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Die Treppe des Todes

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 116:

 

Die Treppe des Todes

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Das verfallene Haus.

Auch ich liebe es, meine Leser und Freunde stets aufs neue zu überraschen …

Ich, Max Schraut, steter Begleiter und Intimus des genialen Harald Harst, will hier gleich auf der ersten Seite die Treppe des Todes bringen …

Sie sah so aus:

Helfen mein hier mir
trach Sie Lon Haben einer
Wen gitt Sie eige gefan nach
Dar acht sich don Sie Un Shef mir
men en ner gen dem an Pall Er
mich mich tet glück field Retten Gatte und
den bing Leben Roger Street bar lich Sie hält
                              mit Mar

– Der Leser ahnt nun bereits, weshalb ich diesem unserem Abenteuer den Titel „Die Treppe des Todes“ gegeben habe: nur deshalb, weil obige Geheimschrift auch im Original in gleicher Weise abgestuft war, also jede folgende Zeile die vorhergehende ein wenig überragte …

Nicht nur deshalb …

In der Geheimschrift selbst liegt dann noch ein weiterer Beweis verborgen, daß ich den Titel mit Recht gewählt habe. – –

Nun kurz die Vorgeschichte …

Der Leser weiß, daß wir auf dem Schloß der Lady Cornawoor an der englischen Ostküste den Kopf des Maharadscha den Eigentümern wieder zustellen halfen, daß wir dort den Polizeiinspektor Thomas Dawes aus dem nahen Städtchen Bramby kennenlernten und daß wir uns entschlossen hatten, noch ein paar Tage Brambys idyllische Umgebung als Gäste Dawes’ zu genießen.

Thomas Dawes ist ein Gemütsmensch …

Dazu Junggeselle, Briefmarkensammler und fünfzig Jahre alt.

Sein Äußeres zu beschreiben erübrigt sich: er ist der Typ des gutgenährten, im Alltagseinerlei versauerten Kleinstädters, dabei ein Mann von Herz und vielseitigem Wissen.

Nur – Polizeibeamter ist er nicht.

Nein, ihm fehlt so ziemlich alles, was zu einem strengen, findigen, mißtrauischen Beamten gehört. –

So saßen wir denn an einem Julimorgen in der Weinlaube des Häuschens unseres neuen Bekannten beim Frühstück …

Die Laube lag auf einem Hügel des Gartens, und man konnte von hier aus bequem die nahe Straße in ihrer sonnigen Verschlafenheit überblicken …

Mit einem Male sagte Dawes:

„Ah – da geht ja der verrückte Doktor Groupy …! Halt – das bringt mich auf etwas, wofür Sie sich vielleicht interessieren, Mister Harst …“

Harald schaute der buckligen, hinkenden Gestalt des Doktors nach und meinte:

„Zunächst, mein werter Dawes, interessiert es mich, ob Groupy immer so hinkt.“

Dawes blickte überrascht auf.

„Gewiß – immer …!“

„So – dann erzählen Sie mal …“

„Gern. Es ist etwas Geheimnisvolles dabei, bester Harst …“

„Schon faul! Geheimnisse sind meist für die Katz’!“ Und Harst steckte eine seiner Mirakulum in Brand.

„Gestatten Sie mal!“ Dawes rosiges Gesicht wurde dunkler. „Gestatten Sie mal – dies Geheimnis ist sicherlich nicht für die Katz’! Hören Sie nur mal zu. – Also vor zwei Wochen kam der Privatgelehrte Doktor John Groupy –“

„Halt – wie lange wohnt der hier schon?“

„Zwei Jahre … Und zwar draußen in der Vorstadt dicht am Walde gegenüber dem sogenannten Henker-Hause –“

„Henker-Haus?“

„Ja. Es ist sehr alt und verfallen. Vor hundertachtzig Jahren ließ es sich der Londoner Henker Bastimon, der berühmte Bastimon, erbauen, um hier in Ruhe seine letzten Lebensjahre zu verbringen. Er erreichte bekanntlich ein Alter von hundertundsechs Jahren, und genau soviel Übeltäter hat er – ein seltsamer Zufall – mittels Strick vom Leben zum Tode sanft hinübergeleitet. Er verstand sein Handwerk. Von ihm gehenkt zu werden, war ein Vergnügen.“

„Haben Sie’s ausprobiert, lieber Dawes?“ schmunzelte Harald.

Dawes machte eine ärgerliche Handbewegung.

„Unterbrechen Sie mich nicht fortwährend. Das vertrage ich nicht. – Also Groupy wohnt dem Henker-Hause, das nach Bastimons Tod zumeist leerstand, gerade gegenüber in einer kleinen Villa. Diese beiden Gebäude, inmitten großer Gärten gelegen, sind dort in der Vorstadtstraße nach dem Walde zu die beiden einzigen …“

„Wer haust jetzt in der Henker-Bude?“

„Ein altes Ehepaar, die das Haus vor zwanzig Jahren für ein Spottgeld kauften …“

„Hält Groupy sich Bedienung?“

„Die alte Frau Honpelly, eben die Gattin des jetzigen Besitzers des Henker-Hauses, säubert ihm die Zimmer. Alles andere besorgt sich Groupy selbst: Kochen, Nähen, Stopfen, Waschen, Plätten …“

„Ein Genie …!“

„Fraglos! Der Doktor ist der beste Briefmarkensachverständige, den ich kenne. – Also vor vierzehn Tagen kam er zu mir …“

Dawes schwieg …

Im Laubeneingang war seine Haushälterin erschienen.

„Mister Dawes,“ krähte die hagere Person, „Doktor Groupy möchte Sie sprechen – allein sprechen.“

Der Inspektor erhob sich …

„Entschuldigen Sie, meine Herren … Bin gleich wieder da …“ –

Und Harst und ich waren allein und träumten behaglich vor uns hin …

Über dem Goldlackbeet da vorn summten fleißige Bienen. Man hörte das Summen bis zu uns hin.

Auf der Straße gackerten Hühner …

In der Ferne bellte ein Hund … –

Harald gähnte …

„Zuviel Nervenruhe!“ meinte er …

Und gähnte wieder …

Da kam Dawes zurück – blaurot im Gesicht – wütend – funkelnden Auges.

„Denken Sie, dieser Lump, der Groupy, hat es gewagt, mich, den Polizeiinspektor Dawes, zum Narren zu halten!“

Er setzte sich – keuchte – schnaubte:

„Denken Sie: die ganze Geschichte, die er mir da von der Geheimschrift erzählt hat, ist glatt erfunden gewesen! Unerhört! Rausgeschmissen hab’ ich den Kerl! Mir das zu bieten – mir!!“

„Ein Witzbold!“ lächelte Harald. „Beruhigen Sie sich doch, bester Dawes …“

Der Inspektor schenkte sich einen Kornbranntwein ein, trank, beleckte sich die Lippen.

Und meinte: „Eigentlich haben Sie recht, lieber Harst. Der Mensch ist es gar nicht wert, daß ein Polizeiinspektor sich seinetwegen aufregt!“

Er füllte auch unsere Likörgläser.

„Prosit! Auf daß Sie recht lange meine Gäste bleiben!“

Wir tranken … Es war der dritte Likör zum Frühstück …

Harst rauchte bedächtig, sagte ganz harmlos:

„Immerhin könnten Sie uns ja mal erzählen, mein lieber Dawes, was Doktor John Groupy sich da für ein geheimnisvolles Geschichtchen ausgedacht hat … Es wäre mir ganz interessant zu prüfen, ob dieser Privatgelehrte wenigstens als Lügner Phantasie besitzt.“

Dabei warf Harald mir einen kurzen Blick zu, den ich sehr wohl verstand …

Der Blick besagte: „Nicht wahr, es ist doch sehr auffällig, daß Groupy sein „Geheimnis“ gerade jetzt gleichsam widerruft, wo wir beide hier im Städtchen aufgetaucht sind!“

Und – in dieser Beziehung gab ich Harald vollkommen recht. Auch mich hatte des Doktors nunmehrige Behauptung, nur eine erfundene Geschichte erzählt zu haben, sehr sonderbar berührt, zumal er zu dieser scheinbaren Ehrlichkeit doch in keiner Weise gezwungen worden war. –

Inspektor Dawes hatte auf Haralds letzte Worte sich knallend auf den Schenkel geschlagen. Er war schon wieder bester Laune und krähte vergnügt:

„Haha, – – haben Sie eine Ahnung, Harst! Ob der Groupy Phantasie besitzt – – ob!! Sogar einen Zettel mit der Geheimschrift gab er mir damals, der alte Schwindler …!“

„Haben Sie den Zettel noch?“ fragte Harald gelangweilt tuend.

„Gewiß – hier ist er!“ Dawes hatte das Stück Papier aus seiner Brieftasche hervorgeholt.

„Zu diesem verrückten Wisch tischte er mir folgende Geschichte auf!“ meinte der Inspektor und entfaltete den Zettel. „Er habe da eines Abends im Mai so gegen elf Uhr an der vorderen Hauswand seiner Villa ganz zufällig ein helles Etwas bemerkt – eine Art Fleck, der wie eine … Treppe etwa aussah, einen schrägen Fleck von einem Meter Länge. – Die Villa ist nämlich bis zum ersten Stock aus dunklem Granit ausgeführt[1], und auf dem dunklen Stein zeichnete sich die helle Stelle in der Nacht natürlich sehr scharf ab –“

„Natürlich? Weshalb natürlich?“ warf Harald ein.

„Nun – Groupy behauptete doch, der Fleck habe geradezu geleuchtet, als ob dort jemand mit Leuchtfarbe den Granit angepinselt hätte …“

„Ah so! – Und weiter?“

„Na – Groupy untersuchte den Fleck genauer und wurde daraus nicht recht schlau. Er hat dann, log er mir vor, seine Kamera geholt und „die Treppe“ photographiert – gleich dreimal, und jede Platte hat er verschieden lange belichtet. Als er die Platten nachher entwickelt und Abzüge davon hergestellt hatte, als er den schärfsten dieser Abzüge noch vergrößerte, da – so log er weiter – hätte er erkannt, daß die helle, leuchtende Treppe aus Reihen von Silben bestanden habe. – Er schrieb mir die Silben genau so ab – in Treppenform –, und dies hier ist nun angeblich die Geheimschrift, die Groupy nur ein einziges Mal am 15. Mai dieses Jahres an seiner Hauswand als hellen Fleck gefunden haben will …“

Harst nahm den Zettel und besichtigte ihn …

Ich rückte näher heran …

Und so sah ich denn zum ersten Male … die Todestreppe – die Treppe des Todes, wie ich sie zu Anfang dieses Kapitels in deutschen Silben wiedergegeben habe. –

Stille …

Und nach drei – vier Minuten Harald:

„Haben Sie versucht, diese Silben richtig zusammenzustellen, lieber Dawes?“

„Ja, gewiß! Groupy bat mich ja darum, und ich – ich Schafskopf glaubte ihm ja! Er sagte, ihm sei es nicht gelungen, einen Sinn in all die Silben zu bringen. – Ich hab’s probiert, habe viele Stunden gesessen und viele Bogen vollgeschmiert – mit Lösungsversuchen!“

Harst lachte …

„Wirklich ein Witzbold, der Groupy! Natürlich haben die Silben überhaupt keinen Sinn. Der Doktor hat eben ganz willkürlich irgendwelche Wortteile aneinandergefügt – zum Bilde einer Treppe. – Werfen wir also auch Groupys Wisch auf den Kehrichthaufen! Sonst ärgern Sie sich stets von neuem, lieber Dawes …“

Und er knüllte den Zettel in der Hand zur Kugel zu zusammen, verließ die Laube und schritt – lachend dem Kehrichthaufen zu.

„Recht so!“ rief der ahnungslose Inspektor. „Recht so!! Darauf trinken wir noch einen!!“ – –

Ich wußte genau, daß der Zettel jetzt in Haralds Tasche steckte …

 

2. Kapitel.

Der Name Margitt.

Und Harald kam und setzte sich wieder, nahm eine neue Zigarette und fragte:

„Sagen Sie mal, bester Dawes, wann wurden denn in diesem Jahre hier bei Ihnen die Bäume grün?“

Dawes blickte Harst überrascht an.

„Wie kommen Sie denn mit einem Male gerade darauf?“ fragte er mißtrauisch.

„Na – weil ich das Gespräch eben in andere Bahnen lenken will. Groupy ist abgetan. – Also, wann wurde es heuer grün in Bramby?“

„Mit einem Schlage, lieber Harst … Über Nacht sozusagen. Uns hatte Regen gefehlt. Und der kam dann ganz plötzlich und so reichlich, daß innerhalb zwölf Stunden, zumal am Tage noch die Sonne es sehr gut meinte, die Kastanien und die Linden in wundervollstem Grün sich zeigten.“

Harald blies drei Rauchringe …

„Und – an welchem Tage war das?“ fragte er sinnend.

„Hm – das war – das war, – richtig: in der Nacht vom 15. zum 16. Mai setzte der Regen ein, und am sechzehnten abends war’s grüner Frühling geworden …“

„Am – sechzehnten – abends …“ wiederholte Harald wie geistesabwesend.

Da wurde selbst der harmlose Dawes aufmerksam.

„Woran denken Sie?“ fragte er hastig.

„An meine Spargelbeete in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10 … Am sechzehnten Mai stachen wir die ersten Spargel. – Es war doch so, mein Alter, oder nicht – oder war’s ein früherer Tag?“

Ich zuckte die Achseln …

„Keine Ahnung mehr!“

Und das stimmte auch. Mir waren Spargel nicht so wichtig. Wichtiger war mir’s jetzt, dahinterzukommen, weshalb Harald hier nach dem ersten Termin des Blattschmucks der Bäume gefragt hatte. Ohne Absicht, ohne Grund stellt er derartige Fragen nicht.

Da erklärte er schon:

„Sie müssen nun ja in den Dienst, lieber Dawes, und Schraut und ich werden eine Radtour unternehmen. Wo kann man Fahrräder leihen?“

„Das haben Sie nicht nötig. Ich besitze ein großes Motorrad mit zweitem Sattel. Es ist eine tadellose Maschine.“

„Mit Dank angenommen! – Vorwärts, Max Schraut, packe unsere Rucksäcke! Aus Koffer eins kommt Kasten zwei hinein und alles, was dazu gehört – nämlich zur Filmkamera,“ fügte er für Dawes hinzu.

Ich wußte es besser:

Koffer eins enthielt unsere Verkleidungsrequisiten, und Kasten zwei bedeutete Bettlerkostüme. –

Ich ging ins Haus – in unsere beiden Gastzimmer nach oben …

Und als ich mit den gefüllten Rucksäcken die Laube wieder betrat, saß Harald dort mit Bleistift und Papier und – entzifferte die Geheimschrift.

Ich blickte ihm über die Schulter … Las … las … mit immer starrer werdendem Blick!

„Helfen Sie mir. Retten Sie mich. Mein eigener Gatte hält mich hier gefangen und trachtet mir nach dem Leben. Wenden Sie sich an Roger Darbing, London, Pall Street acht. Haben Sie Erbarmen mit einer Unglücklichen.

Margitt Sheffield.“

Während ich dies überflog, hatte Harald noch die letzten Worte schreibend hinzugefügt …

„Ein Kinderspiel!“ meinte er. „Eine kindliche Geheimschrift!“

Und er schob den Zettel in die Tasche und verbrannte seine Lösung mit einem Zündholz.

Ich war noch immer über den Inhalt der Geheimschrift so bestürzt, daß ich erst gleichsam erwachte, als das Zündholz knisternd aufflammte.

„Was hältst Du davon?“ platzte ich heraus.

„Sehr viel, mein Alter.“

Und er nahm mir den Rucksack ab.

„Alles weitere erfährst Du an einer verschwiegenen Stelle im Walde[2], wo wir uns als Landstreicher kostümieren, das Motorrad verbergen und Doktor Groupy dann zu Fuß einen Besuch abstatten werden.“ –

Eine halbe Stunde später saßen zwei bärtige Stromer in einem Walddickicht und legten die letzte Hand an ihre Toilette.

In diesem Falle bedeutete das: sie sorgten dafür, daß auch ihre Fingernägel und Hände jene schmierige Echtheit aufwiesen, wie sie zu Landstreichern paßt.

Harald musterte mich nun prüfend, nickte und meinte: „Tadellos! Dawes würde uns so im Leben nicht wiedererkennen! Gehen wir!“ –

Wir hatten den Motorknatterer tadellos versteckt. Wir wanderten jetzt einen Fußweg entlang, kamen sehr bald auf die Chaussee.

Und nun endlich begann Harald zu sprechen, nachdem er meine vielfachen Fragen bisher überhört hatte.

„Daß Groupy Angst vor uns hat, daß die Geschichte mit dem hellen Fleck an der Hauswand stimmt, – das alles und noch mehr dürfte Dir einleuchten, lieber Alter. Und wenn ich Dawes nach dem ersten Grün fragte, so geschah’s deshalb, weil ich sofort vermutet hatte, der leuchtende Fleck sei durch eine Laterna magica oder einen ähnlichen Apparat von dem Henker-Hause aus auf den dunklen Granit geworfen worden, und weil vielleicht der Blattschmuck der Bäume diese Projizierung der Geheimschrift auf die Wand der Villa fernerhin vereitelt hatte. – Du verstehst: am fünfzehnten Mai bemerkt Groupy den Fleck, und am sechzehnten sind die Bäume grün geworden, – und nie wieder sieht der Doktor die helle Treppe!“

„Ich verstehe. – Mithin müßte diese Margitt Sheffield im Henker-Hause gefangen gehalten werden?“

„Ja, natürlich! Im Henker-Hause, wo nur ein altes Ehepaar wohnt!“

Er betonte das „nur“ …

Und fuhr fort: „Groupy, Doktor und Privatgelehrter, interessiert mich vorderhand am meisten. Entsinne Dich: ich fragte Dawes, ob Groupy immer so hinke …“

„Allerdings … Und – –?“

„Er hinkte nämlich falsch …“

„Was heißt das?“

„Ich könnte Dir nun einen medizinischen Vortrag über Beinverkürzungen, Hinken und Hüftveränderungen halten. Das ist mir zu langweilig. Jedenfalls: Groupy ist Simulant! Er ist gar nicht lahm!“

„Ah – und zu glaubst, daß er vielleicht der Gatte jener Margitt …“

Da schwieg ich … Da fiel mir ein, welch ungeheuerlichen Unsinn ich soeben hatte hinschwatzen wollen! Denn – wie hätte Groupy sich wohl mit der Geheimschrift an Dawes gewandt, wenn er diese Margitt im Henker-Hause eingesperrt hielt …!

Harald lachte leise.

„Ein Glück, daß Du noch zur rechten Zeit mit dem Unsinn abstopptest! – Nein, Groupy hat ganz andere Gründe gehabt, seine Mitteilungen über die leuchtende Treppe zu widerrufen, – Gründe, die in seiner Vergangenheit liegen. Diese Vergangenheit dürfte recht dunkle Stellen enthalten. Denn – ich möchte fast behaupten, daß auch Groupys Buckel falsch ist …“

Wir näherten uns dem Waldrande.

Bogen nach rechts ab, in die staubige Vorstadtstraße von Bramby.

Da lagen denn auch zwei bebaute Grundstücke an der Straße sich gegenüber – ohne sonstige Nachbarschaft – inmitten von Gärten: Groupys kleine saubere Villa und das verfallene uralte Henker-Haus. –

Harald schwenkte auf die Zaunpforte des Henker-Hauses zu, zog am Glockengriff.

Und sofort stürmten auf das ferne Bimmeln einer Klingel hin zwei riesige gelbe Doggen herbei – Köter wie die Kälber – Wächter wie die Tiger.

Dann bog um die Büsche ein gebücktes Männchen herum – schlurfte herbei auf zerrissenen Pantoffeln – ein kläglicher Anblick.

Ein Greis war’s mit einem gelblichen Leidensgesicht, unruhigen, scheuen Augen …

Harald streckte die schäbige Mütze bittend über den Zaun.

„Nur eine Kleinigkeit … Wir haben seit gestern nichts gegessen.“

Das Männlein trat noch näher heran …

„Geld – Geld habe ich nicht,“ meinte er mit zittriger Stimme. „Aber ein Stück Brot – das ja! Meine Frau ist gerade in der Stadt zu Einkäufen. Da kann ich’s wohl wagen, Sie beide in die Küche mitzunehmen.“

Er schloß die Pforte auf.

Die Hunde aber verwehrten uns den Eintritt.

So sehr der Greis sich auch abmühte, sie an den Halsbändern wegzuführen und sie einzusperren: sie sträubten sich so kraftvoll und gehorchten ihm so wenig, daß er schließlich erklärte:

„Warten Sie. Ich hole Ihnen zwei Stücke Brot und ein Ende Wurst …“

Er schlurfte davon.

Die Doggen blieben, belauerten durch den hohen, neuen Staketenzaun jede unserer Bewegungen.

„Sehr kennzeichnend!“ flüsterte Harald. „Dieser alte Mann steht völlig unter dem Pantoffel! Nicht mal die Hunde respektieren ihn! Und – er hat traurige, scheue Augen. Vielleicht deshalb, weil er weiß, daß Margitt Sheffield hier gefangen gehalten wird. – Jedenfalls kennen wir nun immerhin einiges über die Bewohner des Henker-Hauses und werden sofort auch die Probe anstellen, ob der Greis ein schlechtes Gewissen hat.“

Der alte Mann erschien, reichte uns ein Päckchen.

„Gott vergelt’s!“ dankte Harald weinerlich. „Mir ist’s auch nicht an der Wiege gesungen worden, daß ich mal betteln müßte. Aber seit Margitt tot ist – so hieß meine Frau –, ist’s mit mir immer mehr bergab gegangen.“

Also das war die Probe gewesen!

Und – sie war geglückt.

Der Greis hatte sich verfärbt, war leicht zusammengezuckt, als Harald den Namen Margitt nannte.

„Ob man wohl drüben was bekommt?“ fragte Harst nun ebenso weinerlich und zeigte auf Doktor Groupys Villa.

„Bestimmt – bestimmt!“ nickte der Alte. „Dort wohnt ein Herr, ein Sonderling, der gerade für Bettler stets eine offene Hand hat. Läuten Sie nur kräftig … Der Herr hält sich keine Hunde, und falls er nicht öffnen kommt, gehen Sie nur getrost in den Garten und klopfen Sie kräftig gegen das rechte Kellerfenster, das ein dickes Gitter hat. Dort im Keller stopft Doktor Groupy Vögel und allerhand anderes Getier aus. Er ist Naturforscher.“ –

Wir dankten nochmals mit einem Vergelt’s Gott! und läuteten artig bei Groupy an der Gartenpforte.

 

3. Kapitel.

Eine allzu gute Bewirtung …

Und Groupy kam … Hinkte langsam herbei.

Nun konnte ich mir den fragwürdigen Herrn genau ansehen …

Ein Sonderling – allerdings! – auch in der Kleidung! Sein Anzug war nicht viel besser als unsere Stromerkostüme.

Aber unter dem wirren, dichten, schwarzen Kopfhaar lag eine hohe, kluge Stirn, und die hinter einer Hornbrille mit grauen Gläsern halb verschatteten Augen verrieten genau dieselbe Intelligenz wie die Stirnbildung und der ganze Gesichtsschnitt.

Ein ebenso wirrer schwarzer Vollbart verdeckte die Kinnpartie und einen Mund mit schmalen Lippen. –

Harst brachte sein klägliches Bittsprüchlein wieder an.

Und Groupy nickte, riegelte wortlos die Pforte auf und winkte uns, ihm zu folgen …

Ging um das Haus herum, die Hintertreppe empor und führte uns in eine helle, freundliche Küche.

„Setzt Euch!“ sagte er kurz. „Ich hole Euch etwas …“

Er zog die Küchentür hinter sich ins Schloß und kehrte nach drei, vier Minuten zurück – mit einem Teebrett, auf dem eine Platte mit Aufschnitt, Brot, Butter und zwei Flaschen Bier nebst Gläsern standen.

„So, nun laßt’s Euch schmecken,“ meinte er mit gutmütigem Lächeln.

Wir saßen am Küchentisch, und er hatte sich an den Herd gelehnt …

Harst öffnete die Patentverschlüsse der Bierflaschen und füllte die Gläser.

„Wo kommt Ihr her?“ begann Groupy die Unterhaltung.

Harald war auf ähnliches vorbereitet, erzählte – erzählte – – log tadellos.

Wir aßen – tranken.

Der Doktor hatte plötzlich ein seltsames Grinsen um den Mund …

Und – hatte die Arme über der Brust verschränkt, hatte mit der rechten Hand mit einem Male einen – Revolver hervorgeholt und sagte in gänzlich verändertem Tone:

„Das Bier enthält Chloralhydrat. In drei Minuten werden Sie, Mister Harst, und Ihr Freund fest eingeschlafen sein. Bis dahin warne ich Sie, artig sitzen zu bleiben. Ich bin nicht der Mann, der umsonst droht.“

Sein Revolver war auf Harst gerichtet.

Und – Harst legte das Messer hin, mit dem er soeben sein Brot zerteilt hatte, meinte ganz gelassen:

„Doktor Groupy, Sie scheinen anzunehmen, daß Schraut und ich hinter Ihnen her sind. Sie irren sich! Was Sie auf dem Kerbholz haben, weiß ich nicht. Hier handelt es sich lediglich um die Bewohner des Henker-Hauses und – die leuchtende Treppe …“

Groupy zuckte die Achseln.

„Detektive sind Lügner von Berufs wegen – sind Komödianten, Mister Harst! Als ich erfuhr, daß Sie beide bei Dawes wohnen, da ahnte ich, daß wir aneinandergeraten würden. Vielleicht war’s übereilt von mir, heute früh zu Dawes zu gehen und die Geschichte der Geheimschrift zu widerrufen. Es war ein Versuch von mir, Sie beide von mir fernzuhalten. Jetzt, da Sie hier sind, werde ich das Feld räumen, sobald Sie beide für vierzehn Stunden – machtlos sind.“

Er sagte das mit der eisigen Ruhe eines Menschen, der in jeder Minute auf eine drohende Gefahr vorbereitet ist.

Und Harst – Harst zog nun den Zettel mit der Geheimschrift hervor, gab ihn dem Doktor und erklärte:

„Bitte – mein Wort darauf, daß wir Sie ungeschoren lassen! – Lesen Sie jetzt die Silben und Worte in folgender Reihenfolge …“

Und er gab ihm hastig den Schlüssel zu der Geheimschrift an.

„Sie erhalten dann den Text:

Helfen Sie mir! Retten Sie mich – –

und so weiter …“

Groupys Gesicht veränderte sich jäh.

„Wie – dort wird ein Weib gefangen …“

Harald ließ ihn nicht aussprechen.

„Doktor, stecken Sie Ihre Waffe ein! Ich sehe, Sie wissen nichts von der Gefangenen. Sie sind unbeteiligt. – Nochmals: mögen Sie sein, wer Sie wollen: mit Ihnen haben wir nichts zu schaffen! Sorgen Sie aber dafür, daß die Wirkung des Schlafmittels schnell wieder aufgehoben wird, denn Margitt Sheffield braucht Hilfe, falls sie überhaupt noch lebt!“

Groupy verbeugte sich.

„Ich habe es mit Harald Harst zu tun … Ich hole Ihnen beiden ein Brechmittel …“

Er eilte hinaus.

Und – ich fühlte, daß eine bleierne Müdigkeit mich beschlich. Ich wehrte mich dagegen. Meine Gedanken verwirrten sich. Die Augenlider klappten herab. Ich sank auf dem Küchenstuhl kraftlos zusammen. Hörte wie aus endloser Ferne Groupys Stimme:

„Mund auf – – schlucken!!“ – Ich wurde gerüttelt, geschüttelt, wurde emporgehoben …

Und – – erwachte eine Stunde später auf dem Ledersofa in Doktor Groupys Herrenzimmer, sah Harald rechts von mir im Klubsessel schwarzen Kaffee trinken, dessen würziger Duft mich angenehm belebte, denn – mir war hundeelend zumute.

Was ein Katzenjammer, ein Kater, ist, wissen selbst manche Damen, nicht nur wir Vertreter des angeblich stärkeren Geschlechts!

Doch einen solchen Kater, wie ich ihn damals nach dem Chloralhydrat und nach Doktor Groupys Gewaltkur hatte, dürften kaum ein Dutzend Menschen auf dem Erdenrund kennen!

„Trink’ Kaffee!“ meinte Harald ebenfalls etwas wehleidig, als ich mich aufrecht gesetzt hatte.

Und Groupy, der am Fenster gestanden und hinausgeschaut hatte, drehte sich rasch um.

„Es tut mir aufrichtig leid, Mister Schraut, Ihnen beiden dieses körperliche Unbehagen bereitet zu haben,“ meinte er mit weltmännischer Höflichkeit und füllte mir die Kaffeetasse. „Die Verkennung der Sachlage meinerseits will ich dadurch wettmachen, daß ich Ihnen beiden nach besten Kräften helfe, Margitt Sheffield zu befreien.“

Ich trank – trank schluckweise.

Gallebitter war der Kaffee, der reinste Extrakt. Aber – er wirkte günstig.

Groupy hatte sich in den anderen Klubsessel gesetzt …

„Wir können nun beginnen, Mister Harst,“ meinte er. „Fragen Sie!“

Harald stützte sich mit den Ellenbogen auf die Sessellehnen und suchte sich eine straffere Haltung zu geben. Sein Gesicht war blaß und schlaff, die Augen trübe und matt.

Wie mußte ich da erst aussehen!

Und er fragte den geheimnisvollen Groupy:

„Waren Sie schon einmal im Henker-Hause?“

„Ja – ein einziges Mal, als ich Frau Prenderlax bat, bei mir Aufwärterin zu spielen …“

„Also Prenderlax heißt das Ehepaar. – Was halten Sie von der Frau? Den Mann kennen wir.“

„Hm – äußerlich ein grobknochiges derbes Weib von etwa fünfzig Jahren. Innerlich ein – Satan!“

„Ah – Satan! Inwiefern? Wie haben Sie das beurteilt, Doktor?“

„Aus Kleinigkeiten. Ich bilde mir ein, Menschenkenner zu sein.“

„Sie trauen ihr also zu, für Geld eine Gefangene drüben eingesperrt zu halten?“

„Ja – alles traue ich ihr zu – alles.“

Harald füllte seine Kaffeetasse.

„Wenn die Prenderlax heute zu Ihnen kommt, Doktor, werden Sie … heiser sein – sehr heiser …“

Groupy lächelte.

„Ich verstehe: Sie, Mister Harst, wollen als Groupy abends hinüber …“

„Das will ich. Ich muß ins Haus, ohne Verdacht zu erregen. Und – ich muß die Hunde an mich gewöhnen.“

„Das gelingt Ihnen nie! Ausgeschlossen! Die Doggen gehorchen nur Frau Milly Prenderlax.“

„Oh – das lassen Sie nur meine Sorge sein. Schraut und ich finden uns jedenfalls um elf Uhr abends hier wieder ein. Dann vereinbaren wir alles weitere. Jetzt müssen wir aufbrechen.“ –

Der Rückweg bis zum Versteck des Motorrades wurde mir unendlich sauer. Aber als wir dann erst wieder als Harst und Schraut in anständiger Aufmachung mit dem Motorrad dem nächsten Städtchen zusausten, wurde ich von Minute zu Minute frischer und lebendiger.

Um die Mittagszeit langten wir in dem Städtchen Garnabor an und hielten vor dem Postamt. Ich blieb draußen bei unserem Benzinroß, und Harald wollte sich drinnen telephonisch mit Mister Roger Darbing in London, Pall Street 8, in Verbindung setzen.

Nach einer Viertelstunde erschien er wieder.

„Roger Darbing war Rechtsanwalt,“ erklärte er.

„Und was ist er jetzt? Hast Du ihn gesprochen?“

„Jetzt ist er seit fünf Monaten tot, und sein Bureau ist aufgelöst. Er war Junggeselle, und die Verwalterfrau von Pall Street 8 wußte nichts von einer Margitt Sheffield – nichts – gar nichts! Also eine Niete! – Kehren wir nach Bramby zurück.“ –

Um vier Uhr nachmittags aßen wir mit Inspektor Dawes im Restaurant Goldkrone am Markt in Bramby gemeinsam zu Mittag.

Harald begann den ahnungslosen Dawes über das Ehepaar Prenderlax auszuhorchen, ohne irgend etwas von unseren Erlebnissen berichtet zu haben.

Dawes als Polizeimensch einer Stadt von 2758 Einwohnern kannte die beiden Prenderlax ganz genau.

Der Mann war Gärtner und Obstzüchter gewesen, hatte als Fünfzigjähriger die um zwanzig Jahre jüngere Witwe eines Schiffskapitäns geheiratet, die ihm einen Sohn mit in die Ehe brachte. Eigene Kinder hatte das Paar nicht. Der Sohn der Frau Prenderlax war Arzt in einem Londoner Vorort. Wo – das wußte Dawes nicht genau. Aber den Namen kannte er: Doktor Archibald Balling. –

Harst erklärte nach Tisch, daß er mit dem Abendzuge nach London fahren und dort einen halben Tag bleiben würde. Er wollte einen Bekannten besuchen und mich mitnehmen.

Auf diese Weise konnten wir um acht Uhr Bramby mit einem Handkoffer verlassen und auf der nächsten Station wieder aussteigen, ohne daß Freund Dawes irgendwie argwöhnisch geworden wäre.

Ein Mietauto brachte uns von dieser Station in die Nähe von Bramby zurück.

Und Punkt elf Uhr abends betraten wir durch die Pforte den Garten der Villa des Doktor Groupy.

Im Herrenzimmer brannte Licht. Auch die Haustür fanden wir offen.

Wen wir nicht fanden, war Groupy …

Auf dem Schreibtisch lag ein Brief:

Mr. H. H.

Hier.

Harald riß den Umschlag auf.

Der Brief Doktor Groupys lautete:

Gewisse Rücksichten auf mich selbst zwingen mich, Bramby zu verlassen, Mister Harst. Ich gebe mein Heim preis und verschwinde.

Im übrigen bin ich heute sehr heiser gewesen, so daß Sie Ihre Absicht ausführen können.

Mein falscher Buckel aus Pappe liegt im Schlafzimmer unter dem Bett.

Ich bitte Sie, mir nicht weiter nachzuforschen. Ich bin mehr ein Unglücklicher als ein … –

Ihr Sie hochschätzender.

Doktor Groupy – angeblich.

Groupy!

 

4. Kapitel.

Der Satan.

Wir, verehrte Leser und Leserinnen, die wir uns hier zunächst mit der Treppe des Todes und nicht mit Doktor Groupy (eine sehr interessante Persönlichkeit, wie sich später herausstellen wird!) beschäftigen wollen, müssen diesen Groupy also vorläufig noch weiter Groupy nennen, wenn ich auch in der Lage wäre, Ihnen den wahren Namen dieses Unglücklichen, der zu der seltenen Kategorie der Verbrecher aus Rechtlichkeitsgefühl gehörte, jetzt bereits anzugeben.

Harst und ich standen also in Groupys Herrenzimmer bei zugezogenen Fenstervorhängen und eingeschaltetem elektrischen Licht am Schreibtisch und hatten soeben diese kurze, vielsagende Mitteilung gelesen.

Und nun will ich Ihnen hier einen neuen kleinen Beweis für die in der Tat seltenen geistigen Fähigkeiten meines Freundes erbringen, einen Beweis, ähnlich dem, wie er ihn schon zu Anfang dieses Abenteuers durch seine Beobachtung des „falschen“ Hinkens Groupys und durch seine Frage nach dem ersten Frühlingsgrün geliefert hatte. –

Zum Berufe des Detektivs gehört Phantasie. Das habe ich hier bereits so und sooft betont. Wer nicht in der Lage ist, seine Phantasie spielen zu lassen und alle Möglichkeiten der Ausführung eines Verbrechens, der Nebenumstände und der Vorbereitungen sich selbst vorzustellen, wer nicht fähig ist, sich in den Gedankengang des Täters hineinzudenken, der – bleibt ewig ein Stümper.

Und solch ein Stümper bin … ich im Vergleich zu Harald Harst! Leider!

Und mein klägliches Stümpertum kam nun hier abermals kraß zum Vorschein, als Harald mir den Umschlag des Briefes hinhielt und sagte:

„Ich werde unter diesen Umständen natürlich nicht in das Henker-Haus hinübergehen!“

Das war alles …

Ich verstand ihn nicht … Ich nahm den Briefumschlag, machte erstaunte Augen und meinte harmlos: „Weshalb denn nicht?“

Er lächelte gutmütig …

„Mein lieber Alter, ich habe festgestellt, daß mit dem Anwachsen Deines Bäuchleins Dein Hirn zusammenschrumpft! Willst Du nicht freundlichst den Umschlag prüfen? Er ist geöffnet worden – fraglos von dem – Satan!“

Da bückte ich mich schnell, hielt den Umschlag näher an das Licht der Schreibtischlampe heran und bemerkte nun gleichfalls, daß die Klebestellen des Umschlags schrumplig und faserig waren. Außerdem sah ich auch die Stempel von drei schweißigen Fingerspitzen einer offenbar sehr derben Hand, während Groupy geradezu zierliche Frauenhände besaß.

„Und hier,“ fügte Harald nun hinzu, „hier auf dem Briefbogen hat der „Satan“ sich ebenfalls verewigt – zwei Fingerabdrücke! Es kann nur Frau Prenderlax gewesen sein …!“

„Allerdings!“ nickte ich kleinlaut.

„Mithin wäre es mehr als leichtfertig, wollte ich in der Maske Doktor Groupys hinübergehen und das Terrain sondieren. Dieses Weib da, die Groupy als Satan charakterisierte, diese Walküre mit dem Hirn einer Verbrecherin würde mir …“

Er schwieg – horchte …

„Was war das? Hörtest Du?“ flüsterte er.

Auch ich hatte ein dumpfes Stöhnen vernommen – dumpf und qualvoll.

Wir – horchten – horchten …

Ich hatte nur bejahend genickt, flüsterte nun: „Es kam aus dem Keller!“

Und – wir horchten … Horchten so angespannt, daß bei der hier herrschenden Grabesstille das laute Ticken der Standuhr dort in der Ecke doppelt aufdringlich war und wie Messerstiche auf die Nerven wirkte …

Dann – wieder das Stöhnen …

Harst beugte die Knie – lag mit einem Male lang auf dem Teppich, das eine Ohr an den Boden gedrückt …

Richtete sich auf …

„Im Keller!“ Sein fragender Blick ruhte auf meinem Gesicht. „Wenn – wenn es eine Falle wäre! Die Prenderlax hat doch fraglos erfahren, daß Harald Harst als Gast bei Dawes weilt. Das ganze Städtchen weiß es. Man staunt uns wie Wundertiere an, zumal das Lokalblättchen genau geschildert, was wir mit dem Kopf des Maharadscha erlebt haben! Und wenn der „Satan“ nun diesen Abschiedsbrief Groupys gelesen hat, dann – dann gehört doch wahrlich nicht viel Kombinationstalent dazu, diese Dinge …“

Wieder schwieg er.

Aus dem Keller heraus, wo Groupy hinter stark vergittertem Fenster Tiere ausgestopft haben sollte, drang jetzt ein schrilles, schnell verklingendes Lachen zu uns empor.

Ein – unheimliches Lachen. –

Harst langte in die Schlüsseltasche der Beinkleider. Und brachte die kleine dunkle Lebensversicherung zum Vorschein, die liebe, neunschüssige Clementpistole – ein Spielzeug fast, so winzig in den Abmessungen …

Und – auch ich tat denselben Griff.

Mit leisem Knacken schnellten die Sicherungshebel zurück.

Neun Schuß – jeder neun Schuß …! Der Gedanke beruhigt.

Und Harald ging voran …

Leise – schleichend – in den Flur – bis zur Kellertür unter der Treppe, die in den Oberstock führte.

Schaltete hier seine Taschenlampe ein, nahm die Clement zwischen die Zähne, nahm den Patentdietrich, stellte ihn ein und öffnete die verschlossene Tür …

Scharfer Geruch nach Kampfer und anderen Drogen schlug uns entgegen.

Die Treppe hatte achtzehn Stufen. Es ist meine Gewohnheit, Stufen zu zählen. Zuweilen lohnt es, ist es vorteilhaft.

Aber – der Leser denke ja nicht, daß diese Kellertreppe hier die Treppe des Todes war! Nein – diese hier war harmlos, war gemauert und sicher. –

Ein kurzer Kellergang …

Wir standen – – lauschten …

Nichts … Totenstille …

Wir sahen den weißen Lichtfinger der Taschenlampe der drei Türen zu drei Kellerräumen hinwegtasten …

Sahen, daß die eine Tür linker Hand durch drei Vorlegeschlösser und dicke Eisenstangen versperrt war …

Und das mußte die Tür sein, die zu dem großen, stark vergitterten Kellerfenster gehörte.

Harald hob den Fuß, wollte auf diese Tür zu …

Da – – schlug oben die Kellertür knallend zu …

Und fast gleichzeitig, kaum daß der Schall dieses lauten Geräusches verklungen, ein – ein seltsames Brausen, Zischen …

Hier im Kellergang – hier – –, und das Brausen kam von dort, wo der Gasmesser der Villa auf einem Wandbrett stand …

Harst war mit zwei Sprüngen am Gasmesser.

Leuchtete …

Am Gasrohr gab’s da ein offenes Rohrende, und aus diesem drang mit voller Kraft das unsichtbare Gas heraus – brausend – zischend …

Harst wich zurück … schaute mich an …

„Der Satan!“ meinte er leise. „Der Satan, der gewußt haben muß, daß Doktor Groupy diese Einrichtung sich angelegt hatte, um den Keller rasch mit Gas füllen zu können, denn – dies muß eine besondere Einrichtung sein, muß! Und von oben zu bedienen!“ Er sprach sehr schnell …

„Jetzt zur Kellertür … Komm’!!“

Wir hasteten nach oben …

Wir fanden die Tür verschlossen, diese eichene, dicke Bohlentür, handdick, deren Schloß durch Eisenplatten geschützt war … –

Das Gas, leichter als die Luft, machte sich auch hier bereits bemerkbar … verscheuchte uns, sammelte sich hier oben am stärksten …

Haralds Gesicht verriet, daß er die Lage für nicht unbedenklich hielt …

Wir eilten wieder hinab …

Die beiden Türen zu den anderen Kellerräumen hatten nur Krampen ohne Schlösser …

Also – hinein in den einen …

Und – hier eine peinliche Überraschung: das Fenster war … vermauert, war ein blindes Fenster, hatte draußen zwar Scheiben, aber hinter diesen – Mauerwerk, in das Eisenstangen eingelassen waren.

Wir hinüber in den zweiten offenen Keller, … und hier: dasselbe Bild, ein blindes Fenster!

„Groupy hat sich gesichert!“ stieß Harald kurz hervor …

Und der Ton seiner Stimme war nicht wie sonst.

Dann bückte er sich plötzlich, hob ein Stück Holzlatte empor, zog sein Taschenmesser …

Späne flogen …

Der Keil für das Gasrohr war fertig …

Ein Stück Ziegelstein diente als Hammer.

Und als die ersten Schläge dieses Hammers auf das Holz dröhnten, da erklang hinter der so fest versperrten Tür abermals dasselbe schrille Lachen – wollte nicht enden … trieb mir kalten Schweiß auf die Stirn, bis ich Haralds leises Lächeln gewahrte …

„Ein Papagei!“ meinte er und hieb weiter auf den Holzkeil ein, bis der Gasaustritt gehemmt war …

„Warten wir ein paar Minuten,“ sagte Harst dann. „Das Gas oben im Treppenhals wird sich rasch verflüchtigen. Dann werden wir sehen, ob das Schloß trotz der Eisenplatten achtzehn Nickelmantelgeschossen widersteht!“ –

Wir stiegen die Stufen hinan …

Wir – sahen da, daß die Tür nur noch angelehnt war.

„Hm!“ machte Harst und hob die rechte Hand mit der dunklen Waffe. „Dies gefällt mir noch weniger! Immerhin – – vorwärts!“

Er bog um die Türöffnung …

Ich dicht hinter ihm …

In den Gang, den Flur …

Und im selben Augenblick strahlte die Flurbeleuchtung auf …

Sahen wir uns gegenüber ein großes, massiges Weib, das mit jeder Hand eine gelbe Riesendogge am Halsband hielt …

Ich – ich rechnete nun mit einer sehr bewegten Szene, mit Pistolenschüssen, Hundeangriff …

Nichts davon …

Das Weib starrte uns an … rief:

„Mein Gott – das sind ja Inspektor Dawes’ Gäste!“

 

5. Kapitel.

Die Treppe.

Komödie das …? Spiegelfechterei, Schlauheit?!

Ohne Frage!!

Und Harst sagte denn auch, fortwährend auf das Weib zielend, deren gedunsenes rotes Gesicht und wässerige Augen die Vorliebe für Spirituosen verrieten:

„Sparen Sie sich all diese Mätzchen, Frau Prenderlax! Sie haben ja des Doktors Brief geöffnet und die Stempel ihrer schweißigen Finger auf dem Papier zurückgelassen! Sie wußten, daß nur Harst und Schraut hier in der Villa sein konnten! Versuchen Sie nicht, mir einreden zu wollen, Sie hätten hier Diebe vermutet. Als Sie hörten, daß wir das Gasrohr zukeilten, haben Sie Ihren Plan geändert. Mich betrügt man nicht!“

Seine Stimme schwoll …

„Und nun werden Sie die Hunde dort in Groupys Arbeitszimmer einsperren – sofort!! Glauben Sie nicht, daß ich etwa zögern werde, von meiner Waffe Gebrauch zu machen! Ich … schieße höchst selten vorbei! – Gehorchen Sie – oder Ihre Doggen leben keine Minute mehr!“

Das Gesicht des Weibes verzog sich vor ohnmächtiger Wut wie im Krampf …

Ihre Augen flackerten auf …

Die Hunde knurrten dumpf …

Aber – Frau Prenderlax hatte Angst – Angst vor unseren Pistolen …

Und – gehorchte …

Öffnete die Tür …

Da rief Harald ihr zu: „Wagen Sie es nicht, etwa mit ins Zimmer zu schlüpfen!“

Vielleicht hatte sie ähnliches beabsichtigt …

Ein heiseres Röcheln einer unsagbaren Wut kam aus ihrer Kehle …

Sie drängte die Doggen ins Zimmer, zog die Tür wieder zu, hob die langen Arme und schüttelte geifernd gegen uns Ihre Riesenfäuste …

„Feiglinge – – Feiglinge!! Ist das eine Art, eine anständige Frau zu behandeln! Das ist Bedrohung – Nötigung!! Anzeigen werde ich Sie beide!“

Harsts hellere Stimme übertönte den eklen Wortschwall.

„Schweigen Sie! Oder ich bringe Sie sofort ins Polizeigefängnis! – Jetzt werden Sie uns zu Margitt Sheffield führen!“

Ihre Arme sanken herab … Ihr Kopf reckte sich vor, und ihre groben Gesichtszüge nahmen den Ausdruck ungläubigen Staunens an …

„Zu wem?“ fragte sie langsam. „Zu wem? Wie war der Name … Margitt … Shef … Shefgielß …?“

Sie spielte wieder Komödie, aber in der Vollendung.

Sie wußte Bewegungen, Miene und Stimme tadellos in Einklang zu bringen!

Gefährlich war sie – gefährlicher, als wir sie anfänglich eingeschätzt hatten! –

Harst machte lediglich eine befehlende Handbewegung nach der Haustür hin …

Aber – Frau Prenderlax rührte sich nicht …

Sagte mit demselben schauspielerischen Geschick:

„Ich kenne keine Margitt Shefgielß … Was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Gehen Sie uns voran ins Henker-Haus hinüber! Tun Sie genau, was ich wünsche, oder wir werden Ihnen die Hände binden und Sie zwingen!“

„Sie – – zwingen – – mich …?!“ Ihre Stimme schrillte. Eine unendliche Verachtung und Geringschätzung lag in diesen Worten.

Ebenso schnell änderte sie Ton und Miene. Fügte leiser hinzu, fast bescheiden:

„Mister Harst, ich werde gehorchen. Aber ich schwöre Ihnen: ich kenne keine Mar…“

Sie hatte Margitt sagen wollen …

Harst unterbrach sie …

„Lügen Sie nicht! Gehen Sie voran!“

Sie ging, – mit einem Achselzucken hatte sie sich der Haustür zugewandt …

Ich verschloß die Tür hinter uns. Durch den stillen nächtlichen Garten, über die menschenleere Straße hinüber in den anderen Garten – durch Büsche einen schmalen Weg zum Henker-Hause hin – zur uralten Flügeltür des Haupteingangs des großen, düsteren Gebäudes …

Frau Prenderlax zog einen Schlüssel hervor.

Harsts Augen und der Lichtkegel der Taschenlampe belauerten jede ihrer Bewegungen …

Wir traten ein …

Eine Vorhalle, wie sie in England in Landhäusern üblich … Ein Riesenkamin, eichene Stühle und Tische, an den Wänden Malereien in grellen Farben – elendes Stümperwerk – grauenvoll die Motive: alles Szenen von Hinrichtungen, und auf jedem Bilde eine Hauptfigur: der Henker!

Dawes hatte uns erzählt, daß der berühmte Bastimon diese Pinseleien verbrochen hatte, daß der Henker auf den Wandgemälden er selbst sein sollte.

Auch ich schaltete nun meine Taschenlampe ein.

In diesem weiten hohen Raume, aus dem der Tür gegenüber eine sehr breite Treppe mit reichgeschnitztem Geländer (auch Bastimons Werk!) in den Flur des ersten Stocks emporlief, – hier verlor sich der Lichtschein der einen Lampe wie das armselige Flackern eines Zündholzes.

Mitten in der Halle standen wir drei …

Frau Prenderlax hatte sich umgedreht …

„Mister Harst,“ sagte sie sehr sanft, „wir wollen nun doch als vernünftige Menschen vernünftig miteinander reden. Ich wiederhole: ich kenne keine Margitt Sheffler oder wie sie sonst heißen soll …“

Harst hob den Arm – deutete auf die Treppe:

„Bitte – –!! Margitt Sheffield wurde oder wird noch dort oben irgendwo gefangen gehalten. Sie hat es fertiggebracht, am fünfzehnten Mai dieses Jahres nachts gegen elf Uhr mit Hilfe einer Laterna magica oder eines ähnlichen Apparates eine Art Geheimschrift auf die Wand der Villa Doktor Groupys zu werfen, und das konnte sie nur, wie die Lage der beiden Häuser mir beweist, von oben tun, wahrscheinlich aus dem zweiten Stockwerk …“

Die Walküre, der Satan, machte zu alledem ein so verblüfftes, staunendes Gesicht, daß ich tatsächlich geneigt war, ihr Glauben zu schenken.

Nicht so Harst …

Er, der von uns beiden auch der bessere Menschenkenner ist, ließ sich nicht täuschen.

„Gehen Sie voran – nach oben!“ befahl er kurz …

Im selben Moment lief über des Weibes grobe Züge ein wahrhaft satanisches Grinsen …

„Gut – wie Sie wollen!“ meinte sie mit einem Blick, der überlegenen Hohn und versteckte Drohungen enthielt. „Wie Sie wollen …!! Sie werden alle oberen Räume leer und unmöbliert finden …“ Ihre Stimme nahm wieder einen geradezu demütigen Ton an, und Miene und Augenausdruck paßten sich dem vortrefflich an – so vortrefflich, daß ich mir sofort sagte, hier drohe uns tatsächlich irgendein Unheil.

Auch Harald hatte die jähe Scheinheiligkeit des robusten, tückischen Weibes stutzig gemacht …

Er schien zu überlegen …

Er forschte in dem grobgemeißelten Antlitz dieser Frau, die seinen Blick kühl und gleichgültig aushielt …

Und sagte zu mir:

„Wir werden sie in die Mitte nehmen … Ich gehe voran … Halte die Augen offen!“

Die Prenderlax ließ plötzlich den Kopf tief auf die Brust sinken …

Auch Ihre Schultern sanken. Ihre ganze Haltung deutete Mutlosigkeit und Verzweiflung an …

Etwas wie ein Seufzer kam über ihre Lippen …

Und dann – – stoßweise – – leise Worte – – das Geständnis:

„Ich … ich will alles zugeben, Mister Harst … Margitt Sheffield ist oben im zweiten Stock eingesperrt …!“

„Also doch!“ meinte Harald nur. „Gut – dann, dann zeigen Sie uns den Weg!“

Und wir – wir beide so oft Erprobte, wir beide, die wir uns einbildeten, Spreu von Weizen scheiden zu können, wir … schritten ahnungslos hinter der in demütiger, gebrochener Haltung vor uns die Stufen langsam emporsteigenden Frau Prenderlax her …

Die Stufen dieser Treppe, die ihr abscheulich geschmackloses geschnitztes Geländer nun im Lichte der Taschenlampen voll enthüllte …

Henker Bastimon, der Künstler, hatte auch hier bei dieser Schnitzarbeit seine Vorliebe für grausige Bilder verraten, hatte den Stäben des Geländers die Gestalt von Gehenkten gegeben, die am Galgen baumelten, hatte die Knäufe oben als Totenschädel hergestellt, hatte sein früheres Handwerk in dieser Weise hier abermals gepriesen …

Es mußte ein sehr merkwürdiger Kauz gewesen sein dieser Bastimon! –

Plötzlich blieb Frau Prenderlax mitten auf der Treppe stehen und zeigte auf einen Pfeiler, der das Gebäude teilte.

„Da – das ist Bastimon … Er hat sich hier selbst verewigt …“

Und sie legte die Hand auf den Kopf dieser Pfeilerstatue eines Mannes mit langem Vollbart und mächtiger Hakennase …

Und – das hatte sie gewollt …

Nur deshalb das Geständnis …: damit wir hinter Ihr blieben, damit sie den Kopf berühren könnte und – sich seitwärts dann auf das Geländer schnellen …

Kaum hatte ihre schwere Hand das Haupt der Statue berührt, kaum hatte der Satan von Weib sich der Gefahr entzogen, als unter uns eine Reihe von Stufen blitzschnell nach unten klappte …

Und – wir beide glitten in die Tiefe hinab – – fielen, fielen …

Schlugen irgendwo auf …

Ich hörte noch ein mürbes Krachen und Knicken …

Und – – wurde ohnmächtig.

Minuten nur …

Erwachte …

Am Boden brannten zwei Taschenlampen, deren Lichtkegel den Hügel beleuchteten, in den ich halb eingesunken war …

Ein Hügel – ein Berg von …

Und – – ich schnellte hoch …

Stierte auf den Berg menschlicher Gebeine, die da hoch aufgeschichtet meinen Sturz gemildert hatten …

Stierte auf Harst, der regungslos quer über einem Gerippe lag … –

Das war die Treppe des Todes des Henkers Bastimon … – –

Sein Tagebuch bringe ich im zweiten Teil …

 

 

Das Tagebuch des Henkers

 

1. Kapitel.

Die Störche, Elefant und Giraffe.

Die grauenvollen Gestalten vertierter Massenmörder, die jahrelang in aller Heimlichkeit unter dem Deckmantel eines ehrbaren Berufes Opfer auf Opfer hinschlachteten, bis endlich ein Zufall ihr unheimliches Treiben an den Tag brachte, – diese scheinbar aus der Hölle zurückgekehrten Gestalten finden sich in der Kriminalgeschichte aller Länder und Zeiten stets von neuem vor.

Ich will hier nur an die deutschen Massenmörder der letzten Jahrzehnte erinnern: an Sternickel[3] und ähnliche Bestien!! –

Wenn ich nun Gelegenheit habe, dem Leser einen fast schon sagenhaft gewordenen berühmten Henker, eben Charles Roger Andrew Bastimon, als Massenmörder von besonderer Unmenschlichkeit vorzuführen, wenn der Leser hier sein Tagebuch in kurzen Auszügen veröffentlicht sieht, so verdanke ich dies, und mit mir der Leser, einzig und allein meinem Freunde Harald Harst, dem es gelang, Bastimons ungeheuerliche Aufzeichnungen in dem gemauerten Schacht unter der tückischen Treppe nach längerem Suchen zu entdecken. – –

Zurück in dieses Verließ …

Zurück zu dem Augenblick, wo das Entsetzen über den Knochenhügel mich an die kalte Mauer scheuchte …

Der erste Schreck war rasch überwunden …

Die Pflicht mahnte, die Freundespflicht …! Und anderes noch: wir hatten für unsere Taschenlampen keine Ersatzbatterien bei uns! Ich mußte uns die eine Lampe in voller Brennstärke erhalten, mußte sie ausschalten! Wir würden sie gewiß noch sehr nötig brauchen können.

Ich tat’s …

Und hob auch die andere Taschenlampe vom staubigen, mit Fetzen und Moder und Knochenresten bestreuten Fliesenboden auf.

Harald lag auf dem Rücken – quer über einem Skelett, dem er beim Aufprall die Rippen eingedrückt hatte …

Und jetzt, wo der volle Schein der Taschenlampe diesen Berg von Gebeinen in all seinen Einzelheiten meinen Augen zeigte, jetzt, wo ich den bewußtlosen Freund vorsichtig emporhob und dabei mit der Hand an kostbarem Brokatstoff entlangstrich, der noch um Teile eines Gerippes hing, – jetzt kam mir zum ersten Male der Gedanke, daß Bastimon diese Treppe des Todes konstruiert und mit Ihrer Hilfe durch den Sturz in die Tiefe Unzählige gemordet haben könnte, – derselbe Bastimon, der doch offenbar seinen Gemälden und Bildhauerarbeiten nach geradezu in den Erinnerungen an sein Henkerhandwerk geschwelgt haben mußte …!

Ich legte Harst in eine Ecke des quadratischen Schachtes, der eine Seitenlänge von etwa vier Meter haben mochte.

Meine Bemühungen, Harald rasch wieder ins Leben zurückzurufen, waren sehr bald von Erfolg gekrönt.

Die ganz leichte Gehirnerschütterung, die er sich zugezogen hatte, konnte einer so überaus kräftigen Natur wie der seinen nicht viel anhaben.

Zehn Minuten drauf erhob er sich und nahm mir die Taschenlampe ab.

Meine Hauptrolle hier in Bastimons Mörderschacht war beendet. Harald trat seine Stelle als verantwortlicher Leiter wieder an und meinte, indem er die Lampe ganz hoch hielt:

„Zwölf Meter Tiefe, schätze ich … Ohne diesen Haufen von Gebeinen wären wir kaum mit dem Leben davongekommen!“

Dann beleuchtete er die Mauern, die aus glatten, durch Mörtel aneinandergefügten großen Steinplatten bestanden.

Trat plötzlich an die eine Steinwand heran und deutete auf ein paar eingemeißelte seltsame Zeichen …

Ich stellte mich neben ihn …

„Da ist eine Jahreszahl – obere Reihe,“ sagte er nachdenklich. „Und zwar 1752 … Ja – 1752 …! Darunter eine Art Vogel … Es könnte ein Storch sein, der den Schnabel nach unten reckt … Und dann in derselben Reihe noch – ja, dies kann nur das plumpe Bild eines Elefanten sein … Und unter Storch und Elefant hier ein – – hm – was ist das nun?“

„Vielleicht eine Giraffe, die den endlosen Hals wagerecht hält …“

„Stimmt – stimmt, mein Alter …! Eine Giraffe! Und dort, wo ihr Kopf sich befindet, noch ein Bild …“

Diesmal versagte ich. Die Giraffe hatte ich erraten. Dieses Doppelviereck da war schwerer zu enträtseln …

„Ein … Buch – ein aufgeschlagenes Buch,“ erklärte Harald schon. „Und unter dem Buche wieder ein Storch, den Schnabel nach unten … – Merkwürdig ist das! Einen Zweck muß es haben, das Ganze. Aber – welchen?“

Nach einer Weile wandte er sich achselzuckend ab und reichte mir die Taschenlampe.

„Leuchte! Ich will die Opfer Bastimons zählen!“

Das war alles, was er über diese grauenvolle Stätte äußerte. Er nahm an, das ich genau dasselbe dächte wie er: Bastimon ein Massenmörder! – Und das stimmte ja auch. Ich hatte dasselbe vermutet.

Ohne Scheu betastete er die zermürbten Stoffreste, die Gebeine, reihte Totenschädel an Totenschädel …

Eine unheimliche Arbeit – und zwecklos, wie ich glaubte.

„Zweiundzwanzig …“ sagte Harald und richtete sich wieder auf …

„Zweiundzwanzig Menschen – Männer und Frauen, sämtlich aus den begüterten Ständen, wie die Reste der Kleidung, der Schuhe mit silbernen Spangen und anderes beweisen …“

Er schaute mich an.

„Und wir, mein Alter, sind nun Nummer 23 und 24. Dann sind die zwei Dutzend voll …“

Seine Stimme klang ernst.

„Falls – falls nicht doch jemand uns rettet,“ fügte er hinzu. „Denn allein werden wir hier wohl kaum hinausgelangen – bei den glatten Wänden.“

„Wer sollte uns retten?“ Mein fragender Blick heischte Antwort.

„Vielleicht – Doktor Groupy … Sonst niemand! Dawes weiß nicht, wo wir sind. Niemand weiß es – außer der Prenderlax und – vielleicht Groupy …“

„Du meinst, er hat Bramby gar nicht verlassen?“

„Es wäre das doch sehr wahrscheinlich, mein Alter … Er wollte beobachten – vielleicht! –, was wir gegen die Prenderlax unternehmen und wie das ablaufen würde.“

„Allerdings – möglich wär’s schon …“

„Wenn wir dann nicht wieder zum Vorschein kommen, wird er – vielleicht! – Dawes anonym benachrichtigen, wo wir zu finden sein könnten …“

Eine Hoffnung war’s – eine geringe Hoffnung! –

Harald lehnte an der Mauer. Ich hielt noch die Lampe. Und sein schmales, energisches Gesicht, in dem jeder Zug, jede Falte dem Kenner den Mann von hervorragenden geistigen und körperlichen Eigenschaften verriet, lag im strahlenden Lichtkegel …

Ich liebte dieses Gesicht, wie ich den ganzen Menschen liebe, der stets – Mensch bleibt, der seine kleinen Fehler und Schwächen hat und einer der ganz, ganz Großen der Erde ist …

Auf diesem mir so vertrauten Antlitz erschien ein schwaches Lächeln …

„Nicht wahr, mein Alter,“ fragte er mit leichtem, gutmütigem Spott, „nicht wahr, Du wunderst Dich, daß ich die Köpfe zählte! Gib es nur zu …“

„Freilich! – Mir kam’s … überflüssig vor …“

„Oh – sage das nicht! Glaubst Du, daß es zu des Henkers Bastimon Zeiten bereits Zahnärzte und Goldplomben gab?“

„Nein …“ Ich starrte ihn an. Ich ahnte: es gab eine Überraschung!

„Nun – in zweien der Totenschädel, in den fleischlosen Kiefern stecken Zähne mit Goldplomben …“

Ich ruckte zusammen …

„Zwei – zwei Morde, die auf Frau Prenderlax’ Rechnung kommen?“ meinte ich scheu.

Er nickte. „Wahrscheinlich … – Das eben wollte ich feststellen, ob unter den Skeletten sich einige befänden, die jüngeren Datums sind. Bei zweien ist das nun erwiesen.“ –

Kurze Pause …

„Übrigens,“ fuhr er langsamer fort, „übrigens können wir uns hier vielleicht die Zeit durch die Lektüre eines Buches vertreiben … – Schau’ mal her …“

Und er ging zu der Wand hinüber, wo die Figuren eingemeißelt waren.

„Schau’ mal, die Störche und der Elefant weisen mit Schnäbeln und Rüssel nach unten. Wenn Du die Schnäbel und den Rüssel verlängerst – durch gedachte Linien, schneiden sich diese etwa hier …“

Und er tippte mit den Fingern auf einen kleineren Stein der Mauer etwa ein Meter unter den Figuren.

Bückte sich …

„Leuchte mal!“

Ich tat’s …

Da – hatte er den nur lose eingefügten Stein schon herausgehoben, hatte in die Öffnung dahinter hineingegriffen und – einen dicken, in Schweinsleder gebundenen Folianten, ein Buch in Form einer Bibel, hervorgezogen …

„Siehst Du – auch Storchschnäbel und ein Rüssel sowie der lange Hals einer Giraffe können wichtig sein, denn – genau unter dem Giraffenkopf liegt dieses Versteck …“

Er schlug das Buch auf…

Las – übersetzte gleich ins Deutsche:

Erinnerungen und Schandtaten
des Henkers von London
Charles Roger Andrew Bastimon,
begonnen im Jahre 1731.

„Da wir hier nichts Besseres zu tun haben,“ meinte Harald, „setzen wir uns mal dort an die Mauer und studieren wir diese – Schandtaten …“

 

2. Kapitel.

Jeanette Lagrange.

Harald las nur kurze Abschnitte aus Bastimons Tagebuch vor, das heute eins der Hauptstücke unserer Raritätensammlung darstellt. Lord Almanion hat Harst für das Buch 100 000 Pfund geboten, und Harst … hat abgelehnt. –

Er las …:

„Gott der Herr sei gepriesen!! Ich habe die Treppe fertig. Es war eine Arbeit, die fast über meine Kräfte ging.

Die Einsamkeit hier in Bramby ertrug ich nicht länger. Ich mußte mich irgendwie ablenken. Die Malereien befriedigten mich nicht. Wer wie ich daran gewöhnt ist, Menschen vom Leben zum Tode zu befördern, findet es kläglich, sich nur an gemalten Galgen zu ergötzen.

Außerdem aber –: es kamen so sehr viel heimliche Besucher zu mir, alles abergläubische reiche Leute, die uns Henkern übernatürliche Gaben beimessen.

Der eine kam und wollte ein Stück von dem Strick eines Gehenkten kaufen …

Der andere kam und verlangte ein Tuch, getränkt mit dem Speichel, der einem Verurteilten unter dem Galgen vor Todesangst aus dem Munde geflossen war …

Ein dritter wünschte ein Büschel Haare vom Kopf eines Gehenkten …

Und all diese Narren, die da von London heimlich nachts zu mir eilten mit Waren und Pferden, all diese Narren befriedigte ich, gab ihnen, was ihrer Sehnsucht Ziel gewesen, und – scharrte Geld zusammen …

Geld! Geld! Gold – Schmuck: das einzige, was mir noch Freude macht, außer dem Anblick eines, der … durch meine Hand sterben muß …!

Diese Einnahmen genügten mir nicht.

So ersann ich die Treppe des Todes …

Baute sie …

Nun ist sie fertig. Wenn ich auf den Kopf der Säulenstatue am linken Geländer drücke, auf meinen Kopf, dann … dann öffnet sich der Schlund … –

Morgen vielleicht schon habe ich Gelegenheit, eines meiner Opfer auszuplündern …

Ich werde vorsichtig sein, werde nur solche verschwinden lassen, von denen ich weiß, daß sie allein zu mir eilten – ohne Begleitung, ohne jemandem gesagt zu haben, wohin sie reisten … – – –

Lord Allan Treckmoore ist das erste Opfer geworden.

Alles spielte sich so einfach ab.

Ich zeigte ihm das Geländer der Treppe, meine Bildhauerarbeiten …

Ich legte die Hand auf meinen Kopf, auf den Kopf der Statue, die mein Ebenbild ist …

Und ich empfand einen wahren Genuß, wie ich so den jungen Lord vor mir auf den verhängnisvollen Stufen stehen sah …

Ich sehe noch immer sein entsetztes Gesicht vor mir, als unter ihm die Stufen versanken und er hinabsauste.

Er hat einen leichten Tod gehabt. Ich fand ihn unten mit gebrochenem Genick. – – –

Lady Maria Collirson wünschte ein Stück vom Strick eines Gehenkten, damit sie es ihrem Gatten zerfasert in die Leibwäsche einnähen könnte. Sie wollte so die Liebe ihres Gatten zurückgewinnen.

Ganz allein war sie verkleidet von London herübergeritten. Aber aus Eitelkeit trug sie doch ihre Ringe, Armbänder, eine Perlenkette.

Auch sie versank. Sie ist das fünfte Opfer. – – –

Ich merke, daß ich alt und hinfällig werde. Der Gedanke, mit neunzehn[4] Toten zusammen in diesem meinem Hause zu leben, stört mich zuweilen.

Vielleicht habe ich wirklich so etwas wie ein Gewissen. Ich träume oft nachts und erwache, weil neunzehn Totengerippe mir auf der Brust knien. – – –

Nun ist auch der zwanzigste[5] hinüber, ein reicher Londoner Kaufmann.

Er soll der letzte sein. Ich fühle, es geht mit mir zu Ende. Ich werde morgen den Notar aus Bramby zu mir bitten und mein Testament machen. Mein Vermögen an Goldmünzen soll derjenige erhalten, der als zum Tode Verurteilter begnadigt wird, weil der Strick bei der Hinrichtung gerissen ist.

Was ich sonst noch an Schmuck und Juwelen aufgehäuft habe, wird nie wieder eines Menschen Auge zu sehen bekommen. Ich werde den Ledersack im Meere versenken.

Dieses Buch aber bringe ich in dem vorbereiteten Versteck unter, und wenn ich noch Eintragungen machen will, gehe ich hinab zu den Toten und schreibe in ihrer Gesellschaft, was ich zu schreiben habe.“

Harald schlug das nächste Blatt um …

All diese Seiten des Tagebuchs waren mit denselben verschnörkelten, halb fingerlangen Buchstaben bedeckt. Auf jeder Seite standen nur vier Zeilen …

Da sah ich, daß Haralds Augen groß und starr wurden.

So starr, als hätte er hier nun eine Entdeckung gemacht, die noch seltsamer war wie dieses grauenvolle Tagebuch eines fraglos geistesgestörten, jedenfalls nicht völlig normalen Greises.

Harsts Blick hob sich …

„Bitte!“ flüsterte er. „Bitte – – sieh!“

Er hielt mir das Buch hin …

Und – dort, wo Bastimons Eintragungen aufhörten, dort erkannte ich – flüchtige Bleistiftzeilen …

Eine zierliche, flotte Frauenhandschrift … –

Wenn Bastimons Tagebuchaufzeichnungen abstoßend und entsetzenerregend waren: das, was diese Frau hier dem Buche anvertraut hatte, wirkte anders, wirkte – erschütternd!

Da stand, in französischer Sprache:

„Im September 1919,

an welchem Tage, weiß ich nicht, schreibe ich, Jeanette Sheffield, geborene Lagrange, diese Zeilen an diesem entsetzlichen Orte, nachdem ein Zufall mich dieses Buch finden ließ.

Ich schreibe, weil ich befürchte, daß meine Flucht sehr bald bemerkt werden wird und daß das entmenschte Weib, meine Wärterin, mich gewaltsam wieder zurückschleppen wird in meinen armseligen Kerker.

Ich habe nicht viel Zeit, mein trauriges Geschick diesem Buche anzuvertrauen. Ich will mich beeilen … –

Ich, Jeanette Lagrange, einziges Kind des Fabrikbesitzers Edmond Lagrange, wurde mit fünfzehn Jahren Waise und alleinige Erbin eines Vermögens von einer halben Million Franken. Im Juli dieses Jahres lernte ich, gerade zwanzig geworden, in Paris den englischen Schriftsteller Thomas Sheffield kennen, einen Mann von ebenso männlichem Äußeren wie bezauberndem Wesen. Ich verliebte mich in ihn und war glücklich, daß er meine Neigung erwiderte. Seiner Eltern wegen, die es ihm nie verziehen hätten, wenn er eine Französin heiratete, ließen wir uns in aller Stille in Schottland trauen. Der 8. August war unser Hochzeitstag. Am Abend, als wir einen kurzen Spaziergang machten, überfiel uns im Walde ein Landstreicher, schlug Thomas nieder und würgte mich, bis ich bewußtlos war.

Ich erwachte in einem kleinen, fensterlosen Raum, in meinem Kerker, wo mich bis heute ein starkknochiges Weib bewacht hat – bewacht und … gemartert, falls ich nicht blindlings gehorchte.

Heute abend entdeckte ich dann in dem Wandgetäfel eine Tür, die mich auf eine Wendeltreppe führte – und hier in diesen entsetzlichen Kellerraum …

Ich weiß noch heute nicht, wo ich mich befinde – ob irgendwo in Schottland oder sonstwo. Ich muß damals, als der Landstreicher meinen Gatten niederschlug und auch mich überwältigte, durch irgendein Betäubungsmittel …

Ich höre Schritte – Geräusche …

Ich verberge das Buch …“ –

Hier brachen die Aufzeichnungen Jeanette Sheffields ab.

Harst und ich schwiegen minutenlang …

Unsere Gedanken wandelten dieselben Wege …

Harald sagte plötzlich:

„Margitt Sheffield – – Jeanette Sheffield!! Das klärt vieles. Ein Heiratsschwindler, ein Verbrecher, treibt hier sein Wesen, und die Prenderlax ist seine Helfershelferin …“

Genau dasselbe hatte ich gedacht …

Aber anderes erschien mir jetzt wichtiger.

„Die Hauptsache ist, daß wir nun wissen, wie wir hier herauskommen, Harald …!“

Und ich deutete auf die Zeilen, wo Jeanette Sheffield geschrieben hatte:

„… auf eine Wendeltreppe führte und – bis in diesen entsetzlichen Kellerraum …“

„Auch ohne Jeanette hätte ich die Freiheit gewonnen,“ meinte Harst bedächtig. „Es erschien mir nach Bastimons Eintragungen gewiß, daß es einen bequemeren Weg hier hinab geben müßte, denn ein Greis wie er wäre wohl kaum an einem Strick von der Treppe aus hier hinunter- und wieder hinaufgeklettert …“

Ich schwieg, gab mich geschlagen. Haralds rascherer Geist hatte wieder einmal das Ziel schneller erreicht.

Er stand auf, reckte sich …

„Suchen wir den Ausgang! Leuchte mal … Ich werde die größten der Steinplatten befühlen.“

Wir brauchten nicht lange zu suchen.

Da war mitten in der einen Wand eine bis zum Boden reichende, unregelmäßig viereckige Platte …

Da war in der Mauerfuge ein eiserner, leicht herausziehbarer Griff.

Harald zog, und kreischend drehte sich der Stein in drei eisernen dicken Angeln.

Dahinter Dunkelheit …

Bis der Taschenlampe grelle Lichtflut die Finsternis zerteilte …

Ein Gang – fünf Meter – dann die hölzerne Wendeltreppe, in einem engen Kaminschacht hochlaufend …

Dann das Ende der Treppe und rechter Hand in der Mauer eine quadratische Vertiefung, deren Rückwand aus Holzgetäfel bestand: die Tür, durch die Jeanette Sheffield entschlüpft war! –

Harald zog die Clement, flüsterte:

„Sollte uns jemand entgegentreten – die Prenderlax oder sonst wer, der uns nicht geheuer erscheint, dann …!!“ Und er hob die Waffe …

Ich nickte nur …

Nahm meine kleine Repetierpistole, und der Sicherungsflügel schnellte zurück.

Harst drückte die Holztür langsam, vorsichtig auf …

Trat rasch ein – tief gebückt …

Ein fensterloses kleines Gemach …

Ein Bett, ein Tisch, ein Schemel – noch anderes Gerümpel …

Und – doch hing hier in der Luft der feine Geruch eines zarten Parfüms, bewies, daß hier jemand längere Zeit gehaust hatte, dessen Kleider diesen Duft mitgebracht hatten: Jeanette, die Französin! –

Die Tür dieses Raumes war innen mit Eisenblech benagelt und hatte oben ein Guckloch – wie eine Gefängniszelle …

Und – diese Tür war verschlossen …

Von außen verschlossen … Hier innen nichts von Schloß – nichts …

Glattes, dickes Eisenblech … –

Harald stemmte versuchsweise die Schulter gegen die Tür …

Und – prallte zurück …

Das – verglaste Guckloch war plötzlich draußen hell erleuchtet …

Ein menschliches Auge schob sich vor das runde kleine Fenster …

Wir starrten hin …

Das Auge verschwand … Ein Schloß kreischte, Riegel kreischten …

„Licht aus!“ flüsterte Harst …

Ich tat’s …

Da flog die Tür schon auf, und vor uns standen … ein schlanker, bartloser Mann und zwei blasse, verhärmt aussehende Frauen …

 

3. Kapitel.

Die beiden Frauen.

Haralds rechter Arm sank herab – und zugleich die drohend erhobene Clementpistole …

„Doktor Groupy,“ sagte er freundlich, „ich wußte, daß Sie uns beistehen würden …“

Er verbeugte sich leicht …

„Die Damen sind wahrscheinlich Margitt und Jeanette Sheffield … – Ich freue mich, daß Doktor Groupy Sie bereits befreit hat. Frau Prenderlax dürfte entflohen sein.“

Der angebliche Groupy trat zurück …

„Mister Harst, ich bin hier jetzt überflüssig. Leben Sie wohl! Ihnen vertraue ich diese beiden Opfer eines schändlichen Betrügers an, der als gefährlicher Heiratsschwindler es lediglich auf reiche junge Vollwaisen abgesehen zu haben scheint. – Leben Sie wohl …!“

„Halt, Doktor Groupy …! Bleiben Sie. Ich werde Ihnen später kein Hindernis in den Weg legen, wenn Sie – verschwinden wollen, mögen Sie getan haben, was Sie wollen …“

Groupy war noch unschlüssig …

„Ich möchte Sie bitten,“ fügte Harald rasch hinzu, „diesen beiden Damen hier Gesellschaft zu leisten, bis Schraut und ich diesen Sheffield ermittelt haben. Wenn die Damen sich jetzt öffentlich zeigen, wenn bekannt wird, daß die Geheimnisse des Henker-Hauses aufgedeckt sind, wird Sheffield verschwinden. – Gehen wir in die Halle hinab … Wir haben vorher noch manches zu besprechen …“

Harsts kurze, bestimmte Art fand bei der einen der krankhaft bleichen Frauen sofort volles Verständnis.

„Ich bin Jeanette Lagrange,“ erklärte die Dunkelhaarige, Zierlichere … „Mister Harst, Sie müssen diesen Schurken finden, und was ich dazu tun kann, ihn den Gerichten zu überantworten, soll geschehen …!“

Die andere lehnte matt an der Wand des Flurs. Sie war blond und groß, keine Schönheit, aber mit klugen, tiefen Augen …

Und sie sagte nun leise:

„Auch ich will dazu das meine beitragen, diesen Elenden herauszufinden …!“

Sie schaute Jeanette Lagrange traurig an …

„Uns beide hat er betrogen, bestohlen, uns beiden hat er Liebe geheuchelt …“

Sie weinte … –

„Gehen wir,“ bat Harald sanft. „Gehen wir. Jede Minute ist kostbar …“

Er reichte Margitt den Arm. Sie war so schwach, daß sie schwankte …

So stiegen wir von hier aus dem zweiten Stock des Henker-Hauses in die Vorhalle hinab.

Groupy und ich hatten Jeanette Lagrange in die Mitte genommen. Die zierliche Französin schien die Gefangenschaft, diese nun bereits fast vierjährige Kerkerhaft in einem fensterlosen Stübchen weit besser überstanden zu haben als Margitt.

Sie fragte uns nach allem Möglichen aus. All diese Fragen waren ja nur zu sehr berechtigt. Hatte Jeanette doch noch immer nicht die geringste Ahnung, wo sie eigentlich eingekerkert gewesen. Ihr Fluchtversuch damals war ja mißglückt. Die Prenderlax hatte sie in rohester Weise wieder nach oben geschleppt und sie in einem anderen Raume untergebracht. –

Wir saßen in der Halle um den Eichentisch herum, auf dem Groupys Karbidlaterne brannte. –

Margitt, geborene Darbing, eine entfernte Verwandte des verstorbenen Rechtsanwalts Darbing, erzählte kurz ihre Liebes- und Leidensgeschichte.

Ich brauche darauf hier nicht näher einzugehen, da des Heiratsschwindlers Sheffield „Methode“ stets die gleiche gewesen zu sein schien. Auch mit Margitt hatte er sich in aller Stille im Mai 1920 in Schottland trauen lassen, auch mit ihr hatte er einen Spaziergang unternommen und war dann – natürlich ein abgekartetes Spiel – überfallen und niedergeschlagen worden. Der Landstreicher aber, der Angreifer, war fraglos in beiden Fällen die verkleidete Prenderlax gewesen. Und auch Margitt war dann bewußtlos – im geschlossenen Auto ohne Zweifel! – hier in das Henker-Haus geschafft worden. –

Die Person Sheffields beschrieben die beiden Frauen uns so genau, daß wir hoffen durften, ihn hiernach wiederzuerkennen, falls – wir ihn überhaupt finden würden! –

Kaum hatte Margitt Darbing ihren Bericht beendet, als Harald, stets in demselben hastigen Tone, der seine innere Unruhe und seinen Wunsch nach rascher Beendigung dieser Besprechung deutlich verriet, die blonde Engländerin nun fragte, wie sie es möglich gemacht habe, die Geheimschrift auf der Wand der Villa erscheinen zu lassen.

„Ich besaß einen Taschenhohlspiegel, Mister Harst,“ erklärte sie nun, „außerdem ein gewölbtes Uhrglas. Vorher möchte ich noch bemerken, daß ich Chemie und Physik studiert habe und daher leichter als andere imstande war, mir eine Linse herzustellen, die …“

Harald genügte das. „Und – das Loch in der Mauer, durch das Sie Ihre Geheimschrift hinaussandten?“ fragte er nach kurzer Handbewegung, die das blonde junge Weib zum Schweigen veranlaßte.

„Dieses Loch habe ich mühsam mit einer Gabel hergestellt,“ erwiderte sie seufzend. „Leider konnte ich nur an drei Abenden meine primitive Laterna magica in Tätigkeit setzen. Dann entdeckte die Prenderlax die winzige Öffnung und sperrte mich anderswo ein.“

Harald wandte sich an Groupy:

„Haben Sie das Haus auch sorgfältig durchsucht? Sind nicht vielleicht noch weitere Gefangene hier verborgen?“

„Nein, Mister Harst. Bestimmt nicht.“

„Und – wohin sind die Prenderlax und ihr greiser Gatte entflohen?“

„Sie verließen das Haus, kurz nachdem ich beobachtet hatte, wie Sie und Mister Schraut mit dem Weibe aus meiner Villa herüberkamen. Ich war in den Büschen an der Straße verborgen und folgte Ihnen dreien nachher bis zur Haustür. Als die Prenderlax und ihr Mann dann mit zwei Koffern dem Städtchen zuwanderten, wartete ich noch eine halbe Stunde, drückte eine Scheibe ein und …“

Wieder Haralds abschließende Handbewegung.

„Gut, – Sie bleiben dann also hier zum Schutze der Frauen zurück, Groupy …“

Er erhob sich.

Da meinte Groupy ernst:

„Mister Harst, ich möchte Sie davor bewahren, vielleicht einer falschen Fährte nachzuspüren. Vielleicht nehmen Sie an, daß der Sohn der Prenderlax dieser Sheffield sein könnte. Das ist ausgeschlossen. Ich habe den Arzt Doktor Archibald Balling zweimal hier gesehen. Er gleicht in nichts diesem Sheffield, ist blondbärtig, hat eine dicke rote Nase und ist kahlköpfig …“

„Und in welchem Londoner Vorort übt er seine Praxis aus?“

„In Garden Lavryc …“

„Danke. – Auf Wiedersehen, meine Damen!“

Er verbeugte sich, winkte Groupy zur Tür, meinte leise:

„Wer sind Sie? Ich verrate Sie nicht. Sie können kein Verbrecher sein …“

Groupys intelligentes Gesicht umdüsterte sich …

„Vielleicht doch! – Wenn meine Wächterrolle hier ausgespielt ist, sollen Sie noch von mir hören, Mister Harst … – Auf Wiedersehen!“

Harald gab ihm die Hand. Auch ich tauschte mit Groupy einen festen Händedruck.

Wir verließen das Henker-Haus, haben es später nur noch ein einziges Mal betreten, als wir der Londoner Geheimpolizei das Versteck des Tagebuchs zeigten und dieses Tagebuch dann mitnahmen.

Wir eilten dem Städtchen zu, klingelten den verschlafenen Dawes heraus, liehen uns das Motorrad, schulterten die Rucksäcke, befriedigten Dawes’ brennende Neugier durch gut erfundene Märchen und – sausten in die Morgendämmerung hinaus … –

* * *

In einem kleinen Gasthof des Arbeitervorortes Garden Lavryc stiegen mittags zwei Motorfahrer ab, die nach den Staubmengen auf ihren schweißigen Gesichtern einen weiten Weg hinter sich haben mußten.

Sie belegten ein großes Zimmer im Erdgeschoß mit Aussicht auf den prächtigen Obstgarten, badeten und ließen sich eine reichliche Mahlzeit vorsetzen.

Der Wirt brachte ihnen die Speisen auf ihr Zimmer, denn einen Kellner gab es hier nicht.

Der eine der Gäste, und das war Freund Harst, klagte dem Wirt gegenüber, daß er an Anfällen von Gesichtsneuralgie leide. Er müsse sich unbedingt ein Medikament verschreiben lassen. Ob der Wirt nicht einen Arzt empfehlen könne.

„Gewiß, Mister,“ nickte der gemütliche Mann. „Da haben wir hier drei Ärzte zur Auswahl …“

„Und die heißen?“

„Doktor Parker, Doktor Ifferson und Doktor Balling.“

„Welchen halten Sie für den besten?“

„Parker …“

„Danke. Wo wohnt er?“

Der Wirt nannte Straße und Hausnummer und verschwand wieder.

Wir aßen. Wir waren nicht Harst und Schraut. Wir waren blondbärtig und holländische Touristen …

Harst sagte leise, sein Beefsteak zerkleinernd:

„Ich werde nachher Balling allein konsultieren – wegen Schmerzen im Knie. Wenn wir zu zweien hingehen, verraten wir uns. Ich bleibe dabei: Balling ist Sheffield, und Frau Prenderlax, verwitwete Kapitän Balling, hat ihren Sohn längst gewarnt.“ –

Nachmittags vier Uhr verließ Harald den Gasthof.

Ich schlenderte, wie verabredet, in einiger Entfernung hinter ihm drein.

Die blitzsauberen Arbeiterhäuschen, die häufigen Villengrundstücke, weite Spielplätze, Anlagen und große öffentliche Parke gaben dem Vorort einen behaglichen, freundlichen Anstrich.

Balling wohnte in der Dogger-Street in der Nähe mehrerer Fabriken.

Sein villenartiges Haus lag inmitten eines alten, hochstämmigen Gartens ganz versteckt. Rechter Hand von diesem Garten zog sich ein Golfplatz bis zur Parallelstraße hin.

Harst hatte den Garten betreten. Ich blieb dann einen Augenblick an der Gartenpforte stehen. Da war ein großes Porzellanschild befestigt:

Dr. Archibald Balling, Arzt,
Sprechstunden 10–11, 5–6.

Während ich noch das Schild überflog, kam jemand hinter mir die Straße entlang …

Eine Stimme dann … Ich drehte mich um, und – vor mir stand Balling, wie der geheimnisvolle Groupy ihn uns beschrieben hatte: blonder rötlicher Spitzbart, rote dicke Nase, rotbraunes Gesicht mit stark gewölbten Brauen und einer goldenen Brille …

Alles in allem eine weder sympathische noch unsympathische Erscheinung.

Nur die heisere, belegte Stimme nahm gegen ihn ein …

„Wollten Sie zu mir, Mister?“ fragte er und faßte an den Strohhut …

Ein schneller Entschluß:

„Ja … Sind Sie Doktor Balling?“

„Der bin ich …“ Er lächelte etwas. „Wo fehlt’s denn, Mister? Eilt’s sehr? Ich habe erst von fünf Uhr Sprechstunde …“

„Das las ich da soeben … Ich werde um fünf wiederkommen …“

„Nicht nötig … Bitte treten Sie ein.“ –

Wir gingen dem Hause zu, das hell und sauber durch die Bäume leuchtete …

„Ich leide an Gallensteinen, Mister Balling,“ log ich … „Ich bin Geschäftsreisender und nur vorübergehend hier … Seit der Nacht habe ich sehr starke Schmerzen …“

Er schaute mich an. Der Blick behagte mir nicht.

„Sie sind Ausländer. Ihr Englisch verrät das.“

„Ja – Norweger, Mister Balling, Vertreter einer Holzhandlung in Kristiania. Sörrensen ist mein Name.“

Da England sein Grubenholz aus Norwegen bezieht, hatten meine Angaben vieles für sich.

Durch die weit offene Haustür kamen wir nun in einen breiten Flur, der zugleich Wartezimmer war.

Hier saß Harald und las eine Zeitung.

Balling fixierte Harst …

Auch der Blick gefiel mir nicht …

Dann betrat er sein Sprechzimmer, sagte noch:

„Ein paar Minuten, meine Herren …“

Harald las weiter. Wir kannten uns nicht.

Ich nahm ein illustriertes Blatt und sah mir die Bilder an.

Fünf – zehn Minuten vergingen …

Dann rief Balling Harst ins Sprechzimmer.

Ich war allein …

Und prüfte nun nochmals in Gedanken Ballings Persönlichkeit …

Sagte mir, daß es vollkommen ausgeschlossen sei, daß dieser Mann etwa dauernd hier eine Verkleidung trüge, eine Maske. Die rote Nase war echt, und der Spitzbart desgleichen. Für derlei Dinge hat unsereiner ein geübtes Auge.

Nur – nur der nadelscharfe, lauernde Blick …!!

In diesem Blick hatte mehr gelegen als nur berufliches Interesse für einen Patienten …

Und dann öffnete sich abermals die Tür des Sprechzimmers, und Doktor Balling winkte mir …

„Der andere Herr wird elektrisch behandelt,“ meinte er. „Inzwischen kann ich Ihnen eine Morphiuminjektion machen, Mr. Sörrensen. Dann sind Sie wenigstens einige Stunden schmerzfrei, und der Gallensteinanfall geht vorüber …“

Ich zögerte unwillkürlich …

Morphiumeinspritzung!!

Wenn Balling uns durchschaut hatte! Wenn er statt Morphium ein Gift nahm! Wenn er uns beide spurlos verschwinden ließ …!

Er hatte sich schon umgewandt und trat ins Sprechzimmer zurück.

 

4. Kapitel.

Doktor Archibald Balling.

Ich zögerte …

Nur Sekunden. – Ein besonderer Gedanke bestimmte mich, jetzt hinter Balling in den großen dreifenstrigen Raum mich hineinzuwagen, wo Balling – vielleicht bereits meinen Harald in ähnlicher Weise, wie ich’s befürchtete, – behandelt hatte …

Balling drückte die Tür ins Schloß und deutete auf den Sessel neben seinem Schreibtisch …

„Setzen Sie sich, Mr. Sörrensen … – Wie lange leiden Sie schon an Gallensteinen?“

Er hatte gleichfalls Platz genommen und fragte mich aus, wie’s jeder Arzt getan hätte …

Und doch – doch: wenn ich seinem Blick begegnete, war mir’s zuweilen, als ob im Hintergrunde dieser grauen kühlen Augen Hohn und Triumph leuchteten … –

Dann mußte ich mich halb entkleiden …

Er untersuchte mich. Zum Glück wußte ich über die Erscheinungen des Gallensteinleidens genau Bescheid. –

Balling nickte …

„Geringe Leberschwellung … Auch Ihr Herz könnte besser sein, Mister Sörrensen. – Wollen Sie Morphium haben?“

„In Pulverform – bitte. Ich habe eine Abneigung gegen Einspritzungen.“

„Gut – ich schreibe Ihnen ein Rezept.“

Das klang gleichgültig. Aber Max Schrauts geschulte Augen nahmen doch die Wolke von Enttäuschung wahr, die über des Arztes Gesicht blitzschnell hinwegzog.

„Oder,“ fügte er nun hinzu, „Sie könnten das Pulver auch gleich hier nehmen.“

Da saß ich fest …

Ablehnen?! Das hieß, ihn argwöhnisch machen …

Ich entschied mich für etwas Besseres …

„Wenn ich bitten darf!“

Er trat an ein Schränkchen heran, zog ein Fach heraus. Entnahm einem Schächtelchen ein Papiertütchen …

„So – nun noch ein Glas Wasser,“ sagte er und füllte ein Glas unter der Leitung des großen Waschbeckens …

Drehte mir den Rücken zu …

Und – das Tütchen lag auf dem Schreibtisch – in Griffnähe …

Und – ein schneller Griff – ein Blick …

Die Aufschrift lautete: „Cyan. 0,5.“

Als Balling mit dem Glase Wasser wieder nähertrat, saß ich da und schaute zum Fenster hinaus.

Er schüttete aus der Tüte ein weißes Pulver in einen Teelöffel, streute etwas Puderzucker darüber und meinte lächelnd: „So – ein süßes Mittel …“

Ich stand auf …

Ich rückte scheinbar den Sessel zur Seite …

Meine Hand fuhr in die Schlüsseltasche der Beinkleider. Kam zum Vorschein …

Die Clement war keine zwei Meter von Ballings Kopf entfernt, der mit dem Teelöffel in der Hand dastand …

Seine Augen weiteten sich …

Nie wieder habe ich in den Augen eines Menschen einen so merkwürdigen Ausdruck gesehen wie hier bei diesem Balling …

Der Ausdruck wechselte blitzartig – von Schreck zu ironischer Verwunderung – zu lächelnder Gleichgültigkeit.

Und dieses letzte blieb, auch als ich drohend sagte:

„Ich drücke ab, sofern Sie auch nur …“

Da – – unterbrach er mich … lächelnd:

„Also – die Partie ist aus, Mister Schraut …“

Und – er führte den Löffel zum Munde, brachte ihn leer wieder heraus, trank das Glas Wasser nach und … setzte sich …

Jetzt – jetzt war ich der Verblüffte …

„Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben,“ meinte Balling mit unheimlicher Gelassenheit. „Wenn Sie noch Fragen an mich zu richten haben, Mister Schraut, dann beeilen Sie sich. Diese Dosis Cyankali dürfte in drei Minuten wirken …“

Ich war wie gelähmt …

Raffte mich auf …

„Sind Sie Thomas Sheffield?“ fragte ich hastig, da Ballings Gesicht sich bereits verfärbte.

„Ja …“

Es klang noch heiserer …

Dieses Ja war eine Lüge …

„Sie sind nicht Sheffield!“ rief ich eindringlich. „Das ist unmöglich …!“

Seine Gestalt sank in sich zusammen …

Der Kopf baumelte haltlos hin und her …

Ein röchelndes Lallen noch …

Das Gift hatte schneller gewirkt. –

Wie geistesabwesend fuhr ich mit der Linken über die schweißfeuchte Stirn …

Was ich hier in diesen letzten Minuten erlebt hatte, war doch das erschütterndste aller nervenaufpeitschenden Szenen, denen ich bisher beigewohnt hatte.

Dann – der Gedanke an Harald – dann mit schnellen Schritten zur Tür des Nebenzimmers …

Tür auf …

Ein Raum mit elektrischen Apparaten …

Ein Diwan …

Eine Gestalt darauf: Harst!

Und ein Sprung – ein Griff nach Haralds Hand – ein angstvolles Tasten, ob ich noch Pulsschlag fühle …

Der Puls schlug … schwach – aber Harald lebte, konnte nur betäubt sein …

Ich lief ins andere Zimmer zurück – an den Fernsprecher …

Rief die Polizei an …

Und drei Minuten später trafen bereits vier Beamte auf Rädern ein, denen ein Auto mit dem Chef der Polizei von Garden Lavryc folgte.

Ich legitimierte mich …

Großes Erstaunen: Harst und Schraut in Garden Lavryc! Harst!! Harst, der doch vor ein paar Tagen erst in Cornawoor-Castle geholfen hatte, den Kopf des Maharadscha, den Kopf des Unheils, wieder den wahren Eigentümern aushändigen zu lassen …!

Der Polizeiarzt bemühte sich um ihn, stellte fest, daß es sich nur um tiefen Morphiumrausch nach einer Injektion handelte, wandte trotzdem alle Mittel an, die Folgen der Einspritzung abzuschwächen. –

Der Diener Ballings, die Köchin, das Stubenmädchen wurden vernommen …

Sie erklärten, daß ihr Herr keinerlei Nachricht von seiner Mutter aus Bramby erhalten habe, daß Frau Prenderlax auch nicht hier im Vorort eingetroffen sei …

Eine Untersuchung der Leiche Ballings zeigte, daß ich recht gehabt hatte: er war in keiner Weise verkleidet, maskiert! Er – – konnte nicht Thomas Sheffield, der Mädchenverführer, sein!

Wir standen vor einem Rätsel. Polizeichef Carlson telephonierte nach Bramby und bat Dawes, die beiden Damen sofort nach Garden Lavryc zu senden …

Geheimpolizisten durchwühlten Ballings Schreibtisch, die Schränke …

Wir – – standen vor einem Rätsel! Balling wollte Sheffield sein und – war es nicht! Weshalb nur hatte er sich in dieser Weise selbst bezichtigt, weshalb der Selbstmord, der doch nur als Schuldbekenntnis gedeutet werden konnte, genau wie seine letzten Worte …

Zwei – drei Stunden vergingen.

Noch immer waren wir in Ballings Villa, noch immer war Harald nicht erwacht.

Erst abends gegen halb neun, gerade als im Auto die beiden Damen eintrafen, kam er wieder zu sich.

Die temperamentvolle Französin Jeanette Lagrange meinte vor Ballings Leiche ganz entrüstet:

„In den Mann hätte ich mich doch nie verliebt! Nie!!“

Harald saß im Sessel dabei, noch recht matt, aber mit lebhaften Augen …

Und fragte nun die Französin:

„Besinnen Sie sich: hatte dieser Sheffield irgendein besonderes Kennzeichen?“

„Nicht daß ich wüßte, Mister Harst. Nur – er war eine blendende Erscheinung!“

Ich hatte neben Harald Platz genommen …

Um uns her standen die Beamten.

Die Leiche lag auf dem Teppich, war nun wieder mit einem Tuche bedeckt worden …

Alles schaute auf Harst …

Jeder erwartete von ihm eine Lösung dieser Widersprüche …

Er saß da, den Kopf in die Hand gestützt, starrte auf den Toten herab, dessen Gesichtsumrisse sich unter dem Tuche deutlich abzeichneten …

Dann … sagte er, – ein Achselzucken andeutend:

„Morgen werden wir vielleicht mehr erreichen … Heute bin ich zu abgespannt. – Mister Carlson, ich darf wohl Ihr Auto zur Fahrt nach unserem Gasthof benutzen …“

Wir verabschiedeten uns …

Die beiden Damen kamen mit. Auch sie wollten in demselben Gasthof übernachten.

 

5. Kapitel.

Die letzte Szene.

Im Auto fragte Harald die Französin:

„Was ist aus Doktor Groupy geworden? Wo blieb er, als Inspektor Dawes Sie beide aus dem Henker-Hause abholte?“

„Er – verschwand … Wir haben ihn nicht mehr gesehen, Mister Harst. Kaum war Dawes erschienen, als Groupy sich heimlich drückte …“ –

Das Auto hielt. Wir setzten uns mit den beiden Damen zusammen in eines der Gastzimmer und bestellten ein Abendessen.

Harald entschuldigte sich …

„Ich möchte nur mal nach Scotland Yard telephonieren, an die Londoner Detektivpolizei.“

Und ging hinaus …

Blieb eine halbe Stunde weg, kehrte sehr erhitzt zurück.

„Wo waren Sie denn so lange?“ fragte Jeanette Lagrange neugierig.

„Oh – ich habe nur einen Abendspaziergang gemacht.“

Er begann zu essen, war sehr wortkarg.

Gegen zehn Uhr betrat einer der Polizeibeamten, die in Ballings Villa gewesen, hastig das Zimmer und überreichte Harald eine Depesche.

Harst riß das Telegramm auf.

Las, nickte …

„Es bleibt bei meiner Verabredung mit Ihrem Chef,“ sagte er zu dem Beamten, der sofort wieder davonging.

Jeanette Lagrange machte große Augen …

„Sie haben doch etwas vor, Mister Harst?“

„Ja – und Sie beide sollen dabei sein,“ erklärte er kurz. „Fragen Sie jetzt bitte nichts. Wir brechen um elf Uhr auf …“

Kein Wunder, daß nach diesen Andeutungen die Unterhaltung völlig einschlief, daß jeder nur an das dachte, was sich in dieser Nacht noch ereignen würde …

Kein Wunder, daß ich mir andauernd den Kopf zergrübelte, was Harald in dieser halben Stunde seiner Abwesenheit ausgerichtet haben könnte … –

Und – er sah nach der Uhr, erhob sich …

Vor dem Gasthof stand Carlsons Dienstauto. Wir vier stiegen ein …

Die Fahrt dauerte kaum fünf Minuten. Der Kraftwagen hielt gegenüber einer großen, strahlend erleuchteten Villa …

Ein Herr trat aus dem Baumschatten an das Auto heran: Polizeichef Carlson …

„Alles in Ordnung,“ flüsterte er Harst zu.

Und er reichte den Damen zwei lange Sturmschleier.

„Bitte – wollen Sie Ihre Gesichter verhüllen …“ –

Vor der Gartenpforte der Villa drängte sich eine Schar Neugieriger, zumeist Frauen. Die Pforte war bekränzt. Aus den offenen Fenstern des Hauses drang Tanzmusik in die stille Nacht hinaus. –

Wir gingen und stellten uns ebenfalls vor der Pforte auf.

Ein elegantes geschlossenes Auto glitt heran, machte halt.

Und – da fing ich aus der Menge ein paar Worte auf: „Die Neuvermählten treten ihre Hochzeitsreise an …“

Und da – da begriff ich: Sheffield war der Hochzeiter – der Heiratsschwindler Sheffield!! –

Minuten noch, und von der Villa her kam Arm in Arm ein Paar die Allee entlang …

Carlson trat vor …

Grüßte die Dame …

Harst schob Jeanette Lagrange vorwärts, flüsterte ihr zu: „Ist der Herr da jener Sheffield? Er trägt jetzt blonden Spitzbart …“

Jeanette sprang zu …

Jeanettes Schleier flog hoch …

„Schuft!!“ rief sie … „Elender Schurke!! Kennst Du mich?“

Und – mit der kleinen Faust schlug sie zu …

Wollte zuschlagen … – Harald hielt ihren Arm fest. Und während Carlson die bedauernswerte Gattin des Entlarvten ins Haus zurückgeleitete, führten drei Beamte den willenlosen Betrüger zum Polizeiauto … – – –

Schlußszene: im Polizeigebäude, in Chef Carlsons Dienstzimmer …

Harst lehnt am Schreibtisch. Der gefesselte Sheffield sitzt vor ihm.

Wir anderen stehen im Kreise … warten.

„Sie nennen sich hier in Garden Lavryc Thomas Rattong,“ beginnt Harst und schaut den Verbrecher an. „Thomas Rattong, weil sich der Name Balling in Personalpapieren leicht in Rattong verändern ließ. Sie sind Thomas Balling, der jüngere Sohn der Frau Prenderlax. Sie wohnen hier als Kunstmaler in der Villa, deren Gartenrückfront an die des Grundstücks Ihres Bruders stößt …“

Thomas Balling sitzt schlaff mit gesenktem Kopfe da, rührt sich nicht, – ein gebrochener Mann …

„Ich habe heute abend, als wir aus den letzten Angaben Ihres Bruders nichts hatten entnehmen können, telephonisch festgestellt, ob die Kapitänswitwe Prenderlax mehrere Söhne hatte. Ich tat dies, weil ich mir sagte, daß es für Archibald Balling nur einen einzigen Grund gegeben haben könnte, sich als Sheffield zu bezeichnen und dann Selbstmord zu verüben: er wollte jemand, der ihm, seinem Herzen nahestand, schützen, eben – den echten Sheffield. – Und als ich so erfuhr, daß die Witwe Prenderlax zwei Söhne hätte, deren jüngerer Thomas hieß, da … habe ich den Polizeichef Carlson befragt, ob Doktor Balling hier in Garden Lavryc mit irgend jemandem besonders intim verkehrt habe. – Mit dem Kunstmaler Rattong, erhielt ich zur Antwort – mit Rattong, dem schönen Thomas Rattong, der heute mit der Tochter des Großindustriellen Mamarbarl Hochzeit macht. – Ich nahm zwei Beamte mit und – – fand in dieses Rattong Villa die als Mann verkleidete Frau Prenderlax vor – den Landstreicher, der die Überfälle ausgeführt hat.“

Thomas Balling rührte sich nicht …

„Und Ihre Mutter hat bereits eingestanden,“ fuhr Harst mit erhobener Stimme fort, „daß Sie zwei der Mädchen, die Sie nach dem Henker-Hause schleppten, vor neun Jahren in den Schacht hinabgestürzt haben – also auch zwei Morde! Ihr Bruder hat um all das gewußt, er war Spieler, Verschwender, Wüstling, als Arzt ein Scharlatan …“

Thomas Balling regte sich nicht …

„Wenn man für Ihre ungeheuerlichen Verbrechen eine geringe Entschuldigung suchen wollte, so könnte man vielleicht anführen, daß Sie aus einer Verbrecherfamilie stammen … Ihr Vater starb im Zuchthaus nach großen Betrügereien und einem Raubüberfall. Ihre Mutter war Hafendirne, hat ebenfalls mehrere Gefängnisstrafen verbüßt. – So – und nun, Thomas Balling, nun fordere ich Sie auf, mir zu antworten: räumen Sie all diese Verbrechen ein?“

Nur ein schwaches Kopfnicken …

Es genügte …

Thomas Balling wurde in eine Zelle gebracht. Am Morgen fand man ihn am Fenstergitter hängen – tot – steif …

Er hatte sich selbst gerichtet … –

Seine Mutter sitzt noch heute im Zuchthaus. Sein bedauernswerter, willensschwacher Stiefvater starb im Krankenhause. –

Das Haus des Henkers in Bramby ist abgerissen worden.

Das Tagebuch Bastimons liegt neben mir, während ich diese letzten Zeilen der Geschichte der Todestreppe schreibe.

Ich habe sie geschrieben …

Mache Schluß …

Auf Wiedersehen im folgenden Band, in dem der geheimnisvolle Doktor Groupy noch eine Rolle spielen wird.

Und wenn der Leser einmal eine Stunde Zeit hat, mag er die Geheimschrift auf der ersten Seite sich nochmals ansehen und versuchen, den Schlüssel dazu herauszufinden. Es ist nicht schwer, denn – der Inhalt der leuchtenden Treppe ist ja bekannt … –

Nochmals – auf Wiedersehen …!

 

Nächster Band:

Doktor Groupys Verhängnis.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „aufgeführt“.
  2. In der Vorlage steht: „Wade“.
  3. August Sternickel (1866–1913), deutscher Brandstifter und Mörder, hingerichtet am 30. Juli 1913 in Frankfurt an der Oder. Siehe auch Wikipedia: August Sternickel.
  4. In der Vorlage steht: „einundzwanzig“. Zwei Vorkommen auf „neunzehn“ geändert. Erklärung dazu siehe Anmerkung 5.
  5. In der Vorlage steht: „zweiundzwanzig“. Hier irrt der Dichter: Im Kapitel davor ist von zweiundzwanzig Totenköpfen die Rede, wovon aber zwei Goldplomben haben und neueren Datums sind – also auf das Konto von Frau Prenderlax kommen. Somit kann Bastimon nur zwanzig Opfer auf dem Gewissen haben. Deshalb auf „zwanzig“ geändert.