Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 117:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Dieser Doktor James Groupy, mit dessen Person ich nun meine Leser näher bekannt machen will, spielte bereits bei unserem vorigen Abenteuer („Die Treppe des Todes“) eine gewisse Rolle, wie man sich noch erinnern dürfte.
Er hatte in dem Städten Bramby in England in einer einsamen Villa gehaust und war uns dann aus den Augen gekommen, als wir jenen Thomas Balling suchten, der als Heiratsschwindler und Mörder endlich in dem Londoner Vorort Garden Lavryc vom Schicksal ereilt wurde, – und dieses Schicksal war mein Freund Harald Harst!
Wir wußten von James Groupy so gut wie nichts. In Bramby hatte er zwei Jahre lang in einer Verkleidung als Sonderling, als Amateur-Zoologe, gelebt. Sein wahrer Name, seine Herkunft, die Gründe für dieses geheimnisvolle Dasein in Bramby blieben uns unbekannt. Er hatte, bevor er verschwand, uns gegenüber lediglich angedeutet, daß er mehr ein Unglücklicher denn ein Verbrecher sei, und sein Verhalten bei unseren Erlebnissen mit der Treppe des Todes und sein sympathisches, intelligentes Gesicht sprachen durchaus dafür, daß, falls sein Gewissen irgendwie belastet war, nur eine Verkettung besonderer Umstände ihn in schwere Schuld verstrickt haben könnte. – –
Nach dieser kurzen Einleitung führe ich meine Leser in ein Logierzimmer des bescheidenen Gasthofs „Zur hellen Sonne“ des Vorortes Garden Lavryc.
Es ist zwei Uhr morgens …
Soeben sind Harald Harst, mein berühmter Freund, und ich aus dem Polizeigebäude heimgekehrt, wo Harst Thomas Balling die Maske vom Gesicht gerissen hat – bildlich gesprochen …
Wir sind müde und abgespannt, sitzen noch auf dem harten Sofa beieinander und rauchen und tauschen gelegentlich eine Bemerkung aus.
Unser großes Gastzimmer liegt im Erdgeschoß des alten Gebäudes nach dem Obstgarten hinaus.
Die Julinacht ist hell und heiß. Die oberen Scheiben der Fenster stehen offen, und der Luftzug weht die Vorhänge hin und her … –
Harst nimmt eine neue Mirakulum-Zigarette, gähnt und sagt:
„Noch diese Zigarette, dann gehe ich schlafen, denn morgen …“
Und da – da brach er mitten im Satz ab …
Da war nämlich durch eines der offenen Fenster, an dem Vorhang entlangstreifend, polternd ein Stein auf den Teppich geflogen.
An diesem Stein, den ich rasch aufhob, war mit Bindfaden ein Zettel gebunden …
Wir lasen den Zettel – eine energische, schmucklose Handschrift:
„Mister Harst, falls Sie versprechen, mich nicht etwa der Polizei auszuliefern, will ich Ihnen meine traurige Geschichte selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mir nicht glauben, erzählen, und Sie dann vielleicht bitten, mir zu helfen. – Sollten Sie diese Zusicherung geben wollen, so brauchen Sie nur das Licht in Ihrem Zimmer für zehn Sekunden auszuschalten.
James Groupy.“
Harald stand auf und – schaltete wortlos das Licht aus, zählte laut und langsam bis zehn und schaltete die Hängelampe wieder ein, trat an das Mittelfenster, zog den Vorhang auf, öffnete den einen Flügel und – half James Groupy beim Hineinklettern.
Groupy stand vor uns …
Er war jetzt nicht mehr verkleidet …
Ein schlanker Mann mit bartlosem, klugem Gesicht und lebhaften Augen, etwa fünfunddreißig Jahre alt …
„Setzen Sie sich,“ meinte Harald freundlich. „Bitte – Zigarette gefällig …“
Groupy dankte.
„Sie sind sehr liebenswürdig, Mr. Harst. Aber ich rauche nie. Ich trinke auch keinerlei Alkohol. Ich muß mich gesund erhalten – – für meine Rache …“
Harst nickte ernst. „Sie müssen Böses erlebt haben. – Sprechen Sie …“
Der angebliche Groupy richtete sich in seinem Rohrsessel etwas auf …
„Mister Harst, ich bin … der Mörder John Gybourg,“ sagte er leise und festen Tones. „Der Mörder seiner Frau, wie die Londoner Polizei behauptet!“
Harald blickte diesen John Gybourg prüfend an.
„Ich entsinne mich,“ meinte er bedächtig. „Sie haben Ihre Gattin vor etwa zwei Jahren durch einen Messerstich aus Eifersucht getötet – ganz plötzlich, ohne vorausgegangenen Streit …“
„Ich – soll Ellen getötet haben – soll! – Aber beim Andenken meiner braven Eltern schwöre ich’s: ich tat es nicht!! Ich weiß auch nicht, wer Ellen tötete. Ich weiß nur, daß, als ich damals am 5. April 1921 in unsere im zweiten Stock der Bagaller-Street Nr. 15 gelegene Wohnung zurückkehrte, und zwar abends halb neun Uhr – und als ich dann die Tür des Speisezimmers öffnen wollte, von drinnen ein gellender Schrei erklang – ein Schrei von Ellens Lippen …
Ich … stürmte hinein …
Ich … fand mein junges Weib mit einem Dolchmesser im Herzen auf dem Teppich liegen, noch atmend – noch mit einem letzten Blick von mir Abschied nehmen …“
Er wurde immer erregter.
Sein Körper flatterte wie im Fieberfrost.
„Und – ich stürmte weiter – ins Nebenzimmer, stürmte in das Schlafzimmer, in den Flur … Ich mußte den Mörder doch noch erwischen!! – Im Flur traf ich das verstörte Hausmädchen, die ebenfalls den Schrei gehört hatte …
Sie hatte niemand gesehen … Kein Fremder war in der Wohnung gewesen – nur drei Personen hatten sich dort befunden: Ellen, das Hausmädchen Olivia und ich!!“
Er schwieg … stierte zu Boden – fuhr dumpf fort:
„Die Polizei kam … Ein Detektivinspektor … Er vernahm Olivia … Sie erklärte, daß seit einer Woche zwischen mir und Ellen, stets durch mich heraufbeschworen, lärmende Eifersuchtsszenen sich hier in der Wohnung abgespielt hätten …
Und der Detektivinspektor verlangte von mir dann Auskunft darüber, weshalb ich nach anderthalbjähriger Ehe mit einem Male mich mit Ellen entzweit hätte, weshalb diese lauten Auftritte stattgefunden hätten …
Ich ahnte, daß er mich verhaften würde, denn … denn die Mordwaffe, Mister Harst, war ein sizilianisches langes Dolchmesser mit geschnitztem Griff, war – mein Eigentum und hatte neben meinem Schreibtisch als Reiseandenken an der Wand gehangen, fehlte dort nun …
Ich ahnte: hier zog sich ein Gewitter über mir zusammen! Alles – alles sprach gegen mich! Kein Mensch war in unserer Wohnung gewesen, der als Täter in Betracht kam: nur ich!!
Und da – da floh ich, schlug den Detektivinspektor Colley nieder und rannte auf die Straße, entwischte …“
Er keuchte, zitterte …
Hob nun den Blick …
Schaute Harst durchdringend an …
Sagte – indem er die Rechte gen Himmel reckte:
„So wahr über den Sternen eine Macht thront, die uns armseligen Menschenkindern die Schicksalskarten mischt: ich habe Ellen nicht getötet!!“
Und dann … dann fuhren wir drei herum …
Klirrend war eine Fensterscheibe zertrümmert ins Zimmer geflogen …
Zwei Männer waren im Nu hereingeturnt, standen vor uns …
„Ich bin Inspektor Colley,“ sagte der eine barschen Tones. „Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie, Doktor John Gybourg, wegen Ermordung Ihrer Gattin! – Der Bahnhofsdetektiv hier in Garden Lavryc hat Sie wiedererkannt. Ihr scheues Benehmen fiel ihm auf. Sie mieden das Licht der Laternen. Nun – habe ich Sie!“
John Gybourg sank aufstöhnend in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und … schwieg.
Harald trat auf den Inspektor zu …
„Ich bin Harald Harst,“ meinte er höflich. „Sie, Mister Colley, werden ja nun Gybourg hier ins Polizeigefängnis bringen. Bitte – vielleicht kommen Sie nachher wieder hierher zurück, damit wir als Fachleute den Fall einmal gründlich durchsprechen können …“
Colley, ein kleiner Herr mit der Gestalt eines Preisboxers, brummte achselzuckend:
„Was sollte das für einen Zweck haben?! Der Fall liegt klar, und wenn Sie, Mr. Harst, sich durch Gybourgs heuchlerisches Getue täuschen lassen, dann ist das Ihre Sache. Ich für meine Person …“
Und da – geschah das andere …
Da mischte sich eine sechste Person ein, die lautlos durch das Fenster eingestiegen war und nun dem Inspektor zurief:
„Hände hoch, Polizeispitzel!“
Das war eine rauhe brutale Stimme. Das war ein Mann mit einem Zeugfetzen vor dem Gesicht und einem langen Cold-Revolver in der Hand …
„Wer sich rührt, bekommt eine Bleipille,“ rief er weiter. „Ihr Narren habt ja keine Waffen bereit! – Also, Mister Gybourg oder wie Sie sonst heißen, – kneifen Sie aus!! Schleunigst!! Ich halte die Herrschaften schon in Schach!“
Gybourg war schon am Fenster … Verschwand.
Zu spät meldete Harald sich:
„Bleiben Sie! Ich glaube an Ihre Schuldlosigkeit!“
Und der Maskierte sagte zu Colley: „So – nun ist unsre Rechnung quitt! Wir hatten noch miteinander ein Hühnchen zu rupfen! Es ist gerupft – nämlich Sie!!“
Und rückwärtsschreitend erreichte er das Fenster, schwang sich hinaus und – war verschwunden wie John Gybourg. –
Colley fluchte, wetterte …
Harst rauchte gelassen …
„Nehmen Sie Platz, Mr. Colley! Denn die beiden fangen Sie doch nicht wieder ein. Hören Sie das Geräusch eines davonrasenden Autos?“
Colley nickte wütend …
„So setzen Sie sich doch und erklären Sie mir, weshalb Sie so felsenfest von Gybourgs Schuld überzeugt sind.“
Der Inspektor erwiderte ziemlich unfreundlich:
„Da ist nichts zu erklären, Mister Harst. Wenn in einer Wohnung nur drei Personen anwesend sind, und die eine Person wird ermordet, muß eine der beiden anderen Personen die Tat verübt haben. Und das Hausmädchen Gybourgs, die Olivia Pramart, hat am Küchenfenster gestanden und sich mit der Portierfrau unterhalten, bis sie den Todesschrei ihrer Herrin hörte, in den Flur lief und hier Gybourg begegnete, der so verstört war, daß er zunächst kein Wort sprechen konnte. Und – was er dann sprach, war glatter Schwindel, und seine Flucht damals war doch ebenfalls ein Schuldbekenntnis … – Gute Nacht, Mister Harst … War mir ein Vergnügen …“
Und Colley und der Geheimpolizist kehrten durch das Fenster in den Garten zurück, um doch noch zu versuchen, die beiden Flüchtlinge irgendwie erreichen zu können.
„Immerhin ein ganz interessanter Fall,“ meinte Harald, als wir nach diesen nächtlichen Überraschungen wieder allein waren.
Er hatte seine Mirakulum wieder angezündet und rauchte mit dem innigen Behagen des begeisterten Nikotinliebhabers.
„Das heißt,“ fügte er hinzu und zerstörte durch eine rasche Handbewegung zwei wie Heiligenscheine über seinem Haupte schwebende Rauchringe, „das heißt: interessant ist der Fall erst jetzt geworden. Ich kannte die Vorgänge in Zahnarzt Doktor John Gybourgs Wohnung bereits aus den damaligen Zeitungsnotizen, und mein Hirn hat diese Vorgänge als sogenannte Erinnerungen lückenlos aufbewahrt, nachdem es erst einmal hierauf eingestellt worden war …“
Und auf die in der Zugluft wieder sehr lebhaft hin und her wehenden Fenstervorhänge blickend:
„Interessant wurde das alles erst, als der Maskierte erschien und Gybourg befreite. – Ja, hast Du dabei Gybourgs verblüfftes Gesicht beobachtet, mein Alter?! Dieses Gesicht verriet allerlei. Ich wette, daß der Zahnarzt keine Ahnung hat, wer dieser Retter gewesen ist …“
Und – im selben Moment eine Stimme – zugleich schob sich ein Kopf hinter dem wehenden Vorhang hervor:
„Da haben Sie völlig recht, Mister Harst!“
Es war Doktor John Gybourg …
Langsam stieg er vollends ins Zimmer, blieb am Fenster stehen und fragte:
„Haben Sie Ihre Ansicht über mich im übrigen irgendwie geändert, oder bin ich hier sicher?“
„Wie in Abrahams Schoß!“ nickte Harald. „Schließen Sie nur die Fensterläden, damit uns der Inspektor Colley nicht nochmals überrascht.“
Ein dankbarer Blick aus Gybourgs klugen, offenen Augen traf Harald.
Ich half, die Läden von innen vorzulegen …
Nun waren wir drei hier vor jedem plötzlichen Überfall durch die Beamten sicher. Nun nahm auch Gybourg wieder am Tische Platz.
„Wir würden jetzt sofort doch nicht einschlafen können,“ sagte Harald, indem er Gybourg das Zigarettenetui hinhielt. „Sie werden natürlich den Rest der Nacht hier verbringen, und nachher bleiben Sie unter meinem Schutz, bis Ihre Sache aufgeklärt ist …“
Gybourg seufzte …
„Das wird auch Ihnen nicht gelingen, Mister Harst. – Wenn ich als gebildeter Mensch nicht über abergläubische Vorstellungen erhaben wäre, würde ich tatsächlich behaupten: hier spielen übernatürliche Dinge mit! – Denken Sie: ich kehre heim, ich lege im Flur Mantel und Hut ab, nähere mich der Tür des Speisezimmers, höre Ellens Schrei, finde sie sterbend vor, die Mordwaffe im Herzen – meinen Dolch – meinen sizilianischen Dolch!!“
„Genug davon, lieber Gybourg …“ Harsts ruhige Art dämpfte sofort des Doktors Erregung. „Genug davon! Ich möchte Ihnen schon in dieser Stunde sagen, daß ich bestimmt hoffe, den Fall in kurzem zu erledigen. Was Sie dabei Übernatürliches finden, ist lediglich … Mörderschlauheit. Der, dem Ihre Gattin zum Opfer fiel, dürfte sich so gut verborgen gehabt haben, daß er nachher unbemerkt entschlüpfen konnte.“
Gybourg schien etwas einwenden zu wollen.
Aber Harald fuhr schon fort:
„Wichtiger als all das erscheint mir die Person Ihres Retters, Doktor … – Sie kennen den Mann nicht?“
„Nein, bestimmt nicht. Er war zwar maskiert, aber auch Gestalt und Stimme waren mir völlig fremd.“
„Und – sahen Sie ihn draußen im Garten nochmals, nachdem er Ihnen die Flucht durch das Fenster ermöglicht hatte?“
„Ja – nur von weitem … ich war in ein Gebüsch geschlüpft … dann erschien der Fremde im Fensterrahmen, sprang heraus, schaute sich um und rief leise: „Sind Sie noch da, Mister Gybourg? Wenn ja, so flüchten Sie nach der Insel Garlabarg im Kanal … Dort können Sie unbelästigt leben …“ – Ich meldete mich nicht, und er eilte der Straße zu, wo ein Auto auf ihn gewartet haben muß. Es raste mit ihm von dannen. – Und dann, als der Inspektor und sein Begleiter gleichfalls das Zimmer verlassen hatten, dann wollte ich zusehen, wie’s nunmehr hier bei Ihnen für mich stände …“
Haralds graue Augen ruhten staunend auf Gybourgs ehrlichem, intelligentem Gesicht.
„Merkwürdig!“ murmelte er. „Merkwürdig …! Die kleine Kanalinsel Garlabarg …! – Wissen Sie etwas über diese Insel?“
„Nichts …“
„Nun – es ist ein winziges Felseneiland in der Bucht von Harwich, gehört der Familie der Lords Effingham und spielt in der Naturgeschichte eine ähnliche Rolle wie die Insel Man: auf Garlabarg gibt es ebenfalls schwanzlose Katzen!“
Gybourg nickte. „Als Engländer weiß ich natürlich, daß die Katzen der Insel Man keine Schwänze haben.“
„Ja – und dieselben Katzen kommen halbwild auf Garlabarg vor, wo sie in den undurchdringlichen Dickichten der Insel hausen und sich von Möweneiern nähren, da auf den Klippen Seevögel zu Tausenden nisten. So weit mir bekannt, wohnt auf Garlabarg nur ein Fischer, der die Katzen im Winter füttern muß.“
Gybourg schüttelte den Kopf. „Und dort sollte ich Zuflucht suchen?! Das ist in der Tat merkwürdig!“
„Ja – Ihr Fall wird immer interessanter, Doktor. Wenn Sie nun wünschen, daß wir uns damit beschäftigen sollen, müßten Sie uns jetzt mal berichten, weshalb es zwischen Ihnen und Ihrer Gattin zu Eifersuchtsszenen kam …“
„Das will ich tun, Mister Harst. – Ja – und gerade dies wurde ja in den Zeitungen so sehr gegen mich aufgebauscht, diese Eifersuchtsszenen! – Ich lernte Ellen und ihre Mutter im Sommer 1919 in Monte Carlo kennen. Sie war die einzige Tochter des verstorbenen Oberst Marmarty[1]. Ich verliebte mich in sie, und im kleinsten Kreise wurde dann drei Monate später die Hochzeit gefeiert. Meine Praxis, mein Privatvermögen sicherten uns ein behagliches Dasein. Wir lebten sehr glücklich, Ellen und ich …“ Er sprach immer leiser. Die Erinnerung überwältigte ihn … Seine Stimme bebte …
„Sehr glücklich waren wir, obwohl es Tage gab, an denen Ellen seltsam trübe gestimmt schien und dann zumeist allein weite Radfahrten unternahm. Sie behauptete, das sei das beste Mittel gegen diese Gemütsdepressionen. – Aber mit der Zeit regten sich doch in mir allerlei Zweifel, ob Ellen diese Ausflüge wirklich nur aus diesem Grunde –“
„Halt – eine Zwischenfrage,“ fiel ihm Harst ins Wort. „Waren Sie Ihrer Gattin erste Liebe? Wissen Sie etwas über Ellen Marmartys Vergangenheit?“
„Nein, nichts. Nur das eine: ihre Mutter führte ein sehr unstetes Leben, reiste von einem Bad ins andere, von Davos nach Nizza, von Nizza nach Heluan in Ägypten, von Heluan nach Karlsbad – und so fort – seit Jahren …“
„Gut – und Sie folgten dann eines Tages Ihrer Gattin heimlich, beobachteten, daß sie mit einem Manne zusammentraf?“
Gybourgs Augen nahmen den Ausdruck unverhohlenen Staunens an …
„Ja – so ist’s …“ Und nach kurzer Pause: „Richtig, Harald Harst sitzt mir gegenüber – Harald Harst! – Sie haben richtig kombiniert … In der Vorstadt Cottenham überraschte ich Ellen mit einem Manne, der wie ein Arbeiter aussah, im Cottenham-Park. Sie behauptete, der Mann habe sie nur angesprochen und mit ihr über Fahrräder sich unterhalten. Dabei blieb sie. Den Mann selbst erwischte ich nicht mehr. Er war auf seinem Motorrad davongejagt, als Ellen mich bemerkt hatte. Wie gesagt – es war ein älterer, einfach gekleideter Mensch mit grauem Vollbart. – Und dieses Zusammentreffen mit diesem Manne bildete den Anlaß zu jenen Eifersuchtsszenen. Ich glaubte Ellen nicht, daß sie den Menschen nicht näher kenne. Zwar versöhnten wir uns, doch die steten Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit beschworen stets aufs neue häßliche Auftritte herauf. – Ich zertrümmerte Ellens Rad und verbot ihr, das Haus ohne mich zu verlassen … Und dann – dann versöhnten wir uns wiederum, bis mein nie zur Ruhe kommendes Mißtrauen mich verleitete, Ellens Sachen aus ihrer Mädchenzeit zu durchsuchen. In einer Kassette mit doppeltem Boden fand ich … dies hier …“
Er faßte in die Innentasche seiner Weste …
Brachte einen bescheuerten starken Briefumschlag zum Vorschein und reichte ihn Harald.
Und ich beugte mich zur Seite, sah, daß auf der Vorderseite des Umschlags in zierlicher Schrift stand:
Der Tote ....
– in englischer Sprache – nichts als die zwei Worte „Der Tote ....“ – und vier Punkte dahinter.
Dann zog Harald aus dem Umschlag eine Photographie, Kabinettformat, heraus …
Eine – Photographie, der … der Kopf abgeschnitten war – ein Streifen von vielleicht drei Finger Breite …
Das, was von dem Bilde noch übrig, zeigte einen in einem Klubsessel zwanglos sitzenden Herrn in tadelloser Kleidung, Lackschuhen, weißen Gamaschen …
Die eine Hand, sehr schmal und lang, ruhte auf der Sessellehne …
Die andere, die linke, hielt einen Spazierstock mit reichgeschnitzter Elfenbeinkrücke –
Harst drehte das Bild um.
Da war auf der Rückseite sorgfältig der Stempel des Photographen ausradiert und auch von der über dem Stempel stehenden, mit Tinte geschriebenen Widmung war nur noch übriggeblieben ein
i und ein a.
Harald legte Briefumschlag und Bild auf den Tisch … fragte:
„Was erklärte Ihre Gattin zu diesem Bilde?“
„Sie behauptete, sie habe nie gewußt, daß die Kassette, die einst ihrer Mutter gehört habe, diesen Doppelboden besäße. Und meine Schwiegermutter antwortete auf meine schriftliche Anfrage, die Kassette sei Eigentum ihres verstorbenen Mannes gewesen. Von dem Bild ohne Kopf habe sie bisher nichts geahnt. – Trotzdem war meiner Eifersucht neue Nahrung gegeben. Wenn mich auch Ellens Zärtlichkeit für Tage wieder ablenkte, so erwachte das Mißtrauen dann doch stets mit doppelter Wucht … Und dann kam jener fünfte April, an dem Ellen ermordet wurde …“
Harald blickte starr auf die vor ihm liegende kopflose Photographie … Sagte etwas geistesabwesend:
„Erstklassige Ausführung, das Bild … Der Herr muß ein Gentleman gewesen sein … Diese Hände verraten Rasse …“
Und plötzlich das Thema wechselnd:
„Nun werden wir schlafen gehen. Sie, Doktor, werden ab morgen in einer Verkleidung unseren Diener spielen. Wir verlassen Garden Lavryc und werden in London uns Ihr früheres Heim ansehen. Wer wohnt jetzt in Ihrer Wohnung in der Bagaller-Street Nr. 15?“
„Meine Schwiegermutter, die verwitwete Oberst Lizzia Marmarty, mit der ich seit dem Morde nicht mehr zusammengetroffen bin. Sie hat vor der Polizei erklärt, auch sie traue mir einen Mord aus Eifersucht wohl zu. Das stand in allen Zeitungen.“ –
Doktor John Gybourg schlief auf dem Sofa in unserem Zimmer. – Mittags elf Uhr hatten wir Gybourg so zurechtgestutzt, daß niemand ihn erkennen konnte. Harald tat so, als wollte er einen Diener mieten, verließ den Gasthof und kehrte mit Gybourg zurück, der sich vorher heimlich durch den Garten entfernt hatte.
In der Bagaller-Street, einer älteren engen Geschäftsstraße in der Nähe des Hyde-Park, stiegen am Abend desselben Tages in dem kleinen Hotel, das dem Hause Nr. 15 gegenüberlag, zwei blondbärtige holländische Kaufleute mit Ihrem Diener ab.
Sie belegten im zweiten Stock nach der Straße hinaus drei Zimmer, Nr. 15, 16, 17.
In Nr. 15 wohnte der Diener, Nr. 16 war das gemeinsame Schlafzimmer der holländischen Fremden und Nr. 17 ihr Wohnsalon.
Sie speisten auf ihrem Zimmer zu Abend, und dann, als der alte, behäbige Kellner das Geschirr wieder abgeräumt hatte, rief der eine der Holländer den Diener herein.
„So,“ sagte Harald zu Doktor Gybourg, „so, nun sind wir unter uns, Doktor. Und nun zeigen Sie mir mal von hier aus die Anordnung der Räume Ihrer früheren Wohnung. – Schalte das Licht aus, mein Alter … Wir wollen uns ans Fenster stellen.“
Es war draußen dunkel und etwas neblig. Das Licht der Straßenlaternen reichte nur schwach bis zur zweiten Etage des vierstöckigen Hauses drüben empor …
Dieses Haus hatte sieben Fenster Front und war ein älteres Gebäude wie alle hier in der Bagaller-Street. –
Ich hatte die elektrische Krone ausgedreht. Wir standen nebeneinander an dem einen Fenster dieses großen unbehaglichen Hotelzimmers.
Und John Gybourg sagte nun:
„Linker Hand die beiden Fenster waren die des Schlafzimmers …“
Seine Stimme vibrierte …
Stunden seligen Glücks mochten in seiner Erinnerung wieder wie Traumbilder emporsteigen …
„Und die beiden nächsten Fenster sind die des Speisezimmers. Das rechte Fenster von hier aus – ja – vor diesem Fenster lag Ellen auf dem Teppich neben dem Büfett.“
Er schwieg … vielleicht … vielleicht waren seine Augen voller Tränen …
Und dann – mit halb erstickter Stimme:
„Rechts davon das einfenstrige Wartezimmer, dann mein Sprechzimmer … – Und nach dem Hofe zu Küche, Nebenräume und eine Fremdenstube.“ –
Die Wohnung drüben, wo Ellen Gybourg, geborene Marmarty, eines so rätselhaften Todes gestorben war, lag mit ihren sieben Vorderfenstern in völliger Dunkelheit … Frau Lizzia Marmarty schien nicht daheim zu sein.
Während wir drei noch, bewegt von den verschiedenartigsten Gefühlen, hinüberstarrten, flammte jedoch in Gybourgs Sprechzimmer das Licht auf …
Und auf den gelben geschlossenen Vorhängen erschienen die scharf umrissenen Schattenbilder zweier Oberkörper: eines Mannes – eines Weibes!
„Meine Schwiegermutter!“ flüsterte Gybourg …
Kaum hatte er uns so die eine Person benannt, als etwas sehr Merkwürdiges geschah: Die Frau dort, das Schattenbild, hob drohend den Arm gegen den Mann, der unwillkürlich zurückwich und dessen Silhouette deshalb immer unklarer wurde …
Die Frau folgte ihm … Beide Personen entschwanden aus dem Lichtkreis, so daß die Schattenbilder gleichfalls erloschen …
Der gelbe Vorhang war noch hell, aber leer …
Die Hauptsache aber: in dieser drohenden Handbewegung der verwitweten Oberst Marmarty, in ihrer ganzen Körperhaltung und in der Art ihres Eindringens auf den Mann dort hatte so eine zügellose Wut sich ausgedrückt, daß Harst nun rasch auch unseren Fenstervorhang zuzog, die elektrische Krone einschaltete und zu Gybourg sagte:
„Doktor, Schraut und ich werden sofort noch einen längeren Spaziergang unternehmen. Sollten wir nicht so bald zurückkehren: hier ist Geld! Bleiben Sie im Hotel und erklären Sie, wir machten geschäftliche Abstecher nach den Nachbarstädten.“
Er griff nach Hut und Gummimantel, steckte noch die elektrische Taschenlampe zu sich …
Und auf der Treppe flüsterte er mir zu:
„Wir werden einen Spaziergang unternehmen, der uns hinter dem Manne dreinführt, dem Frau Marmarty mit der Faust drohte!“ –
Auf der nebligen Bagaller-Street drückten wir uns in die Toreinfahrt eines Geschäftshauses, von wo aus wir Nr. 15 genau beobachten konnten …
Wir hatten hier noch keine Minute gestanden, als die Haustür von Nr. 15 von innen aufgeschlossen wurde (es war inzwischen elf Uhr abends geworden) und ein Mädchen mit weißem Häubchen einen Mann hinausließ, der im Lichte der Flurbeleuchtung durch sein Profil verriet, daß es derselbe war, den wir vorhin als Silhouette gesehen hatten.
Wir waren also gerade noch zur rechten Zeit gekommen, ein paar Minuten später, und uns wäre ein Abenteuer entgangen, wie … nur wir es erleben, wie nur ein Harald Harst es besteht … –
Der Mann da, der hinkend in einem schäbigen Mantel gebückt die Straße entlangschlurfte, – dieser graubärtige Mensch erinnerte mich sofort an Gybourgs Beschreibung jenes Motorradlers, mit dem Frau Ellen sich in dem Vorortpark getroffen haben sollte.
Und – dieser Mann war mißtrauisch und vorsichtig …
Immer wieder drehte er sich um, blieb stehen, spähte umher, ging ein paar Schritt zurück, drehte sich wieder um.
Es bedurfte all unserer Übung und Erfahrung in dieser Art von Verfolgung, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren …
So durchwanderten wir viele Seitenstraßen, Harst rechts auf dem Bürgersteig, ich links; bis eine hohe Mauer plötzlich an Harsts Straßenseite begann und endlos lang weiterlief.
Hier nun – hier warf der schäbige Lahme einen Strick mit einem Haken blitzschnell über die Mauerkrone und kletterte ebenso blitzschnell hinüber, zog den Strick ein und – verschwand, sprang jenseits hinab …
Bevor Harald noch auf meine Schultern gestiegen war, begann plötzlich ein starker Regenguß, der es zwecklos erscheinen ließ, dem Manne weiter nachzuschleichen, der in dem Parke jenseits der Mauer fraglos schon weitergeeilt war und kaum noch aufgefunden werden konnte.
So äußerte sich Harald mir gegenüber, zog seine Sportmütze tiefer ins Gesicht, klappte den Gummimantelkragen hoch und schritt davon – bis wir dem nächsten Policeman begegneten.
Der Polizist erklärte auf Harsts Frage – und jeder wird begreifen, wie sehr ich bei dem Namen zusammenzuckte:
„Der Park dort, Mister, gehört zum Palais des Lord Effingham …“
„Danke!“ …
Wir gingen weiter. Ich atmete hastig. Ich war erregt.
„Effingham, – das ist ja auch der Eigentümer der Insel Garlabarg,“ flüsterte ich.
Keine Antwort …
Und wieder sagte ich: „Du, Harald, es stimmt doch: Effingham – so lautete doch …“
Da blieb er stehen … Gerade unter einer Laterne … Gerade als der Regen nachließ … Und legte mir die Hand schwer auf die Schulter:
„Wir werden sofort im Auto nach Harwich fahren und uns nach der Insel übersetzen lassen! Bis Harwich brauchen wir etwa zwei Stunden. – Vorwärts! Ich muß mit dieser Sache ins Reine kommen!“
Ein Mietauto war rasch gefunden. Harst bezahlte im voraus. Es war ein neuer Kraftwagen[2] und ein noch junger Chauffeur.
Der Mann fuhr wie der Teufel. Um ein Uhr morgens waren wir in Harwich …
Um halb zwei hatten wir ein Boot losgekettet, das abseits im Hafen lag …
Ein elender Kahn war’s nur mit elenden Rudern …
Harst aber zog die jämmerlichen Riemen so kräftig durch, daß wir gegen zwei Uhr die ersten Eilande der großen Bucht erreicht hatten.
Ein Fischerboot, das Netze auswarf, kam uns sehr gelegen. Wir fragten die Fischer nach der Insel Garlabarg, erhielten genaue Auskunft und legten eine Viertelstunde später an einem Bootssteg eines schmalen Ufereinschnittes vor Garlabarg an.
Es begann bereits hell zu werden.
Der neue Tag kam … Ein Tag, der uns bewies, daß wir … den Feind unterschätzt hatten. –
Wir ketteten den Nachen fest, kletterten auf den Holzsteg und schritten einen zwischen Dickicht und Bäumen steil ansteigenden Pfad empor.
Bis – wir auf einer Lichtung inmitten dieser Inselwildnis, inmitten von Gestrüpp, Felsmassen, uralten Bäumen und Sträuchern ein Häuschen gewahrten, – hell gestrichen, mit rotem Ziegeldach, blanken Fenstern und einem ausgedehnten Gemüsegarten ringsum …
Wir standen und schauten …
Das bleigraue Dämmerlicht eines wolkigen Morgens konnte uns die peinliche Sauberkeit dieses einsamen Heims eines in Diensten Lord Effinghams hier wohnenden Fischers nicht verschleiern.
Es war eine Freude, diese tadellos gepflegten Beete, dieses Spalierobst, diese weißgekalkten Obstbäume, diese Reihen von Beerensträuchern anzuschauen …
Und mitten darin das kleine blitzblanke Hüttchen mit der hohen Wetterfahne auf dem Dach …
Und jetzt … hinter dem einen Fenster ein rotbraunes Gesicht, umrahmt von einem weißen Schifferbart …
Das Fenster flog auf …
Harst schritt vorwärts …
Da rief der Alte uns entgegen:
„He – es ist verboten, die Insel zu betreten!“
Freund Harald bewies, daß er wie immer so auch jetzt Herr der Situation war:
„Ist Ihnen ein bevorstehender Besuch gemeldet worden?“ fragte er den Alten, indem er seine Worte absichtlich recht allgemein hielt.
Des alten Fischers noch immer so junge klare Augen ruhten lange auf Harsts Gesicht.
„Einer sollte kommen,“ sagte er dann. „Nur einer! Und – wissen Sie dessen Namen, Mister? Wenn Sie ihn wissen, sollen Sie auch beide mir willkommen sein.“
Da flüsterte Harald, klug das ausnutzend, was Doktor John Gybourg uns über den Zuruf des „Retters“ mitgeteilt hatte:
„John Gybourg!“
Der Alte nickte befriedigt. Sein faltiges, braunes Gesicht wurde freundlicher …
„Gut, Mister Gybourg, gut … Soll ich Sie beide denn also verbergen?“
„Ja … Mylord wird nichts dagegen haben.“
Und dieser Nachsatz, in dem er wieder so allgemein einen Lord erwähnte, – dieser Nachsatz war zweifellos das Feinste seines klugen Spieles!
„Nein, nein,“ meinte der Greis da lächelnd, „ob ich einen oder zwei hinbringe, wird Mylord wohl gleichgültig sein. Die Hauptsache: Sie haben mir Ihren Namen genannt, Mister. – Ich heiße übrigens Tobby Rucks, Mister Gybourg …“
„Und das da ist mein Leidensgefährte Slauc,“ stellte Harald mich vor.
„Ja – dann können wir ja nun gehen,“ meinte Tobby bedächtig. „Warten Sie, ich komme …“
Er kam, hatte einen Ölhut über den Schädel gezogen, schloß die Tür des Häuschens ab und schritt uns schweigend voran …
Nun – um ehrlich zu sein: mir war bei alledem keineswegs behaglich zumute – keineswegs!
Und als wir nun in einen anderen schmalen Pfad des Dickichts einbogen, raunte ich Harald zu:
„Wenn das nur gut endet!“
Er lächelte …
„Wir bleiben ja nur so lange hier, bis ich Tobby genügend ausgehorcht und festgestellt habe, wo und wie Gybourg hier auf der Insel in der Verborgenheit leben sollte.“ –
Der Alte ließ sich Zeit, schlenderte gemächlich vor uns her, blieb oft stehen und zeigte uns oben in den Baumästen die hochbeinigen, merkwürdigen Katzen, die hier, wie er uns erklärte, in einer Zahl von etwa dreihundert Stück halbwild hausten …
„Im Februar sind die Felle am besten … Dann müssen jedes Jahr fünfzig, sechzig Stück ihr Leben lassen …“
Und wieder ging er weiter …
Bis vor uns die Steilufer der Nordseite der Insel aus dem Gestrüpp wie ein Felswall emporwuchsen – gut dreißig Meter hoch …
Da holte Tobby aus dem Gebüsch eine Leiter herbei, lehnte sie an die schroffe Felswand und stieg empor …
Acht Meter über dem Boden bildete die Steinwand eine schmale Terrasse, die allmählich, ein gangbarer Pfad, sich höherzog bis zu einem durch die Krone einer prächtigen Eiche verdeckten Felsloche …
„So,“ sagte Tobby, „dies ist nun der Eingang zu der Höhlenwohnung, Mister Gybourg … Während des Krieges hat hier eine …“
Da schwieg er, schlug sich auf den Mund.
„Unsinn – was schwatzte ich da! Unsinn!! – Folgen Sie mir nur … Es wird gleich wieder hell …“ –
So lernten wir die seltsame, eleganteste Höhlenbehausung kennen, die es auf dem Erdenrund geben dürfte …
Der Felsengang machte nach wenigen Metern eine scharfe Biegung.
Helles Licht strahlte uns wieder entgegen, Tageslicht, das durch die mit Fenstern versehenen natürlichen Spalten der Grotte hereinfiel …
Und – hier, hier zwölf Meter über dem die Nordküste des Eilandes umspülenden Wasser, – hier gab es eingebaut in die Höhle drei vollkommen eingerichtete Zimmer – tapeziert, gedielt, mit Teppichen, Karbidkronleuchtern, mit allem Luxus – mit Bad, blitzsauberer Küche, mit Büchern und – – einer Sende- und Empfangsstation für Funkentelegraphie! –
Wollte ich diese Grottenwohnung im einzelnen beschreiben, dann müßte ich dazu drei Seiten Manuskript verwenden, und das ginge nicht, das würde den Lauf der Handlung zu sehr hemmen.
Der Leser muß daher schon mit diesen Andeutungen sich zufrieden geben. Im übrigen hat die englische Zeitschrift Standard in der Augustnummer 1923 fünf Photographien dieser Höhlenwohnung veröffentlicht. –
Der alte Tobby führte uns von Raum zu Raum und erzählte mit Stolz, daß er und sein Sohn diese Wohnung vor acht Jahren eigenhändig auf Wunsch des alten Lord Effingham, der ja inzwischen verstorben sei, geschaffen hätten.
„Mylord, der jetzige Lord Roger Edward Effingham hat erst nach dem Tode seines Vaters durch mich erfahren, daß es hier auf der Insel ein derartiges Heim gibt,“ fügte er hinzu …
Da nahm Harst die Gelegenheit wahr und fragte:
„Mylord hat mich selbst angemeldet, Tobby? Er war hier – verkleidet?“
Tobby war viel zu harmlos, um nicht auf diese Anzapfung hineinzufallen.
„Ja, Mylord blieb nur kurze Zeit hier, kaum eine halbe Stunde … Sein Auto hatte er drüben auf dem Festland im Walde versteckt … Ja, das war alles höchst merkwürdig …“
Er lachte kichernd …
„Mylord mit dem falschen grauen Vollbart – wie ’n alter Mann sah er aus!“
„Und eine grüne Jagdjoppe trug er!“ lächelte Harald gleichfalls …
Tobby nickte. „Eine schäbige Joppe – stimmt!“
Er deutete auf das eine Fenster …
„Da – eine hübsche Aussicht, Mister Gybourg … Das da drüben ist die Stadt Walton – Walton of the Naze … Und da – das ist die Nordsee! Schlechtes Wetter heute. Es gibt Sturm. Die Sonne kommt nicht zum Vorschein, und die Möwen sind so unruhig. – So, nun werde ich Ihnen Eßwaren, Trinkwasser und anderes bringen, was hier fehlt … Wiedersehen, die Herren!“
Er entfernte sich …
Wir beide standen in dem Wohnzimmer. Standen und schauten uns an …
„Also war Lord Roger Edward Effingham der Mann, der sich mit Ellen Gybourg heimlich Stelldicheins gab … Also war er’s, der Gybourg gestern befreite und der heute – von Frau Lizzia Marmarty mit der Faust bedroht wurde! Fürwahr, mein Alter, wenn jemals ein Kriminalfall es wert gewesen ist, von uns beiden bearbeitet zu werden: dieser ist’s!!“
„Der Lord ist Ellens Mörder!“ platzte ich heraus …
Harald schüttelte den Kopf …
„Nein – niemals! Bedenke, daß …“
Er hielt inne …
Dort rechts der große Tisch, darüber die Schaltbretter, – der Tisch mit den Radioapparaten …
Und – von dort her kam ein schnarrendes Ticken …
Dort lief ein Papierstreifen von einer Rolle ab – ein schmaler Streifen – das Band eines Fernschreibers …
Harst trat rasch an den Tisch heran …
Orientierte sich …
Er wußte mit den Apparaten Bescheid – seit Jahren. Er studierte ja alle Neuerscheinungen der Technik, weil auch diese stets sofort von der internationalen Verbrecherwelt ausgenutzt werden.
Das Surren und Klappern verstummte …
Harst riß den Papierstreifen ab … Las vor:
„Tobby, der Angemeldete wird sich nicht einfinden, da er anderswo Schutz gesucht hat. An seiner Stelle schicke ich Dir durch Tom und Charly in der kommenden Nacht einen Mann, der als Gefangener zu behandeln ist. Du weißt, was ich damit andeute. Auf keinen Fall darf dieser Mensch je wieder die Freiheit wiedererlangen. – Tom und Charly werden pünktlich zwölf Uhr nachts am Bootssteg sein. Der Mann ist gefesselt. Du bringst ihn sogleich an Ort und Stelle. Tom und Charly dürfen kein Wort mit Dir wechseln. Gehorche – auf Dich ist Verlaß, Du Treuester der Treuen.“
Harald knüllte den Streifen zusammen, schob ihn in die Tasche …
„Das heißt Glück haben, mein Alter …!! Hätte Tobby dies gelesen, wären wir wohl hier etwas ins Gedränge geraten!“
„Und – der Gefangene?“ fragte ich rasch.
Harald zuckte die Achseln …
„Wir werden ihn ja sehen! Ich werde ihn in Empfang nehmen. Ich an Stelle des alten Tobby. Laß mich nur machen …“ –
Wir setzten uns an das eine Fenster …
Diese Fenster, von außen, von der Bucht her, kaum zu bemerken, da sie seitwärts von Rankengewächsen eingefaßt waren, hatten jedes eine kleine Luftscheibe, die sich öffnen ließ. Und an dieser Scheibe mit ihrer blanken Messingumrahmung hingen nun Haralds Blicke starr und scharf.
Er erhob sich.
„Hier hat jemand mit einem Diamant etwas eingeritzt, ganz schwach …“
Und – dann …:
„Ah … nicht möglich!! Also das meinte Tobby, als er so plötzlich sich auf den Mund schlug und schwieg – – das!! – Hier ist zu entziffern:
Vieler Tage dunklen Nächten
Klagte ich mein tiefes Leid.
Doch – von all den Himmelsmächten
Gab kein Helfer mir Bescheid.
Ellen.“
Englische Worte – von Harst ins Deutsche übertragen.
So stand’s in die Scheibe eingeritzt – nur ganz, ganz leicht, wie winzige Schrammen … –
Da – Schritte draußen … Die Tür ging auf.
„So!“ rief Tobby … „Hier habe ich den Herren auch gleich den Morgentee mitgebracht … Und hier ist noch eine halbe Flasche Whisky vom allerfeinsten …! Wenn’s den Herren recht ist: prüfen wir ihn!“
Gläser standen im Büfett. Tobby schenkte ein.
„Willkommen auf der Insel!“ meinte er bieder schmunzelnd und hob das Gläschen zum Munde … Schien zu trinken …
Wir – tranken – wirklich.
Und er – spie wieder aus, was er im Munde behalten. Ließ das Glas fallen … Riß aus der Tasche einen Revolver hervor …
„Schufte, Betrüger!!“ brüllte er – und eine Stimme hatte der Seebär, die nicht nach Musik klang … „Bleibt, wo Ihr seid!! Bleibt stehen, rührt Euch nicht, bis mein Tränkchen wirkt! Ihr dachtet wohl, ich hätte in meinem Häuschen keinen Apparat!! Na – Ihr irrt Euch!!“
Harst – mein alter Harald Harst war in dieser kritischen Lage wieder mal von geradezu verblüffender Geistesgegenwart und – Gerissenheit!
Tobby Rucks war alles andere, nur kein Gegner für einen Harald Harst. Tobby Rucks hatte einen gespannten Revolver in der Hand und hätte vielleicht auch abgedrückt – vielleicht!
Dazu kam’s jedoch nicht …
Kaum hatte Tobby uns in dieser überlauten Weise verraten, daß ein zweiter Radioapparat mit selbsttätiger Einschaltung in seinem Häuschen stände, daß er die Depesche also ebenfalls abgelesen habe, als Harald sich auch schon hoch aufrichtete und mit überlegener Ruhe sagte:
„Lieber Mann, ich bin nicht der, für den ich mich ausgab … Ich bin Detektivinspektor Colley aus London. Ich werde Ihnen meinen Ausweis mit Lichtbild zeigen, und ich warne Sie eindringlich, sich ebenfalls in all die faulen Geschichten mit hineinzuverwickeln, die Lord Effingham da seit Jahren betreibt. Daß er hier in dieser Felsenwohnung Miß Ellen Marmarty beherbergt hat, weiß ich ebenfalls.“
Diese letzte Behauptung traf den Alten wie ein Keulenhieb … Er prallte zurück … Die Hand mit dem Revolver sank herab …
„Sie – Sie wissen …?!“ stammelte er entgeistert. „Oh – dann, dann …“
Er schwieg, warf nur einen flüchtigen Blick auf den Ausweis, merkte gar nicht, daß es der Ausweis einer deutschen Behörde war, und ließ sich ohne weiteres den Revolver abnehmen …
Harald winkte mir …
Wir eilten in die Küche, und hier taten wir das, was das einfachste Mittel ist, eine gründliche Magenentleerung herbeizuführen …
Tranken Wasser, spülten den Magen mehrmals aus und kehrten dann zu Tobby zurück.
Der saß in sich zusammengesunken da und beachtete uns kaum.
„Was hatten Sie dem Whisky beigemengt, Tobby?“ fragte Harald strengen Tones.
Der Alte schaute traurig auf …
„Nichts – nichts … Der Whisky stammt noch von früher her – aus Lord Rogers wildester Zeit …“
„Also hat der Lord diesen Alkohol, dem ein Betäubungsmittel beigemengt ist, stets bereitgehalten?“
„Ja.“ Er verbesserte sich sehr schnell. „Das heißt: ich weiß es nicht, Mr. Colley. Ich denke mir das nur so … Mylord sagte mir mal: „Tobby,“ sagte er, „wenn mal irgend jemand hierher kommt, der Dir lästig ist, dann brauchst Du ihm nur einen Whisky aus dieser Flasche anzubieten, und nach fünf Minuten schläft der Betreffende fest wie ein Murmeltier und wird auch vor zwölf Stunden nicht erwachen.“ – Ich hab’ die Flasche nie zu benutzen brauchen. Aber Mylord ließ sie sich zuweilen geben, wenn – wenn –“
Er verstummte und blickte hilflos zu Boden …
„Wenn er wieder einmal ein junges Weib hier verborgen hielt,“ vollendete Harald ernst. „Sie brauchen weder zu bejahen noch zu verneinen, Tobby. Lord Roger Effingham war als Schürzenjäger berüchtigt! Wenn er nicht Lord Effingham wäre, säße er längst im Gefängnis!“
Tobby seufzte schwer.
„Mr. Colley – er hat sich nun ja geändert, seit er die schneidige Miß Randerfield aus Chikago geheiratet hat … Die junge Mylady Effingham hat ihn kräftig unter der Fuchtel …“
„Wann heiratete er doch Doris Randerfield? War’s nicht vor einem Jahr?“
„So ungefähr – so ungefähr! Am vierten Juni vorigen Jahres fand die Hochzeit statt.“
Harald überlegte … sagte dann:
„Tobby, es ist Ihnen ein Gefangener angemeldet worden … Wo sollten Sie ihn unterbringen?“
Wieder der hilflose Blick – und noch zögernder die Antwort:
„Die Insel Garlabarg hat ihre Geheimnisse, Mister Colley … alte Geheimnisse. Noch aus den blutigen Zeiten, wo die Königin Elisabeth ihre Rivalin Maria Stuart köpfen ließ und der alte Adel des Landes nicht recht wußte, welcher Partei er sich anschließen sollte …“
„Ich wünsche diese Geheimnisse zu sehen!“ befahl Harst gebieterisch. „Ich stehe hier als Vertreter der irdischen Gerechtigkeit vor Ihnen, Tobby Rucks! Gehorchen Sie!“
Der Alte nickte schwerfällig.
„Ja – ja, – wie Sie wollen, Mr. Colley, wie Sie wollen. Aber – ich warne Sie! Ich warne Sie …! Es tut nicht gut, so uralte Dinge – aufzufrischen.“
Er erhob sich langsam.
Harald trat an den Funkapparat heran, nahm einen Schraubenzieher und entfernte rasch einen der Transformatoren des Senders.
Dann verließen wir die Grotte.
Und genau dasselbe tat Harald in Tobbys Häuschen.
Die Transformatoren packte er in eine Zeitung und schob das Päckchen unter den Arm.
„So, Tobby, nun vorwärts. Nun habe ich mich dagegen gesichert, daß Sie Lord Roger etwa allzu schnell eine wichtige Nachricht senden können.“
Tobby Rucks schlug jetzt von seinem Häuschen aus den Weg nach Süden ein, wieder einen schmalen Pfad entlang, der hier jedoch sehr bald zahllose Abzweigungen hatte – das reine Labyrinth!
Und doch fand Tobby sich in diesem Gewirr durcheinanderlaufender Pfade tadellos zurecht …
Inzwischen war auch seine Voraussage eingetroffen … Ein heftiger Oststurm brauste über die Bucht von Harwich hinweg. Die alten Bäume des Eilandes wurden derb geschüttelt und schleuderten trockene Äste und Zweige hinab.
Über uns rauschte das Blätterdach dieses seltsamen Urwaldes, und flinke Katzen tauchten immer wieder auf den tieferen Ästen auf, starrten uns an und verschwanden …
Dann – eine kleine, steinige Lichtung …
Und hier eine Eiche – ein Prachtbaum von mindestens drei Meter Durchmesser …
Einsam mitten auf der Lichtung der Baumriese, einsam, knorrig und stolz …
Tobby schritt auf die Eiche zu, blieb vor einer in den Stamm eingelassenen großen Eisentafel stehen …
Sie reichte bis zu den Erdwurzeln hinab, war viereckig und vielleicht zwei Meter hoch und ein Meter breit.
An ihren Rändern quoll die Rinde wulstig über, so daß es auf den ersten Blick schien, als sei diese Eisentafel, verrostet und mit kaum mehr lesbaren Buchstaben bedeckt, für alle Zeit und Ewigkeit fest mit dem Baume verbunden. –
Wir waren neben Tobby getreten. Und er sagte halblaut: „Das hier ist eines der Verstecke, in dem Lord Roger Effingham, der Ahn meines jetzigen Herrn, im Jahre 1615 acht Monate gehaust hat …“
Er bückte sich …
Da war am rechten Rande der Tafel ein großer verrosteter Nagelkopf zu sehen …
Und – Tobby zog diesen Nagel ein Stück heraus, drehte ihn dann nach rechts und – zog an diesem Griff nun auch die Platte wie eine Tür spielend leicht so weit auf, daß man in das hohle Innere der Eiche hineingelangen konnte.
Wir sahen, daß ein mit Eichenbrettern ausgekleideter enger Schacht, in dem Holzstufen und Holzgriffe zum Hinabklettern angebracht waren, in die Tiefe ging.
Wir sahen, wie der Alte wortlos in das Baumloch hineinschlüpfte und hinabzusteigen begann …
Wir folgten …
Folgten langsam, – mißtrauisch …
Zu langsam – und zu wenig mißtrauisch, wie sich sehr bald zeigte …
Tobby war plötzlich verschwunden, als aus dem Ende des Schachtes eine Leiter weiter nach unten führte …
Harsts Taschenlampe sandte ihren grellen Lichtkegel durch eine kaum drei Meter breite, langgestreckte Felshöhle hin – hierhin, dorthin …
Harst sprang von der Leiter auf den harten Granitboden, lief vorwärts, kehrte zurück … Ich stand noch auf der Leiter.
Über mir schimmerte noch das Tageslicht …
Dann aber – ein dumpfer Knall von oben …
Dunkelheit …
Die Eisenplatte war zugeworfen worden, und – noch etwas war geschehen: über den Ausgang des Schachtes, über die Schachtöffnung war ein eiserner Deckel gefallen, ließ sich nicht mehr lüften, so kräftig ich auch den Nacken darunter stemmte … –
Harald rief mir zu: „Komm’ nur herab, mein Alter … Wir sind selbst schuld an alledem … Wir haben Tobby Rucks unterschätzt.“
Wir sahen uns die niedere, etwa dreißig Meter lange Höhle genauer an …
In einer Ecke stand eine Menge Gerümpel: Tisch, Sessel, halb vermoderte Gewänder, die Reste eines Holzbettes, Töpfe, Kannen, – ein ganzer Berg, aus dessen unsauberer Vielseitigkeit Harald nun zu meinem Erstaunen einen Zinnkrug hervorholte und sagte:
„Wir haben ja Zeit … Wir werden den zweiten geheimen Ausgang aus dieser Höhle, den Tobby benutzt hat, schon finden. – Sieh Dir mal dieses prächtige alte Stück von Zinnkrug an. Wenn ich’s möglich machen kann, nehme ich ihn mit heim. Er wird eine Zierde unseres Speisezimmers werden …“
Und er wischte den Staub mit einem Zeugfetzen ab und erklärte in seiner sprunghaften Art:
„Ich habe jetzt den Fall Gybourg in Gedanken erledigt. Ich bin auf den Gefangenen sehr gespannt … Du wirst gleichfalls einige Überraschungen erleben, lieber Alter!“
„Inwiefern? Ist Lord Roger doch der Mörder?“
„Keine Rede! Er beschützt den Mörder und den Mann, den die Polizei dafür hält, auf seine Weise … Er stellt sich bloß, er unterzieht sich allerlei Gefahren … Er muß Ellen Marmarty sehr geliebt haben – sehr … Und sie ihn wohl auch! Bis eben die Vernunft siegte … Da heiratete sie eben John Gybourg …“
„Glaubst Du,“ meinte ich etwas gereizt, „daß diese Andeutungen mich klüger machen?“
„Ich hoffte. – Suchen wir jetzt den zweiten Ausgang!“
Und er stellte den Zinnkrug auf den wackligen Tisch, an dem vielleicht einst der flüchtige Lord Effingham hier in dieser Höhle seine einsamen Mahlzeiten gehalten hatte.
Wir suchten … Suchten so, wie wir es tun, wie wir es verstehen …
Suchten mit der Zuversichtlichkeit von Männern, die noch immer entdeckt haben, was sie wollten …
Wurden doch leicht nervös, als zehn Minuten verstrichen – ohne Erfolg …
Harald brummte: „Das ist sehr merkwürdig!“ Und – er wechselte die Batterie seiner Taschenlampe aus, da sie erschöpft war …
Die Felswände, der rauhe Felsboden, selbst die zackige Felsdecke der Höhle, nichts blieb unbeachtet; kein Zentimeter Gestein ward nicht betastet! Und doch: es war alles umsonst – alles!
„Merkwürdig!“ meinte Harald abermals. „Hier gibt’s also in der Tat eine Nuß zu knacken! Diese Lords Effingham haben ihre Geheimnisse klug verschleiert …!“
Er schaute sich um, schaute hierhin – dorthin …
„Ein kühler Luftzug streicht mir über die Finger,“ sagte er lebhafter. „Hier muß eine Spalte sein … Und hier stand der alte Sessel, den wir nun beiseite gerückt haben …“
Er beugte sich zu dem Sesselsitz hinab …
Und – da waren in der dicken Staubschicht des zermürbten Leders deutlich die Abdrücke zweier Stiefel zu erkennen!
Harald lachte leise …
„Es wäre ja auch toll gewesen, wenn wir nicht ebenso klug wie …“
Er schwieg – war auf den Sessel gestiegen, nachdem er ihn wieder an den früheren Platz geschoben hatte …
Und – hatte die Arme hochgereckt, hatte eine quadratische Steintafel der Decke wie eine Falltür nach unten klappen lassen – eine Platte von quadratischer Form …
Und von oben her fiel nun wieder Tageslicht durch eine glatte, gerade Spalte zu uns herein – durch eine Spalte, in der – eine Leiter hing.
„Tobby hätte es sich schenken können, uns hier einzusperren,“ sagte Harald und – war durch einen Klimmzug bereits im Schacht …
Und wir beide waren wenige Minuten später mitten im Dickicht der Insel und arbeiteten uns bis zum nächsten Pfade durch … – –
Hiermit schließe ich den ersten Teil unseres Abenteuers.
Führe den Leser nun in eine ganz andere Umgebung – in die Prachträume eines alten Palastes – mitten in die vornehmste Welt Londons …
Ich liebe solche Titel wie den obigen für unsere Abenteuer durchaus nicht, denn sie erinnern zu sehr an Familienromane, an irgendeine Liebesgeschichte, tränenreich und unwahrscheinlich.
Wenn ich trotzdem für den zweiten Teil des Verhängnisses Dr. Groupys diesen Titel wählte, so muß das wohl seine Gründe haben.
In der Tat: hier ist dieser schmalzige Titel durchaus am Platze, er trifft … den Nagel auf den Kopf! Er deutet auf das hin, was den Inhalt der folgenden Seiten bildet. Und mehr kann man von einem Titel nicht verlangen. –
Von dem Urwaldeiland in der Bucht von Harwich ein Gedankensprung nach London – und ein Sprung über eine Zeitspanne von genau zwölf Stunden hinweg …
Vor dem Palais Effingham in der Darnley-Street hält eine Reihe von eleganten Kraftwagen …
Soeben biegt ein neuer von der Straße in die weit offene Einfahrt ein und gleitet über den Zementweg bis vor die Marmorfreitreppe …
Der Diener springt herab, reißt die Tür auf …
Drei Herren steigen aus …
Der eine der Typ des vornehmen Engländers, blondbärtig, überschlank …
Der zweite etwas kleiner, straff in der Haltung, bartlos das Gesicht, eine kühne, messerscharfe Nase, merkwürdig graue Augen, die jetzt lebhaft umhergleiten und im nächsten Moment hinter Schleiern sich zu verbergen scheinen …
Der dritte einen Kopf kleiner, etwas korpulent, ein freundliches Gesicht … Und – das bin ich, Max Schraut.
Alle drei aber in schwarzen, einknöpfigen Jackenanzügen nach der neuesten Mode, in Halblackschuhen, um die Schultern leichte dunkle Mäntel …
So werden wir in der Vorhalle von dem Hausmeister Lord Effinghams empfangen …
So geleitet uns ein Diener in die Salons, wo Lady Doris Effingham ihre Freunde zum Tee empfängt. –
Lord Walltour, Haralds alter Freund, führt uns ein.
Wen Lord Walltour, zweiter Sohn des Herzogs von Rancire, irgendwohin mitbringt, der ist willkommen – überall …
Wir verneigen uns vor der hellblonden Milliardärstochter, vor Lady Doris Effingham, geborene Randerfield.
Walltour stellt uns vor …
Die ganze illustre Gesellschaft ist auf uns beide aufmerksam geworden.
Zwei hier völlig fremde Gesichter, – das ist eine gewisse Sensation in diesem Kreise, wo einer den andern so genau kennt und wo selbst neu Eingeführte zum mindesten berühmte Namen oder berühmte Gesichter haben müssen – berühmt durch Bilder in Zeitschriften, Monatsheften …
Und wir nun – wir werden so schlicht als Mr. Harald Harst und Mr. Max Schraut vorgestellt.
Unsere Gesichtszüge hatten nichts besagt.
Der eine Name besagte alles: Harald Harst!!
Ich trat bescheiden zurück …
Ich sah noch, daß Lady Doris die Farbe wechselte, daß ihre Augen den starren Ausdruck hellen Entsetzens annahmen.
Die Gäste drängten näher heran …
Harald Harst …!!
Wie ein Rauschen ging’s durch den sich verengernden Kreis …
Und Walltour sagt zu Lady Effingham:
„Heute mittag überraschte mich mein lieber alter Harald durch seinen Besuch … Das war eine Freude …!! Und nun bringe ich Ihnen diesen prächtigen Menschen und seinen ebenso prächtigen Freund Schraut, Mylady …! Zwei Künstler – Künstler auf einem besonderen Gebiet …“
Und zu den Anwesenden gewandt:
„Ein großer Geist ist unter uns, einer, dem nichts verborgen bleibt … nichts …!“
Walltour lächelte und schob seinen Arm in den Haralds.
„Wer ein gutes Gewissen hat, braucht ihn nicht zu fürchten. Wer es nicht hat, – – fliehe!“
Lady Doris hatte sich längst gefaßt …
Sie hieß uns beide nun willkommen, in allem die Dame von Welt, in allem die Aristokratin …
Und doch hatte ihr Vater Niels Randerfield seine Glückslaufbahn als Goldgräber begonnen … –
Zehn Minuten später – inzwischen waren noch einige zwanzig neue Gäste erschienen – standen Harald und ich im Musiksalon und ließen eine übermoderne Opernouvertüre unsere Ohren malträtieren …
Der Künstler am Flügel war ein Russe: der Komponist selbst …
„Wenn er wüßte, daß sich auf Komponist so bequem Mist reimt,“ flüsterte Harst mir zu, der geradezu glänzender Laune war …
Und flüsterte weiter: „Lord Roger ist noch immer nicht da … Schadet nichts: ich bin zufrieden!“
„Womit?“ – Diese Frage war berechtigt. Harst hatte mir nicht im geringsten darüber Aufschluß gegeben, weshalb wir Lord Walltour aufgesucht und weshalb dieser uns mit zu Lady Doris hatte nehmen müssen.
„Damit, daß Mylady erblaßte,“ erwiderte Harald ebenso leise …
„Und – das genügt Dir!“ Ich verstand ihn wirklich nicht.
„Vollauf genügt es mir …!“
Nun begann ich zu grübeln …
Harald hatte ja so bestimmt erklärt: Lord Effingham ist nicht der Mörder! – Wenn nun seine Gattin etwa Ellen Gybourg … aus Eifersucht ermordet hätte?!
Ich überlegte mir diese neue Möglichkeit hin und her …
Und – scheiterte mit all meinen Kombinationen doch an der unverrückbaren Tatsache, daß in der Wohnung Gybourgs zu der kritischen Zeit nur drei Personen anwesend waren: das Opfer, Gybourg selbst und das Hausmädchen!
Wie ich so noch dem dunklen Geheimnis dieses Verbrechens wiederum auf geistigen Pfaden nachspürte, während neben Harald jetzt ein mir fremder Herr auftauchte, der meinem Freunde leicht die Hand auf die Schulter legte, hatte ich mit einem zweifelnden Blick das pikante, temperamentvolle Gesicht Lady Doris’ aufs neue gestreift …
Und – – stutzte – – wurde aufmerksam …
Myladys Antlitz hatte sich mit Leichenblässe überzogen. Ihre Augen stierten an mir vorüber – dicht an mir – auf Harald und den fremden Herrn …
Da – – raunte Harst mir zu:
„Folge uns … Lord Effingham ist’s …“
Ah – – Effingham!! Also das war der berüchtigte Weiberheld, der Don Juan, der Besitzer der Märchenliebesgrotte auf der Insel in der Harwich-Bucht …!
Kein Wunder, dachte ich, daß Frauenherzen diesem Manne zuflogen! Kein Wunder! Fürwahr – die Natur hatte ihn reich begnadet, obwohl ich selbst diese sogenannten schönen Gesichter nicht liebe – wirklich nicht liebe …
Auch diesem Gesicht fehlte für meinen Geschmack die Hauptsache: das Männliche!! –
Im Billardsaal, vier Räume weiter, erwarteten Harst und der Lord mich, blieben stehen …
Harald machte mich mit Effingham bekannt …
Nun hörte ich auch die Stimme, eine tiefe, volle, weiche Stimme – aber auch ohne Charakter, auch zu weibisch …
Und – das nun sollte derselbe Mann sein, der in einer Verkleidung Doktor Gybourg befreit hatte und der dann gestern abend über die Parkmauer geklettert war …!!
Es schien unglaublich …!
Dieser Aristokrat, vom Scheitel bis zur Sohle Kavalier, Gentleman, – dieser Besitzer ungezählter Reichtümer sollte es gewagt haben, seinen Ruf, seine Ehre aufs Spiel zu setzen – eines Zahnarztes wegen!!
Unglaublich – –!!
„Mylord hat ein besonderes Anliegen an uns,“ begann Harald da.
„Oh – nicht doch!“ verbesserte Effingham mit liebenswürdigem Lächeln. „Kein Anliegen, Mister Harst. Nur ein paar Fragen …“
Er hatte sich an das eine Billard gelehnt und schaute sich nun vorsichtig um …
Wir standen dicht vor ihm …
„Ja – ein paar Fragen,“ wiederholte er leiser. „Hm – haben Sie mal von dem rätselhaften Morde in der Bagaller-Street gehört, Mister Harst, – von der Ermordung der Frau Ellen Gybourg?“
„Ich habe alle besonderen Kriminalfälle im Gedächtnis, Mylord …“
„So … so … – Und würde es Sie interessieren, diesen Fall einmal auf meine Bitte hin zu untersuchen?“ – In seine heiteren, lebenslustigen Augen war da ein Schein von argwöhnischem Lauern getreten … Ein unsicheres Flimmern, von dem er selbst nichts ahnte.
„Ja – er interessiert mich bereits,“ erwiderte Harald und betonte das „bereits“. „Und – Mylord wissen das auch. Wir wollen hier mit offenen Karten spielen.“
Effingham fuhr leicht zusammen …
Harsts scharfer Ton trieb ihm die helle Röte ins Gesicht. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten …
„Wie … meinen Sie das?“ fragte er dann, und sein Blick wurde hochmütig und ablehnend.
„Stets so, wie ich es sage, Mylord. Ich bin Harald Harst. Ich bewundere Ihre schmalen Hände und den wundervollen Siegelring an Ihrem linken kleinen Finger, den ich letztens auf einer Photographie ohne Kopf bereits anstaunen durfte …“
Effingham wurde unruhig, hüstelte.
„So – auf einem Bilde ohne Kopf?! Das ist merkwürdig!“
„Allerdings … Das Bild stellt ohne Zweifel Sie dar, Mylord!“
„Hm – wo sahen Sie es denn?“
„Bei dem Manne, den Sie in Garden Lavryc aus den Händen der Polizei befreiten …“
Effingham richtete sich kerzengerade hoch.
„Ich – ich soll das getan haben – ich! Welchen Mann?! Ich verstehe Sie nicht!“
Komödie – recht gut gespielte Komödie …
Nur – uns täuschte er nicht!! Nein – uns nicht!
Harald erklärte sehr ruhig:
„Wie Sie wollen, Mylord! Wir hätten als Verbündete dem Mörder Ihrer einstigen Geliebten Ellen Marmarty nachspüren können … Nun – sind wir vielleicht Gegner!“
Da verfärbte Effingham sich abermals.
Seine Miene aber ward noch eisiger.
„Ihre Andeutungen sind mir unbegreiflich,“ sagte er mit knapper Verbeugung. „Da Sie Gast in meinem Hause sind, Mister Harst, habe ich nichts mehr hinzuzufügen …“
„Vielleicht doch!!“
Und diese Worte bannten den Lord, der sich hatte entfernen wollen, an seinem Platze.
Seine Augen ruhten drohend und unwillig auf Harald, der jetzt flüsterte:
„Ich bitte Sie, Mylord, offen zu sein. Ich weiß bereits mehr, als Sie glauben … Ich biete Ihnen die Hand zum Bündnis!“
Es lag etwas in Haralds Stimme, das den Lord unschlüssig werden ließ.
In dieser Stimme hatten Menschenfreundlichkeit, Anteilnahme und die Güte eines großen Charakters mitgeklungen.
Man sah es Effingham an, daß er mit sich kämpfte.
Doch – er mußte wohl sehr schwerwiegende Gründe haben, weiter allein all das durchzukämpfen, was ihn bedrückte …
Er seufzte … Sagte leise: „Ein Bündnis wäre überflüssig, Mister Harst. Ellen Gybourgs Tod geht mir nahe, noch heute, aber der Kriminalfall als solcher ist für mich nur Sensation wie für Tausende andere.“
Er verbeugte sich und verließ den Billardsaal.
Als die Tür hinter ihm sich geschlossen hatte, sagte ich zu Harald:
„Nun weiß ich, wer der Mörder ist: Mylady – Lady Doris Effingham …!“
Und er – er blickte an mir vorbei, schüttelte leicht den Kopf und meinte:
„Die ist es nicht! Wir werden –“
Und da – – öffnete sich hastig dieselbe Tür …
Lady Doris trat eiligst ein …
„Endlich!!“ sagte sie, vor uns stehen bleibend. „Endlich kann ich Sie beide allein sprechen … Haben Sie zehn Minuten Zeit für mich, Mister Harst?“
Harald verbeugte sich.
„Zehn Minuten werden genügen, Mylady …“
„Wozu?! Wissen Sie, welcher Art der Inhalt unserer Besprechung sein soll?“
„Gewiß, Mylady …“
„Da bin ich neugierig, Mister Harst …“
„Ich gebe Trümpfe nur aus der Hand, wenn man mir andere dafür bietet. Ich bin ein ehrlicher Makler, Mylady …“
Sie senkte den Kopf.
Sie war pikant und reizvoll, diese Frau, hatte einen schlanken, biegsamen, vollen Körper, hatte Augen, in denen die Leidenschaft aufflammen konnte …
Und stand nun vor uns, ein Bild der Ungewißheit, der Unschlüssigkeit …
Stand und zerrte die Goldkette ihres langstieligen Lorgnons durch die Finger.
Stand und … quälte mühsam hervor:
„Folgen Sie mir … Hier dieser große Raum ist mir unerträglich …“
Sie schritt weiter …
Wir blieben hinter ihr …
Vier Zimmer – alle mit Bücherschränken gefüllt, dann ein winziger Salon mit sehr alten kostbaren Möbeln …
Lady Doris hatte das Licht eingeschaltet, hatte rasch den seidenen Fenstervorhang hinabgelassen.
Winkte nach zwei Sesseln hin – nahm selbst Platz.
Ich ahnte, daß hier jetzt ein Wettstreit beginnen würde: weibliche List, weibliche Intrigenkunst und Diplomatie gegen Harald Harst!!
Wir drei saßen nun um ein Tischen mit vergoldeten Füßen und Malachitplatte herum …
Harald hatte sich zwanglos zurückgelehnt …
Wartete …
Wartete, daß Mylady beginnen würde …
Ließ Mylady warten, die ihn wiederholt anblickte …
Und – hier nun, hier in dieser Umgebung von geschmackvollem Luxus, hier in dieser feinen Wolke von zartem Parfüm, das bis zu mir herüberwehte, – hier, wo die Tochter des Milliardärs die kostbaren Ringe, Armbänder und die Brillantspangen trug, den Familienschmuck der Effinghams, – hier in diesem Zimmer des Effingham-Palastes dachte ich zwölf Stunden zurück, dachte ich an das Eiland in der Harwich-Bucht, an den alten Tobby, den wir in der Höhle unter der Eiche eingesperrt hatten, dem wir jedes Entkommen unmöglich gemacht, indem wir die Ausgänge der Höhle auf einfachste Weise verrammelt hatten …
Und – gerade hier fiel mir all das ein, weil der Gegensatz so ungeheuer war: Katzeninsel – – Palast! Tobby, nach Kautabak duftend, und Lady Doris – –!!
Da begann sie zaghaft:
„Wie soll ich Ihre Bemerkung von vorhin verstehen, Mister Harst?“
„Oh – über die zehn Minuten, nicht wahr? – Ich meinte damit nur, daß wir sehr bald einig werden könnten, Mylady … Sie haben doch fraglos ein Anliegen an mich.“
„Ja …“
„Ich glaube es zu kennen …“
Sie beugte sich vor.
„Unmöglich!“
„Doch, Mylady … Ich kenne es … Ich soll einen … Mann suchen, der verschwunden ist –“
Lady Effinghams Mund blieb offen. Ihre Augen weiteten sich.
„Mein Gott, – können Sie denn Gedanken lesen?“ stieß sie hervor.
„Nein, Mylady. Ich kann nur eins, und das ist meine ganze Kunst: ich füge aus Kleinigkeiten Bilder mir im Geiste zusammen, und da, wo selbst diese Kleinigkeiten fehlen, da – lasse ich meine Phantasie arbeiten …“
„Aber … aber … hier, hier in diesem Falle hatten Sie doch nicht die allergeringsten Anhaltspunkte für das, was mich veranlaßte, diese Unterredung herbeizuführen.“
„Glauben Sie?! – Ich hatte ein Radiotelegramm und – eines Mannes Unschlüssigkeit …“
Sie starrte Harald an.
„Radio…telegramm?!“ Ganz fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Ich – – verstehe Sie nicht, Mister Harst!“
„Ist auch nicht nötig. – Ich soll also einen Mann suchen, der verschwunden ist …“
Sie nickte schwach, flüsterte …
„Es – es ist – ein – Indianer … Das heißt natürlich: ein zivilisierter Indianer, vom Stamme der Seminolen, die einst in Florida wohnten und nun in einer Reservation leben …“
Sie schaute auf die mattglänzende Malachitplatte des Tisches …
„Diese Rothaut, Paracolea ist der Name des Seminolen, war Reitknecht bei meinem Vater und hat auch mich in die Künste der Pferdebeherrschung eingeweiht. Seine Anhänglichkeit an mich bewog ihn, nachdem ich Lord Effingham geheiratet hatte, hier in London eine Stellung anzunehmen.“
„Wo, Mylady?“
„Er hatte verschiedene Anstellungen, Mister Harst. Genaueres weiß ich nicht. Er wollte mich nur zuweilen sehen. Paracolea ist jetzt fünfzig Jahre alt … Als ich noch Kind war, schaukelte er mich auf seinen Knien …“
Sie sprach plötzlich wie verträumt …
Sie mochte vielleicht merkwürdige Bilder aus einer fernen Vergangenheit im Geiste sehen …
Fügte hinzu – ebenso leise und gedankenverloren: „Nun ist Paracolea seit gestern verschwunden. Er wohnte zuletzt in der Bagaller-Street Nr. 13 möbliert.“
Ah – Bagaller-Street! Und Nummer dreizehn! In Nummer fünfzehn war Ellen ermordet worden!
Harst blieb scheinbar gleichgültig …
„Und Sie wissen genau, daß er – verschwunden ist, Mylady?“
„Ja …!“
„Kann er nicht verreist sein?“
„Nein. Ich hatte ihn zu gestern abend zu mir bestellt. Er kam nicht. Und dies genügt mir: ihm muß etwas zugestoßen sein! Paracolea würde tagelang zu Fuß laufen, um rechtzeitig bei mir zu sein. Er … er hat mich ja auf seinen Knien geschaukelt … Er liebte mich, war mir fast ein zweiter Vater …“
„Ahnen Sie, was ihm zugestoßen sein könnte?“ fragte Harald eindringlich.
Lady Doris’ Lippen entschlüpfte ein schwerer Seufzer.
„Ja … ja!“ hauchte sie. „Ich – ahne – es! Man hat ihn beseitigt!“
Harst schwieg. Und ich dachte an den Gefangenen, der nach fünf Stunden auf der Insel eintreffen würde.
„Wer tat dies?“ fragte Harald wieder. „Wer beseitigte ihn?“
Ihr Kopf sank tiefer. Ihr Gesicht lag im Schatten.
„Ich – weiß – es – nicht.“
„Sie wissen es!“
Sie schrak zusammen – und flüsterte:
„Vermutungen, die auf nichts anderes als auf Gefühle sich stützen, soll man nie aussprechen. Unser Gefühl betrügt uns oft …“
„Allerdings! Sie aber, Mylady, haben noch andere Stützpunkte, behaupte ich.“
Sie blieb stumm …
Und totenstill war’s in dem kleinen intimen Gemach …
Zart und wie ein Hauch von Jugendluft wehte der Wohlgeruch Lady Doris’ zu mir herüber …
Zart und wie ein Hauch nun ihre Stimme:
„Helfen Sie mir! Suchen Sie Paracolea, Mister Harst! Retten Sie ihn!“
„Vor wem? Vor – Ihrem Gatten?“
Da – schluchzte sie auf … Drückte die Hände vor das Gesicht …
„O mein Gott – – mein Gott, wozu all das Furchtbare?! Helfen Sie mir doch, Mister Harst!“
Sie tat mir leid in diesem Augenblick. Sie war so ganz kraftlose Verstörtheit, so ganz verzehrende Angst …
Und in ihrem kaum hörbaren Weinen schwangen nun wieder Worte mit:
„Er – er war mir ein zweiter Vater … Im Goldgräberlager am Roten Fluß hat er mich auf seinen Knien geschaukelt …“
Ja – sie tat mir unendlich leid.
Und ich war froh, als Harald jetzt ihre Ungewißheit in helle Freude verwandelte …
„Mylady – ich will Ihnen helfen – gegen ihren Gatten! Ich weiß, daß Sie Lord Roger für den Anstifter eines Anschlags gegen Paracolea halten. – Eine Frage noch: Lord Roger war reich, als er um Sie warb … Er hätte es nicht nötig gehabt, eine Milliardärstochter zu wählen. Es war eine – Liebesheirat …“
„Es ist eine Liebesheirat, Mister Harst … Es ist – nicht es war!! Die Wolken, die unser Glück trüben, werden auch wieder verschwinden!“
„Hoffen wir …“
Lady Doris hatte sich erhoben …
Wir küßten ihr die Hand …
Dann ging sie …
Und wir waren allein …
Harald setzte sich wieder, meinte leise: „Wir haben noch eine Stunde Zeit … erst um halb acht ist das Auto bestellt, das uns nach Harwich bringen soll – uns, unsere Koffer und unseren Diener, den Doktor Gybourg …“
Er zog sein Zigarettenetui …
„Da – bediene Dich, mein Alter!“
Ich nahm die schlanke Mirakulum hinter dem Gummibändchen hervor …
Sagte: „Paracolea ist Ellen Gybourgs Mörder!“
„Na – das ist nun Nummer drei, auf den Dein Verdacht fällt: erst der Lord, dann die Lady, nun eine Rothaut, – und eine Stunde später vielleicht wieder ein anderer!“
Er rieb ein Zündholz an …
„Wenn ich mich nachher von Lady Effingham verabschiede, werde ich ihr etwas zuflüstern …“
„Was?“
„Daß sie zusehen soll, ob sie noch heute nacht vor zwölf Uhr in Harwich sein kann … Ich möchte all die Mitspieler dieser Tragödie auf der Insel versammeln …“
Und – da geschah das, was wir hier im Palais Effingham niemals vermutet hätten:
Die Tür flog auf. Zwei Kerle mit struppigen Bärten … Zwei Hiebe mit nassen Sandsäcken …
Zwei Bewußtlose auf dem Teppich …:
Wir …!!
In unserem Programm war dieser Überfall auf uns, wie gesagt, nicht vorgesehen gewesen.
Durchaus nicht! Wir hatten ja im Auto nach Harwich zurückkehren wollen …
Gewiß: wir lagen jetzt auch in einem Auto, und dieses Auto fuhr auch, – aber – wir waren gefesselt und geknebelt und wußten nicht, wohin es fuhr …
Wenigstens ich wußte es nicht …
Ich war nach dem brutalen Sandsackhieb als wohlverschnürtes Bündel zu mir gekommen …
Lag irgendwo, wo’s nach Benzin stank …
Konnte nichts sehen. Nur hören, riechen und fühlen …
Roch Benzin, hörte einen Automotor leer laufen, fühlte mich emporgehoben, in eine Polsterecke gedrückt …
Hörte, daß man neben mir ein zweites menschliches Bündel verstaute …
Es konnte nur Harald sein!
Dann – ruckte das Auto an …
Fuhr – fuhr durch belebte Straßen … fuhr nun eine stille Landstraße entlang …
Und da – wagte ich es …
Da stieß ich meinen Nachbar Harald mit dem Ellenbogen leise an …
Ich hoffte auf eine Erwiderung des Zeichens. Wäre es doch nicht das erstemal gewesen, daß wir uns auf die Art verständigt hätten: Morsezeichen-Ellenbogendruck …!
Nichts folgte. Mein Nachbar rührte sich nicht. Also war’s auch nicht Harst – niemals! Das war vielleicht – Paracolea, der Seminole!!
Vielleicht …!!
Ich saß still … Ich war müde, mein Schädel brummte.
Ich – schlief ein …
Erwachte jäh …
Fühlte mich emporgehoben … Fühlte frische, kühle Luft … Hörte die See rauschen …
„Die Bucht von Harwich – – die Katzeninsel!“ schoß es mir durch den Kopf.
Und schon lag ich auch in einem offenen, schaukelnden Boot …
Schon hörte ich das Quietschen von Ruderdollen …
Das Boot schwankte stärker …
Spritzer kamen über Bord …
Die Nässe drang durch meine Gesichtshülle …
Jemand fluchte … –
Also war meine Vermutung richtig gewesen: man brachte mich nach der Katzeninsel!!
Mich allein? War Harald mit im Boot? War auch der Indianer hier?
Und – wieder fluchte jemand:
„Sauwetter!“
Mit Recht: es begann zu regnen, goß sehr bald in Strömen! –
Ich überlegte weiter: In der Funkdepesche waren die beiden Männer, die nachts zwölf Uhr den Gefangenen nach dem Eiland bringen sollten, Tom und Charly genannt worden …
Und soeben hatte ich deutlich gehört, daß eine Stimme flüsterte: „Halt’s Maul, Tom! Rudere lieber!“
Mithin stimmte es: Tom und Charly, die Helfershelfer Lord Effinghams, waren unsere Begleiter! Unsere Wächter! Und der Lord hatte uns überfallen und niederschlagen lassen!
Weshalb – – weshalb?
Umsonst grübelte ich über diese Frage nach … –
Plötzlich ein Poltern …
Das Boot war gegen einen Holzsteg gestoßen …
Dann eine Stimme – fragend – rufend:
„Hallo – old Tobby, wo steckst Du denn?“
Keine Antwort … –
Ich wußte, wo Tobby steckte: in der Höhle unter der Eiche! – Aber – erstens hatte ich ja einen Knebel im Munde, und zweitens hätte ich ja keinerlei Veranlassung gehabt, Tom und Charly über das aufzuklären, was in der vorhergehenden Nacht hier auf der Insel sich zugetragen hatte … –
Möwen kreischten …
Der Sturm heulte … Das Wasser rauschte, brandete, und das Boot scheuerte mit schrillen Quietschtönen am Stege.
Wieder die rauhe Stimme:
„Hallo, old Tobby!! Melde Dich doch!! – – Verdammt – der Kerl hat die Zeit verschlafen! Charly, mach’ fix, hole ihn!“
Jemand sprang auf den Steg …
Die Bretter dröhnten …
Und dann – kurz darauf … dicht neben mir ein Geräusch …
Ein gurgelnder Schrei …
Ein dumpfer Fall …
Stille … –
Unheimlich war das – unendlich unheimlich …
Was mochte geschehen sein …?
Da – wieder ein Neues … Charly kehrte zurück …
„Old Tobby ist nirgends zu finden …!“ meldete er.
Ein – – dumpfer Krach … ein gurgelnder Schrei – ein polternder Fall ins Boot hinab …
Stille … Stille …
Unheimlich war das alles – unendlich unheimlich!
Ich zerrte verzweifelt an meinen Stricken …
Ich hatte schon vorhin versucht, mich zu befreien … Es gelang auch jetzt nicht … –
Geräusche im Boot …
Es schaukelte …
Dann – hob mich jemand empor, warf mich über die Schulter wie einen geschlachteten Hammel …
Bäume, Büsche rauschten …
Zweige streiften mein verhülltes Gesicht …
Und der mich getragen, stellte mich an einen Baum, schlang eine Leine um meine Brust, um den Baum …
Entfernte sich … – –
Unheimlich war das – unendlich unheimlich …
Diese Sturm- und Regennacht, und ich dabei als wehrloses Bündel … Und – – wo war Harst?
Da kehrte der Unsichtbare mit neuer Last zurück …
Fesselte jemand hinter mir an denselben Baum …
Ellenbogen berührten sich, bewegten sich, telegraphierten.
Harsts war’s – mein Harald Harst!! Er depeschierte:
„Paracolea hat Tom und Charly niedergeschlagen. Ich kann meine Stricke nicht lockern. Versuche Du es. Ich werde mich etwas drehen. Vielleicht erreichen Deine Finger die Knoten meiner Handfesseln.“
Ich antwortete – durch Ellenbogenstöße: „Verstanden.“
Und dann – dann drehte Harald sich, bis wir Seite an Seite standen …
Ich gab mir die redlichste Mühe, die Knoten zu lösen. Aber Harst hatte sie bei seinen Befreiungsversuchen so fest zugezogen, daß ich bald einsehen mußte, wie zwecklos all diese Anstrengungen waren.
Harald depeschierte: „Aufhören! Erfolglos!“
Und so standen wir denn unter dem rauschenden, tropfenden Baume und warteten – warteten, was sich nun wohl weiter ereignen würde …
Mindestens eine Stunde verging …
Dann – ganz lautlos war der Seminole herbeigehuscht – dann dicht vor uns eine tiefe Stimme in tadellosem Englisch:
„Ich werde Ihnen beiden die Knebel abnehmen. Ich habe mich davon überzeugt, daß wir drei zurzeit die einzigen lebenden Menschen hier auf diesem Inselchen sind. Sollten Sie aber um Hilfe rufen, so – schlage ich auch Ihnen die Schädel ein.“
Der Indianer sprach das letzte mit so vollkommener Gleichgültigkeit, als ob es sich um irgendein Gewürm, nicht um Menschen gehandelt hätte.
Dann entfernte er meine Kopfumhüllung …
Dann … sah ich nichts als einen dunklen Schatten in dieser stockfinsteren Nacht vor mir …
Und – auch den Knebel entfernte der Seminole, tat dasselbe bei Harst, fragte dann:
„Wer sind Sie, meine Herren?“
Harald erwiderte ohne Zögern:
„Deutsche Touristen …“
„Wer überfiel Sie?“
„Das wissen wir nicht …“
„Und wo überwältigte man Sie?“
„In einem Palast, den wir besichtigten … Es war der Palast eines Lords …“
„So?! Etwa Lord Effinghams Palast …?“
„Ja – Effingham!“
Die dunkle Gestalt schwieg eine Weile …
„Wir befinden uns in der gleichen Lage,“ meinte Paracolea dann. „Ich werde Ihnen auch die Fesseln abnehmen. Dies ist eine Nacht, wie ich viele erlebt habe, als ich noch drüben in Amerika, meiner Heimat, als Jäger die Sonora durchstreifte und das Goldgräberlager mit Fleisch versorgte.“
Kurze Pause …
Dann stolzer – lauter:
„Ich bin Paracolea, ein Nachkomme jenes Seminolenhäuptlings Oceola, den der Schriftsteller Cooper in dem Roman „Oceola, die untergehende Sonne der Seminolen“[3] verewigt hat …“
Er zerschnitt unsere Stricke …
„Suchen wir vor dem Regen Zuflucht in dem kleinen Häuschen dort drüben …“
„Und Tom und Charly?“ fragte Harald.
„Wen Paracolea mit einem eichenen Ruder niederschlägt, dessen Kopf platzt wie eine Eierschale. Die beiden haben mich wie einen Verbrecher behandelt …“
Er schritt voran …
Wir betraten Tobbys blitzsaubere Hütte, zündeten in der Vorderstube die Karbidlampe an und heizten den Kachelofen, um unsere Kleider zu trocknen.
Paracolea war schweigsam …
Im hellen, weißen Lichte der Lampe studierte ich sein kupferrotes, faltiges Gesicht mit wachsendem Interesse.
Ein sympathisches Gesicht … Ein schwermütiger Zug um Mund und Augen …
Und eine Gestalt, tadellos gewachsen, muskulös, leicht in den Bewegungen, ohne Hast … –
Harald hockte vor dem Ofen und warf Holz nach … Knisternd, knallend flammten die Scheite auf …
Das trockene Holz erzeugte eine ungeheure Glut, die durch die offene Ofentür in breiter Bahn in die Stube drang.
Vor dem Ofen lag ein Fellteppich. Paracolea, der einen Sportanzug trug, dessen Sitz und Stoff durch das Unwetter genau so gelitten hatten wie unsere Gesellschaftsanzüge, ließ sich jetzt mit untergeschlagenen Beinen gleichfalls vor dem Ofen nieder, legte die Arme auf die Knie und starrte unverwandt in das hellbrennende Feuer.
Sein dunkles Bronzegesicht, umspielt von dem zuckenden rötlichen Schein, regte sich nicht, als er nun klar und deutlich sagte:
„Ich höre das Geräusch eines näherkommenden Motorbootes …“
Harald, der soeben die Holzläden vor die Fenster geschoben und die Vorhänge zugezogen hatte, horchte angespannt.
„Ich höre nichts,“ meinte er.
„Paracoleas Ohren hat die Wildnis geschärft,“ erklärte der Seminole schlicht.
Und fügte hinzu: „Wissen Sie vielleicht, wer Besitzer dieser Insel ist?“
„Lord Effingham,“ erwiderte Harald vom Fenster her.
Ich stand neben dem Ofen, an den Tisch gelehnt. Meine nassen Beinkleider dampften … Ich war ein ahnungsloser Zuschauer, ein Zeuge all dieser Vorgänge, die ich in ihrem wahren Zusammenhang noch immer nicht begriff …
Fragen stellte ich mir, darunter stets dieselbe Hauptfrage: wer war Ellen Gybourgs Mörder, und weshalb hatte dieser Mörder den sizilianischen Dolch Gybourgs zu dem Verbrechen benutzt?! Gab es eine Verbindung zwischen Gybourgs einstiger Sizilienreise und diesem Verbrechen? –
Harald wirkte mir zu …
„Wir werden einmal nachsehen gehen, wen das Motorboot bringt,“ sagte er gleichmütig.
Der Seminole schwieg und starrte in die Glut.
Wir beide verließen das Häuschen.
Draußen atmete ich erleichtert auf, zumal der Regenguß vorüber war und ein frischer, angenehmer Wind, die Nachklänge des Sturmes, uns umwehte.
Dunkle Wolkenmassen flogen noch über das nächtliche Firmament hin …
Zuweilen trat der Mond hinter den schwarzen jagenden Wolken hervor – nur für Sekunden …
„Was nun?“ fragte ich, als wir den Pfad zum Bootssteg hinabeilten …
„Das hängt davon ab, wer dort naht …“
Und er zeigte geradeaus auf die finstere Fläche der Harwich-Bucht, wo die Lichter eines kleinen Fahrzeugs blitzten und rasch näherkamen.
„Paracoleas Schweigsamkeit fällt einem auf die Nerven,“ meinte ich, tief Atem holend …
„Ja … – Wer hinter dieser hohen, klugen Stirn lesen könnte!“
Ich dachte an Tom und Charly – an die Toten dieser Nacht …
„Er macht so gar nicht den Eindruck eines brutalen Menschen,“ warf ich zögernd hin … – Vielleicht hatte ich den Seminolen doch zu günstig beurteilt. Vielleicht beurteilte Harald ihn anders …
„Das ist er auch nicht,“ meinte Harst. „Er ist ein Mensch, der …“
Soeben war der Mond wieder für den Bruchteil einer Sekunde erschienen, hatte sein mildes Licht wie den rasch wieder erlöschenden Leuchtkegel eines Scheinwerfers über die Oberfläche der Bucht gleiten lassen …
Harst schwieg … fügte hinzu:
„Hinter dem Motorboot ein zweites, kleineres – ohne Lichter …!“
Ich bemühte mich umsonst, dieses zweite Fahrzeug zu entdecken … Finsternis lagerte wieder über dem Wasser.
„Vielleicht Lady Doris, die ihrem Gatten heimlich folgt,“ sprach Harald sinnend vor sich hin. „Vielleicht finden sich nun doch die Mitspieler dieser Tragödie hier zusammen!“
Ein dumpfes Stöhnen aus dem Buschwerk neben dem Bootssteg veranlaßte Harst, in die Sträucher einzudringen. Ich blieb hinter ihm. Und – wieder erschien da der Mond. Sein Licht genügte gerade … Wir sahen zwei Männer im Grase liegen, mit blutigen Köpfen, aber – um diese Köpfe waren kunstlose Verbände aus Zeugfetzen geschlungen …
„Tom und Charly!“ sagte Harald und beugte sich herab. „Sie leben, sind nur bewußtlos … – Ah – es sind Irländer, beide … Da – dieser Schädelbau und dieses brandrote Haar sind nur in Irland anzutreffen, und die Hirndecke eines Iren konkurriert an Festigkeit mit der eines Negers. – Der Seminole glaubt, die beiden erschlagen zu haben, hat aber trotzdem, weil noch Leben in ihnen war, die Verletzungen verbunden. Ich wußte, daß dieser Paracolea kein roher Bösewicht ist …“ Und leiser – jetzt wieder Dunkelheit ringsum –: „Das erste Boot legt bereits an! Beobachten wir!“
Vorsichtig schoben wir uns bis an den Rand des Buschstreifens. Die Wasseroberfläche warf immerhin so viel spärliches Licht zurück, daß wir genau erkannten, wie nun ein einzelner Mann von dem Motorboot auf den Steg sprang und hastig dem Häuschen des Katzenwärters Tobby zuschritt.
Gestalt, Bewegungen – alles verriet Lord Effingham! Es war Roger Edward Effingham …!
Es war nicht schwer, ihm unbemerkt auf den Fersen zu bleiben.
Er betrat das Häuschen. Und kaum hatte er den kleinen Vorflur passiert, kaum die Tür der erleuchteten Stube geöffnet, als wir beide auch schon, unterstützt durch den Lärm einer neuen Regenflut, in den Flur eindrangen …
Lord Effingham hatte für nichts anderes Augen als für die reglose Gestalt des Seminolen dort auf dem Fellteppich vor dem Glut und Licht ausstrahlenden Ofen.
Und dieser Lord Effingham hatte wieder den grauen Vollbart und die Maske vorgebunden, spielte wieder den Abenteurer, der nicht erkannt sein wollte … –
Paracolea hatte, als die Tür aufging, den Kopf gedreht.
Beide Männer verharrten nun wohl eine Minute lang in derselben Stellung …
Effingham auf der Schwelle stehend, Kopf und Oberkörper wie in ungläubigem Schreck zurückgebogen …
Uns der Seminole dort auf dem Teppich, wie eine Buddha-Statue, die Beine untergeschlagen, die Arme auf den Knien …
Wir im dunklen Flur im Hintergrunde – wir als stille Beobachter dieser merkwürdigen Szene, die sehr bald wechseln sollte.
Leben kam in Effinghams Gestalt …
„Was bedeutet das?“ rief er mit einer Stimme, die Unruhe und schnell aufflammende Wut verriet …
Und mit zwei Schritten war er dicht vor dem Manne, den er hierher hatte schaffen lassen, der nun hier frei und ungehindert mit der stoischen Ruhe seiner Rasse vor dem Ofen kauerte.
Paracolea erwiderte – und auch seine Stimme schwoll mit jedem Worte an:
„Weshalb haben Sie mich einfangen lassen wie ein wildes Tier, Mylord?! Weshalb?!“
Er hatte sich dabei langsam erhoben …
Und in der Art, wie dies geschah, lag so viel Kraft, so viel sichere Gewandtheit, gleichzeitig aber auch in dem flammenden Blick der Augen so viel verstecktes Drohen, daß Lord Roger unwillkürlich etwas zurückwich.
Vielleicht war’s aber gerade dieses Zeichen von ungewisser Furcht, das Effingham sofort wieder auszugleichen suchte und das ihn veranlaßte, den Seminolen mit jähem Griff bei der Schulter zu packen …
„Mörder …!!“ keuchte er, und das Wort gurgelte mißtönend vor ungeheurer Erregung über seine Lippen … „Mörder eines schuldlosen Weibes, Zerstörer meines Liebesglücks! Du weißt nicht, was Du angerichtet hast!“
Paracolea packte zu, schleuderte des anderen Hand so kraftvoll von seiner Schulter, daß der Lord zurücktaumelte.
Dann richtete er sich stolz auf …
„Beweise mir, Lord Effingham, daß ich ein Mörder bin …! Beweise es!“ Er sprach ganz ruhig. Er gab die Beleidigung, von Effingham mit dem nichtachtenden Du angesprochen worden zu sein, in derselben Weise zurück. Seine Haltung war stolz, fast gebieterisch. Aber in seinem bartlosen, faltenreichen Kupfergesicht lag wieder ein deutlicher Ausdruck von Schwermut und Trauer.
Effingham schien einzusehen, daß er auf diese Weise nicht zum Ziele käme. Mit einem ärgerlichen Auflachen, das nur die soeben erfahrene Demütigung bemänteln sollte, warf er sich in einen Stuhl und sagte ironisch:
„Beweisen?! – Alles könnte ich Ihnen beweisen, Paracolea … alles! Sie waren’s, der mir nachschlich, wenn ich mich mit Ellen Gybourg traf. Sie waren’s, der in seiner übergroßen Liebe für Doris, meine Gattin“ – und da änderte sich sein Ton, wurde weich und wehmütig – „sich von ihr verleiten ließen, Ellen … zu ermorden, weil Doris in blinder Eifersucht glaubte, daß intime Beziehungen zwischen mir und jener Frau beständen! – Paracolea, Sie ahnen nicht, was Sie mir angetan haben! Nie hätten Sie Doris mitteilen dürfen, daß ich mit jener Frau, die mir einst nahegestanden, heimlich zusammenkam, und dies nur deshalb, um die letzten Beweise einer wilden Vergangenheit vernichten zu können, um von Ellen die Herausgabe meines Bildes zu fordern, das ich ihr einst mit einer Widmung geschenkt hatte! Nur deshalb wagte ich diese Zusammenkünfte, suchte den blinden Haß dieses Weibes, das sich mir einst geradezu aufgedrängt und das dann nicht hatte einsehen können, wie wenig Bestand ein solches Verhältnis haben müßte, zu mildern, dahin zu bringen, daß sie … vergessen lernte …! Eine Unselige war sie, hin und her schwankend zwischen der starken, wahren Herzensneigung zu ihrem Gatten John Gybourg und den Erinnerungen an das, was zwischen ihr und mir einst gewesen …! Ein unausgeglichener Charakter, eine Frau, die allzu gern Lady Effingham werden wollte, die völlig unter dem Einfluß ihrer intriganten Mutter stand, eines Weibes, halb Abenteurerin, halb Spielerin, halb Dirne …!“
Paracoleas dunkle Augen hingen wie gebannt an des Lords nunmehr von Bart und Maske befreitem Gesicht …
Als Effingham nun wie erschöpft schwieg und mit einer trostlosen Handbewegung den Kopf sinken ließ, sagte der Seminole leise:
„Ich … habe das alles geahnt, Mylord …! Aber – Sie irren sich in einem Punkte: von mir hat Doris nie etwas erfahren über Ihre Zusammenkünfte mit Ellen Gybourg, nie – –!! Und niemals hat etwa Ihre Gattin mich verleitet, jene Frau aus dem Wege zu räumen!“
„Dann … taten Sie’s aus sich selbst heraus, Paracolea …!“
Der Seminole blieb stumm …
„Reden Sie!“ drängte Effingham hastig. „Seien Sie offen! Bisher habe ich ja keine Sorge gehabt, daß dieser unselige Mord jemals noch die Öffentlichkeit wieder beschäftigen könnte. Jetzt, wo der deutsche Detektiv hier zu allem Unglück mit Gybourg bekannt geworden ist und ich mich bereits einmischen mußte, damit Gybourg nicht als Schuldloser aufgeknüpft würde, – jetzt haben auch Sie allen Grund, Paracolea, mich als Verbündeten zu betrachten. Reden Sie! Haben Sie Ellen Gybourg ermordet, damit Ihres Lieblings Doris Glück nicht zerstört würde?“
Paracoleas Antlitz zeigte das geistesabwesende, angestrengteste Nachdenken.
Minuten blieb es still …
Bis er nun fragte – und seine Augen glitten dabei zu dem einen Fenster, als wollte er in der finsteren Nacht draußen durch die dicken Holzläden und den Vorhang hindurch irgend etwas erspähen …:
„War dieser Harst einer der Herren, die Sie mit mir zugleich hierher schaffen ließen, Mylord?“
„Er war’s … Er und sein Freund … Sie sollten verschwinden, die beiden, damit ich Zeit fände, alle Spuren, die auf Doris’ Mittäterschaft, auf Doris’ Urheberschaft hindeuteten, beseitigt wären! Denn – ich glaubte ja bisher ganz fest, daß Doris Sie zu dem Verbrechen verleitet hätte! Ich kenne Doris! Ich kenne ihre Liebe zu mir, ihre unsinnige Eifersucht! Für mich ging’s hier um meine Ehre und um mein Weib! Sie, Paracolea, wollte ich auf meiner Jacht nach Amerika bringen, und …“
Der Seminole hatte ihm durch eine Geste Schweigen geboten …
„Mylord …“ – und seine Gestalt schien zu wachsen –, „Mylord, ich schaue zurück auf Väter und Vorväter, die sämtlich Häuptlinge waren, die einst ganz Florida als ihr Eigentum betrachteten, die über zahllose Krieger geboten! Mylord, ein Nachkomme Oceolas, der untergehenden Sonne der Seminolen, lügt nicht! Ich – – habe Ellen Gybourg nicht ermordet!“
Lord Roger Edward Effingham hatte sich vorgebeugt, hatte diese feierliche Erklärung mit seltsam stierem Blick hingenommen.
Sein Gesicht wurde jetzt bleich und schlaff. Seine Lider senkten sich halb …
„Dann – dann war es doch Doris, die es tat …“ murmelte er, und wie ein Frostschauer ging’s über seine Gestalt hin. „Doch … also … Doris!! Ich … ich habe es befürchtet! Ich Unseliger!! Wenn ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, von Ellen meine Photographie zurückzuverlangen!“
Der Seminole schwieg. Nur der Zug von Schwermut und Trauer trat in seinem Antlitz noch schärfer hervor …
Effingham hielt dieses Schweigen mit Recht für eine Zustimmung …
„Auch Sie also hegen denselben Verdacht, Paracolea,“ meinte er wehmütig. „Auch Sie …! Und – – jede Minute kann das Verhängnis über Doris und gleichzeitig über uns, die wir mit ganzem Herzen an ihr hängen, hereinbrechen …! Harst ist frei!!“ Und dieser neue Gedanke trieb ihn von seinem Sitz in die Höhe. „Wo ist er, Paracolea? Dieser Mann wird die Wahrheit an den Tag bringen, wird kein Verständnis dafür haben, daß in Doris’ Charakter das halbwilde Naturkind, großgezogen in dem bunten Treiben von Goldgräberlagern, nur zu leicht wieder zum Durchbruch kommt, daß es Augenblicke gibt, wo selbst mich ihre Zügellosigkeit erschreckt …! – Wo ist Harst?“
„Draußen, Mylord, … draußen im Freien – irgendwo … Wir hörten das Motorboot nahen … Da verließ er mit seinem Freunde dieses Häuschen …“
Harald stand schon auf der Schwelle …
So lautlos hatte er sich vorwärtsbewegt, daß die beiden Männer erschrocken beim Klange seiner Stimme herumfuhren …
„Es war gut, daß ich Sie belauschen konnte,“ sagte er freundlich. „Es hat uns lange Erörterungen erspart und mir ein unverfälschtes Bild von Ihnen beiden gegeben. – Sie, Mylord, brauchen sich jedoch Ihrer Gattin wegen ebensowenig zu beunruhigen, wie Sie, Paracolea, es Ihres Lieblings und Schützlings wegen tun. Doris Lady Effingham ist nicht Ellen Gybourgs Mörderin. Und selten wohl hat ein Verbrechen einen solchen Irrgarten falschen Argwohns hervorgerufen wie dieses. Denn – nicht nur, das Sie, Mylord, zunächst den Seminolen und Ihre Gattin im Verdacht der Täterschaft hatten, – nein, auch Ihre Frau hat offenbar bisher angenommen, daß für diese Tat zwei ihr besonders nahestehende Personen in Betracht kämen: Sie, ihr Mann, ihr Gemahl, und zweitens ihr väterlicher Freund und alter Beschützer Paracolea! – So hat von Ihnen dreien immer einer den anderen beargwöhnt, hat alles getan, um den Betreffenden zu schützen, was – nicht nötig gewesen wäre, da der wahre Mörder anderswo zu suchen ist … – Bitte, Mylord, fragen Sie jetzt nichts. Verlassen Sie sofort mit dem Motorboot die Insel, nehmen Sie Paracolea mit und auch Tom und Charly, die dringend ärztlicher Behandlung bedürfen. Stellen Sie beide sich dann morgen oder besser heute vormittag elf Uhr am Tatorte ein. Dort will ich Ihnen erklären, wie das Verbrechen verübt wurde, das in seiner ganzen Art vielleicht einzig dasteht! – Gehen Sie …! Auf Wiedersehen! Und seien Sie guten Mutes, Mylord! Sie haben als Mann gekämpft – für Ehre und Weib, haben mit großer Selbstlosigkeit John Gybourg befreit … Und hier – diese Photographie ohne Kopf, die Ellen als das Bild eines Toten gekennzeichnet hat, darf ich wohl dort den Flammen übergeben …“
Er hatte das Bild aus der Tasche gezogen, trat an den Ofen heran und warf es in die Glut.
Effingham und der Seminole verließen mit tiefer Verbeugung das Häuschen. –
Wir hörten das Motorboot davonfahren …
Wir beeilten uns, nahmen eine Laterne und befreiten den alten Tobby, dem wir genügend Lebensmittel und Trinkwasser dagelassen hatten, so daß er uns nun mürrisch, aber frisch und kräftig wieder zu seinem Häuschen folgte.
Harald erklärte ihm, was es in diesem Falle zu erklären gab. Tobby blieb stumm. Ihn ärgerte es, daß es uns gelungen war, uns zu befreien und ihn dann einzusperren. Erst als Harald betonte, daß Lord Effingham ihm, dem braven, treuen Tobby, keinerlei Vorwürfe dieserhalb machen würde, taute der Alte auf und meinte bissig:
„Eine Gemeinheit war’s doch, Mister, so zwei junge Leute, wie Sie, gegen mich alten klapprigen Seebär! Na – dreißig Jahre früher, – da wäre die Geschichte Ihnen wohl übel bekommen!“
Harst stieß lachend die Tür des Häuschens auf …
Und schmunzelnd betrat ich hinter ihm das hell erleuchtete Stübchen, während old Tobby neben mir brummte: „Da gibt’s nichts zu lachen! Vor dreißig Jahren konnt’ ich einen Ochsen mit der Faust niederschlagen – auch zwei, wenn nötig!!“
Aber – diesem groben Witz folgte etwas anderes … Folgte ein heller Zuruf einer Frauenstimme …
Und hinter den tief herabreichenden Fenstervorhängen hervor erschienen Lady Doris Effingham und zwei Männer in Chauffeurtracht, alle drei aber mit langen Gummimänteln, die vor Nässe trieften …
Lady Doris war’s, die uns angerufen hatte …
„Zwingen Sie mich nicht, Mister Harst, Gewalt zu gebrauchen!!“
Und sie deutete auf ihre beiden Begleiter …
Diese glattrasierten Männer mit den typisch amerikanischen Gesichtern standen da, hielten derbe Fäuste vorgereckt, und diese Fäuste umklammerten die dunklen Kolben dunkler Repetierpistolen …
Harald lächelte, verbeugte sich …
„Mylady – ein Irrtum! Wenn Sie fürchten, daß ich mich an Ihrem Gatten vergriffen haben könnte, wenn Sie annehmen, ich hielte ihn hier jetzt gefangen und wollte ihn etwa als Mörder Ellen Gybourgs der Polizei übergeben, so beurteilen Sie die Lage falsch. Ihr Gatte und Paracolea sind im Motorboot unterwegs nach Harwich – als gute Freunde. – Ich denke, Sie werden auf der anderen Seite der Insel gelandet sein, Mylady. Wären Sie hier fünf Minuten früher erschienen, hätten Sie Ihren Gemahl noch begrüßen können. Ich bitte, daß Sie uns beide in Ihrem Boot mit hinüber aufs Festland nehmen. Vormittags elf Uhr erfolgt nämlich am Tatort die endgültige Aufklärung des Verbrechens. – Gehen wir, Mylady, damit wir wenigstens noch ein paar Stunden der Ruhe pflegen können.“ –
So verließen denn auch wir zusammen mit Lady Doris die Katzeninsel. Myladys Begleiter waren ihre beiden amerikanischen Chauffeure, die sie aus Chikago mit nach London genommen hatte.
Ihr Auto wartete unweit Harwich auf einer Seitenstraße. Um fünf Uhr früh waren wir in London und in dem Hotel der Bagaller-Street – als holländische Kaufleute, nicht mehr als Harst und Schraut. – John Gybourg empfing uns mit strahlendem Gesicht. „Ich fürchtete schon, daß Ihnen etwas zugestoßen wäre,“ meinte er, uns immer wieder die Hände drückend.
„Ja – wir haben ja auch so manches erlebt, lieber Gybourg,“ nickte Harald gähnend. „Aber das hören Sie um neun Uhr vormittags. Jetzt will ich schlafen und um neun geweckt sein. – Gute Nacht …“ – –
Und dann – dann kam die Aufklärung des Falles Gybourg …
Ich, ebensowenig John Gybourg, ahnte auch nicht im entferntesten, was sich ereignen würde, als sich morgens ein Viertel zehn Uhr Harald entfernte und nur erklärte: „Punkt elf Uhr seid Ihr drüben bei Frau Marmarty. Ich werde sie vorbereiten. Und Sie, lieber Gybourg, schützt Ihre tadellose Verkleidung vollständig vor dem Wiedererkanntwerden. Im übrigen – erschrecken Sie nicht, wenn Sie drüben auch Detektivinspektor Colley vorfinden. Er soll der erste sein, der Sie zu Ihrer endgültigen Lossprechung von diesem Verdacht beglückwünscht.“
Dann ging er – ging in der Maske des Holländers davon, und wir bekamen ihn erst eine Stunde später zu Gesicht, wie er, von einem Dienstmann mit einer großen Modellpuppe gefolgt, das Haus Nr. 15 betrat.
Daß Gybourg und ich mit äußerster Ungeduld der entscheidenden Stunde entgegensahen, wird jeder begreifen. Endlich – endlich dann … fünf Minuten vor elf …
Da fuhr auch schon vor Nr. 15 ein elegantes Auto vor, dem Lady Doris, ihr Gatte und der Seminole entstiegen.
Da kam ein zweites Auto, und dieses brachte Inspektor Colley herbei. –
Wir gingen hinüber. Ein älteres Hausmädchen öffnete uns die Flurtür. John Gybourg atmete schwer, war bleich und aufgeregt. Hier in diesen Räumen hatte er ja sein Eheglück genossen, hier fand er noch dieselben Möbel im großen Speisezimmer vor, die Ellen Marmarty als Aussteuer sich angeschafft hatte, da sie über eigenes Vermögen verfügte.
Und hier im Speisezimmer saßen links vom Tische im Halbkreis die Zeugen der denkwürdigen Enthüllung des rätselhaften Verbrechens.
Da saß auch die hagere, schlanke Frau Marmarty, ein Weib von einigem Reiz trotz ihrer Jahre …
Ein Weib mit dem scharfumrissenen Charakterkopf einer ungewöhnlichen Frau.
Das rechte Fenster neben dem Büfett stand weit offen, und vor diesem Fenster wieder stand die Modellpuppe – lebensgroß, oben mit schwarzem Stoff überzogen …
Harst lehnte am Fenster, reichte mir einen Brief …
„Sobald sich hier etwas ereignet, öffnest Du den Brief und liest ihn vor,“ sagte er kurz, verbeugte sich und verschwand …
Auch für Gybourg und mich waren Stühle bereit. Wir nahmen Platz …
Inspektor Colley rief mir nach einigen Minuten zu: „Was soll das alles, Mr. Schraut?! Für derlei Theater ist ein Beamter wie ich denn doch zu …“
Da – ein Pfiff von drüben her, vom Hotel …
Und dort stand Freund Harald im offenen Fenster unseres Wohnsalons …
Stand und holte mit dem rechten Arm nach hinten aus. Und in der rechten Hand blitzte etwas wie ein langes Messer …
Es war – das sizilianische Dolchmesser – die Mordwaffe, und von Haralds sicherer Hand geschleudert, flog sie nun wie ein Blitz über die schmale Straße hinweg …
Hier im Zimmer ein dumpfer Schlag …
In der Brust der Modellpuppe steckte der Dolch … –
Ich begriff jetzt alles, riß den Brief auf, las vor:
„Die Mörderin Ellen Gybourgs beging die Tat so, wie ich’s soeben an dem Modell vorgeführt habe. Die Mörderin ist Ellens Stiefmutter Lizzia Marmarty, dereinst Varieteekünstlerin, Kunstschützin, Messerwerferin. Sie wohnte zur Zeit des Mordes hier in diesen Hotelzimmern, die ich jetzt belegt habe. Sie mordete, um zu verheimlichen, daß sie einen großen Teil des Vermögens ihrer Tochter verspielt hatte. Weitere Einzelheiten mündlich. Harald Harst.“ –
Inspektor Colley konnte nur noch Frau Marmartys Leiche beschlagnahmen. Sie hatte sich vergiftet, als ich kaum die Hälfte des Briefes verlesen hatte – mit Cyankali … Sie starb, bevor Harald noch wieder hier drüben erschienen war. – –
Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß Paracolea jetzt Schloßverwalter bei Lord Effingham ist und daß Lady Doris uns letztens zur Taufe des Stammhalters eingeladen hat. Wir werden dann fraglos ein paar vergnügte Tage in England verleben. –
Im Anschluß an dieses Abenteuer ereignete sich dann jene seltsame Entführungsgeschichte, die ich im nächsten Band eingehend schildern will, da die Personen, die Örtlichkeit und die geheimnisvollen Begleitumstände eine so genaue Wiedergabe durchaus verdienen.
Nächster Band:
Verlagswerbung:
Wie
benehme ich mich?
Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte
Von W. v. Neuhof
Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Anmerkungen: