – Je mehr wir uns dem Grunde der riesigen Kluft näherten, desto deutlicher hörten wir das noch unsichtbare Wasser rauschen und gurgeln. Harald hatte schon vorher die Vermutung ausgesprochen, daß es wahrscheinlich derselbe unterirdische Fluß sei, der auch die bekannten Teile der Tokkara-Höhlen durchströmte.

Endlich dann am Ziel – endlich!

Und wie wonnevoll war hier unten am Ufer des im Laternenlicht blinkenden Wassers die köstliche erquickende Kühle!

Zwischen Schluchtwand und dem Wasserlauf war ein freier Streifen Geröll von durchschnittlich ein Meter Breite. Wir folgten dem Flusse, der nach Osten zu dahinströmte, bis an einen hohen Tunnel, in dem er schäumend verschwand, um dann – wer weiß wo – wieder zu erscheinen.

Dies äußerte ich auch zu Harald.

„Du irrst,“ erwiderte er. „Wir werden sehr bald wissen, wo er wieder zu Tage tritt. – Hinein ins Wasser! Tief kann es nicht sein!“

Es reichte uns nur bis zu den Hüften. – Wir drangen in den Tunnel ein. Schritt für Schritt tastete Harald sich vorwärts. Die Decke über uns senkte sich oft so tief, daß wir uns fast bis auf die Wasseroberfläche vorbeugen mußten.

Hier in dem Kanal war es eisig kalt. Eine scharfe Zugluft umwehte uns.

Nach etwa zehn Minuten dann das Ende des Kanals, – eine neue Höhle, in der der Fluß nun an der Nordseite sanft weiterströmte, – eine Höhle mit zahlreichen Biegungen und einer ganz anders gearteten Luft. Ich spürte ganz deutlich: wir näherten uns dem Meere! Die Salzluft des Ozeans erfüllte diese Grotte …

Dann eine neue Biegung …

Und … Fässer, Ballen, Kisten lagen hier hoch aufgetürmt. Und auf dem nahen Flusse schaukelten leicht an ihren Ketten zwei große Boote.

Harst lief plötzlich, hatte plötzlich einen Mann gepackt, der zwischen den Warenstapeln an einem Tische auf einem Schemel gesessen zu haben schien. Eine Petroleumlampe brannte auf dem Tische, und ein aufgeschlagenes Buch lag dicht daneben.

„Hallo – das ist ja der alte James!“ rief Harald erstaunt.

Es war James, der Diener des Pfarrers Wellery[7] aus Lammerty! Derselbe James, den wir im Verdacht gehabt hatten, daß er mit Lionel Barring im Bunde stände! Derselbe James, der mit dem greisen Baptiste aus dem Schlosse so eng befreundet war! –

James stierte uns wie Gespenster an.

„Wo – wo kommen Sie her, Mr. Harst?“ stotterte er …

„Aus der Schlangenhöhle, lieber James. – Da – setzen Sie sich. Sie zittern ja zum Erbarmen!“

James sank auf den Schemel.

„Aus – aus … der Schlangenhöhle …?!“ murmelte er ungläubig. „Und … und … Sie … leben noch?!“

„Wie Sie sehen – wir leben! Haben aber wenig Zeit. – Ein paar Fragen, James. – Dies hier ist ein Schmugglerwarenlager?“

„Ja … – Aber – Sie … Sie werden doch nichts verraten, Mr. Harst …,“ flehte der Alte weinerlich. „Schmuggeln ist doch keine Sünde, Mr. Harst. Ich selbst bin ja heute auch nur zufällig hier.“

„Verraten?! Hm – das wird sich nicht umgehen lassen. Aber – Ihr könnt die Waren anderswohin schaffen. Davon weiß ich dann nichts. – Die Schlangenhöhle kennen Sie also, James?“

„Ja – natürlich. Das heißt – ich habe mich noch nie durch den Kanal und durch den Abgrund hineingewagt. Das riskierten nur ein paar junge Leute vor einem Jahre, als die Schlangen dort aufgetaucht waren. Seitdem ist keiner mehr dort hinaufgeklettert. Es haust dort ein Ungetüm mit … – Aber das glauben Sie mir ja doch nicht, Mr. Harst.“

„… Mit Frauenkopf, wollten Sie sagen, James. Oh, ich glaube es schon, denn – Schraut und ich haben das Untier gesehen.“

„Und … und sind nicht … getötet worden?!“ staunte der Alte.

Harst lachte. „Nein. – Was treiben Sie hier, James?“

„Ich … ich wollte meinen Neffen sprechen. Aber der Schmugglerkutter ist noch nicht zurück.“

„Wie gelangt man von hier ins Freie?“

„Ich werde Sie führen. Diese Höhle mündet zwischen unzugänglichen Klippen, ebenso der Fluß da. Nur die Schmuggler kennen diese Grotte, und das Geheimnis erbt sich in den Familien der Eingeweihten stets weiter.“

„Vorwärts, James, – wir müssen nach Schloß Gnir zurück. – Ich verspreche Ihnen, daß ich erst nach zwölf Stunden diesen Ort anderen beschreiben werde. Ihre Freunde haben also genügend Zeit, hier … reinen Tisch zu machen.“

James dankte wortreich, brachte uns mit einem der Boote bis zwischen die Klippen und dann nach kurzer Fahrt an die Küste.

 

4. Kapitel.

Heines Gedichte.

Der neue Tag dämmerte bereits herauf, als wir müde, abgespannt und frierend in unseren zum Teil nassen Anzügen nach längerem Dauerlauf die Ostecke des Schloßparkes von Gnir erreichten und uns vorsichtig an das große stattliche Gebäude heranschlichen.

Harald wollte versuchen, unbemerkt ins Schloß hineinzugelangen, da seine weiteren Pläne gegen Barring sich auf der Voraussetzung aufbauten, daß der Verbrecher uns noch gefangen wähnte.

Ein glücklicher Zufall führte uns dann am Ostflügel den unermüdlichen Kollegen Alverson in den Weg, der noch immer hoffte, irgendwie eine Spur von uns beiden so plötzlich Verschwundenen entdecken zu können.

Rasch huschten wir drei ins Haus – die Treppe empor – bis in die Bibliothek. Ein paar warnende Worte hatten auch Alverson veranlaßt, wie ein Einbrecher lautlos und schweigend uns zu folgen.

Als wir den Hauptflur erreicht hatten, hielt der Londoner Freund und Kollege uns zurück.

„Die beiden Offiziellen durchsuchen gerade nochmals die beiden Schlafzimmer,“ flüsterte er. „Wenn Sie also in die Bibliothek wollen, Harst, gehen wir lieber gleich hier in diese Tür hinein und durch die Zimmerflucht bis zur Bibliothek.“

Unter den „beiden Offiziellen“ verstand Alverson den Detektivinspektor Groubby und dessen Gehilfen Scheffer. Er nannte die beiden nie anders. Sie waren nicht seine Freunde. – Daß Alverson hier im Schlosse weilte, verdankte er Frau Maria Gould, die ihn schon vor Monaten mit Nachforschungen über die Todesursache ihres anscheinend verunglückten, in Wahrheit aber von der Verbrechergeheimgesellschaft ermordeten Gatten betraut[8] hatte. –

Harald öffnete die betreffende Tür. Von Zimmer zu Zimmer glitten wir drei im fahlen Dreivierteldunkel des grauenden Morgens, der sich durch die Spalten der Fenstervorhänge mühsam in die weiten, hohen Räume hineinstahl …

Harst immer voran – immer der lautloseste, immer der Spürhund edelster Rasse – mit der feinen Witterung des Edeltieres der freien Wälder.

Vor der Verbindungstür des letzten Zimmers machte er halt, warnte durch eine Handbewegung, deutete auf das Schlüsselloch.

Was Alverson und mir entgangen, – ihm entging nichts! Das bewegliche Bronzeplättchen vor dem Schlüsselloch war durch den von dieser Seite steckenden Schlüssel hochgehoben. Es blinkte kein Lichtstrahl von der Bibliothek her durch die längliche, von dem Schlüssel fast ganz ausgefüllte Öffnung. Nein – nur der Schlüssel selbst schimmerte verdächtig hell. Es war der Widerschein einer Lichtquelle in der Bibliothek. Dort brannte also irgendeine Lampe, Laterne, dergleichen.

Harst zog den Schlüssel geräuschlos heraus. Das jenseitige Bronzeplättchen war wohl abgebrochen. Jedenfalls: ich sah, nachdem Harald und Alverson nacheinander einen Blick in den büchergefüllten Raum geworfen hatten, an dem großen Mitteltisch den alten Baptiste sitzen. Vor ihm stand eine Laterne. Sein grauweißes Haupthaar schimmerte silbern …

Er saß da, den Kopf in die Linke gestützt, und weinte – starrte vor sich ins Leere. Mit der Rechten tupfte er mit einem zusammengeballten Tüchlein hin und wieder die rinnenden Tränen ab.

Das Bild des alten Mannes, der da in einer uns unerklärlichen Trauer und Verzweiflung ringsum in dieser frühen Morgenstunde in dem dunklen Gemach bei sorgsam zugezogenen Fensterportieren in dem geschnitzten hochlehnigen Eichenstuhl hockte, dieses Bild hatte etwas Rührendes, Mitleid Erweckendes an sich. –

Harst schob mich sanft bei Seite, legte die Hand auf den Türdrücker und – – und öffnete die Tür mit einem Ruck ohne viel Geräusch.

Baptistes Kopf war herumgeschreckt. Wie abwehrend hatten seine Arme sich uns entgegengestreckt. Dann erkannte er uns, erhob sich rasch, ließ die Arme sinken und nahm die unterwürfige Haltung eines gutgeschulten Bedienten an, der sein Knechtstum seit Jahrzehnten wie etwas Selbstverständliches trägt.

Harst winkte ihm zu. Bevor er aber noch etwas sagen konnte – fraglos ein paar freudige Worte sollten Baptiste begrüßen – flüsterte der Alte mit einem Blick nach der Flurtür der Bibliothek hin: „Mr. Harst, bitte sprechen Sie leise. Detektivinspektor Groubby ist drüben in Mylords Schlafzimmer.“

Harald schaute den Graukopf forschend an. „Sie fürchten Groubby? Weshalb, lieber Baptiste? Haben Sie ein schlechtes Gewissen?“

Der Greis trat mehr in den Schatten zurück. Er war rot geworden. „Schlechtes Gewissen …?!“, stammelte er mit einem kläglichen Versuch, recht harmlos zu erscheinen.

Harst wandte sich langsam mir zu. „Wir müssen uns beeilen. Lord John muß befreit werden. Gib das Buch mal her – rasch!“

Alverson machte ein sehr erstauntes Gesicht und beobachtete mich verwundert, wie ich nun links aus dem Regal einen dicken Band in Goldschnitt aus der Reihe der übrigen herausnahm.

Dieser mein an sich doch so bedeutungsloser Griff nach dem Buche, in dem vor Stunden der Unbekannte geblättert hatte, übte auf Baptiste die ungeheure Wirkung eines jähen überkräftigen Fausthiebes aus.

Er taumelte rückwärts – sank in den hohen Lehnstuhl und krallte die Hände um die geschnitzten Knäufe der Armlehnen.

Harald schaute still auf den alten Mann herab, legte ihm denn leicht die Hand auf die Schulter und flüsterte eindringlich: „Baptiste, wer war der Fremde, der hier in der Bibliothek gegen zwei Uhr nachts erschienen, dort aus der Geheimtür?“

Baptistes Antlitz ward jetzt zur Maske mutlosester Verzweiflung. Und doch raffte er sich mit übermenschlicher Willenskraft auf und erwiderte heiser und undeutlich: „Ich – ich weiß nichts von einem Fremden, Mr. Harst, – gar nichts weiß ich.“

Harald nahm mir mit kaum merklichem[9] Achselzucken das Buch aus der Hand, rückte sich einen Stuhl an den Tisch und legte das Buch – es war eine englische Prachtausgabe der Gedichte Heinrich Heines – vor sich hin.

Mit behenden Fingern blätterte er dann, von Baptiste unausgesetzt angstvoll beobachtet, jede einzelne Seite um.

Alverson und ich beugten uns über seinen Stuhl.

Das Rascheln der Blätter war lange Zeit das einzige Geräusch – außer Baptistes stoßweisen Atemzügen.

Harst blätterte die letzten Seiten um, sagte leise:

„Hier hat niemand etwas hineingeschrieben.“

Aus dem Lehnsessel ein Seufzer – ein Aufatmen.

Und Alverson bestätigte: „Nichts als gedruckte Verse, Harst. Das stimmt. Ich habe gute Augen.“ In richtiger Schlußfolgerung fügte er hinzu: „Schraut glaubt also beobachtet zu haben, daß der Fremde etwas in diesen Heine-Band hineinschrieb?“

„So ist’s,“ erklärte ich unsicher. „Der Mann hatte einen Bleistift in den Fingern. Auch auf meine Augen ist trotz der Brille Verlaß.“

„Allerdings,“ meinte Harald und drehte sich nach Baptiste um. „Sagen Sie, lieber Baptiste, diese Art Nachrichtenübermittelung üben Sie wohl mit dem Fremden schon recht lange?“

Der Graukopf stöhnte, schlug die Hände vor das verzweifelte Gesicht. „Haben – – haben Sie’s denn gefunden, Mr. Harst?“, murmelte er.

„Ja, Seite 106, aus dem Liederzyklus „Die Heimkehr,“ Nummer 57, die beiden letzten Zeilen sind … unterpunktiert.“

Baptiste gab sein Gesicht wieder frei. „Oh – ich hatte noch nicht nachgesehen,“ sagte er, plötzlich jeden Widerstand aufgebend. „Ich … saß hier und grübelte traurig über seine Worte nach, die er mir, in der Tür dort stehend, zuraunte.“

„Und – was flüsterte er?“

„Daß … daß um fünf Uhr heute morgen die Entscheidung fallen würde – Punkt fünf Uhr …“

Harald faßte des Alten Hand. „Baptiste, wer ist der Fremde? Ich verspreche Ihnen, daß wir Inspektor Groubby nichts mitteilen werden. Ich glaube, Sie fürchten Groubby, weil auch er hinter Ihre nächtlichen Spaziergänge mit dem Rucksack gekommen ist.“

Der Alte nickte verzagt, richtete sich dann im Sessel auf und erklärte, während seinen Augen zwei dicke Tränen entrollten.

„Er – er ist mein Sohn, Mr. Harst, mein einziges Kind aus kurzer Ehe, mein Abgott, mein Liebling, den ich, damit ihn die Niedrigkeit der Stellung seines Vaters nicht bedrücke, unter anderem Namen erziehen und … studieren ließ. Er ist … Thomas Gould, der Ingenieur, der Gatte Maria Goulds …“

Wir drei standen einen Moment tatsächlich wie die Bildsäulen da. – Harst faßte sich zuerst, fragte rasch:

„Thomas Gould ist doch tot, Baptiste?“

„Nein, er lebt. Wer ihn von der Euston-Klippe herabgestürzt hat, hatte er mir nie verraten. Er hielt seinen Eid, obwohl er doch von Lionel Barring nur durch allerlei Ränke verführt worden war, in den Verbrecherbund einzutreten. Damals, als die Schurken der großen Null ihn morden wollten, hatte er einen langen, weiten Gummimantel an. Als er über die Klippe ins Leere flog, muß der Mantel wie ein Fallschirm sich aufgebläht haben. Jedenfalls – er kam mit einem Arm- und Beinbruch und einer ganz leichten Gehirnerschütterung davon, und ein weiteres Spiel des Zufalls wollte es, daß ich kurz darauf auf dem Heimweg von …“ – er stockte – „von … Bekannten ihn auffand.“

„Auf dem Heimweg von der Schmugglerhöhle,“ ergänzte Harald. „Sprechen Sie nur weiter, Baptiste.“

„Es war eine fürchterliche Sturmnacht damals, Mr. Harst,“ stotterte der Alte verwirrt. „Als ich Toms leises Stöhnen vernahm, als er mir dann erklärte, daß er verloren sei, wenn hier nicht ein Toter am Morgen entdeckt würde, da habe ich mit diesen meinen ehrlichen Händen einem ertrunkenen Schiffbrüchigen, dem an den Klippen der Kopf bis zur Unkenntlichkeit zermalmt war, Toms Wäsche und Kleider angezogen und ihn anstelle Toms auf die Uferfelsen unterhalb der Klippe gelegt, Tom aber in die nur mir bekannten Seitengrotten der Tokkara-Höhlen getragen und dort gesund gepflegt und all die Monate verborgen gehalten. Es war ja mein Sohn, Mr. Harst, mein einziges Kind! Aber – es war auch ein Verbrecher, der durch meinen früheren Herrn, dieses Scheusal, zu einem …“

„Schon gut Baptiste … – Und dann?!“

„Dann wurde Tom immer schwermütiger. Er wagte es nicht, sich seinem geliebten Weibe zu offenbaren, die ihn für tot hielt. Heute nacht erschien er hier wieder einmal in der Bibliothek, um …“

„Schon gut, Baptiste. – Und heute raunte er Ihnen zu, daß um fünf Uhr die Entscheidung fallen würde. – Armer Vater, armer Baptiste. Thomas hat in dem Gedicht folgendes unterpunktiert:

„… Nahn sich mir die Höllenmächte,
Und ich schieß mich tot im Ernst.““

Mit einem winselnden Aufschrei schnellte der alte Mann auf …

„Meine … meine Ahnung!“, jammerte er. „Ich – ich muß …“

Er wollte davonrennen … – Harst hielt ihn zurück, blickte auf die große Standuhr der Bibliothek, eine elektrische Uhr, die mit der Turmuhr des Schlosses genau auf die Sekunde die Stunden schlug.

Und die Standuhr war … zehn Minuten vor fünf.

 

5. Kapitel.

Lionel, der Großmütige.

„Baptiste, eilen Sie uns voran – auf dem kürzesten Wege zu dem Versteck Ihres Sohnes!“, befahl Harald in leichter Erregung.

Alverson und ich fieberten förmlich. Baptiste zitterte, daß ihn kaum die Beine trugen. Sein Gesicht hatte etwas Leichenhaftes angenommen.

Dann sprang er taumelnd nach der Wand hin, öffnete die in der Täfelung verborgene Tür, stolperte in dem Schacht eine schmale Treppe abwärts, während der ihm auf dem Fuße folgende Harst die Laterne hochhielt.

Alverson und ich hasteten hinterdrein.

Unten dann ein kleines, leeres Gelaß. Wir sahen die Rückseite eines Gemäldes, das die Wandöffnung linker Hand verdeckte – ein zweites Ahnenbild der Galerie. Rechter Hand zweigte ein Gang ab, führte zu einer zweiten Treppe, die in einen anderen Gang mündete, der dem nach dem Schlupfwinkel der Banditen völlig glich.

Wahrlich – der Lord von Gnirable hatte sich hier einen Fuchsbau errichtet, wie ihn wohl kein zweites Schloß in Schottland darstellte, obwohl ja all diese alten Burgen ihre Geheimnisse haben! –

Baptiste raste keuchend vor uns her …

Stolperte auf dem schlüpfrigen Boden …

Jagte weiter – weiter …

Bis nach endlosen Minuten – endlos, wo jede einzelne kostbar war! – der Gang in eine Grotte einbog.

Ich hatte meine Uhr in der Hand.

Es war … zwei Minuten vor fünf.

„Tom – Tom – –!!“, kreischte der Greis in wildester Angst. „Tom – tu’ es nicht! Denk’ an Maria!!“

So brüllte er ins Leere hinein …

Rannte weiter …

Rannte rechts in eine steil aufsteigende Nebenhöhle, in der uns sofort andere Luft umwehte …

Und brüllte fast dieselben Worte nochmals …

Ein Hohngelächter, schaurig widerhallend[10] antwortete …

Eine Biegung – und vor uns eine weite Öffnung – Tageslicht …

Zackige Felsen umgaben diese über einem jähen Abhang der Hügelkette liegende breite Felsspalte.

Und auf der glatten, sich etwas vorwölbenden äußersten Kante des Gesteinbodens standen in dieser Öffnung zwei Männer, von denen der eine auf den anderen mit erhobener Pistole zielte …

„Zurück!“, donnerte Lionel Barring uns zu. „Zurück – oder dieser Lump, der den Bund verraten wollte, der plötzlich Gewissensbisse bekam, lebt keine Sekunde länger!“

Wir machten halt … Unser Atem flog …

Barring lachte. „Tom Gould hat mir soeben erklärt, daß er sich hier angesichts des Schlosses, in dem er mit seiner Maria ein kurzes Liebesglück genossen hatte, erschießen wollte – Punkt fünf Uhr!“

Ich sah durch die Felsenöffnung nun ebenfalls in der Ferne Schloß Gnirs dunkle Umrisse, sah im Mittelturm ein riesiges, rundes, erleuchtetes Auge: die Turmuhr, – – sah zwei dunkle Striche auf der hellen Scheibe: die Zeiger!

Die Uhr war … fünf. Der große Zeiger stand nicht ganz auf der zwölf. Ein paar Sekunden fehlten noch – vielleicht der Bruchteil einer Minute, – – vielleicht fünf Sekunden, schoß es mir durch den Kopf.

Barrings Hohnlachen ließ mich wieder auf die beiden Männer schauen.

„So wie jetzt stand Thomas Gould schon eine halbe Stunde hier,“ rief Barring triumphierend. „Stand und trauerte er seinem verlorenen Liebesglück nach! Ahnte nicht, daß zwei Augenpaare ihn von unten her entdeckt hatten. Und – so fand ich denn endlich – endlich den Verräter hier in seinem Versteck auf! Längst hatte ich vermutet, daß …“

Der Wind trug da plötzlich den ersten Schlag der Turmuhr bis in die Höhle hinein …

Barring verstummte, sagte in unverändertem Tonfall:

„Fünf Uhr!! Thomas Gould, Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Sobald der letzte Schlag der Uhr ertönt, wirst Du … gebüßt haben!“

Der vorgestreckte rechte Arm Barrings behielt unverändert die Richtung bei. Und dieser Arm, diese Hand hielt die drohende Waffe. Barrings Augen aber glitten unaufhörlich blitzschnell von seinem Opfer zu uns hin – von uns zu Thomas Gould, der regungslos an dem Gestein lehnte.

Baptiste sank plötzlich mit einem winselnden Laut in die Knie.

„Erbarmen – Erbarmen!“, kreischte er. „Mylord, ich habe Ihrem Vater und Ihnen sechsunddreißig Jahre treu gedient …! Mylord – es ist mein Sohn, den Sie töten wollen, – – mein einziges Kind!“

Lionel Barring, entthronter Herr von Schloß Gnir, wandte ruckartig den Oberkörper uns zu. Sein Gesicht drückte Unruhe, Unentschlossenheit aus.

„Ich weiß, daß Sie nicht so leicht lügen, Baptiste,“ sagte er dumpf. „Weshalb erinnern Sie mich in dieser Minute gerade an meinen Vater, daran, daß ich … einst auf Ihren Knien saß, und daß Sie es waren, der den wilden, lügnerischen Knaben, in dem schon all meine schlechten Instinkte schlummerten, zu bessern suchte?!“

Da – – der fünfte Schlag der Turmuhr zitterte von fern durch die stille Morgenluft.

Und – – Lionel Barring ließ den Arm mit der Waffe sinken, trat ganz dicht an den Rand des Abgrundes heran, reckte den Arm nach rechts, erfaßte ein dort von oben herabhängendes Tau und wurde … von ebenso unsichtbaren Händen schnell emporgezogen. –

Baptiste und Thomas Gould hielten sich umschlungen. Wir drei traten zurück.

„Ich werde dem Gould die Flucht nach Amerika ermöglichen,“ sagte Harald leise. „Sollen wir weniger großmütig sein als Lionel Barring?!“

Eine halbe Stunde darauf war auch Lord John befreit. In der Schlangenhöhle fanden wir noch zwei Riesenreptile, die jetzt im Londoner Zoologischen Garten als Geschenk Harald Harsts angestaunt werden. – Barring blieb eine volle Woche verschwunden. Dann, als wir bereits wieder in Berlin waren, meldete sich die … große Null wieder. Und – – der Kampf ging weiter …

 

Nächster Band:

Die große Null.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „dasselber“.
  2. In der Vorlage steht: „Unter“.
  3. In der Vorlage steht: „James“.
  4. In der Vorlage steht: „Mallaray“.
  5. Fehlendes Wort „so“ ergänzt.
  6. In der Vorlage steht: „wieder“.
  7. In der Vorlage steht: „Mallony“.
  8. In der Vorlage steht: „betrauert“.
  9. In der Vorlage steht: „merklichen“.
  10. In der Vorlage steht: „wiederhallend“.