Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 121:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Als das ganz eigenartig-schaurig klingende Jaulen zum zweiten Male durch den dichten Dschungel irgendwoher bis zu uns in unsere Baumkrone herüber klang, sagte Harald Harst zu mir:
„Damit Du es weißt: das ist ein Tiger, der eine Liebeserklärung macht!“
Er sagte es mit gedämpfter Stimme, indem er sich etwas zu mir hinbeugte, denn wir saßen auf zwei Aststümpfen eines von Lianen umsponnenen Urwaldriesen etwa zehn Meter über dem Erdboden und konnten durch ein Loch im Blätterdach gerade auf den kahlen, sandigen Hügel inmitten der steinigen Lichtung hinabsehen, auf dem sich eine jener Tempelruinen erhob, die man in der Nähe größerer Städte überall in Indien antrifft.
„Mir sehr gleichgültig,“ meinte ich auf Haralds Worte hin etwas gereizt. „Mir wäre es lieber, Du sagtest mir, weshalb wir beide hier bereits seit Sonnenuntergang auf dem Baum hocken und uns von den verdammten Stechmücken piesacken lassen, denn trotz meiner Handschuhe und trotz des Schleiers haben ein paar der Bestien …“
„Still!“
Nur eine gehauchte Warnung.
Und – mein Ärger über Harsts Geheimniskrämerei war im Moment verraucht.
Ich starrte hinab auf die im bleichen Mondlicht daliegende Ruine.
Ich ahnte ja: etwas mußte sich ereignen!
Ein Harald Harst sitzt nicht zwecklos vier Stunden auf einem Urwaldriesen.
Und – ich sah nun auch etwas.
Aus dem Dunkel des Dschungelrandes löste sich eine Gestalt heraus.
Ein Inder – ein Bettler.
Armselig der Anzug, zerrissen, fast nur Fetzen, dazu ein ebenso zerdrückter Turban und … ein struppiger Vollbart.
Der Mann war mir fremd.
Was ich in der letzten Woche in Lahore von Eingeborenen im Straßengetriebe beachtet hatte – und es gab da manche eigenartige Erscheinung –, war in meinem Gedächtnis, das noch immer leidlich ist, haften geblieben.
Also ein Mensch, den ich zum ersten Male sah. –
Der Bettler benahm sich seltsam, gestikulierte wild mit den Armen, lachte zuweilen heiser, warf sich zu Boden, kroch eine Strecke, sprang auf, rannte ein Stück und setzte dies merkwürdige Treiben eine ganze Weile fort, wobei er die Ruine zweimal umrundete.
Und da flüsterte Harald plötzlich, während der verliebte Tiger in der Ferne noch immer jaulte:
„Tawa Barru, der Verrückte.“
Ah – nun entsann ich mich! Detektivinspektor Godwin Goddlear, dessen Gäste wir in Lahore waren, hatte diesen Tawa Barru letztens erwähnt.
Ich kam nicht mehr dazu, in meinem Gedächtnis herumzustöbern, was Godwin über den verrückten Bettler geäußert hatte.
Nein – es geschah jetzt nämlich etwas Neues.
Und zwar etwas so Furchtbares, daß ich vor Schreck beinahe von meinem Ast gefallen wäre.
Aus einem Gebüschstreifen, der bis zur Ruine reichte, schnellte ein gelbbrauner Tierkörper durch die Luft.
Ein … Tiger.
Tawa Barru stieß einen gellenden Angstschrei aus.
Schon war die Bestie über ihm, warf ihn zu Boden – in den Schatten einiger Mauerreste.
Noch ein Schrei.
Ein Röcheln.
Dann Stille. –
Ich zitterte vor Aufregung. Eisiger Schweiß rann mir über das Gesicht.
„Mein Gott!!“ keuchte ich. „Wenn wir Gewehre mithätten!“
Harsts Stimme:
„Wir könnten an der Sache nichts mehr ändern!“
Merkwürdig klang das … Gefühllos. Jedenfalls so, daß ich fragte:
„Du scheinst Tawa Barru für einen Bösewicht zu halten, der …“
„Ich halte ihn für das, was er ist, mein Alter. – Schweige jetzt.“
Auch das war auffallend.
Ich begann zu grübeln, während meine Blicke an der Stelle hingen, wo der Tiger mit seiner menschlichen Beute verschwunden war.
Zu grübeln.
Heute abend sieben Uhr, als Godwin Goddlear dienstlich abwesend war (es waren da im nahen Dorfe Sardpani zwei Amerikanerinnen unter geheimnisvollen Umständen aufgetaucht und wieder unsichtbar geworden, nachdem sie einer armen Witwe ein zweijähriges Kind abgekauft hatten) – also um sieben Uhr hatte Harald zwei Pferde satteln lassen und hatte zu Godwins Stallburschen gesagt: „Wir wollen noch spazieren reiten.“
Die Pferde standen nun eine Meile ostwärts in einer Gärtnerei, und wir selbst saßen seit halb zehn Uhr hier auf dem Riesenbaume am Rande der Dschungellichtung, die Harald so sicher aufgefunden hatte, daß ich sofort wußte: er muß schon einmal hier gewesen sein und zwar nachts, denn wir hatten bei Godwin jeder ein Schlafzimmer für sich, und am Tage war ich stets mit Harald zusammengewesen.
Mithin: er konnte nur insgeheim nachts diesen Platz besucht haben, wo er mich dann ohne jedes erklärende Wort aufgefordert hatte, den Baum zu erklettern. –
Mehr, lieber Leser, kann ich über den Beginn dieses Abenteuers jetzt noch nicht mitteilen. Nein: ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, was wir hier sollten! –
Und jetzt – jetzt war dort zwanzig Schritt vor uns im Mondenschein Tawa Barru, der Verrückte, von einem Tiger zerrissen worden.
Und jetzt … flüsterte Harald wieder, indem er mit der Hand nach einem Riesenexemplar von Leuchtkäfer griff:
„Die Bestie dürfte noch im Gebüsch stecken. Vor Tagesgrauen können wir nicht hinab.“
„Angenehme Aussicht!“
„Es ist besser, mein Alter, wir tun so, als ob wir vor Tigern Angst hätten trotz unserer tadellosen Clementpistolen, als daß wir uns diese Nacht verderben.“
Das war wieder einmal so recht eine Bemerkung a la Harst – vieldeutig wie die Antworten des Delphischen Orakels.
Immerhin: eins war mir jetzt klar. Irgend was stimmt hier nicht!
Da fügte Harald schon hinzu, immer mit gedämpfter Stimme, die durch das Blätterrauschen übertönt wurde und nur mein Ohr erreichte:
„Vorgestern erzählte Freund Godwin, daß Frau Palamoor und ihre Tochter auf der Straße in Sardpani den Verrückten so übermäßig beschenkt hätten, daß Tawa Barru ihnen bis auf den Weg nach Lahore vor Freuden nachgelaufen sei.“
„Ah – und deshalb bist Du …“
„… bin ich gestern nacht heimlich in Sardpani gewesen.“
„Also doch! – Und auch hier warst Du.“
„Selbstverständlich.“
Ich wollte noch mehr wissen … fragte …
„Genug für jetzt!“ meinte Harst, der Unberechenbare. –
Die Stunden schlichen.
Der Ast drückte. Meine Achterseite schmerzte. Der Mond verkroch sich. –
Nacht im Dschungel.
Was soll ich davon schwärmen?! Habe ich doch erst im vorigen Band genau geschildert wie wir am nächtlichen Dschungelrande entlangritten, Harald die kleine Maria im Arm, – wir beide auf Reitkamelen, die ja hier in Nordwestindien ebenso häufig als Reit- und Zugtiere wie die Pferde benutzt werden.
Nacht im Dschungel.
Der ganze Dschungel lebt.
Affenherden kreischen auf, wenn ein Panther ihrem luftigen Heim sich nähert.
Dschungelschweine ziehen lärmend zum nächsten Sumpf.
Dschungelwölfe heulen und traben mit keuchender Gier hinter dem Wildschweinrudel her, in der Hoffnung, daß eins der Borstentiere sich absondere.
Und Hunderte von Leuchtkäfern schwirren über die Lichtung, fallen den Riesenfledermäusen zum Opfer, die auch uns in lautlosem Fluge umsegeln. – –
Auch diese Nacht ging zu Ende.
Wie gerädert kletterte ich im Morgenzwielicht vom Baume.
Harald war schon vorausgeeilt.
Stand an der blutgetränkten Stelle, wo nur ein paar Fetzen Zeug Tawa Barrus Schicksal bekundeten.
Und Harst bückte sich, nahm etwas von der blutigen Erde in die Hand und sagte laut:
„Der arme Kerl wird nun von einem Tiger verdaut!“
Dann schritt er davon.
Und um sechs Uhr morgens holten wir unsere Pferde von dem Gärtner ab, stiegen auf und waren um sieben Uhr in Inspektor Goddlears schönem weißen Bungalow.
„Verdammt, wo wart Ihr denn?“ empfing Freund Godwin uns, der bereits auf der Terrasse beim Frühstück saß.
Harald nahm sein Taschentuch aus der Sportjacke, breitete es auseinander und sagte zu Godwin:
„Hier diese braunen Erdklümpchen sollen Sie mal sofort untersuchen.“
„Nanu?!“
„Es ist Erde und Blut, und ich möchte wissen, ob’s Menschenblut ist.“
Godwin nickte.
„Das ist in wenigen Minuten erledigt.“ –
Wir gingen in sein Arbeitszimmer.
Die Form der Blutkörperchen des Menschen ist völlig verschieden von der der Tiere.
„Hammelblut!“ erklärte Godwin sehr bald und lachte. „Echtes Hammelblut!“
„Das habe ich mir gedacht,“ meinte Harst sinnend. „Der Tiger war kein Tiger, sondern nur ein Junge in einem Tigerfell, und Tawa Barru glaubt nun, daß wir glauben, er sei[1] tot.“
Goddlears Gesicht war zum Malen.
„He – sind das Witze?!“ brummte er mißtrauisch.
„Nein, Tatsachen.“
Und dann erzählte Harald beim Frühstück, was wir erlebt hatten.
„Ich muß notwendig zunächst noch über Mistreß und Miß Palamoor sprechen,“ begann er, sehr behaglich seine Rostbrötchen mit tadelloser Salami belegend. „Eigentlich könnten Sie uns nochmals berichten, Godwin, was Sie von den zweifelhaften Damen wissen. Wozu soll ich mich so anstrengen?!“
Goddlear rauchte bereits die Morgenzigarre.
„Wenn’s sein muß. – Also vor zwei Tagen in aller Frühe kam der in Sardpani stationierte Polizeibeamte zu mir …“
„Ahmed Schikri heißt er,“ warf Harald ein.
„Ja … Er kam und meldete mir, daß zwei Europäerinnen in Sardpani vor vier Tagen in dem dortigen Unterkunftshause abgestiegen seien. Die beiden Damen hatten dann die Witwe des Fremdenführers Hussein Banga aufgesucht und ihr eins ihrer Kinder, das jüngste, ein niedliches Mädchen, abgekauft. Dieser Handel wurde im Dorfe sehr gegen den Willen der Witwe durch die anderen Kinder rasch bekannt und kam auch Schikri, dem Ortspolizisten, zu Ohren. Als er darauf die beiden Damen ins Verhör nehmen wollte, traf er sie nicht mehr an. Sie waren bei Nacht und Nebel aus dem Unterkunftshause verschwunden. Er hoffte, sie noch in Lahore vorzufinden. – Der Kinderhandel wird jetzt hier mit den schwersten Strafen belegt, da die Kinder zumeist als Sklaven nach Afghanistan verschachert werden. – Schikri meldete mir dann hier den Vorfall, und …“
„… ich bin vorgestern nacht in Sardpani gewesen,“ nahm nun Harald das Wort. „In passender Verkleidung forschte ich den Vorsteher des Rasthauses aus und erfuhr von ihm auch Einzelheiten über die Freigebigkeit der Damen Tawa Barru gegenüber, der sich … sonst sehr selten in Sardpani sehen ließ, lieber Godwin, sehr selten! Ausgerechnet nur seit dem Eintreffen der Palamoors hockte er am Wege vor dem Rasthaus und bettelte. Jedenfalls habe ich dann in derselben Nacht noch im Eingeborenenviertel hier nachgefragt, wo Tawa Barru wohnt, und ein anderer Bettler konnte mir Bescheid sagen. Tawa Barru ist Besitzer einer Lehmhütte, die im Parke des früheren Chodla-Bur-Palastes steht. Ich pirschte mich dort heran und kam gerade zur rechten Zeit, denn Tawa Barru machte einen nächtlichen Ausflug und betrat nach anderthalbstündigem Marsch die Tempelruine im Dschungel westlich der Gärtnerei des Persers Sadi Omar.“
„Kenne ich!“ nickte Godwin.
„Ich konnte leider nicht feststellen, was der Verrückte in der Ruine vorhatte. Ich kehrte beim Morgengrauen hierher zurück, und dann sind Schraut und ich in dieser Nacht wieder auf Tawa Barrus Fährte gewesen.“
Er wandte sich mir zu. „So, mein Alter, nun rede Du. Du hast ja die Tigerszene miterlebt.“
Ich redete.
Und Godwin Goddlear sperrte Mund und Ohren auf.
„Unglaublich – – unglaublich!!“ rief er. „Das ist ja …“
„… eine Komödie, die zunächst beweist, daß Tawa Barru davon Kenntnis hat, daß ich ihm nachgeschlichen war. Er wollte daraufhin um jeden Preis erreichen, daß ich meine Nachforschungen einstellte. Er hoffte, wenn ein Tiger ihn vor meinen Augen niederwürfe, würde ich den toten Tawa Barru in Ruhe lassen. Er hat die Komödie ganz fein inszeniert – selbst mit Hammelblut und Zeugfetzen!“
Also sprach Harald.
Und Godwin schlackerte mit dem Kopf.
„Was wird nun weiter?“
„Nun werde ich diesen Verrückten erst recht auf Herz und Nieren prüfen.“
„Wie das?“ fragte Godwin.
„Indem Schraut und ich nach alter Methode öffentlich Lahore mit dem Zuge verlassen, als wollten wir nach Kalkutta, und heimlich und verkleidet hier wieder auftauchen.“
„Sie vermuten also, daß hinter dem Kinderhandel irgend ein größeres … Problem steckt?“
„Fraglos … Und deshalb werden Sie uns heute nachmittag feierlich zum Bahnhof begleiten, sich tränenreich verabschieden und im übrigen nichts auf eigene Faust unternehmen … nichts!“
Am selben Abend gegen elf Uhr …
Wir hatten den Zug trotz unserer bis Amritsar gelösten Fahrkarten bereits auf der Station Gnidalla wieder verlassen und waren mit einem gemieteten Wagen zurück nach Mian-Mir gefahren.
Hier in dem südöstlich von Lahore gelegenen Garnisonvororte fanden wir bei Leutnant Percy Sinclair Unterkunft. Sinclair war ein Sonderling trotz seiner erst zweiundzwanzig Jahre. Er wohnte einsam und abgelegen in einem Wellblechhäuschen inmitten eines alten Gartens, dessen Bäume kaum einen Sonnenstrahl durchließen.
Percy Sinclair war übrigens eine Bekanntschaft jüngeren Datums. Wir hatten ihn bei der großen Tigerjagd kennengelernt, die der Gouverneur von Lahore vor fünf Tagen veranstaltet hatte. Inwiefern diese Jagd mit unserem vorigen Abenteuer eng zusammenhing, wird dem Leser noch gegenwärtig sein. Ein Problem wie das von dem Manne am Kreuz vergißt niemand so leicht.
Der Leutnant hauste nur mit seinem indischen Burschen in dem Wellblechhäuschen zusammen, und dieser Inder war ein genau so stiller versonnener und schweigsamer Mensch wie sein Herr.
Hier waren wir sicher. Hier konnten wir uns in aller Ruhe in zwei ärmere Inder, reisende Händler, verwandeln. Hier ließen wir unsere Koffer zurück und … waren dann gegen elf Uhr im Dorf Sardpani – in demselben Rasthause, wo die beiden Palamoors gewohnt hatten.
Wir belegten ein Zimmer. Dem Vorsteher zeigte Harald den Ausweis, den Freund Godwin ihm mitgegeben, und der Mann war nun sofort bereit, uns nach der Lehmhütte der Witwe des Fremdenführers Hussein Banga zu geleiten, versprach auch, unser Inkognito zu wahren.
Als wir das armselige, am Sardpani-Bache gelegene Hüttchen vor uns hatten, schickte Harald den Mann zurück. –
Hinter den erblindeten Fenstern des Häuschens war noch Licht.
Wir schlichen näher.
Und Harst zeigte bedeutungsvoll auf einen Nachen, der am Bachufer lag und in dem wir bei dem hellen Mondschein die Gestalt eines auf dem Bauche schlafenden Knaben von vielleicht zwölf Jahren erkannten.
Der Junge hatte einen Arm Maisstroh ins Boot geworfen und sich so ein Lager hergestellt. Neben ihm aber – das war das Überraschende – zeichnete sich von dem hellen Stroh ein gelbbraunes Bündel ab: ein zusammengerolltes Tigerfell!
Harald flüsterte: „Tawa Barrus Gehilfe – der menschliche Tiger!“
Unendlicher Spott klang durch diese Worte.
Dann deckte uns das Häuschen gegen Sicht, und durch die schmutzigen Scheiben sahen wir in dem einzigen Raume der Lehmhütte neben dem Herde auf zwei Schemeln die Witwe Husseins und … den Verrückten sitzen.
Tawa Barru freilich hatte sein Äußeres jetzt verwandelt.
Er trug bessere Kleider, war bartlos und erinnerte eigentlich in nichts mehr an jenen Bettler, den ich dort auf der Dschungellichtung zum ersten Male gesehen.
Und doch raunte Harald mir zu:
„Er ist’s! Er ist’s ganz bestimmt. Der Nachen und das Fell verraten ihn!“
Von dem Gespräch der beiden war nichts zu verstehen.
Nichts.
Die Witwe schien vor Tawa Barru jedoch entsetzliche Angst zu haben.
Wenn er heftiger gestikulierte, sprang sie empor und ließ sich dann stets mit allen Zeichen größter Scheu vor dem wütenden Besucher wieder auf den Holzschemel nieder.
Kurz – diese von uns beobachtete Szene machte ganz den Eindruck, als ob Tawa Barru die Witwe auch seinerseits vielleicht darüber zur Rede stellte, weil sie das Kind an die beiden angeblichen Damen verschachert hatte.
Während wir noch, halb verborgen hinter einem Stapel Brennholz, die weitere Entwicklung der Dinge abwarteten, ereignete sich – genau wie damals auf der Lichtung – ein sehr eigenartiger und aufregender Zwischenfall. –
Uns gegenüber lag die Tür der Hütte. Der Lichtschein der Öllampe reichte jedoch kaum bis dorthin.
Und – diese Tür flog nun plötzlich auf.
Ein Inder stürmte herein.
Irgend eine Waffe in der erhobenen Hand.
Ein Inder, den ich für Tawa Barru gehalten hätte.
Ein abgerissener bärtiger Kerl, genau so gekleidet, wie es damals der Verrückte auf der Lichtung gewesen.
Ein Kerl, der blitzschnell zuschlug.
Ebenso blitzschnell den bewußtlos Umsinkenden auffing.
In den Armen davontrug.
Hinab zum Bache.
Zum Nachen. –
Auch mein guter Harald war im ersten Moment so verblüfft gewesen, daß er staunend und starr dagestanden hatte.
Dann huschte er zur Hausecke.
Ich ihm nach.
Und gerade da stieß der Nachen vom Ufer ab, glitt in den Schatten der Bäume hinein.
In dem Nachen aber lag – das sahen wir noch! – der Knabe jetzt gefesselt auf dem Rücken.
„Was bedeutet das!“ flüsterte ich atemlos.
„Keine Ahnung!“
Und Harald log nicht!
Nein – er hatte wirklich keine Ahnung, was er von alledem halten sollte. Ich hörte es seiner Stimme an, wie grenzenlos verblüfft er war.
„Vielleicht wieder Komödie,“ meinte ich zaghaft.
„Hm … Mag sein, mein Alter.“
Er war jetzt tief in Gedanken.
Und dann: „Wir werden dem Nachen am Ufer folgen, bis wir einen anderen finden.“
Und er setzte sich in Trab.
Hinein in die Büsche ging’s … Hinaus aus dem Baumschatten … hinaus auf freies Feld … Aber auch hier Büsche und Sträucher.
Und dort vor uns, deutlich zu erkennen, der kleine Kahn.
Aufrecht stand der Zerlumpte da und ruderte sehr geschickt mit einem einzigen Ruder, bald auf Backbord, bald auf Steuerbord.
So geschickt, daß der Nachen auf dem kaum zwölf Meter breiten Bache nur so dahinschoß. –
Harald trabte neben mir, stieß hervor:
„Der Bach mündet, nachdem er den westlichen Dschungelgürtel durchquert hat, in den Chenab-Fluß. Die bewußte Lichtung liegt keine fünfhundert Schritt südlich des Baches. Wir tun besser, querfeldein vorauszueilen. Der Bach macht sehr viel Biegungen, und der Unbekannte will mit seinen beiden Gefangenen fraglos nach der Tempelruine.“
Er fiel in Schritt.
Und ich war froh, daß diese Hetze aufhörte, denn auf die Dauer hätte ich das Tempo nicht ausgehalten.
So wanderten wir denn nun durch die fruchtbare Lahore-Ebene, durch fruchtbare Felder, durch all diese Üppigkeit, die der künstlich bewässerte Boden hier hervorbringt.
Vorbei an Schöpfrädern, die von Kamelen oder Ochsen in Bewegung gesetzt wurden, vorbei an arbeitenden Indern, Männern, Weibern, Kindern, die in der kühleren Nacht sich hier betätigten – im Mondenlicht.
Bis der dunkle Rand der Dschungelwildnis näher und näher rückte.
Bis die Felder aufhörten und Gestrüpp uns aufnahm.
Eine volle Stunde waren wir so dahingeeilt, flüchtigen Schrittes.
Und dann das unheimliche Dunkel des Dschungels.
Dann bei mir die bange stumme Frage, ob Harald sich zurechtfinden würde.
Er – fand sich zurecht.
Die Ruine lag vor uns. Unsere Taschenlampen durchblitzten das Innere einer ehemaligen Tempelhalle.
Hinten war das Dach eingestürzt.
War nur Schutt und Unkraut.
Waren auch … drei Brillenschlangen, die blitzschnell davonglitten … Kobras, Giftschlangen, die ihre Hälse vor Wut blähten.
Und hier kletterten wir auf einen Mauerrest, der wie ein Pfeiler an der einen Seite neben dem scheußlich bemalten Holzstandbild des Gottes Brahma emporragte.
Hier hockten wir hinter ein paar Steinplatten, die wir rasch als Brustwehr aufgerichtet hatten.
Im Dunkeln.
Im Dunkeln.
Eine halbe Stunde.
Und dann tauchte dort, wo der Mond in die Halle durch den Eingang hineinlugte, ein Knabe auf.
Derselbe kleine Bursche aus dem Kahn.
Trat ein.
Verschwand in der Finsternis, die auch uns deckte. –
Geräusche lebten auf … Scharren – Kratzen … verstummten wieder.
Und – still und dunkel war’s wieder um uns her.
Wir warteten … warteten …
Nichts geschah mehr … nichts … Stunden vergingen.
Und abermals – zwei Uhr morgens war’s – dasselbe Scharren und Kratzen.
Der Knabe glitt ins Freie – über die Lichtung – – verschwand – mit einem Bündel im Arm.
Der nächtliche Dschungel dort draußen rauschte im Morgenwinde … die Nacht wich. Das Zwielicht kam. Wir beide sahen ein, daß wir hier nichts mehr ausrichten würden.
„Gehen wir,“ sagte Harald mißgestimmt.
Eine endlose ermüdende Wanderung drohte. Und ich entgegnete:
„Es muß hier einen Zugang zu den Kellern der Ruine geben.“
„Den suchen wir natürlich erst,“ erklärte Harst. „Den finden wir schon.“
Der freundliche Leser wird vielleicht annehmen, daß wir sehr lange suchen mußten.
Nein – Harald hatte seine besondere, sehr einfache Methode. Da Tawa Barru offenbar sehr häufig hierher kam, mußte es auf dem Fliesenboden der Halle in dem umherliegenden Geröll etwas wie einen Pfad geben.
Und – der war auch deutlich zu erkennen, der lief hinter eine Anzahl Mauertrümmer, wo unter Laub und Steinen … eine Falltür aus Holz angebracht war.
Harald hatte die Tür ohne Mühe aufgeklappt. Wir stiegen eine Steintreppe hinab. Unsere Taschenlampen beleuchten leere Gewölbe.
Nur in dem einen Kellerraum ein Lager von Decken und Maisstroh, daneben … zwei elegante Reisekoffer, und an der Wand an Bügeln hängend … vier Herrenanzüge, die Beinkleider sauber in Hosenstrecker eingeklemmt.
„Was ist das nun?!“ entfuhr es mir unwillkürlich.
Harald schwieg.
Bückte sich.
Die Schlüssel steckten in den Koffern.
Und wir schauten uns den Inhalt an.
Fanden Wäsche, Oberhemden – alles sehr elegant.
Fanden eine Kamera für Filme, fanden allerlei anderes, was einst fraglos einem reichen amerikanischen Touristen gehört hatte.
Silberne Toilettensachen, silberne Büchschen, – dazu Bücher.
Fanden nichts, was auf den Namen des Besitzers hingedeutet hätte.
Nur: ein Amerikaner mußte der Mann sein oder … gewesen sein! Vielleicht war er tot, ermordet worden.
Vielleicht!
All die Firmenstempel in den Gegenständen waren amerikanische … Und doch auch nicht der allergeringste Wisch Papier, der auch nur angedeutet hätte, was dieser reiche Tourist gewesen sein mochte.
Selbst die Taschen der an der Wand hängenden Anzüge durchsuchte Harald.
Zuletzt tat er’s, ganz zuletzt.
Und da – entdeckte er etwas, eine Kleinigkeit, ein Nichts für den gewöhnlichen Sterblichen, für ihn ein Lichtschein!!
Nicht für mich leider!
Denn als er mir nun die gestanzte Metallmarke hinhielt, da schüttelte ich den Kopf.
„Was ist das?!“
Er lächelte.
„Ein Wegweiser.“
Ich besah mir die runde Marke genauer.
„Hotel Imperial“ stand auf der einen Seite.
Darunter:
Amritsar
Darunter:
S. Nr. 54.
Und auf der anderen Seite allerhand indische Buchstaben, dazu das Bild eines Tigers und einer Brillenschlange. –
Harald tat die Marke wieder in die Hosentasche zurück.
„Gehen wir!“ –
Hundemüde wanderte ich neben ihm dahin.
So müde, daß ich nicht einmal ärgerlich war, weil er meine Fragen überhörte.
Und halb taumelnd vor Erschöpfung kam ich in Sinclairs Wellblechhäuschen an.
Sank aufs Bett, schlief ein.
Sechs Uhr morgens war’s da. – –
Um zwei Uhr nachmittags erwachte ich.
Leutnant Percy Sinclair stand in der kleidsamen Uniform des 2. indischen Kamelreiterkorps vor mir.
„Ausgeschlafen, Mr. Schraut?“
Ich gähnte eine ganze Tonleiter.
„Ja – ausgeschlafen! – Wo ist Harst?“
„In Amritsar.“
„Aha – die Marke!“
Sinclair wunderte sich. „Marke?“
„Hm – Sie wissen ja nichts davon.“
„Nein … Kommen Sie zum Frühstück, wenn Sie gebadet und sich angezogen haben.“
Er war nicht neugierig. Auch beim Frühstück fragte er nichts. Er hatte bereits fünf Stunden Dienst hinter sich. Wir unterhielten uns über … Briefmarken. Sinclair war leidenschaftlicher Sammler, so einer, der die Sache wissenschaftlich betreibt.
Und daher meinte er denn auch, als wir uns schon Zigarren angezündet hatten:
„Handelt es sich um eine Briefmarke, deretwegen Harst nach der Nachbarstadt fuhr?“
„Nein.“ – Und nun erzählte ich ihm unser nächtliches Abenteuer, denn er war ja in die Vorgeschichte eingeweiht.
„Die Marke ist eine Safe-Marke, Mr. Schraut,“ sagte er erklärend, als ich sie ihm beschrieben hatte. „Nur wenige Hotels händigen ihren Gästen für deponierte Wertsachen solche Ausweise aus. Das Imperial in Amritsar gehört zu diesen Hotels.“
So, nun wußte ich’s ja: Harst wollte in Amritsar feststellen, was es mit der Marke auf sich hätte. –
Ich trug noch meine Verkleidung genau wie er, als er gegen sieben Uhr abends sich wieder einfand.
Sinclair war jetzt im Offizierkasino – zum Mittagessen.
„Na – wie heißt denn der Herr, der im Imperial etwas deponiert hat?“ fragte ich den Freund mit pfiffigem Lächeln.
„Wenn Du es rätst, mein Alter, schenke ich Dir ein Königreich!“
Er strahlte.
Er war bei Laune.
„Behalte Dein Königreich! Ich bin nicht Geheimrat!“ meinte ich achselzuckend.
„Also, lieber Alter, der Mann heißt …“
Kunstpause.
„… heißt … Allan Mac Palamoor!!“
„Donnerwetter!! Palamoor – genau wie die Weiber – Pardon – die Damen.“
„Es sind Damen.“
„So?! Sklavenhändlerinnen sind …“
„Stopp – stopp! Die Geschichte ist doch etwas anders!“
Er setzte sich neben mich auf die kleine Veranda.
Rauchte seine Mirakulum. Berühmte Marke, die nur für ihn bei einer Dresdner Firma hergestellt wird. Der Leser weiß das längst.
Blies Rauchringe, wundervolle.
Fügte hinzu:
„Wir werden nun in dieser Nacht der Hütte Tawa Barrus einen Besuch abstatten.“ –
Um halb neun kehrte Sinclair zurück. Wir saßen gerade beim Abendbrot.
„Godwin Goddlear läßt grüßen,“ sagte er und drückte uns die Hand. „Er kommt sofort her. Er hat mich im Kasino angerufen. In der Kinderentführung ist Neues geschehen.“
Godwin traf zehn Minuten später ein. Er war sichtlich erregt. Er rief schon von weitem:
„Ich habe herausgebracht, wer die Damen sind, die Amerikanerinnen.“
„Was Sie sagen!!“ meinte Harald. „Das ist doch nichts Neues! Die Damen heißen: Mistreß Alix Palamoor und Mistreß Ethel Palamoor, also zwei Frauen, und nicht, wie sie im Rasthause angaben, eine Frau und ein Fräulein.“
Godwin zog ein langes Gesicht. „Hm – woher wissen Sie das, Harst?“
„Ich weiß es durch das Fremdenbuch des Hotels Imperial in Amritsar. Dort haben die Damen vor vierzehn Tagen gewohnt – Längere Zeit, einen Monat fast.“
„Ach so! – Und …“
„… und sie sind aus New York, sind Mutter und Tochter.“
„Allerdings.“
„Die ältere ist die Witwe des Senators Palamoor, die jüngere die Gattin des Ingenieurs Allan Mac Palamoor.“
„Teufel – alles wissen Sie!“
„Oh – noch mehr, teurer Godwin.“
„So?!“
„Ja … Zum Beispiel weiß ich, daß die Witwe Palamoor sehr reich ist und nicht nötig hat, Kinder zu kaufen.“
„Stimmt!“
„Mithin muß die Geschichte wohl ein Häkchen haben.“
„Freilich.“
Godwin Goddlear war köstlich. Er hatte gehofft, Harald mit Neuem überfallen zu können. Nun war’s nichts damit. Nun ärgerte er sich.
„Lieber Godwin,“ erklärte Harald, „machen Sie freundlichst ein anderes Gesicht. Morgen vormittag löse ich Ihnen das Rätsel des Falles Palamoor.“
„Wird mir angenehm sein. Nur das Kind möchte ich mit dabei haben!“
„Sollen Sie … – Also nun noch ein paar Fragen, Herr Detektivinspektor von Lahore. Erstens: Wie lange ist Tawa Barru hier schon ansässig?“
„Hm – höchstens ein Jahr. Er kam aus dem Norden. Er ist vorschriftsmäßig bei der Polizei angemeldet und hat …“
„Danke. – Und wie lange wohnt die Witwe des Fremdenführers Hussein schon im Dorfe Sardpani?“
„Auch etwa ein Jahr.“
„Woher kam sie?“
„Weiß ich nicht, Harst. Wird sich aber leicht feststellen lassen.“
„Nicht nötig. – Etwa ein Jahr also Tawa Barru in Lahore und die Witwe ebenso lange in Sardpani.“
„Hm – was folgern Sie daraus?“
„Nichts besonderes. Oder besser, das was jeder daraus folgern würde: es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Verrückten und der Witwe, und diesen Zusammenhang haben Schraut und ich in der verflossenen Nacht … gesehen!“
Nun erfuhr auch Goddlear unsere nächtlichen Erlebnisse.
Nun sperrte er abermals Mund und Ohren auf.
„Safe-Marke. Allan Palamoor?! War im Imperial abgestiegen – –?“
„Ja – vor einem Jahr … Und hat noch dort ein Paket deponiert. Hat gleich damals vor einem Jahr für den Safe für ein Jahr vorausbezahlt, weil er eine Reise nach Afghanistan unternehmen wollte.“
„Unglaublich! Dann hat Tawa Barru ihn ermordet!“
„Vielleicht.“
„Vielleicht?! Ich bitte Sie: die Koffer besagen doch allerlei! Dazu die Anzüge!!“
„Ja – die so hübsch sauber aufgehängt sind!!“
Ich horchte … horchte!
Harald hatte diesen letzten Satz so merkwürdig betont.
Und er fügte lächelnd hinzu:
„Tawa Barru ist sehr ordnungsliebend. Er ermordet Allan Mac Palamoor, und damit die Anzüge im Koffer nicht Knüllen erhalten, hängt er sie über Bügel und spannt die Beinkleider ein!“
Godwin grunzte ärgerlich:
„Sie veralbern uns, Harst!“
„Durchaus nicht. Ich mache nur meine verehrten Freunde auf kleine Eigentümlichkeiten dieses Problems aufmerksam.“
Dann erhob er sich. „Nun beginnt Schrauts und meine Nachtarbeit … Wiedersehen, die Herren.“
Händedrücke, und wir Inder zogen ab.
Ahnungslos, daß wir dem sicheren Tode entgegen gingen.
Wir verließen den Garten … diesen uralten Garten mit den riesigen Bäumen.
Wir wanderten nach Norden die Prachtstraße entlang, Lahore entgegen. Diese Straße beweist am besten, was alles die Engländer in Indien geschaffen haben und wie gut sie das Schöne mit dem … Militärischen zu verknüpfen verstehen. Eine elegante Straße, und doch nur eine Heerstraße.
Truppen liegen in Mian-Mir in Garnison, eine schwere Menge. Indien ist ein unruhiges Kolonialreich geworden. Die Inder streben nach voller Selbständigkeit. Und da tut es gut, einige Geschütze, hundert Maschinengewehre und sonstige Besänftigungsmittel bereit zu haben.
Hierüber sprach Harald mit mir, als wir uns bei rasch zunehmender Dunkelheit Lahore näherten.
Hierüber …
Nicht über das Problem Tawa Barru!
Nein – davon war nicht die Rede. Harald Harst – alter Witz – behält seine geistigen Trümpfe bis zuletzt in der Hand. –
Dann das alte Viertel der einstigen Residenz des Mogulkaisers, dieser wundervollen Stadt, deren dreizehn Tore und Backsteinmauern noch gut erhalten sind und jedem imponieren müssen. –
Das alte Viertel, das älteste.
Und inmitten dieses Gewirres von Gassen, Gäßchen, Plätzen, Trümmerstätten und phantastischen Tempelbauten der Park des ehemaligen Chodla-Bur-Palastes[2], wo die Weiber des erhabenen Kaisers, des Großmoguls, ihr einförmiges Haremsdasein lebten.
Von all der Pracht sind nur noch der große Teich im Park und die Ruinen des Palastes übriggeblieben. –
Wir beide schlichen durch dunkle Gartenwege dem Teiche zu …
Unheimliche Stille ringsum.
Unheimlich, weil an den Toren des Parkes Warnungstafeln hängen, durch die jeder neugierige Tourist auf die Schlangengefahr aufmerksam gemacht wird.
Der Park von Chodla-Bur ist das Eldorado der kriechenden Natterbrut. Hier haben sie eine Freistatt. Hier darf nur die Behörde alljährlich ein Mal das Otterngezücht dezimieren, damit es nicht überhand nimmt.
Hier fangen die indischen Gaukler ihre Kobras, die sie nach der Pfeife tanzen lassen. Hier fangen arme Teufel die giftigen Brillenschlangen und präparieren die Köpfe, verkaufen sie an die Touristen.
Und hier schlichen wir nun dahin – im Dunkeln.
Harst voraus mit langem Stock, dauernd den Boden leise beklopfend, um das Gewürm zu verscheuchen.
Ich schwitzte vor … – seien wir ehrlich – vor Angst.
Ich fürchtete, daß mir jeden Moment zwei Giftzähne ins Bein fahren könnten.
Und dann – ade, Max Schraut – – ade! Kobragift ist nicht Kreuzotterngift. –
Endlich vor uns ein hellerer Schimmer.
Endlich!
Der Teich – der berühmte Teil mit der Marmoreinfassung und dem Turm dicht am Ufer, von dessen weit über das Wasser hinausragender Altane die mißliebigen Weiber des großen Mogulkaisers gefesselt in den Teich geworfen wurden, wo noch heute dieselben Krokodile leben sollen, die damals sich an Haremsdamenfleisch sättigen durften.
Krokodile sollen ja sehr alt werden. Wie alt, weiß noch heute niemand.
Jedenfalls befinden sich in dem Teiche Krokodile. Man sagt zwölf an der Zahl. Die Bestien werden regelmäßig gefüttert. Hin und wieder klettert eins an Land und wandert bis in die nächsten Gassen.
Echt indisch. –
Und in dieser Umgebung hatte Tawa Barru, der angeblich harmlose Idiot, der Bettler, sein Heim aufgeschlagen.
Eine ärmliche Lehmhütte stand da unweit des berüchtigten Turmes auf einem Marmorpostament, auf dem wohl einst ein Pavillon stolz seine Schnitzereien dem Teiche zugekehrt hatte.
Jetzt erhob sich dort auf dem anderthalb Meter hohen Marmorquadrat die aus luftgetrockneten Lehmziegeln hergestellte Hütte Tawa Barrus.
Und dorthin lenkten wir nun, in der Rechten die entsicherte Clement, in der Linken die Taschenlampe, unsere lautlosen Schritte.
Huschten die Marmorstufen hinan und fanden die Brettertür halb offen.
Horchten hinein in das Dunkel.
Ekler Gestank drang uns entgegen.
Die Luft eines Raumes, in dem ein schmieriger Kerl haust, dem die Lumpen am schweißigen Leib faulen.
Nichts regte sich.
Harst trat ein.
Ein Lichtkegel fuhr über die Wände hin.
Nur ein Gelaß – leer. –
Wir suchten und suchten. Wir suchten jeden Winkel ab. Wir wollten irgend etwas Belastendes finden.
Und fanden nichts.
Harald schien trotzdem nicht enttäuscht.
Sagte leise, als er die Sache aufgab:
„Da – sieh!“
Und hielt mir die Hand hin, die flache Hand.
Darauf lag ein … neuer Patentkragenknopf, ein eleganter goldener Knopf mit Perlmuttplatte, oben mit einem tadellosen Saphir.
„Besinnst Du Dich, mein Alter?“
„Ja. Im Koffer lag ein ebensolcher Knopf in einem Schächtelchen.“
„Dieser lag dort auf dem Brett über dem eisernen Herd in einem zerschlagenen Topf. Man muß genau suchen.“
„Mithin?“
„Mithin, lieber Alter, ist Tawa Barru der Mörder Allan Mac Palamoors! Ein Mörder besonderer Art. Ein Mord wie dieser ist nicht häufig.“
„Weshalb?“
„Gehen wir!“ Und er knipste seine Lampe aus.
Wir gingen.
Denselben unheimlichen Weg zurück.
Wieder im Dunkeln, denn Tawa Barru oder dessen Gehilfe hätte uns bemerken können, wenn sie plötzlich heimgekehrt wären.
Und hier nun, als wir so den Park wiederum durchquerten und wiederum Haralds langer Stock den Grasboden beklopfte, – hier fragte ich mich von neuem: Wer war der Mann, der Tawa Barru in der Hütte der Witwe niederschlug, der auch den Knaben schon gefesselt hatte und der dann doch ohne Zweifel von beiden im Nachen überwältigt worden war, da der Knabe ja nachher in der Dschungelruine erschien?!
Hier fragte ich also dasselbe, was ich auch mit Harald schon besprochen hatte, worauf er mir nur geantwortet, er wüßte es nicht!
Jetzt kam mir eine ganz besondere Vermutung: Wenn der Mann Allan Mac Palamoor gewesen?! Wenn der Ingenieur doch noch lebte?!
Und wie ich diesen Gedanken angestrengt weiter prüfte, und wie ich so hinter Harald drein schritt, da …
… Da geschah’s …
Da wurde mir plötzlich von hinten eine Schlinge über den Kopf geworfen.
Mit einem Ruck zugezogen.
Ich schlug rückwärts zu Boden.
Bekam einen Hieb auf den Turban mit einem Sandsack.
Verlor das Bewußtsein für Minuten.
Und – kam zu mir – genau in dem Moment, als ein Kerl, ein Inder mit einem Zeugfetzen vor dem Gesicht im Mondenschein Harald über die Brüstung des Altans des berüchtigten Turmes hob.
Den gefesselten, geknebelten Harald.
Auch mir steckte ein dreckiger Zeugfetzen im Munde. Auch ich war zum Bündel zusammengeschnürt.
Aber Angst, Wut und Glück halfen mir, den Knebel im selben Augenblick herauszustoßen.
Eine Eingebung war’s, die mich auch sofort dem maskierten Halunken zurufen ließ:
„Hüte Dich! Safenummer 54 wird Dich an den Galgen bringen!“
Harald schwebte über dem Teiche.
Und im Teiche lauerten die gepanzerten Bestien!
Da – – drehte der Mann sich um, legte Harald auf die breite Brüstung.
Und – ermutigt durch diesen Erfolg, rief ich nochmals:
„Inspektor Goddlear weiß alles! Hüte Dich!“
Da – – sprang der Kerl wortlos die Treppe hinab.
Seine leisen Schritte verklangen. Und wir beide waren allein auf dem schauerlichen Altan. –
Harst ließ sich sehr geschickt von der Brüstung herabfallen, rollte neben mich.
„Schnell, ich knote Dir die Stricke auf.“
Und er tat’s.
Wir waren frei.
Jagten durch den Park, den breiten Hauptweg entlang.
Nahmen am Bahnhof ein Auto.
Ich wollte Harst etwas fragen.
„Still – – nachher!“
Und fuhren zu Percy Sinclair. Ließen das Auto warten. Verwandelten uns in Harald und Schraut.
Seit dem Weltkrieg, seit dem Beginn der großen indischen Freiheitsbewegung hat man in dem Kaiserreich Indien mancherlei Neuerungen eingeführt. Hierzu gehört auch die Anmeldepflicht der Hotels, Pensionen und Rasthäuser. Binnen sechs Stunden muß jeder neue Gast der Polizei gemeldet sein.
Der Zweck ist leicht zu durchschauen: Beaufsichtigung des Verkehrs – also Angst vor den Freiheitsgelüsten eines Volkes, dessen geistige Elite es mit der jedes europäischen Landes aufnehmen kann. –
Unser Auto führte uns zu Godwin Goddlear.
Ihn trommelten wir heraus … Und er kam mit zum Polizeigebäude, wo wir die Listen der Hotels und so weiter durchsahen.
Die eigenhändig geschriebenen Meldezettel schaute sich Harald besonders scharf an.
Godwin wollte wissen, was das alles bedeutete.
Harst sagte nur: „Still – – nachher!“
Und – wir fuhren mit dem Inspektor zum Hotel Trafalgar am Bahnhof.
Es war noch geöffnet.
Der Nachtportier, ein Inder, mußte mit ins Büro. – Harald fragte:
„Bei Euch wohnt seit heute früh ein Amerikaner namens Charley Hoyster, aus New York, Tourist? Auf Nummer 24?“
„Jawohl, Sahib.“
„War der Herr abends ausgegangen?“
„Ja. Er ist erst vor einer halben Stunde zurückgekehrt.“
„Gut. Wir werden ihn auf seinem Zimmer besuchen.“
„Halt, Sahib. Der Herr stand im Lesezimmer, als Ihr kamt. Und als wir hier eintraten, sah ich ihn ohne Hut das Hotel verlassen.“
Harst zuckte merklich zusammen, rief dann:
„Godwin, sofort ein paar Beamte – und dann in den Schlangenpark … schnell.“
Und im Auto fragte er: „Gibt es in den Ruinen des Chodla-Bur Kellergelasse, die noch zugänglich sind? Gibt es dort etwa auch geheime Kellerräume?“
„Da müssen wir den alten Polizeiwachtmeister Ahmed uns holen. Der kennt in Lahore jeden Winkel. Der wird sich freuen, mir helfen zu können. Er ist seit zwei Jahren pensioniert und wohnt am Makabar-Basar dicht am Chodla-Bur.“
Harst gab dem Schofför sofort Befehl zum Basar zu fahren.
Und erklärte nun ebenso atemlos:
„Als ich in Amritsar war, habe ich auch den amerikanischen Konsul Mr. Woodknorx aufgesucht, der wußte mir zu berichten, daß es im Hause Palamoor in New York einen Riesenskandal vor etwa einem Jahre gegeben habe. Der Gatte der Tochter des Senators, ein entfernter Verwandter der Palamoors mit demselben Namen, eben der Ingenieur Allan Mac Palamoor sei von dem Senator aus dem Hause gejagt worden und habe dann aus Rache sein eigenes Kind der Mutter entführt. Der Senator starb über all den Aufregungen. Frau Palamoor Witwe und Frau Ethel hätten das Kind bisher umsonst gesucht, fügte der Konsul noch hinzu. – Und da, mein lieber Godwin, da ging mir ein neues Licht auf.“
Goddlear hüstelte. „Hm – inwiefern?“
„Nun, das Kind hat der schurkische Gatte Ethel Palamoors hier nach Indien gebracht und es bei der Witwe Husseins als deren Kind erziehen lassen.“
„Himmel – das wäre …“
„Und er selbst, der Alan Mac Palamoor, ist nicht nach Afghanistan gereist, sondern hat sich hier in Lahore in der Maske des Tawa Barru aufgehalten.“
„Unmöglich!“
„Bitte – die Anzüge in den Kellern der Dschungelruine ließen mich schon in voriger Nacht auf denselben Gedanken kommen. Tawa Barru hat Palamoor ermordet, indem er, ein und dieselbe Person, den anderen verschwinden ließ. Palamoor verschwand, und der Verrückte tauchte hier auf. Der Herr Ingenieur hat in New York nicht nur Unterschlagungen, sondern auch Wechselfälschungen begangen und hat zudem noch … – Ah, da sind wir … Godwin, hinaus – Klopfen Sie den Wachtmeister munter.“ –
Der alte Ahmed erschien.
„Gewiß, es gibt im Chodla-Bur geheime Gelasse, und besonders ausgedehnte geheime Räume liegen unter dem Marmorquadrat, auf dem jetzt Tawa Barrus Hütte steht. Der Zugang zu diesen Räumen liegt in dem Sockel.“
So erklärte Ahmed.
Und wir vier nun zu Fuß bis zum nahen Chodla-Bur.
Harst sagte, während wir dahinstürmten:
„Der Gast im Trafalgar-Hotel, der vor uns ohne Hut auskniff, war Allan Mac Palamoor, der sich gestern nacht durch den Jungen aus der Dschungelruine einen Anzug und Wäsche holen ließ.“
„Teufel – es klärt sich!“ keuchte Godwin.
„Ja – und Palamoor hat gestern der Witwe Husseins deshalb so heftige Vorwürfe gemacht, weil sie das Kind den beiden Damen herausgegeben hatte.“
„Und der Mann, der Tawa Barru niederschlug?“ fragte ich nicht minder keuchend als Goddlear.
„Im Imperial in Amritsar wohnte mit den Damen Palamoor ein New Yorker Detektiv namens Warb zusammen. Dieser Warb vermutete mit Recht, daß Allan Palamoor oder besser Tawa Barru die Damen und das Kind in seine Gewalt gebracht habe und wollte den „Verrückten“ zwingen.“
Da schwieg Harald. Wir waren am Chodla-Bur-Teiche angelangt.
Ahmed lief voran die Treppe zum Marmorsockel empor.
Und in Tawa Barrus Hütte riß er die zerfetzten Bastteppiche bei Seite und enthüllte so eine in den Marmor eingefügte runde Eisenplatte mit einem Handgriff.
Zog die Platte hoch, und der Lichtschein unserer Laternen fiel auf eine endlose Marmortreppe, die steil abwärtsführte.
„Godwin, Ahmed, Ihr paßt hier oben auf,“ befahl Harald kurz.
Wir beide die Treppe hinab.
Auf den Stufen lag Staub, und in dieser Staubschicht zeigten sich die Abdrücke von Sandalen und … Frauenschuhen …
Die Treppe mündete in eine Art Höhlentempel.
Götzenreliefs, Skulpturen an den Steinwänden und manches andere deutete auf die frühere Bestimmung dieses Raumes hin.
Er war leer.
Wir waren jedoch noch keine halbe Minute hier unten, als wir irgendwoher Stimmen vernahmen.
Harst zog mich rasch unter die Treppe, deren unteres Ende hohl lag.
Und dann blitzte an der linken Wand Lichtschimmer auf.
Ein Reliefbild dort, den Gott Indra darstellend, drehte sich, ward zur Tür, durch die jetzt … zwei Damen eintraten, hinter ihnen … der zerlumpte Tawa Barru und ein indischer Knabe mit verschmitztem Gesicht.
Die beiden Damen Palamoor hielten sich eng umschlungen, weinten, schluchzten …
Das rohe Lachen des verkleideten Allan Palamoor übertönte die wehen Laute.
„Seid froh, daß ich Euch freigebe!“ rief er höhnisch. „Wenn dieser verdammte deutsche Schnüffler nicht dazugekommen wäre, hättet Ihr gehörig bezahlen müssen! Ohne Lösegeld wäret Ihr niemals wieder an die Oberwelt gelangt! – Verflucht – laßt das Heulen! Das Balg und den Detektiv holen wir nachher! Und – wehe Euch, wenn Ihr verratet, was Tawa Barru in Wirklichkeit ist! Ich würde Euch zu finden wissen! – Vorwärts – die Treppe empor! Was zögert Ihr?!“
„Mein Kind – – mein Kind will ich mitnehmen!“ schluchzte Ethel Palamoor. „Du wirst es nicht freilassen, Du wirst es nicht wie uns aus Angst vor Harst.“
Und da – – sprang dieser Harst vor.
Sprang auf Palamoor zu, der vor Schreck rückwärts auf die Marmortreppe fiel.
Hielt ihm die Clement vor die Stirn, rief Goddlears Namen in den Treppenschacht hinauf, während ich den kräftigen Jungen niederrang.
Inspektor Goddlear kam – und mit ihm einige Beamte, die sich inzwischen oben eingefunden hatten. –
Wir drangen nun in die anderen Räume ein.
Wir entdeckten den Kollegen Warb, der gefesselt war, entdeckten jedoch nirgends eine Spur der kleinen Ethel, bis Harald dann nochmals die Räume absuchte und mit des alten Ahmed Hilfe eine zweite Geheimtür herausfand.
Gleich darauf schloß Frau Palamoor weinend ihr Mädelchen in ihre Arme. –
Hiermit hat der erste Teil der Geschichte von Tawa Barru, dem Verrückten, ein Ende.
Was dann folgte, ist eigentlich ein Problem für sich.
Es ist die geheimnisvolle Ermordung der alten Frau Alix Palamoor.
Daß die im allgemeinen harmlosen fleißigen Bienen, übrigens ein nützliches Insekt, welches in fast allen Weltgegenden zu finden ist, jemals schon in einem Kriminalfall eine bedeutsame Rolle gespielt haben, ist nicht bekannt geworden.
Bei dem zunächst so völlig unerklärlichen Mord an Frau Alix Palamoor halfen sie allein, den Täter zu entdecken. Es sprachen freilich noch andere geringfügige Umstände mit, die der merkwürdigen Tatsache, daß Honigsammler einmal ein Verbrechen aufdeckten, keinerlei Abbruch tun. –
Ich will nun die Schilderung des Rätsels der Bienen mit einigen kurzen Bemerkungen über die beteiligten Personen und die Örtlichkeiten beginnen. Allan Mac Palamoor war in das Polizeigefängnis von Lahore eingeliefert worden. Den Überfall auf uns beide im Schlangenpark kam nun noch zu seinen anderen früheren Schandtaten hinzu. Der Konsul der Vereinigten Staaten in Lahore hatte sofort das Auslieferungsverfahren eingeleitet.
Die beiden Damen Palamoor und die kleine Ethel wohnten im Trafalgar-Hotel, wo sie sich von den Schrecken der letzten Tage nun erst einmal erholen konnten.
Im selben Hotel war auch der Detektiv Warb abgestiegen, übrigens ein sehr intelligenter und liebenswürdiger Mensch.
Wir beide waren als Gäste bei Leutnant Sinclair geblieben, obwohl Freund Goddlear hiergegen sehr ärgerlich protestiert hatte. Er verlangte, wir sollten wieder in seinen Bungalow zurückkehren.
Der ersten Vernehmung Allan Mac Palamoors durch Goddlear wohnten wir als Zeugen und Sachverständige bei.
Wir sahen den Ingenieur damals zum ersten Male ohne jede Verkleidung und waren überrascht, daß er ein ebenso energisches wie sympathisches Gesicht hatte. Nur in seinen Augen lauerte im Hintergrund ein Ausdruck versteckter Tücke, der jedoch wenig auffiel.
Er benahm sich sehr bescheiden und gab alles zu: daß er die Damen und das Kind in eine Falle gelockt hätte, daß er und sein kleiner Gehilfe den Detektiv Warb im Nachen überwältigt und gleichfalls eingekerkert hätten und daß er beabsichtigt habe, aus seiner Schwiegermutter ein Lösegeld herauszupressen.
Als Harst ihn dann aber fragte, weshalb er dieses eine Jahr hier in Lahore mit so viel Geschick den blödsinnigen Tawa Barru gespielt hätte, da wußte er zunächst nichts zu antworten.
Auch ich merkte: er suchte nach einer Ausrede, – er wollte lügen!
Mithin hatte seine Anwesenheit in Lahore noch einen besonderen Grund gehabt, den wir bisher nicht hatten feststellen können.
Und mit dieser Lücke in dem Verhalten Allan Mac Palamoors begann gleichsam der zweite Abschnitt dieses ganzen Abenteuers.
Ich spreche von einer Lücke. Und das war es auch. Was er selbst dann vorbrachte, war Schwindel. Er behauptete, die Liebe zu seinem Kinde habe ihn veranlaßt, in Lahore sich unerkannt niederzulassen, damit er stets in dessen Nähe sei.
Man denke: derselbe Mann, der sein Kind der Mutter raubt und es auf abenteuerlichste Weise bis nach Indien schleppt, – dieser Mann will plötzlich aus Vaterliebe in Lahore geblieben sein!!
Harald erklärte denn auch:
„Sie lügen! – Die Wahrheit werde ich schon herausbringen!“ – –
Nun war der zweite Tag nach jener Nacht, als Allan Mac Palamoor uns den Krokodilen überliefern wollte.
Und an diesem Tage gegen sieben Uhr früh saßen wir mit Leutnant Sinclair beim Frühstück auf der kleinen Veranda.
Unterhielten uns über Indien, indische Geheimnisse.
Sinclair erzählte eigene Erlebnisse als Beweis für die Fähigkeit indischer Fakire, im kataleptischen Schlaf als zweite Persönlichkeit an anderen Orten auftauchen zu können.
Harald lächelte skeptisch.
Sehr skeptisch sogar. Sagte: „Ihre Erlebnisse, lieber Sinclair, sind nie von berufener Seite nachgeprüft worden. Ich behaupte, daß ich den … Schwindel aufgedeckt hätte.“
Der Leutnant schien nachzusinnen.
Erwiderte dann: „Ich werde einen Fakir für heute nachmittag herbestellen, Mr. Harst.“
„Gut, einverstanden. Und wenn der Mann mir klipp und klar den Beweis …“
Und da – – geschah’s …
Da ereignete sich der Auftakt zu dem Morde an Frau Alix Palamoor.
Harald schwieg plötzlich.
Sagte leise:
„Mistreß Palamoor kommt.“
Wir schauten die schmale Allee bis zur Gartenpforte hinab …
Sahen Frau Palamoor in demselben schlichten grauen Kleide, in demselben Strohhütchen mit Schleier, das sie gestern getragen hatte.
Langsam wandelte sie auf das Wellblechhäuschen zu.
Gesenkten Kopfes …
Wie in tiefem Nachdenken.
Der Schleier war bis zum Kinn hinabgezogen.
Und dann blieb sie mit einem Male stehen.
Fuhr mit der rechten Hand zum Herzen …
Stieß einen leisen Schrei aus, taumelte und sank seitwärts in die Büsche.
Das heißt: sie schien in die Büsche zu fallen. Wir sahen sie nicht mehr.
Sprangen auf, rannten die Allee entlang …
Und – – fanden nichts … nichts.
Selbst Harst nicht.
Nicht einmal Spuren! Nicht einen einzigen Eindruck eines Fußes in den dichten Büschen.
Nichts … nichts.
„Merkwürdig!“ sagte Harald, lehnte sich an den uralten riesigen Godwa-Baum, der gerade an der Stelle stand, wo Frau Palamoor unseren Blicken entschwunden und hob den Kopf, schaute in das Astgewirr empor.
Und Sinclairs und meine Augen suchten nun gleichfalls dort im grünen Blätterdach.
So kam’s, daß wir drei gleichzeitig die Menge von hin und her fliegenden Bienen bemerkten, die offenbar etwa vier Meter über dem Boden in einem großen Loche des gewaltigen Stammes ihr Heim aufgeschlagen hatten.
„Nehmen Sie etwa an, Mr. Harst, daß Frau Alix Palamoor[3] dort nach oben in die Krone geklettert ist?“ fragte der Leutnant in seiner bescheidenen Art.
„Wenn nicht, – wo blieb sie?!“ entgegnete Harald ernst.
Und Sinclair meinte nun: „Eine Dame von fünfzig Jahren kommt doch nicht an dem glatten Stamm eines so dicken Baumes empor.“
Schweigen – ratloses Schweigen.
Dann Harst:
„Suchen wir nochmals! Im übrigen haben Sie recht, lieber Sinclair: auch ich könnte an diesem Stamm nicht ohne Leiter emporklimmen, es sei denn, daß ich hier diesen Auswuchs als Fußstütze und das Bienenloch als Halt für die Hände benützte, – und letzteres würde mir sehr schlecht bekommen, sehr schlecht sogar, weil die kleinen Honigsammler meine Hand übel durch Stiche zurichten dürften.“
„Allerdings!“ nickte Sinclair.
Und – wir suchten.
Wir sprachen nochmals darüber, daß Frau Palamoor unmöglich umgekehrt sein könne, denn wir hätten sie sehen müssen. Und die Büsche am Wege waren so dicht, daß eine Dame sich kaum hineindrängen konnte. Außerdem fehlten ja auch Spuren!!
Ein Rätsel war’s, ein vollständiges Rätsel.
„Merkwürdig!“ sagte Harald nochmals. Und dieses Merkwürdig klang versonnen und seltsam zerstreut.
Wir gingen bis zur Gartenpforte.
Und da sahen wir etwas.
Sahen den einsamen Weg, der zu Sinclairs abgelegenem Heim führte, einen Motorradler dahergesaust kommen.
Hinter ihm her zog eine Fahne dichten Straßenstaubes.
Und – vor uns dann das Geknatter des Rades – das ersterbende Geknatter.
Der Polizist hielt.
Erkannte uns.
Rief:
„Frau Palamoor ist vor einer Viertelstunde im Park des Trafalgar-Hotels durch einen Dolchstoß ins Herz ermordet worden.“
Der Mann keuchte.
Fügte hinzu:
„Inspektor Goddlear bittet Sie, sofort zum Hotel zu fahren. Er schickt ein Auto.“
Das Auto tauchte bereits auf.
Und dann sausten wir beide von Mian-Mir gen Lahore.
Im Auto – im lachenden Sonnenschein.
An die Stätte des Todes.
Kamen genau um acht Uhr vor dem Hotel an.
Wurden erwartet.
Ein Beamter führte uns in den bereits abgesperrten Park.
Durch einen Park, der all den Zauber tropischer Pracht in sich vereinigte.
Und hinter einer jener rotblühenden Hecken des Sostri-Strauches lag Frau Alix Palamoor auf dem gelben Kies – auf dem Rücken.
Tot.
In den Augen, im Gesicht einen Ausdruck namenlosen Entsetzens. –
Goddlear drückt uns die Hand.
Erklärt:
„Frau Palamoor promenierte hier allein. Dort drüben auf dem Tennisplatz spielten zwei Damen. Sie hörten einen überlauten Hilferuf, liefen um das Ende der Hecke und sahen Frau Palamoor wie jetzt am Boden liegen. Sie atmete noch, röchelte und stieß mit letzter Kraft hervor:
„Ich … ich selbst … habe …“
Dann sank ihr Kopf zurück – und sie war verschieden. – So berichteten die beiden Damen. – Ich habe alles ringsum absuchen lassen. Ich war ja kaum acht Minuten nach dem Morde bereits hier. Nichts habe ich gefunden, keine Waffe, keine Spuren … – unbegreiflich.“ –
Und nun begann Haralds Arbeit.
Voller Andacht schauten die Kriminalbeamten zu.
Goddlear und ich standen gleichfalls als Zeugen Harstscher Gründlichkeit dabei. –
Eine volle Stunde lang gab Harald sich die redlichste Mühe, irgend etwas zu entdecken.
Alles umsonst.
Alles.
Achselzuckend kam er auf uns zu.
„Vorläufig negativ, lieber Goddlear.“
Der Inspektor seufzte. „Ja – und ich habe auch schon das Hotelpersonal und die Gäste kurz befragt. Niemand sah einen verdächtigen Menschen. – Raubmord ist es nicht, denn Frau Palamoor hält ja noch immer in der erstarrten Linken das goldene Handtäschchen und …“
Da warf Harald ein:
„Wo ist Frau Ethel Palamoor und die kleine Ethel?“
„Bei der Gattin des amerikanischen Konsuls. Sie gingen um halb acht hin. Die Damen wollten eine Wagenpartie nach den Schleusen von Tesdougar unternehmen.“
„So hat also Frau Ethel noch keine Ahnung von dem Unheil?“
„Ich habe dem Wagen der Damen einen Motorradler nachgeschickt.“ –
Harald blieb zerstreut und einsilbig, selbst dann noch, als wir unten im Lesesaal des Hotels die Rückkehr Frau Ethels erwarteten.
Goddlear und wir beide saßen in den bequemen Rohrsesseln in einer Ecke und waren der Mittelpunkt der Neugier der Hotelgäste.
Es hatte sich rasch herumgesprochen, daß der berühmte deutsche Detektiv Harald Harst hier im Hotel anwesend sei:
Nun machte sich hier im Lesesaal eine Fülle bemerkbar, die für gewöhnlich um diese Vormittagsstunde hier nicht herrschen dürfte.
Unzählige Augen starrten Harst mit schlecht verhehlter Sensationslust an, und einige Amerikanerinnen waren kühn genug, ihre Kameras auf uns zu richten.
Und hier nun – hier inmitten eines langgestreckten hellen Raumes ereignete sich das zweite Unfaßbare.
Plötzlich fiel ein Schuß, und die Kugel streifte Haralds linkes Ohrläppchen.
Wer den Schuß abgegeben hatte, ließ sich nicht feststellen.
Der Knall hatte merkwürdig dumpf geklungen, und nur der Umstand, daß Harst blitzschnell zur Seite sprang und daß hinter ihm der große Stehspiegel durch die Kugel in Scherben ging, löste jene Schreie der Angst aus, die der allgemeinen Flucht aus dem Saale wie Schreckensfanfaren voraustönten.
So kam es denn, daß der Saal in wenigen Sekunden geleert war und daß Goddlear nichts mehr ausrichtete, als er zur Tür lief und die Anwesenden zurückhalten wollte.
Harald hatte sich merkwürdigerweise gelassen wieder niedergesetzt und drückte sein Taschentuch gegen das blutende Ohr.
Ich erholte mich langsam von dem Schreck.
Harst lächelte glücklich.
„Lieber Alter, die Waffe war in einer photographischen Kamera verborgen. Daher der dumpfe Knall. Immerhin – ein Attentat! – Wer ist der Verüber?“
Er wurde ernst.
„Allan Mac Palamoor und sein kleiner Spießgeselle sitzen im Gefängnis. Es könnte sehr wohl möglich sein, daß Allan hier noch gute Freunde hat, die ihn rächen, die also mir … eins auswischen wollen. Richten wir uns danach.“
Und da – erschien Frau Ethel Palamoor, die Tochter der Ermordeten.
Ich habe es nie für meine Aufgabe angesehen, den Leser durch die Schilderung des Seelenzustandes beteiligter Personen zu langweilen, falls eben dieser Seelenzustand nicht mit zur Sache gehörte, das heißt, wenn diese Schilderung nicht zur Klärung des inneren Zusammenhangs unbedingt notwendig war.
So will ich denn auch hier jetzt nur andeuten, daß Frau Ethel, eine sehr hübsche schlanke Blondine, trotz allen Schmerzes sich sehr tapfer zeigte und dann etwa folgendes erzählte, was auf uns geradezu wie eine Spukgeschichte wirkte. –
Sie und die Frau Konsul hatten mit der kleinen Ethel am Ufer des Stausees von Tesdougar gestanden.
Und da kam plötzlich ein Kahn über den See gerudert.
In dem Kahne aber befand sich ganz allein Frau Alix Palamoor – im grauen Kleid, Strohhütchen, Schleier.
Mit einem Male, als Frau Ethel starr vor Staunen dem Nachen entgegenschaute, ließ Frau Alix das Ruder fallen, stieß einen Schrei aus und sank lang in den Nachen, den die Strömung dann wieder hinter den nächsten Schleusendamm entführte.
Kaum geschehen, nahte auch schon der von Goddlear abgeschickte Motorfahrer mit der Unglücksbotschaft.
So erzählte Frau Ethel, und fügte hinzu:
„Ich würde an eine Sinnestäuschung glauben, Mister Harst, wenn nicht Frau Breetford genau dasselbe geschaut hätte, ebenso mein Töchterchen. Und jetzt, wo meine Mutter tot ist, behaupte ich allen Ernstes: es war ihr Geist, den wir sahen! Es war … ihr Abschied von uns, der Abschied … einer Toten!“
Harald schwieg dazu. –
Und eine halbe Stunde später saßen wir beide allein unweit der Mordstelle auf einer Bank und besprachen die Ereignisse dieses Morgens auf unsere Art.
Goddlear verhörte jetzt im Hotel die gesamten Gäste nochmals, um herauszubringen, ob nicht jemand wüßte, wer den Schuß aus der Kamera abgefeuert hätte. –
Die Tote war bereits weggeschafft worden.
Harald begann nun:
„Zunächst wollen wir eins feststellen: Frau Alix Palamoor wurde in einem weißen Kleide ermordet!“
„Ja … Also war sie anders gekleidet, als wir sie in Sinclairs Garten und wie die Damen sie am Stausee sahen.“
„Was wichtig ist, mein Alter.“ Er nahm eine Zigarette … rauchte …
„Zweitens, lieber Alter: es ist den Zeitpunkten nach sehr wohl möglich, daß ein und dieselbe Person bei Sinclair und am Stausee die … Geistererscheinung gemimt hat, zuerst am Stausee, und dann mag die betreffende Person per Rad nach Mian-Mir gefahren sein.“
„Ja – das könnte allerdings zutreffen.“
„Es trifft zu. Und dieselbe Person hat schließlich Frau Palamoor ermordet. Mit dem Morde begann sie ihre Untaten.“
„Auch das wäre zeitlich möglich.“
„Ja, durchaus möglich … – Wie können wir diese Theorie nun nachprüfen?“
Ich überlegte …
„Hm – sehr schwer,“ meinte ich.
„Gar nicht schwer. – Goddlear wird uns für ein paar Stunden entschuldigen.“
Und zu meinem Erstaunen fuhren wir nun per Auto nach Mian-Mir zurück.
Harst spielte nun den großen Schweiger.
Rauchte fünf Mirakulum.
Sehr hastig.
Ebenso hastig arbeiteten wohl auch seine Gedanken. –
Und in Sinclairs Häuschen wurden aus Harst und Schraut zwei indische Händler mit großen Bündeln auf dem Rücken.
So schritten wir durch die Tageshitze den Weg entlang, der von Mian-Mir durch die Felder zum Stausee läuft.
Harst fragte die auf den Äckern beschäftigten Männer und Frauen aus.
Fragte, ob etwa um halb acht heute ein Radler hier vorübergekommen sei.
Erhielt verschiedentlich bejahende Antwort, stets dieselbe:
„Ja – ein bärtiger Inder ist auf einem Rade gen Mian-Mir dahingesaust.“ –
Wir machten bald kehrt.
„Da hast Du den Beweis, mein Alter,“ sagte Harst sehr ernst: „Es stimmt alles, was ich vermutete: Der Mörder war doppelt verkleidet, nach der Tat radelt er nach dem Stausee, spielt dort den Geist der Toten, radelt nach Mian-Mir, zeigt sich uns, verschwindet auf unerklärliche Art und … sucht mich nachher durch einen Schuß zu töten.“
Ich bleibe stumm. Ich gebe Harald recht, es wird so gewesen sein!
Und er fügt hinzu:
„Prüfen wir, was Frau Palamoors letzte Worte bedeutet haben können. Diese Worte lauteten:
Ich … ich selbst … habe …
– Und das könnte ja auf einen Selbstmord hindeuten. Doch – Selbstmord ist ausgeschlossen. Vollständig! – Mithin – was sollten die Worte besagen?“
Ich grüble … grüble …
Die Sonne meint es heute wieder besonders gut.
Wir wandern bei fünfunddreißig Grad Hitze dahin.
Und dabei ist es schwer, logisch zu denken.
Wenigstens mir, der ich allzuviel Speck auf dem Körper habe.
Schließlich sagt Harald:
„Quäle Dich nicht allzu sehr ab, Max Schraut. Diese letzten Worte Frau Alix Palamoors können nur eins bedeuten …“
… Kunstpause …
„… nämlich, daß die Sterbende darauf hinweisen wollte, daß ihr Mörder oder ihre Mörderin … ähnlich wie sie selbst gekleidet war!“
„Hm …“
„Bitte – die Worte sollten vielleicht vervollständigt lauten:
Ich … ich selbst … habe mich scheinbar ermordet.
Und damit wollte die Sterbende zum Ausdruck bringen: Der Mörder sah so aus, als ob ich selbst es wäre!“
„Ich gebe zu: Das hat Hand und Fuß, wie ich nun einräumen muß.“
„Wir wissen von dem Mörder, den ich für einen Mann halte, also folgendes:
Erstens: Er ist ein recht gewandter Verkleidungskünstler.
Zweitens: Er hat den Mord vorbereitet, denn das graue Kleid Frau Palamoors hing heute in ihrem Schranke im Hotelzimmer, wie wir festgestellt haben. Mithin hat der Täter sich ein ähnliches Kleid, Hut und Schleier beschafft.
Drittens: Der Mörder hat ein Fahrrad zur Verfügung, ist Radler.
Viertens: Er hat auch die Verkleidung als Inder bereit gehabt – und noch eine weitere, in der er den Lesesaal betrat und auf mich schoß.
Fünftens: Der Mann ist kühn, schlau, gewandt und kein alltäglicher Verbrecher.
Sechstens: Er muß zu Allan Mac Palamoor in engsten Beziehungen stehen.
Wir wissen von ihm also eine ganze Menge. Und doch – so gut wie nichts. Denn all das soeben Aufgezählte bringt uns keinen Schritt weiter.“
Ich schwieg.
Die Hitze lastete mir wie flüssiges Blei auf dem Schädel.
Und ich war froh, als wir nun in den Garten Sinclairs einbogen, als Harst vor dem dicken Baume, in dessen Loch die Bienen da oben so fleißig hin und her flogen, stehen blieb und leise murmelte – wie zu sich selbst:
„Er muß auf den Baum geklettert sein – muß! Und auch ich werde es tun!“
Wir holten eine Leiter.
Harald stieg in die Krone hinauf. Und – – kam wieder herab – mit sechs Bienenstichen.
Sagte ärgerlich: „Da oben war niemand! Ich hätte Spuren an der Rinde bemerken müssen! Ich habe doch Augen!!“
Und wir gingen und verwandelten uns wieder in Harst und Schraut.
Fuhren wieder nach Lahore – in das Polizeigebäude – zu Godwin Goddlear.
Und dem trug Harst nun dasselbe über den Mörder vor wie mir.
Bis der lange trockene Inspektor sagte:
„Wir werden uns Allan Mac Palamoor vorführen lassen und ihn fragen, ob er hier gute Freunde hatte.“
Palamoor trat ein.
Verbeugte sich.
„Da – nehmen Sie Platz,“ knurrte Goddlear. „So – –! Ich habe Ihnen eine Trauerbotschaft zu übermitteln: Ihre Schwiegermutter ist heute morgen erstochen worden!“
Palamoor lächelte.
„Sie machen Witze oder wollen mich irgendwie aufs Glatteis führen, Mister Goddlear.“
Da sagte Harald denn:
„Es ist so. Frau Alix ist ermordet worden. Der Täter ist bereits verhaftet und hat erklärt, er sei ein guter Freund von Ihnen.“
Allan lächelte stärker.
„Mr. Harst, ich hätte Sie für gewandter gehalten. – Ich habe hier nur einen Freund gehabt, und der sitzt wie ich jetzt in einer Zelle.“
Harald änderte die Taktik.
„Nun gut, Mr. Palamoor: Den Mörder haben wir noch nicht! Aber … Sie müssen ihn kennen, denn der Mann hat mich zu töten gesucht, mich, der Sie entlarvt hat! – Rache also.“
Da wurden Allans Züge seltsam starr.
„Ist es Tatsache, Mr. Harst?“ fragte er zögernd.
„Ja …“
„Oh – das Schicksal hat die Frau nicht verdient, obwohl sie wirklich ihre sehr schlechten Seiten hatte.“
„Welche?“
„Sie hat mich nie leiden mögen und hat mir auch Ethels Mitgift vorenthalten. Mit dem Gelde hätte ich all meine Verfehlungen ungeschehen machen können und wäre ein anderer Mensch geworden. Es – – sollte nicht sein.“
„Sie bedauern Ihre Schwiegermutter?“
„Ja … – Ich bin nicht so roh und brutal, wie Sie denken. Ich hätte Sie und Ihren Freund niemals in den Teich geworfen – niemals! Ich wollte Sie beide nur einschüchtern.“
„Lassen wir das … – Ahnen Sie, wer der Mörder ist?“
„Wie sollte ich wohl?! – Nein, ich kann kaum daran glauben, daß irgend ein Mensch ein Interesse an dem Tode meiner Schwiegermutter gehabt haben könnte … Höchstens ich selbst!“
Er seufzte leise.
„Bitte bestellen Sie meiner Frau, Mr. Harst, daß ich ihr mein aufrichtiges Beileid übermitteln lasse und daß ich es sehr schmerzlich empfinde, daß ich in diesen schweren Stunden tiefsten Herzeleides nicht bei ihr sein kann.“ –
Und ich – ich, Max Schraut, saß mit dabei, hörte all das mit an und prüfte immer wieder das Gesicht dieses Menschen, der … mir ein Rätsel war.
Heuchelte er?! Hatte er doch noch einen Rest warmen Gefühls für seine Frau?! –
Harald versprach ihm, Frau Ethel alles wörtlich zu bestellen.
Dann wurde Allan in seine Zelle zurückgebracht. –
Goddlear hob die Schultern.
„Ein Mißerfolg also!“
„Ja leider,“ meinte Harald. „Nun können wir zusehen, daß wir auf Grund meiner fünf Angaben über den Mörder den Betreffenden herausfinden – fünf Angaben, denn die sechste fällt nunmehr unter den Tisch.“
„Ihre Angaben sind … für die Katz!“ knurrte Goddlear. „Damit locken Sie keine Maus hinter dem Ofen hervor!“
„Glauben Sie?!“ lächelte Harald belustigt. „Wie wär’s zum Beispiel, wenn Sie alle Fahrradbesitzer hier in Lahore listenmäßig feststellen ließen, wenn Sie nachforschten, ob hier oder im benachbarten Amritsar ein graues Kleid, ein Damenstrohhut und ein Schleier – ein weißer Schleier an einen Mann in letzter Zeit verkauft worden sind!“
„Hm – soll geschehen, Harst. – Noch etwas?“
„Hm … Eigentlich müßten Sie allein darauf kommen.“
„Ich?! Ich bin kein Gehirnjongleur!“
„Aber Detektivinspektor! – Prüfen Sie mal meine fünf Merkmale des Mörders. Wo kann man da noch einen Hebel ansetzen?“
Goddlear dachte nach, und ich tat dasselbe.
Wir … versagten.
Schwiegen einträchtiglich.
Harald erbarmte sich. „Der Schuß wurde aus einer Kamera abgefeuert – der Schuß, der den Spiegel zerschmetterte. – Der Mörder kann auch die Kamera erst neuerdings, vielleicht erst gestern gekauft haben.“
„Ah so! – Wird alles sofort erledigt werden. Ich habe da eine Menge zuverlässiger Hilfskräfte an der Hand. Abends gebe ich Ihnen schon Bescheid, Harst.“
„Gut. Dann also abends auf Wiedersehen.“
Und wir beide fuhren nach Mian-Mir hinaus.
Sinclair war noch nicht vom Dienst zurück.
Sein treuer Bursche Ali, ein prächtiger Kerl, eine richtige schlanke Kavalleristengestalt, deckte für uns den Frühstückstisch für das zweite Frühstück.
Ein Uhr mittags war es jetzt.
Ali wurde von Harald in ein Gespräch verwickelt.
Ob Ali schon wüßte, was in Lahore geschehen?
„Ja, Sahib. – Leutnant Sinclair hat mir alles erzählt.“
Ali zögerte sichtlich, fügte hinzu:
„Ich … ich war doch gestern in Lahore, abends, und habe für den Sahib Leutnant eine neue weiße Jacke gekauft. Wir haben dieselbe Figur, und was dem Sahib Sinclair paßt, paßt auch mir. Als ich die in dem Basar von Mefra Dahli anprobierte, kaufte ein blondbärtiger Europäer … ein graues Damenkleid.“
Harst ruckte hoch.
„Ja, Sahib Harst,“ fuhr Ali fort, „als Sahib Sinclair heute den Anzug der verschwundenen Gestalt beschrieb, als er das graue Kleid erwähnte, da … da fiel mir’s ein, daß der Blondbärtige bei Mefra Dahli …“
„Schon gut, schon gut!“ Harald war wie ausgewechselt. „Kannst Du Näheres über den Mann angeben?“
„Nein, Sahib. Er war elegant angezogen und hatte gelbe Handschuhe an.“
„Handschuhe?!“
„Ja – gelbe Lederhandschuhe.“
Ali lächelte verlegen.
„Und – und dann noch eine Kleinigkeit, Sahib Harst.“
„Los doch!!“
„Ja – ich kenne doch hier unseren Garten ganz genau. Jeden Baum, jeden Strauch.“
„Na – und?!“
„Ja – es hat noch nie hier eine Bienenwohnung in unserem Garten gegeben. Ich meine, der Bienenschwarm in dem hohlen Baum kann sich dort erst ganz kürzlich eingenistet haben.“
„Mag sein. – Der Baum ist hohl?“
„Vollständig, Sahib. Ich wollte mal durch das Loch hineinkriechen, aber ich sah noch zur rechten Zeit, daß unten eine große Kobra wohnte.“
„Wie – in dem Baume – eine Brillenschlange? Hat der Baum denn unten noch ein Loch?“
„Nein, Sahib, nicht das kleinste Löchlein.“
„Wie soll denn eine Kobra dort hausen?! Sie müßte doch verhungern.“
„Ah – daran habe ich noch nicht gedacht, Sahib Harst. Und doch – es war eine Kobra dort unten.“
„Schon mancher hat etwas zu sehen geglaubt, was nicht da war. – Geh’ und hole mir Eislimonade, Ali.“
Harald war wieder Moltke geworden – großer Schweiger.
Harald lehnte im Sessel und starrte in den Garten hinab.
Über uns schwang der riesige Windfächer hin und her.
Ich wurde müde.
Mein Klappliegestuhl war so bequem.
Ich schlief ein.
Erwachte.
Sah nach der Uhr.
Fünf war’s … fünf Uhr nachmittags! Und am Tische stand Ali und lächelte diskret.
„Wo ist Harst?“ fragte ich gähnend.
„Weiß nicht, Sahib Schraut. Sahib Harst hat geschlafen und ging um drei Uhr in den Garten hinab.“
„Mit Hut?“
„Nein.“
„Und um drei … zwei Stunden im Garten?!“
Ich sprang auf.
Angst, Unruhe packten mich.
Ich trat an den Rand der Veranda, rief laut Haralds Namen.
Der Garten war nicht so groß, daß Harst mich nicht hören mußte.
Keine Antwort.
Nochmals rief ich.
Und sagte dann zu Ali: „Wir müssen Harst suchen!“
Auch Ali war voller Angst.
Wir eilten durch die verwirrten Wege.
Riefen – brüllten.
Suchten … suchten …
Und – wurden immer aufgeregter, bis … das Unglaubliche geschah.
Wir hatten uns dem Häuschen wieder genähert.
Und Ali war’s, der nun den Vermißten bemerkte.
Auf der Veranda – in meinem Faulenzer – eine Zigarette rauchend.
Ich rannte hin – wütend, und doch froh, daß er wieder da war.
„Teufel, – wo hast Du gesteckt?!“
Er lachte vergnügt.
Er strahlte.
Seine prächtigen klugen grauen Augen zwinkerten lustig.
„Ich … steckte bei den Bienen, mein lieber Alter,“ flüsterte er.
Und laut – für Ali berechnet:
„Oh – ich war draußen in den Feldern. – – Ali, brühe uns Tee auf. Fix, mein Sohn!“
Ich setzte mich neben ihn.
„Bei den Bienen warst Du? Was heißt das?!“
„Das heißt: ich habe die Leiter geholt, bin wieder auf den Baum geklettert, habe die Leiter nach oben gezogen und habe die fleißigen Tierchen beobachtet.“
Er kniff das linke Auge vielsagend zu.
„Dja – und da stellte ich einen Topf fest.“
„Was – einen Topf?! Wo denn?“
„In dem hohlen Baum – in dem Loche – aber so tief hängt der Topf, daß man ihn nur von einem bestimmten Ast bemerken kann.“
Ich wurde kratzbürstig.
„Was soll diese Topfgeschichte? Du … Du veralberst mich!“
„Oh – ich war nie so ernst wie jetzt! Der Topf ist dort aufgehängt, damit der in ihm enthaltene Honig die Bienen anlockt. Bienen riechen Honig auf Hunderte von Metern. Mithin fliegen sie nun in Menge dem Lockmittel zu, und es macht den Eindruck, als ob das Baumloch nur eine Bienenwohnung enthielte, und niemand wird sich so leicht hineinwagen.“
„Na – und?!“
„Und Ali sagte doch, daß er bisher an dem Baume keinen besonders starken Bienenflug beobachtet habe. Das Honigtöpfchen hängt also erst kurze Zeit dort.“
„Na – und?!“
„Es muß zu einem bestimmten Zweck dort angebracht worden sein.“
Da – – begriff ich.
Rief leise: „In dem Baume steckt noch etwas, das die Bienen gleichsam schützen sollen!“
„Ja … – Wenn wir unseren Tee getrunken haben, wird Ali uns eine Schwefelschnur geben und wir werden die Bienen ausräuchern, den Topf entfernen und – zur Kobra hinabkriechen!“
Jetzt war auch ich Feuer und Flamme für den Plan.
Jetzt drängte ich Harald immer wieder zur Eile. –
Und gegen halb sechs dann zogen wir und Ali zum dicken alten Baumriesen.
Die Sache klappte tadellos.
Der Honigtopf wurde abseits auf den Weg gestellt, damit die Bienen sich dort weiter laben könnten.
Und Harst schob nun den Oberkörper in das Loch hinein und leuchtete in den Baumschacht hinab.
Rief mir zu, der ich unter ihm auf der Leiter stand:
„Keine Kobra! Aber – etwas anderes.“
Und mit einem Male war er im dem Loche verschwunden.
Ich … hinterher.
Ich merkte, daß hier innen an den Stamm große Nägel als Fuß- und Handstützen eingeschlagen waren.
Jetzt wieder Haralds Stimme – von unten, wo seine Taschenlampe leuchtete:
„Eine Entdeckung, die der Sache ein besonderes Ansehen gibt!! Eine Treppe! Eine Holztreppe! Und noch neu.“
Ich hatte diese Treppe nun ebenfalls erreicht.
Und dann – kam das Verblüffende … das nie Geahnte …
Dann …
Dann …
Ja – der Leser könnte glauben, jetzt wollte ich mir hier einen Scherz leisten.
Und doch: als wir am Ende der Treppe angelangt waren, als wir die blendend weißen Kegel unserer Taschenlampen hin und her gleiten ließen, da sahen wir, daß wir … in einem eleganten Herrenzimmer uns befanden.
In einem unterirdischen, fensterlosen Raume, der völlig als Herrenzimmer möbliert war. –
Und hier an dieser Stelle meiner Schilderung will ich den lieben verehrten Leser nun an das vorige Abenteuer erinnern.
Will darauf hinweisen, daß das heutige Lahore, das auch bereits sechshundert Jahre alt ist, auf den Trümmern und verschütteten Ruinen der ehemaligen Residenz des Großmoguls, des Mongolenkaisers, erbaut ist.
Diese Fundamente, Keller und überbauten Ruinen des ersten[4] Lahore sind stellenweise noch zugänglich.
Und hier nun – hier befanden wir uns eben in einem Raume, der zu einem früheren Gebäude der sehr ausgedehnten Residenz des Großmoguls gehörte.
Hier hatte irgend jemand sich ein feudales Herrenzimmer eingerichtet.
Hier gab es hinter einem Wandschirm ein Bett, einen Marmortisch.
Hier gab es einen Schreibtisch – vieles andere.
Kurz: eine feudale Höhle war das hier! –
Aber Freund Harst war mißtrauisch.
Und er rieb ein Zündholz an und setzte die Karbidstehlampe in Brand. Sie war in Ordnung.
Wir suchen nach Brillenschlangen.
Fanden keine.
Fanden in dem mit kostbaren Teppichen behängten Gemäuer hinter einem dicken Afghan-Teppich eine … breite Türöffnung.
Und – traten nun eine lange Wanderung an.
Durch … das tote Lahore.
Nicht die erste Wanderung dieser Art.
Kamen schließlich durch einen endlosen Gang, der zwei Türme der Befestigungen verbunden hatte, bis an eine verschüttete Tür.
Entdeckten, daß diese Tür doch noch einen Durchschlupf bot.
Und – waren in denselben Kellern des großen Indra-Tempels, wo wir vor einer Woche die kleine Maria im Käfig aufgefunden hatten.
Waren also in den Schatzkammern des Priesters des Indra-Tempels! –
Im vorigen Band habe ich über diese Schatzkammern mancherlei berichtet. Heute will ich nur erwähnen, daß in indischen Tempeln Werte an Kleinodien aufgehäuft sind, die jeder Phantasie spotten. –
Wir kehrten zurück – auf demselben düsteren Wege – auf denselben Pfaden, die wohl nur dem geheimnisvollen Bewohner des eleganten Herrenzimmers bekannt waren.
Und dieser Mann – das war uns längst klar! – mußte derselbe sein, der Frau Alix Palamoor ermordet hatte.
Der Mörder – der unbekannte Mörder!
Und – dessen verborgenes feudales Heim durchsuchten wir jetzt mit aller Gründlichkeit.
So gründlich, daß Harsts nie versagender Spürsinn in dem Steinplattenbelag des Fußbodens vier Platten fand, die sich leicht herausheben ließen.
In diesem Versteck lagen zwei kleine Ledersäcke, gefüllt … mit Edelsteinen, die natürlich aus den Schatzkammern des Indra-Tempels gestohlen waren.
Edelsteine, die der Dieb mit Sachkenntnis ausgewählt hatte. –
Wir nahmen die Säcke an uns.
Suchten weiter.
Nirgends etwas, das über den Bewohner Aufschluß gegeben hätte.
Und dann – es war inzwischen halb zehn Uhr abends geworden – erhielten wir Besuch: Sinclair und Goddlear!
Aber Harald schickte sie wieder nach oben.
„Macht, daß Ihr verschwindet! Wir zwei genügen, den Mörder festzunehmen. Wir bleiben hier.“
Nur die Säcke händigte er Goddlear aus, und brummend zog der Inspektor ab, nachdem er noch rasch berichtet hatte, daß ein blondbärtiger Europäer gestern abend all die Einkäufe erledigt habe, die Harst vermutet hatte – selbst ein Fahrrad! –
Wir waren wieder allein.
Wir löschten die Lampe aus.
Wir sahen uns nach einem Versteck um.
Da war ein Bücherschrank, daneben eine durch einen Teppich verhängte Mauernische.
Zwei Stühle stellten wir in die Nische, setzten uns.
Warteten … warteten. –
Wer dieses nervenaufreibende Warten auf irgend ein aufregendes Ereignis, das aller Voraussicht nach eintreten muß, nicht kennt, ahnt nicht im entferntesten, wie bald die überreizten Ohren einem allerlei Geräusche vortäuschen.
Und – wir beide saßen so volle sechs Stunden.
Glaubten soundso oft, daß … der Mörder jetzt nahe.
Glaubten ihn zu hören, wie er herbeischlich.
Wie er ein Zündholz anrieb.
Und – bildeten uns das alles doch nur ein.
Bis genau um drei Viertel vier Uhr morgens … eine kurze gellende Lache ertönte.
Von der Holztreppe her – durch den hohlen Baum herabdröhnend, daß wir hochschnellten.
Da stürmte Harald zur Treppe, sprang die Stufen empor.
Und – – fand oben den Zettel.
Den Zettel – mit verstellter Bleistiftschrift:
Idioten, Ihr hättet den Honignapf wieder in den Baum hängen sollen! Nun könnt ihr lange warten!
Der Mörder.
So – so endete unsere Wache in dem feudalen Herrenzimmer, dessen Einrichtung übrigens stückweise zusammengestohlen worden war, wie später herauskam.
So – gingen wir nun enttäuscht, verärgert die Allee entlang, pochten Sinclair aus dem Schlaf.
Der Morgen graute bereits.
Ein böser Morgen für uns … Denn Inspektor Goddlear hatte bei Sinclair genächtigt und machte Harald nun Vorwürfe, war völlig aus dem Häuschen.
„Hätten wir den Garten umstellt, wie ich es wollte, dann wäre uns der Kerl nicht entwischt! Aber natürlich – natürlich!! Harst mußte ja wieder seinen Kopf für sich haben!!“
Und in diesem Tone ging’s fünf Minuten lang.
Harst schwieg.
Aber – ich wurde schließlich grob! Und gehörig grob. Dann – warfen wir uns ins Bett. Hundemüde … hundemüde!!
Schliefen bis zehn Uhr.
Da weckte mich Harst.
Stand im Schlafanzug vor mir.
Strahlte.
„Die Bienen, mein Alter, die Bienen bringen’s an den Tag!!“ sagte er sprühend vor Energie und Siegesgewißheit.
„Die Bienen?!“ Ich mußte mich erst ermuntern.
„Ja – sie haben’s schon an den Tag gebracht! Ich kenne den Mörder!“
Da war ich blitzschnell mit den Beinen aus dem Bett.
Harst lachte.
„Oh – wir haben Zeit, lieber Alter! Wir haben den Schuft ganz sicher. – Im Vertrauen: ich habe ihn eingesperrt!“
„Wo?! Wer ist’s?!“
„Nachher – nachher – in Lahore bei Goddlear!“
Ich mußte mich gedulden.
Percy Sinclair war im Dienst. Wir frühstückten im Hause. Draußen war es zu heiß.
Der muntere Ali bediente uns, plauderte.
„Sahib Goddlear hat sich nun auch mit meinem Sahib Leutnant entzweit … Morgens um sieben Uhr ging er wütend davon und nahm die beiden kleinen Ledersäcke mit. Sahib Sinclair hat Sahib Harst scharf verteidigt.“
Ali liebte Harald bereits. Harsts Persönlichkeit wirkt ja auf jeden faszinierend. Und Ali freute sich, daß Harst so tapfer gegen Goddlears Vorwürfe in Schutz genommen worden war.
Harald hatte bei der Erwähnung der beiden Juwelensäcke aufgehorcht.
„Zu Fuß ging Goddlear?“ fragte er nun, und sein Ton verriet eine gewisse Unruhe.
„Ja – bis zum Bahnhof Mian-Mir, wo stets Wagen zu haben sind. Ich wolle Sahib Goddlear die Säcke tragen, aber er war so ärgerlich, daß er auch mich anschnauzte.“
Harald erhob sich.
Ging zum Fernsprecher.
„Hallo – hier Harald Harst,“ meldete er sich.
Er hatte sich mit des Inspektors Bungalow verbinden lassen.
„Ah – Du bist es, Ramfa,“ begrüßte er nun Goddlears Hausmeister. „Ist Dein Sahib zu Hause? – – Nein?! Noch nicht zurückgekehrt?!“
Da drehte Harald sich mit dem Hörer am Ohr nach mir um und flüsterte:
„Meine Ahnung!!“
Fragte dann Ramfa weiter:
„Vielleicht ist Dein Sahib im Büro? – – Nein? Du hast dort schon angerufen? – Dann wirst Du jetzt Polizeidirektor Ramsay telephonisch benachrichtigen, daß ich sofort per Auto zu ihm komme – ins Polizeigebäude. Gut, Schluß.“
Er legte den Hörer weg, sagte zu mir:
„Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Goddlear auf dem einsamen Wege bis zum Bahnhof heute früh überfallen worden ist. Man hat ihm die Juwelensäcke wieder abgenommen.“
„Vielleicht … vielleicht auch ein Helfershelfer des Mörders, ein … Beamter.“
Ich verstand Harald nicht. „Der Mörder, denke ich, ist von Dir doch eingesperrt worden?!“
„Ja … das wohl. – Beeilen wir uns. Du wirst schon alles begreifen. Die Sachlage ist ja höchst einfach.“
Ali hatte telephonisch vom Bahnhof ein Mietauto herbestellt.
Um elf Uhr fuhren wir davon. Im Kraftwagen erklärte Harald:
„Goddlears Verschwinden beunruhigt mich sehr. Es war von ihm sehr leichtsinnig, allein zu Fuß zum Bahnhof zu wandern. Neben dem Wege steht dichtes Gebüsch. Wenn wir noch Zeit gehabt hätten, würde ich es abgesucht haben.“
„Hm – und die Bienen?“ fragte ich vorsichtig.
„Oh – die haben bereits ihre Schuldigkeit getan.“
Dann schwieg er und überließ mich meinen Gedanken, die immer wieder den Mörder umspielten. – Wer war’s? Wer?! – Es konnte nur ein Mensch sein, der mit Allan Mac Palamoor befreundet war. Allan hatte gelogen. Er besaß hier noch Verbündete. –
Das Auto hielt.
Wir zahlten die Taxe und betraten das Polizeigebäude.
Mr. Ramsay kam uns bis zur Tür hastig entgegen. Er hatte uns schon erwartet.
„Was ist mit Goddlear?“ fragte er schnell. „Wir suchen ihn überall.“
Er führte uns in sein Büro. Hier erklärte Harald, was er befürchte, berichtete auch, was wir in der Nacht erlebt hatten.
Ramsay war geradezu sprachlos.
„Wie – und der Bewohner jenes unterirdischen Zimmers soll der Mörder sein?!“ rief er kopfschüttelnd.
„Ja – der Mörder, der seiner Tat noch mit ungeheurer Frechheit und in ebenso großem Sicherheitsgefühl einen etwas unheimlichen Anstrich geben wollte, indem er als Frau Palamoor sich deren Tochter und uns zeigte. In Sinclairs Garten ist er gestern morgen sehr einfach dadurch so spurlos verschwunden, daß er in das Baumloch hinein kletterte – trotz der Bienen!“
„Hm – dann müßte er ja fraglos dabei gestochen worden sein.“
„Ist er auch! Sein Gesicht war durch den weißen Schleier geschützt. Aber seine Hände haben etwas abbekommen.“
„Woher wissen Sie das, Mr. Harst?“
„Weil ich’s gesehen habe.“
„Die Bienenstiche?“
„Ja, an den Händen. – Ich hielt sie für Hitzbläschen. Aber jetzt weiß ich’s besser.“
Ramsay blickte total verwirrt drein.
„Hm – wenn Sie den Mörder gesehen haben, kennen Sie ihn doch, Mr. Harst.“
„Allerdings.“
„Und – wer ist’s?“
„Allan Mac Palamoor.“
Ramsay und ich starrten Harald an.
„Palamoor?!“ stammelte Ramsay. „Palamoor?! Das ist doch ausgeschlossen!“
„Durchaus nicht! – Sie wissen, daß Palamoor Ausflüchte machte, als ich ihn fragte, weshalb er hier in Lahore geblieben.“
„Ja – er behauptete, aus Liebe zu seinem Kinde habe er …“
„… was Schwindel ist! In Wahrheit wollte er die Schatzkammer des Indra-Tempels plündern, hat es auch getan. Er hat eben das Zimmer dort im toten Lahore bewohnt.“
„Aber – aber – – wie kann er der Mörder sein?! Er sitzt doch hier im Polizeigefängnis! Ich habe ihn mir noch vor einer halben Stunde vorführen lassen!“
„Stimmt! Dort ist er nämlich als Mörder am sichersten, Mr. Ramsay.“
„Herr im Himmel – so reden Sie doch verständlicher, Harst! Unsere Zellen in der Abteilung für Europäer sind ganz neu! Da kann kein Häftling nach Belieben ein und aus spazieren! Das ist glatt unmöglich.“
„Doch nicht unmöglich, Mr. Ramsay!“
„Herr – das weiß ich besser!“
„Sie irren sich. Ein Mann, der zwei Säcke Edelsteine zur Verfügung hat, braucht nur den Aufseher der Abteilung für Europäer zu bestechen, und der Aufseher kann dann den Häftling hinaus- und hineinlassen.“
Ramsay dachte nach, murmelte.
„Hm – Aufseher Jobbins ist ein Trinker und auch wenig zuverlässig.“
„Nun also! – Bitte tun Sie jetzt folgendes, Mr. Ramsay. Jobbins wohnt im selben Flügel, wo sich die acht Zellen für Europäer befinden! Seine Wohnung muß umstellt werden – ganz unauffällig. Dann werden wir uns Allan Mac Palamoor vorführen lassen – Du – ich – Jobbins.“
„Gut – soll geschehen. Ich bin gleich wieder da.“
Und Ramsay eilte hinaus.
Harald sagte zu mir:
„Nun weißt Du alles, mein Alter. Jobbins kannte die Stunden ganz genau, wo Vernehmungen der Häftlinge stattfinden. Außerhalb dieser Zeit konnte er Palamoor getrost hinauslassen. Bei ihm hat Allan sich auch in den blondbärtigen Herrn verwandelt.“
Ich war noch immer ziemlich sprachlos, und dies wohl mit Recht. –
Ramsay kehrte zurück.
„Erledigt. – Palamoor und Jobbins werden sofort erscheinen.“
Sie kamen.
Jobbins, ein kleiner dicker Kerl mit schwimmenden Augen und Säufernase, machte ein sehr verdutztes Gesicht, als Harst zu ihm sagte:
„Bleiben Sie nur mit im Zimmer, Jobbins. Ich habe auch mit Ihnen zu reden!“
Palamoor stand in bescheidener Haltung da.
Die Hände … hielt er auf dem Rücken.
Harald wandte sich jetzt an ihn.
„Bitte – zeigen Sie einmal Ihre Hände,“ meinte er fast drohend.
Palamoor zuckte sichtlich zusammen.
Faßte sich schnell.
„Oh – die sehen nicht gerade schön aus … Ich leide leicht an Hitzausschlag.“
Und zögernd brachte er sie nun zum Vorschein.
Ramsay trat näher.
„Ah – das sollen Hitzbläschen sein!“ rief er. „Das sind Bienenstiche!“
„Wie sollte ich zu Bienenstichen kommen?!“ lächelte der abgefeimte Verbrecher harmlos.
„Das wissen Sie am besten!“ meinte Harst eisig. „Die Bienen stachen Sie, als Sie in dem grauen Kleide in das Baumloch in Sinclairs Garten kletterten!“
„Ich?! Ich?! Aber Herr Harst!!“ Und Palamoor lachte leise auf. „Ich verstehe von alledem keine Silbe. Ich soll …“
Da packte Harald plötzlich den Aufseher bei der Schulter.
Schaute diesen Mann durchdringend an.
„Jobbins, wir werden jetzt Ihre Wohnung durchsuchen! Dort werden wir die Dinge finden, die Palamoor zu seiner Verkleidung brauchte, bevor Sie ihn hinausließen! – Jobbins – gestehen Sie nur alles ein!“
Der Kerl wurde erdfahl.
Zitterte.
Schnappte nach Luft. Bekam kein Wort heraus.
Ramsay brüllte:
„Schuft – – die Wahrheit!! Dein schlechtes Gewissen liest man Dir vom Gesicht ab!“
Aber Jobbins schwieg.
Stierte blöde vor sich hin.
Ramsay drehte sich um.
„Palamoor – die Bienen haben Sie überführt! Die Bienen und Harst! Ohne Harst wäre dieser Mord ungesühnt geblieben!“
Er läutete.
Beamte erschienen.
Palamoor war leichenblaß, regte sich nicht, ließ sich Handschellen anlegen … ebenso Jobbins.
Und dann – dann suchte Jobbins zu retten, was noch zu retten war.
Dann – – legte er ein volles Geständnis ab.
Ja – Palamoor habe ihn bestochen, und er habe ihn hinausgelassen. Und heute früh habe Palamoor den Inspektor Goddlear auf dem Wege zum Bahnhof in Mian-Mir niedergeschlagen. Goddlear liege jetzt gefesselt und geknebelt dort im Dickicht. Und heute abend habe er mit Palamoor fliehen wollen – ins Ausland … mit den Juwelen, die in seiner Wohnung im Herde der Küche versteckt seien. – –
Goddlear wurde gefunden, bat Harald um Verzeihung.
Auch die Juwelen wurden im Herd gefunden.
Und – Allan Mac Palamoor mußte zwei Monate später … baumeln.
Er hatte seine Schwiegermutter aus Rache ermordet, hatte Harst aus Rache erschießen wollen. Erst angesichts des Galgens gestand er alles ein. – –
Das ist die Geschichte der Bienen.
Sie ist als Kriminalfall in vieler Hinsicht bemerkenswert. Wer als sorgfältiger Leser die einzelnen Entwicklungsstadien der Vorgänge prüft, wird zugeben, daß Harald hier wieder ein kleines Meisterstück geliefert hat.
Das nächste Abenteuer gab ihm noch weit mehr Gelegenheit, seine Intelligenz leuchten zu lassen … Die Geschichte des Piratendorfes führte uns auf das Meer – an entlegene Küsten.
Auf Wiedersehen – im Piratendorf!
Nächster Band: Das Piratendorf.
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Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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40: |
Die Gespenster-Rikscha. |
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Anmerkungen: