Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 122:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
„Leiser – zum Teufel!!“
Harsts Stimme klang gereizt, mehr als das: wütend! – Und wenn Harald Harst flucht, dann muß die Situation schon recht ungemütlich sein. –
Das war sie auch.
Wir lagen auf dem Bauche in einem Dornendickicht, das die Rückwand des einen Kuliwohnhauses der Diamantminengesellschaft Orkalla unzugänglich machte.
Wir hatten uns durch diese Dornenzweige mit allergrößter Vorsicht hindurchgewunden.
Und dann war zwischen den die Taschenlampe abblendenden Fingern meines Freundes ein winziger Lichtstrahl auf die weiß gestrichene Holzwand gefallen.
Wie ein großer Leuchtkäfer kroch der helle Endfleck des Strahles über die Wand hin.
Wie ein Leuchtkäfer, der etwas suchte.
Und – – fand …: Das Loch des Zentrumsbohrers, das wir heute mittag hier ins Holz gebohrt hatten, als das stallähnliche Gebäude leer war. –
In dem Loche steckte ein großer Pfropfen.
Harst entfernte ihn.
Harst schob das Rohr des Tonverstärkers hinein, das an eine kleine Batterie angeschlossen war.
Reichte mir die eine Hörmuschel. –
Nacht war’s.
Etwa zwölf Uhr.
Eine stürmische Nacht, ein Himmel, über den schwarze Wolkenfetzen dahinjagten.
Hin und wieder Mondlicht – für Sekunden.
Dann wieder Finsternis – so dicht, als ob schwarze Tücher jeden Schimmer von Helligkeit absperrten.
Oststurm war’s.
Wir hörten, als wir zu dem gefährlichen Unternehmen vor einer Stunde aufgebrochen waren, das Meer gegen die Klippen von Orkalla schäumen.
Wir – – hörten jetzt, die Muschel an einem Ohr, das andere mit dem Finger verstopfend, die Geräusche, die aus der Kulibaracke unser Trommelfell in Schwingungen setzen.
Schweres, tiefes Atmen, Schnarchen.
All die Töne, die in einem Massenquartier nachts lebendig werden. –
Aber – mehr hörten wir nicht.
Noch nicht! dachte ich und hoffte …
Wir warteten – warteten.
Über die lange Baracke hinweg fegte der Sturm.
Wir lagen unter Wind. Die Musik des Sturmes war die Begleitung zu den dumpfen Lauten, die aus der Baracke drangen. –
Es wurde später und später.
Eine Stunde mochten wir so auf diesem Lauscherposten gelegen haben, als … das erste Flüstern, durch den kleinen Apparat verstärkt, an mein Ohr drang.
Ein Flüstern, das jedoch erst zu verstehen war, als Harald die Stromzufuhr der Batterie reguliert hatte.
Zwei Stimmen unterschied ich, eine hellere, die weich und zart wie die eines kaum erblühten Weibes klang, und ein seltsam hartes, man möchte sagen kraftvolles Organ.
Die beiden, die da in der Kulibaracke in dem Verschlage des Sindra Mar auf dem Holzbett sitzen mußten, enttäuschten mich jedoch, was den Inhalt ihres leisen Gesprächs betraf, so sehr, daß ich unwillkürlich überlegte, ob Harald sich nicht doch getäuscht hätte.
Jetzt vernahm ich die Mädchenstimme noch deutlicher … Und diese Stimme klang so erregt, daß dieses atemlose, leidenschaftliche Gestammel in seltsamem Gegensatz zu dem Inhalt der harmlosen – scheinbar harmlosen Worte stand.
Die Unbekannte dort flüsterte:
„Sindra Mar, es wird nach drei Tagen wieder schönes Wetter werden – Prachtwetter. Und doch bitte ich Dich, verschiebe den Ausflug noch.“
Worauf er, Sindra Mar, Kuli in den Minenfeldern der Orkalla, erwiderte:
„Darüber, ob der Ausflug lohnt, entscheidet Dein Vater, Ozeana …“
„Oh – ich habe auf ihn leider keinen Einfluß, Sindra Mar … Das weißt Du.“ –
Inzwischen hatte ich die Stimme des Mädchens erkannt, das der Inder mit Ozeana anredete.
Es war … Judith Longfellow, die Erzieherin der Kinder des Generaldirektors der Orkalla-Minen! –
Und – das Gespräch ging weiter.
„Zum Glück keinen Einfluß,“ sagte Sindra Mar hart und fast zornig. „Du bist seltsam, anders geworden in den letzten Wochen, Ozeana …! Hüte Dich! Du weißt, ich lasse nicht mit mir … spielen!“
Eifersucht – – Eifersucht!!
Und – ich wußte, auf wen! Auf Hektor Laronge[2], den einen Ingenieur der Orkalla!
Da erwiderte Judith Longfellow schon:
„Ich spiele nicht mit Dir, Sindra Mar. Du maßest Dir Rechte an, die Du nicht hast! – Laß mich hinaus. – Und – – nochmals: sieh zu, daß der Ausflug aufgegeben wird!“
Dann – ein leiser Schrei.
Ein Keuchen.
„Ich … ich stoße zu, Sindra Mar … Ich bin nicht unbewaffnet! Gib mich frei!“
Ein unterdrückter Fluch.
Ein Röcheln – wie aus einer Kehle, der die flammende Wut den Atem benimmt.
Dann … Stille … Stille …
Und jetzt … das Knarren einer Tür.
Und wieder Stille.
Bis das leise Kreischen des Bettes bewies, daß der Inder wieder auf sein Lager zurückgekehrt war.
Ich stieß Harald leise an.
Er brachte seinen Mund dicht an mein Ohr.
„Wir bleiben noch … Man kann nie wissen …“
Wir blieben.
Zehn Minuten vergingen.
Dann … geschah etwas sehr Merkwürdiges …
Drei Schritt links von mir, wo hinter einer besonders dichten Stelle der Dornen ein freies Stellchen sich befand, klaffte plötzlich in der Holzwand unten am Boden ein … Loch, ein viereckiges helles Loch, gerade groß genug, einen schlanken Menschen durchzulassen …
In der Öffnung erschien ein Arm mit einer Blendlaterne.
Ein Kopf folgte.
Schultern.
Ein … indischer Kuli, schwarzbärtig, einen schmierigen Turban auf dem Schädel.
Sindra Mar, der Geheimnisvolle!! –
Wir rührten uns nicht.
Wir waren zwar durch die Dornenkulisse von dem Inder getrennt, aber wenn’s das Unheil wollte, kroch er vielleicht hier nach unserer Seite hin.
Ich starrte durch die Zweige unverwandt auf den unheimlichen Menschen.
Unheimlich durch all das, was Generaldirektor Tompsen uns von Sindra Mar schriftlich nach Lahore mitgeteilt und was uns veranlaßt hatte, in der Verkleidung holländischer Diamantenaufkäufer gen Süden nach dem Küstenstädtchen Orkalla zu reisen – vorgestern. –
Dieser Sindra Mar verschonte uns, kroch nach der anderen Seite davon, nachdem er die Klappe in der Wand wieder geschlossen hatte.
„Ihm nach!“ raunte Harald mir zu und hatte im Moment den Pfropfen wieder in das Loch gesteckt und den kleinen Apparat in die Tasche geschoben.
Wir beeilten uns.
Wir hatten mittags durch das Gestrüpp einen unauffälligen Weg geschnitten, dessen Ausgang durch einen losen Dornenbusch verdeckt worden war.
Dies kam uns nun zustatten.
Noch vor Sindra Mar gelangten wir ins Freie und schlüpften hinter einen Baum des Waldstreifens, der sich fast bis zur Küste hinab zog.
Sindra Mar schlüpfte lautlos am Waldrande hin.
Ein Schatten nur, selbst wenn der Mond auftauchte, und nur zu erkennen, weil das Licht der auch nachts brennenden riesigen Bogenlampen der Minenfelder bis hierher reichte.
Ein Schatten, neben dem unter den sturmgepeitschten Bäumen zwei andere hinglitten: Harst und ich, jetzt nicht mehr blondbärtige Holländer, sondern ebenfalls indische armselige Kulis. –
Sindra Mar verließ den Waldrand, bog nach rechts ab.
Kahle Felsen, Gestrüpp, Büsche.
Und dann – das Meer, die Straße von Pamban, zwischen den Inseln sich hinziehend, die von der Südspitze Vorderindiens wie Brückenpfeiler nach Ceylon sich hinüberrecken.
Eine Bucht, klein, mit steilen Felsufern, die den Sturm abfingen.
Und gerade als Sindra Mar hier zur Bucht hinabstieg, als der Mond klar aus einem Stück wolkenfreien Himmels hervorleuchtete, – da drehte er sich um, der unheimliche Sindra Mar, zwang uns, platt auf dem Boden liegen zu bleiben.
Wir folgten ihm erst, als auch sein Kopf über dem Felsenrande verschwand.
Wir hatten kaum zwei Minuten verloren.
Und doch: als wir nun zwischen Geröll verborgen die Gestade der Bucht musterten, war der Inder nirgends mehr zu erspähen.
Nirgends.
Nein, – leer und still lag die mondbeschienene, von dunklem Gestein eingerahmte Bucht da wie ein friedlicher Binnensee. –
Harald flüsterte:
„Unbegreiflich! Wo blieb er?!“
Und ich: „Es gibt keinen Weg zur Bucht hinab außer diesem. Wir sind ja heute mit Tompsen auf dem Spaziergang hier gewesen. Er sagte noch, daß er sich diese Bucht gern als Jachthafen eingerichtet hätte, wenn nicht der Kanal nach dem Meere hin so sehr schmal wäre.“
Harst schwieg jetzt.
Das Mondlicht flimmerte auf dem Wasser.
Die kaum sechzig Meter breite Bucht bot keinerlei Versteck. Steil fielen die Felsen etwa zehn Meter tief zum Wasserspiegel ab. Nur dort, wo Sindra Mar hinabgestiegen war, zogen sich flache treppenartige Terrassen bis zum Strande hin – nur dort.
Und doch – der Inder war und blieb verschwunden.
Eine halbe Stunde noch, und Harald meinte leise:
„Es ist zwecklos! Sindra Mar kann nur schwimmend irgend ein Versteck in den Uferfelsen erreicht haben.“
Wir schlichen davon – durch den Garten der weißen villenartigen Behausung Tompsens – auf die große lange Veranda und stiegen von hier durch das nur angelehnte Fenster in unser gemeinsames Wohnzimmer ein.
Harst schloß das Fenster, schloß die Läden, zog noch die Vorhänge zu und sagte dann laut:
„So, nun schalten Sie nur das Licht ein, Mr. Tompsen.“
Der Generaldirektor, der uns erwartet hatte, ließ die Krone aufflammen.
Grelles Licht flutete durch den eleganten Raum.
Vor uns stand Reginald Tompsen, der Allmächtige von Orkalla.
Breitschultrig, graubärtig, braun gebrannt, ein Gesicht wie das eines Mannes, der genau weiß, was er will.
„Erfolg?“ fragte er gespannt.
„Ja und nein,“ erwiderte Harald, warf Turban und Perücke auf einen Stuhl und setzte sich an den Sofatisch.
Auch Tompsen und ich nahmen Platz.
Harst langte nach dem Zigarettenetui.
Rauchte ein paar Züge seiner Mirakulum, sagte leise und gedankenvoll:
„Bevor ich Ihnen das Resultat dieser Nacht mitteile, Mr. Tompsen, will ich nochmals zur Auffrischung unseres Gedächtnisses den Brief verlesen, den Sie mir nach Lahore schickten.“
Er hob die seidene Tischdecke auf und holte den Brief hervor, der hier während unserer Abwesenheit aus unseren Gastzimmern am sichersten verborgen war.
Las … las folgendes:
„Orkalla, Post Ramna,
2. September 1923.
Sehr geehrter Mr. Harst,
durch Zeitungsnotizen habe ich erfahren, daß Sie in Lahore im Hause des Leutnants Sinclair vom 2. Kamelreiterkorps zurzeit weilen.“
Ich muß hier einfügen, daß wir in Lahore zwei nicht ganz alltägliche Abenteuer bestanden hatten, deren letztes ich [im vorigen][3] Band veröffentlicht habe.[4]
„Sie gestatten, Mr. Harst, daß ich Ihnen als dem einzigen Detektiv, der selbst unscheinbare Seltsamkeiten sofort richtig einzuschätzen weiß, hier etwas berichte, das – durchaus nicht unscheinbar, sondern geradezu unheimlich ist.
Zunächst über mich selbst:
Ich bin Generaldirektor der Orkalla-Diamantenminen, die Ihnen dem Namen nach nicht unbekannt sein dürften.
Ich wohne hier in Orkalla in nächster Nähe der Minen. – Wir stellen nur Arbeiter ein, die uns als zuverlässig empfohlen werden. So kam vor vier Wochen ein Inder namens Sindra Mar zu mir und zeigte mir einen Brief meines Freundes, des Rechtsanwalts Hockins aus Bombay, bei dem Sindra Mar acht Wochen Schofför gewesen und sich tadellos geführt hatte. Er gab diese Stellung nur auf, weil wir unsere tüchtigen Arbeiter sehr gut bezahlen und weil ein Mensch mit Verständnis für technische Dinge es leicht bei uns weiterbringt.
Ich stellte Sindra Mar als Arbeiter beim zweiten Waschrahmen der dritten Mine ein.
Wie gesagt – das ist heute genau vier Wochen her.
Sindra Mar zeigte sich außerordentlich anstellig. Er war bescheiden, wortkarg und fleißig. Er hielt sich zumeist ganz für sich allein.
Nach einer Woche schrieb ich Hockins, daß ich mit Sindra Mar bisher zufrieden sei.
Hockins dankte mir auf einer Postkarte für mein Entgegenkommen und betonte nochmals, daß Sindra Mar mich auch fernerhin nicht enttäuschen würde.
Wieder verging eine Woche.
Da kam einer der Aufseher der dritten Mine zu mir und erklärte, Sindra Mar sei schon verschiedentlich von ihm spät abends beobachtet worden, wie er von dem sogenannten Pamban-Felsen aus mit einer kleinen Laterne nach dem Meere hin Zeichen gebe.
Dies schien mir verdächtig.
Der Aufseher und ich legten uns in der Nähe des mächtigen Felsklotzes drei Nächte auf die Lauer. In der dritten Nacht endlich konnte ich nun selbst mit ansehen, wie Sindra Mar mit einer kleinen, aber sehr hell brennenden Karbidlaterne tatsächlich signalisierte.
Das heißt: er blendete die Laterne ab, ließ sie wieder aufblitzen, und zwar in der Art, daß kurze und lange Blitze zustande kamen. –
Ich befahl dem Aufseher, vorläufig zu schweigen.
Aber – Sindra Mar begab sich nie wieder zum Pamban-Felsen.
Doch – anderes geschah, und zwar am 27. August.
An diesem Tage erhielt ich von Anwalt Hockins aus Bombay einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß man in den Ruinen eines Tempels unweit Bombays die bereits stark verweste Leiche eines Eingeborenen unter Geröll gefunden habe und daß dieser fraglos ermordete Inder von ihm an den Schuhen, an dem Hemd, das er selbst ihm geschenkt habe, und an einer Narbe am rechten Unterarm als … der frühere Schofför Sindra Mar wiedererkannt worden sei. Mithin müsse der von mir eingestellte Sindra Mar ein … Betrüger sein, der den Empfehlungsbrief dem Toten abgenommen habe. Vielleicht sei der noch lebende Sindra Mar sogar der Mörder des andern.
Dem Briefe lag eine Photographie des Schofförs bei.
Und – – dieses scharfe Lichtbild glich nun dem hiesigen Sindra Mar Zug um Zug.
Mehr noch: auch der jetzige Diamantenwäscher Sindra Mar hat genau dieselbe Narbe am rechten Unterarm, die Hockins mir eingehend beschrieben hatte.
Kein Wunder, daß mir dieser Doppelgänger des Ermordeten etwas unheimlich erschien. Kein Wunder auch, daß ich ihn durch den Aufseher jetzt auf Schritt und Tritt bewachen ließ.
Hockins schrieb ich, Sindra Mar sei hier in Orkalla seines Fleißes wegen recht beliebt und dürfte doch der „echte“ Sindra Mar sein.
Worauf mein Freund am 30. August in einem neuen Briefe erwiderte, der bei Bombay gefundene Tote sei unbedingt der Schofför Sindra Mar gewesen. Der andere könne nur ein Schwindler sein.
Und an diesem 30. August spät abends ereignete sich dann noch das, was mir wohl ein Recht gibt, Sindra Mar als unheimlich zu bezeichnen.
Der Aufseher schlich ihm an diesem Abend aus der Minenkantine bis zum Seestrande nach. Sindra Mar betrat die Klippen rechts vom Pamban-Felsen. Und hier auf der äußersten Klippenreihe, von denen aus es steil in die Tiefe geht, entkleidete er sich und … sprang ins Meer.
Es war eine helle Nacht. Sindra Mar – – kam nicht wieder empor. Der Aufseher lag auf dem Pamban-Felsen und hatte ein Fernglas bei sich, wartete noch eine Stunde und verließ dann seinen Beobachtungsplatz, da er annahm, der Inder sei durch einen Haifisch angefallen und so umgekommen.
Aber – – am nächsten Morgen fand sich Sindra Mar wieder am Waschrahmen ein, und vorsichtige Nachfragen bei den anderen Kulis der Wohnbaracke ergaben, daß er scheinbar die Nacht in seinem Bett zugebracht habe. –
Und an diesem 1. September abends las ich dann in der Bombay-Post, daß Sie, Mr. Harst, in Lahore weilten.
So schreibe ich Ihnen denn heute am 2. September diesen Brief und bitte Sie, schleunigst nach Orkalla reisen zu wollen, da ich als Generaldirektor der Minen die dumpfe Vorahnung habe, als ob Sindra Mar irgend etwas gegen die Gesellschaft vorbereite.
Im Vertrauen, Mr. Harst: die beiden Tresore im Verwaltungsgebäude bergen zuweilen Edelsteine von ungeheurem Wert, und obwohl ich mir sage, daß die Wächter, die das Gebäude nachts innen und außen bewachen, zuverlässig sind, so will ich doch nichts außer acht lassen, um jeden Schaden für meine Gesellschaft zu verhüten. –
Heute ist auch ein Brief von Hockins eingetroffen. Ich hatte dem Anwalt eine kleine, von mir heimlich geknipste Aufnahme Sindra Mars[5] beigefügt gehabt, und Hockins schrieb nun, daß auch er jetzt im Zweifel sei, wer der echte Sindra Mar sein könne, der Tote oder der Lebende. –
Ich will diese meine Mitteilungen nun schließen, Mr. Harst.
Ich betone, daß die Gesellschaft sämtliche Kosten für Sie und Ihren Freund Schraut trägt und daß Sie als Honorar in jedem Falle mindestens 300 Pfund Sterling erhalten.
Mit dem Ausdruck der Ergebenheit
Tompsen, Generaldirektor.“
– Dies war das Schreiben, das uns nach Orkalla geführt hatte.
Harald hatte sehr langsam gelesen.
Bei der Stelle des Briefes, wo der Aufseher den ins Meer Gesprungenen nicht mehr bemerkt hatte, warf Harald mir einen besonderen Blick zu.
Und nun … nun zündete er den Brief mit einem Zündholz an und sagte:
„Wir brauchen ihn nicht mehr. Er könnte nur Unheil stiften.“
Und fügte hinzu, indem er die verkohlten Reste im Aschbecher zerrieb:
„Was wir durch das Loch erlauscht haben, ist bedeutungslos. Es war freilich jemand bei Sindra Mar[6] in der Schlafkoje, der Stimme nach ein jüngerer Mensch.“
Aha – er log – – er verschwieg Judith Longfellow!!
„Und die beiden sprachen nur über das Wetter und über einen Ausflug. – Wichtiger ist, daß Sindra Mar sich einen Durchschlupf in der Hauswand unter seinem Bett angelegt hat, eine Klappe, durch die er unbemerkt ein- und ausschlüpfen kann. Wir folgten ihm bis zu der kleinen Bucht, die Sie uns heute zeigten, Mr. Tompsen. Dort verschwand er. – Der Erfolg dieser Nacht ist also scheinbar gering – scheinbar … Vielleicht kann ich doch noch etwas aus dem wenigen machen.“
Der Generaldirektor war sichtlich enttäuscht, meinte:
„Hm – hätten Sie nicht vielleicht dem Manne nachschleichen sollen, Mr. Harst, der mit Sindra Mar diese geheime Unterredung hatte?“
„Das ging nicht. Wir merkten zu spät, daß der Mann sich entfernte.“
Also – abermals verdrehte Harald die Wahrheit! Natürlich nur, damit wir beide Judith Longfellow, die Erzieherin in aller Ruhe und ohne die Gefahr, daß Tompsen etwas verdürbe, auf Herz und Nieren prüfen könnten.
Und er fuhr dann sogleich fort: „Sie müssen mir jetzt einmal Ihre Hausangestellten ganz genau aufzählen und beschreiben, charakterisieren, Mr. Tompsen. Ich vermute, daß Sindra Mar hierher Beziehungen unterhält.“
Tompsen schüttelte den Kopf.
„Das ist wohl ausgeschlossen! Aber – wenn Sie es wünschen!“
Alle diese Hausangestellten waren bereits länger als drei Jahre bei dem Generaldirektor in Dienst.
Nur Judith Longfellow (er erwähnte sie zuletzt) weilte erst sechs Wochen hier. Sie war auf ein Zeitungsinserat Tompsens hin nach Orkalla gekommen und hatte tadellose Zeugnisse von ihrer letzten Stelle bei General Roobs in Kalkutta. Sie zählte zwanzig Jahre, war (angeblich) Waise und seit zwei Jahren Erzieherin.
Harald verriet durch nichts, wie sehr ihn gerade diese blonde Judith interessierte.
Tompsen verabschiedete sich dann sehr bald, und gegen zwei Uhr morgens waren wir allein in dem gemütlichen und stilvollen Wohnsalon, der noch heute der Schauplatz denkwürdiger Szenen werden sollte.
Ich habe so und so oft Gelegenheit gehabt, Haralds geradezu verblüffende Beobachtungsgabe, seinen scharfen Blick für die geringfügigsten Kleinigkeiten hier beweisen zu können.
Kaum hatten Tompsens Schritte sich im Flur verloren, als Harald auf den in der rechten Zimmerecke freistehenden und mit zwei Tigerfellen bedeckten Diwan zuschritt und – – blitzschnell die beiden bis zum Parkettboden herabhängenden Felle hochriß.
Gleichzeitig gab er dem Fußende des Diwans mit den Knien einen Stoß, und das Ruhebett rollte zur Seite.
So … kam ein darunter liegender Mensch zum Vorschein.
Ein schlanker junger Bursche mit bis ins Genick gezogener Sportmütze und blondem Schnurrbart.
Ein Bursche, der ein Europäer war und uns beide jetzt hilflos anglotzte.
„Stehen Sie auf, Miß Longfellow,“ sagte Harald ironisch. „Stehen Sie auf und nehmen Sie dort Platz … Bitte!!“
Er zeigte auf den Sessel, den Tompsen innegehabt hatte.
Die verkleidete Erzieherin erhob sich taumelnd.
Ihr Gesicht war aschfahl vor Schreck und Angst.
Sie gehorchte, setzte sich hin.
Neigte den Kopf auf die Brust, … begann zu weinen.
Harald stand vor ihr.
„Miß Longfellow,“ sagte er ganz freundlich, „wenn Sie wieder einmal Spionin spielen, so bedenken Sie, daß es hier in den Parterreräumen von Mäusen wimmelt, die geradezu bemerkenswert frech sind.“
Judith weinte nicht mehr.
Ihr Schluchzen erstarb unter Harsts halb scherzenden Worten.
„Zwei Mäuse, Miß, sah ich unter den Diwan spazieren, als Tompsen uns die Hausangestellten aufzählte. Beide Mäuse schossen dann sofort wieder wie besessen hervor und verschwanden dort unter dem Schranke. Da sagte ich mir, daß da fraglos unter dem Diwan sich etwas befinden müsse, was die Tierchen verscheucht hätte. Und wie ich mir dies sagte, haben Sie, um besser zu hören, das eine Fell ganz langsam etwas verschoben. Nicht langsam genug, Miß!“
Sie saß noch immer zusammengesunken da und wagte nicht aufzuschauen.
„Was wollten Sie hier? Weshalb kamen Sie her, als Tompsen noch nicht hier saß und uns erwartete?“ fügte Harst ebenso gutmütig hinzu. „Reden Sie doch! Sie wissen nun ja, daß wir in Wahrheit Harst und Schraut heißen und Detektive sind.“
Da – – hob sie den Kopf.
Flüsterte – und auf alles andere war ich vorbereitet, nur nicht auf die Worte:
„Ich bin ja selbst Detektivin, Mr. Harst. Ich bin hier nach Orkalla geschickt worden, weil mein Chef Mr. Sidney Lomarlay in Singapore von einem der Aktionäre der Orkalla-Aktiengesellschaft den Auftrag erhielt, festzustellen, ob Generaldirektor Tompsen nicht etwa die wertvollsten Steine verschwinden lasse … – Oh – ich kann dies beweisen, Mr. Harst.“
Harald hatte nämlich zweifelnd gelächelt.
„Was können Sie beweisen?“ meinte er immer noch lächelnd.
„Daß ich Detektivin des Instituts Lomarlay bin.“
Und sie zog aus der Innentasche der Sportjacke ihres Anzuges eine Brieftasche hervor, in deren Futter sie eine Ausweiskarte nebst Photographie verborgen hatte.
Harald prüfte den Ausweis, gab ihn mir.
Das Lichtbild Judiths war aufgeklebt und gestempelt.
Harst fragte:
„Sie nahmen also wohl an, daß wir beide, wir Holländer, von Tompsen vielleicht heimlich Steine kaufen würden?“
„Ja … Und deshalb verbarg ich mich hier. Ich erwartete bestimmt, hier irgend etwas zu erfahren, denn bisher sind meine Ermittlungen ohne Erfolg geblieben.“
„Und werden es auch bleiben, Miß. Tompsen ist kein Betrüger.“
„Nein – ich glaube es ebenfalls nicht. Ich habe das auch bereits in meinen Berichten an meinen Chef Sidney Lomarlay betont.“
„Sind Sie allein hier? Ich will sagen: ist noch ein Angestellter der Detektei in Orkalla?“
„Nein, Mr. Harst.“
„Hm – Ihr … Besuch hier bei uns hat nun ja eine genügende Erklärung gefunden. – Nur noch eins, Miß Longfellow.“
Er beugte sich zu ihr hinab …
„Noch eins, Miß … Sie wissen jetzt, daß dieser Sindra Mar von uns beargwöhnt wird, daß wir ihn und einen anderen heute belauscht haben – wie Sie uns! – Haben Sie vielleicht etwas beobachtet, was über Sindra Mars Absichten und seine wahre Persönlichkeit Aufschluß geben könnte? Sie als Kollegin, die schon wochenlang hier ist, dürften vielleicht mehr gesehen haben als andere, als der Aufseher zum Beispiel.“ –
Oh – ich durchschaute Haralds feines Spiel! Es kam ihm darauf an, Judith völlig in Sicherheit zu wiegen. Sie sollte auf keinen Fall vermuten, daß wir ihr nicht glaubten, daß wir sie als den „anderen Mann“ erkannt hatten.
Und – das Spiel gelang.
Judith betonte eifrig, sie hätte Sindra Mars Namen heute zum ersten Male gehört. Sie wüßte also nichts über ihn.
„Schade,“ meinte Harald.
Und dann bat er sie noch, doch ebenfalls fernerhin auf Sindra Mar zu achten, versprach ihr auch, ihr Geheimnis zu wahren.
Sie verließ uns, nachdem sie uns freundschaftlichst die Hand gedrückt hatte.
Und – kaum war sie hinaus, als Harald auch schon Bart und Perücke und Turban wieder anlegte, das Fenster öffnete, hinausturnte.
Ich hatte das Licht ausgeschaltet.
Ich folgte ihm.
Und draußen trennten wir uns.
Judith schlief im zweiten Stock, konnte also nur entweder durch die Vorder- oder die Hintertür ins Freie.
Ich bewachte die Vordertür.
Ich duckte mich auf der Veranda zusammen.
Und – hatte hier nur wenige Minuten gekauert, als eins der schmalen Fenster der Vorhalle neben der Haupttür leise klirrte und in den Angeln kreischte. –
Es war noch dunkel … Es war jetzt vielleicht halb drei Uhr morgens.
Aus dem Fenster schwang sich eine Gestalt – – Judith!
Und – – lief lautlos in den Garten …
Lief und – – tauchte in der Finsternis der laubüberdachten Wege unter.
Ich rasch ums Haus.
Zu Harald.
Und wir beide dann durch den Garten, am Verwaltungsgebäude vorüber – nach den Baracken der Arbeiter.
Vor Baracke 3 drückten wir uns hinter den Rand des Badebeckens, dessen Wasser durch steten Zu- und Abfluß ständig erneuert wurde.
Kaum hier angelangt, sahen wir auch schon aus der Barackentür das Mädchen hervorschlüpfen.
Sahen, daß sie die Richtung zum Meere einschlug.
Am Waldrande entlang.
Hinab zur See.
Zur – – kleinen, stillen Bucht.
Sie lief wie gehetzt.
Sie achtete auf nichts.
Schaute sich nicht um.
Und als sie dann unten am schmalen Strandstreifen der Bucht stand, als sie hier aus der Tasche … eine kleine Laterne hervorzog, deren Glasscheibe nachher gelbes Licht, grün-gelbes, ins Weite schickte, als sie so fünf Minuten signalisiert hatte, da … setzte sie sich auf einen Stein und … schrieb …
Und ihre beiden Kollegen Harst und Schraut lagen zwei Schritt hinter dem Stein und beobachteten weiter, wie sie einen Zettel in ein Fläschchen tat und …
… und …
Ja – lieber, verehrter Leser, – nun geschah etwas, das noch unerklärlicher schien als alles Vorausgegangene.
Und – – in dieses Fläschchen tat sie noch etwas anderes.
Band Fläschchen und einen kleinen Stein mit dünnem Bindfaden zusammen, warf beides ins Wasser und – – befestigte das andere Ende der langen Schnur so an den Felsen des Ufers, daß der Bindfaden niemandem auffallen konnte.
Darauf eilte sie wieder davon.
Wir aber blieben.
Wir blieben …
Warteten … warteten.
Bis Harald flüsterte: „Es war ein Stückchen Phosphor, das sie in das Fläschchen tat … Ich sah’s leicht leuchten.“
Dann kroch er zu der Stelle hin, wo der Bindfaden verborgen war.
Zog ihn hoch.
Zog …
Und – – das Ende, wo Stein und Fläschchen festgebunden gewesen, war … leer …!!
Ich hatte mich neben Harald geschoben.
Ich war unendlich verblüfft, als er mir das leere Ende zeigte.
„Stein und Fläschchen können abgefallen sein,“ meinte ich leise.
Und – Harald lacht lautlos in sich hinein.
„Abgefallen?! Lieber Alter, – die hat ein Hai verschluckt!!“
Er warf den Bindfaden wieder ins Wasser.
Sagte: „Gehen wir!“
Und – da hatte er mich belogen!
Ich kann jetzt schon verraten, daß der Bindfaden doch nicht „ohne Anhang“ gewesen! Freilich – Stein und Fläschchen waren nicht mehr an der Schnur befestigt, als Harst sie einzog.
Aber – etwas anderes fand Harald daran, und das hatte er mir verheimlicht. –
Wir kehrten also in unseren Wohnsalon zurück, setzten uns wieder an den Sofatisch, und – jetzt begann die Theorie, nachdem die Praxis erledigt war. – –
Ich möchte mir an dieser Stelle einige Bemerkungen erlauben. – Zunächst was den Haupttitel dieses Problems „Piratendorf“ betrifft. Ich habe ihn eigentlich gestohlen, denn unter dieser Überschrift brachten englische und amerikanische Zeitungen Ende September 1923 ganz eingehende Schilderungen dieser seltsamen Freibeutergeschichte, während die deutsche Presse, die ja überhaupt wenig Geschick hat, ihren Lesern sensationellen Stoff in sensationeller Aufmachung zu bieten, sich mit nüchternen Notizen begnügte.
Der Titel klingt sehr nach … Jugenderzählung. Und doch ist dieses unser Abenteuer ein Kriminalfall von so krauser Buntheit, von so merkwürdigen Einzelheiten, daß man vielleicht richtiger
Detektivinstitut Lomarlay
als Titel gewählt hätte.
Da ich nun einmal schon vom Thema etwas abgewichen bin, möchte ich hier auch gleich noch etwas anderes erledigen.
Ich, Max Schraut, erhalte durch den Verlag so zahlreiche Briefe von Harst-Freunden zugestellt, daß ich, zumal ich ja häufig genug für längere Zeit von Berlin abwesend bin, diese Briefe oft erst verspätet beantworten kann. Ich bitte die freundlichen Harst-Verehrer also um Nachsicht, wenn ihre Schreiben nicht sofort eine Erwiderung finden. Eine Antwort kommt bestimmt! Damit mag sich jeder zunächst trösten. Und wer gern eine Photographie von Harst und Schraut mit eigenhändigen Unterschriften besitzen möchte, der sende an den Verlag eine Mark und sechzig Pfennig durch Postanweisung ein. Das Doppelbild von uns wird jedem Freude machen.
– Also – die Theorie begann.
Sie begann damit, daß Harald, trotz der Morgenstunde eine Zigarette rauchend, aus den feinen graublauen Wölkchen heraus zu mir sagte:
„Nun, mein Alter, was hältst Du von alledem?“
Ich war auf eine solche Anzapfung vorbereitet. Ich erwiderte:
„Judith Longfellow ist die Komplizin einer Verbrecherbande, die hier die Tresors der Orkalla ausräumen will und zu der auch Sindra Mar gehört.“
„Gut, einverstanden. Allerdings beginnst Du mit dem Selbstverständlichen und daher Nebensächlichen. Wichtiger ist die Frage: wann wird dieser Raub unternommen werden, und was hat es mit Sindra Mars rätselhaftem Verschwinden im Wasser auf sich?!“
Ich lächelte.
„Zuerst erschien mir Judiths Wettervoraussage – nach drei Tagen Prachtwetter! – sehr harmlos. Nun bin ich überzeugt, daß dieses „Prachtwetter“ bedeutet, daß Judith ausspioniert hat, wann in den Tresors wieder größere Mengen von Steinen vorhanden sind, und dies ist nach drei Tagen der Fall. Also dürfte der Raub dann versucht werden.“
„Bravo, lieber Alter.“
„Judith selbst ist jedoch gegen diesen Raub, den sie so vorsichtig mit „Ausflug“ bezeichnete.“
„Freilich.“
„Über Sindra Mar vermag ich nichts zu sagen. Ob er den Schofför des Anwalts ermordet hat, erscheint mir fraglich. Sein seltsames Verschwinden von der Klippe, ebenso das von uns beobachtete spurlose Verschwinden an der Bucht ist mir genau so unerklärlich wie die Botschaft des Phosphor-Fläschchens[7].“
„Auch hiermit bin ich einverstanden,“ nickte Harald sinnend. „Jedenfalls ein Problem, das den Vorzug hat, recht merkwürdige einleitende Vorgänge zu bieten. – Und – was tun wir nun?“
„Hm – wir beobachten zunächst weiter.“
„Gut, das wollte auch ich. – Wen aber?“
„Nun – doch nur Judith, die eigentlich Ozeana mit Vornamen heißt, und den geheimnisvollen Sindra Mar.“
„So?! Sindra Mar?! Mein lieber Alter, Sindra Mar ist durch die Botschaft des Phosphor-Fläschchens gewarnt worden. Er wird sich nicht mehr sehen lassen.“
„Ah – Du magst recht haben!“ Mir war das so im ersten Augenblick entfahren. Im selben Moment schon kam die ruhigere Prüfung der Harstschen Worte. Ich fragte:
„Gewarnt?! Wie denkst Du Dir das?! Gewiß, das Fläschchen enthielt auch einen Zettel und ist von der Schnur unter Wasser samt dem Steine entfernt worden. Wie soll Sindra Mar das getan haben?! Unter Wasser?! – Er müßte denn gerade im Taucheranzug auf dem Grunde der Bucht umherspaziert sein!“
„Und wäre das nicht möglich?!“
Ich wurde aufmerksam.
„Hältst Du das wirklich für … wahrscheinlich?“
„Ja. Jedenfalls müssen Menschen oder doch ein Mensch unten auf dem Buchtgrunde gewesen sein.“
Er beugte sich vor.
Er öffnete die rechte Faust, die er mir vor das Gesicht gestreckt hatte.
Und – in dieser geöffneten Hand lag ein … Blechbüchschen von etwa fünf Zentimeter Länge, an das am einen Ende eine Metallöse angelötet war.
In dieser Öse hing noch ein feuchtes Stückchen Bindfaden! –
„Das habe ich von der Schnur abgerissen,“ sagte Harald. „Das war anstelle des Fläschchens unter Wasser festgebunden worden. Mithin … muß ein Mensch unter Wasser dies getan haben.“
Ich war geradezu sprachlos.
Die Beweisführung war verblüffend und überzeugend zugleich.
Harst zog den Deckel von dem Unterteil des Büchschens ab …
Sagte wieder, stets in demselben gelassenen Tone, der seine geistige Überlegenheit und Sicherheit deutlich verriet:
„Fett hat das Wasser ferngehalten, hat diese … Briefhülle abgedichtet …“
Und er zog einen zusammengerollten Zettel hervor, rollte ihn auf …
Las – englische Worte:
Die rechte Hand muß verschwinden. Der kleine Finger bleibe. Nichts mehr mit Karbid, sondern nur im Notfalle grüne Etekar.
Das war alles.
Und das wird auch der Leser fraglos sofort richtig bewerten und verstehen, vielleicht bis auf das … Etekar.
Ich jedenfalls erklärte sogleich:
„Die rechte Hand ist kein anderer als Sindra Mar. Er kommt nicht wieder. Du hast recht gehabt, Harald. – Und der kleine Finger, der bleiben soll, ist natürlich Ozeana – Judith, die feine Kollegin. Sie soll hier bleiben, weiter spionieren, aber nicht mehr die Laterne benutzen, die Karbidlaterne.“
„Und … grüne Etekar?“
„Hm …“
„Sehr einfach, sehr kindlich: es ist die Umkehrung von … Rakete!“
„Ah – allerdings sehr einfach!“
„Ja – und nachdem wir nun das Büchschen nebst Inhalt besichtigt haben, werden wir es schleunigst wieder an Ort und Stelle bringen.“
Er stand auf.
„Beeilen wir uns, mein Alter … In einer halben Stunde wird es hell.“
Wir beeilten uns.
Zehn Minuten und wir standen unten am Buchtstrande.
Hatten uns mit größter Vorsicht genähert, waren die letzte Strecke gekrochen, hatten den Sturm gekostet, hatten die Musik des Orkans genossen.
Lagen nun unter Wind dicht am Wasser auf hartem Fels.
Nichts Verdächtiges ringsum.
Der Mond war verschwunden, die Dunkelheit noch drückender.
Und ringsum kein lebendes Wesen. Selbst die Seevögel waren vor diesen Sturmstößen geflüchtet.
Matt schillerte vor uns das Wasser der Bucht, warf kleine Blasen an das Gestein.
Und Harald streckte die Hand nach der verborgenen Schnur aus.
Fand sie.
Zog sie empor.
Eng nebeneinander lagen wir.
Und Harst knotete die Schnur in die Öse des Büchschens, bewegte die Hände.
„Fertig!“ sagte er leise.
Ja – – fertig waren wir!!
Wie lautlos schleichende Panther hatten sich da drei … vier Kerle auf jeden von uns geworfen.
Hoben uns empor, preßten uns … ins Wasser.
Tauchten mich hinein.
Ich hielt den Atem an.
Ich fühlte, daß andere Fäuste mich tiefer und tiefer zogen.
Langsam … stetig.
Mußte Atem schöpfen … schluckte Wasser …
Das Blut brauste mir in den Ohren.
Die Todesangst ließ nach.
Jenes wunderbare Gefühl, das alle Ertrinkenden kurz vor dem Schwinden des Bewußtseins durchmachen, überkam auch mich.
Ich glaubte emporzuschweben anstatt zu sinken … Ich war aller Erdenschwere los und ledig. Ich dachte mit letzten klaren Gedanken an Harald.
Und – wurde ohnmächtig … starb …
Starb vielleicht auf dem geheimnisvollen Grunde der Bucht.
Starb?!
Nein – ich lebte … erwachte …
Erwachte in einer engen Schiffskabine auf schmalem Bett.
Erwachte allmählich, richtete mich auf.
An der Decke brannte eine elektrische Lampe, beschien auf dem anderen Bett das liebe alte vertraute Gesicht meines Harald.
Er war munter, blinzelte mir zu, kniff die Lippen fest zusammen.
Das hieß: Nicht sprechen!
Und – ich schwieg … mußte schweigen.
Ließ den Blick wandern.
Eine bescheidene Kabineneinrichtung.
Wände und Decke grau gestrichen.
Die eine Wand leicht gewölbt … kein Fenster. Und – das Arbeiten von Maschinen dazu, ganz dumpf … Ein leichtes Zittern in den Wänden: ein Schiff – – ein Schiff, das in Fahrt war! –
Ich schloß die Augen, überlegte, sann und sann.
Meine Gedanken klärten sich.
Man hatte uns entführt, hatte uns so lange ins Wasser getaucht, bis wir ohnmächtig geworden. Dann waren wir auf ein Schiff geschafft worden.
So war’s … so!! –
Und eine Stunde später erhob sich Harald. Tat noch sehr erschöpft.
Sprach zu mir – über diesen Überfall, meinte, wir seien bestimmt auf einer Motorjacht.
Ja – auch ich roch jetzt so etwas wie Benzinduft.
Auch ich saß nun an dem winzigen Klapptisch vor den dort aufgestellten kalten Speisen und Getränken.
Und Harald sagte, indem er seine Uhr zog:
„Sie ist nicht stehengeblieben. Es ist … elf Uhr vormittags! Wir sind also doch viele Stunden bewußtlos gewesen.“
Wir spürten Hunger.
Aßen langsam, bedächtig.
Tranken kalten Tee dazu.
Und ahnten nicht, das wir zugleich mit dem Tee den Schlaftrunk nahmen.
Wurden müde.
Harald schaute mich vielsagend an.
„Man wird uns ausbooten, mein Alter. Spürst Du, wie der Tee wirkt?!“
„Ausbooten?“
Er antwortete nicht, zuckte nur die Achseln, ging und legte sich auf sein Bett, in den noch nassen Kleidern.
Ich erhob mich taumelnd. Taumelte zum Bett.
Alles drehte sich um mich her.
Und sank auf das Lager.
Ein wahnwitziges Karussell riß mich in einen endlosen Abgrund.
Als ob ich eine Chloroformmaske trüge.
Schlief ein.
Schlief.
Bis Seevögelgekreisch als erste Wahrnehmung der Außenwelt an mein Ohr drang.
Bis Haralds Stimme sich in die gellenden Vogelschreie mischte.
„Habe ich’s nicht vorausgesagt, lieber Alter? Wir sind … ausgebootet worden … Wir sind … Robinsone … Robinsone! Ich war bereits auf dem höchsten Punkt des Inselchens. Rundum kein Land zu erblicken … Und die Sonne sinkt … Es wird Abend … Wir haben viel erlebt.“
Da schüttelte ich auch den Rest der halben Betäubung von mir ab.
Da ermannte ich mich … Und Harald half mir.
Ich saß im Sande … Ringsum Gebüsch. Geradeaus der Strand, das Meer … Und der rote Feuerball des Tagesgestirns dicht über der Horizontlinie.
Auf den langen schäumenden Wogen der wunderbare Abglanz der scheidenden Sonne, ein Farbenspiel, so bezaubernd, daß ich hingerissen, verträumt flüsterte:
„Das Meer – – das Meer!“
„Ja – und wahrscheinlich eine der Malediven-Inselchen westlich von Ceylon,“ sagte Harald trockenen Tones. „Man hat uns ausgesetzt. Man wollte uns nicht direkt ermorden. Man wird hoffen, daß wir hier verhungern. – Wir haben in der verflossenen Nacht einen schweren Fehler begangen. Wir hätten das Büchschen niemals von der Schnur losreißen und nachher wieder befestigen sollen.“
Ich war nun wieder leidlich bei Kräften, sagte halb scherzend:
„Du tatest es ja!“
„Leider! Die Folgen haben wir beide zu tragen. – Betrachte unsere Lage hier nicht zu sorglos. Ich habe das Inselchen schon durchquert. Nirgends findet sich eine Spur von Trinkwasser.“
Und – kaum hatte Harald das letzte Wort ausgesprochen, als mir plötzlich bewußt wurde, daß ich brennenden Durst hatte.
Mein Gesicht verriet mein jähes Erschrecken, und der Freund neben mir fügte in seiner herzlichen Art auch schon hinzu:
„Wir werden nochmals suchen. Hier der Weststrand ist sandig und ohne viel Vegetation. Die andere Hälfte der Insel dagegen besitzt reichen Baumwuchs und undurchdringliche Dickichte.“
Er half mir empor.
Nach den ersten Schritten schon fühlte ich mich noch freier und beweglicher.
Wir erklommen die eine Düne, einen flachen Berg, von dessen Spitze man das Eiland bequem überschauen konnte.
Es war fast kreisrund und mochte einen Durchmesser von einer halben Meile haben.
Die Sonne war fahl verschwunden. Wir mußten uns beeilen, wenn wir von der Dunkelheit nicht überrascht werden wollten.
Unterwegs nach dem waldigen Oststrande öffnete Harald ein paar Möweneier. Wir schlürften jeder sechs mit einigem Widerwillen aus, wollten eben bei Kräften bleiben.
Die Bäume reichten zum Teil bis an den Strand heran. Es waren mächtige tropische Stämme darunter, deren Wurzelwerk vielfach unterwaschen war, so daß zwischen den schenkeldicken Wurzelästen[8] dunkle Löcher in der rotbraunen Tonerde gähnten.
Gerade als wir eine kleine Landzunge umschritten hatten, stießen wir abermals auf eine solche Gruppe tropischer Urwaldriesen, aus deren Wurzelstöcken die Hochflut das Erdreich herausgerissen hatte.
Hier machte Harald plötzlich halt.
Sagte in besonderem Tone:
„Ich will Dir nun gleich etwas recht Auffälliges noch mitteilen, mein Alter. Ich deutete schon an, daß ich das Inselchen bereits umrundet habe. Hierbei suchte ich nach den Spuren, wo unsere Entführer uns an Land gesetzt hatten. Ich fand nur die Fährte von vier Männern, die uns getragen haben, und diese Fährten begannen nicht etwa am Strande, sondern dort links von jener kleinen Lichtung, und zwar war Anfang und Ende der Fährten gleichsam unvermittelt dem Boden eingeprägt, das heißt: die Verbindung bis zum Wasser hinab fehlte.“
„Allerdings sehr merkwürdig!“ nickte ich, gespannt auf das, was Harald noch äußern würde.
„Hier nun bemerke ich jetzt, wo ich ruhiger bin, im Sande etwas, das zu denken gibt!“ fuhr er hastiger fort und zeigte vor uns in den hellen Seesand. „Bitte – was siehst Du?“
„Hm – etwas wie einen sehr breiten unregelmäßigen Strich.“
„Ja – einen Strich, der dadurch entstanden ist, daß die vier Leute einen schweren Ast hinter sich herzogen und so ihre Spuren verwischten … Da, der Strich geht bis ans Wasser, und dort liegt auch der Ast, den man als Harke gleichsam benutzt hat. Nach links hin aber“ – und er wandte sich um – „endet der Strich, wie man bei scharfem Hinblicken erkennt, vor einem der Wurzelstöcke des Baumriesen. – Folge mir.“
Ich tat es.
Ich tat es rascher klopfenden Herzens, denn [ich war] überzeugt, daß wir vor einer wichtigen Entdeckung [standen.][9]
Wir hatten nun die unterspülte Wurzelmasse dicht vor uns. Seetang und lange, braune Meerespflanzen waren auch hier wie Bärte an den Wurzelästen hängen geblieben und bildeten Vorhänge, die den Einblick in das Wurzelgewirr verwehrten.
Und – ausgerechnet hier endete der Harkenstrich!!
Harald lachte plötzlich leise auf.
„Ein Geheimnis!!“
Er schob den Seepflanzenvorhang beiseite …
Legte so ein dunkles Loch frei, das gut anderthalb Meter hoch und ebenso breit war.
Bückte sich, drang in das Loch ein, tastete sich weiter.
Tiefste Dunkelheit ringsum.
Und ich hinter dem Freunde her durch diesen durch Bretter abgestützten Gang.
Bis – vor uns Licht schimmerte – die Dämmerung eines klaren Tropentages.
Bis wir ins Freie traten – durch eine Öffnung in der steilen Seite eines lehmigen Hügels – hinaus auf eine Lichtung inmitten eines undurchdringlichen Dickichts, das wie ein stachliger Gürtel von hundert Meter Breite diese Waldblöße umgab.
Und hier … hier das Geheimnis: ein kleines Blockhaus mit blinkenden Fenstern, ein Stall daneben.
Unverschlossen die Türen. Und in der Hütte ein einziger Raum, ein Bild, daß wir beide wie gebannt stehen blieben.
Man denke: Hier in dieser Inselwildnis, hier in diesem aus roh behauenen Stämmen hergestellten Hause, dessen Dach mit Wellblech benagelt war, die Innenwände mit gelber Seide bespannt, ebenso die Decke.
Der Fußboden mit den kostbarsten Teppichen belegt … dazu ganz moderne Salonmöbel, mit Goldbrokat bezogen, – überall nur Wertvolles, Gediegenes, Geschmackvolles: Gemälde, Vasen, Bronzen und anderes.
War’s da ein Wunder, daß wir vor Staunen in diesen prachtvollen Salon wie gebannt hineinstarrten?!
War’s da wunderbar, daß selbst Harald flüsterte: „Bei Gott, das habe ich nicht zu finden vermutet!!“
Eine flüchtige Erinnerung kam mir da – eine noch ganz frische Erinnerung an Lahore, die alte indische Stadt, die da im Norden auf den Trümmern der ehemaligen Residenz der Mogulkaiser aufgebaut ist – an das Rätsel der Bienen, wie ich den zweiten Teil von „Tawa Barru, der Verrückte“ benannt habe.
Auch da spielte ein kostbar ausgestattetes Gemach eine Rolle, das ein Verbrecher sich eingerichtet hatte.
Und hier – hier?!
Wer war Besitzer dieser Blockhütte?
Da trat Harald rasch ein.
Schritt auf einen zierlichen Damenschreibtisch zu, winkte mir.
Und in einem altindischen Elfenbeinrahmen standen da zwei große Photographien: Judith Longfellow, die angebliche Detektivin, und ein Mann mit grauem Spitzbart in einer Art Marineuniform.
Das Gesicht dieses Mannes wirkte fast abstoßend, da in den großen Augen dieses schlanken Menschen ein Ausschnitt von eiserner Strenge gepaart mit hohnvoller Grausamkeit lag.
Harald nahm die Bilder aus dem Rahmen. Aber auf der Rückseite war der Stempel des Photographen sorgfältig wegradiert.
Wir durchsuchten den Raum. Die Gemälde, zumeist Seestücke, warens, die Harald schließlich Aufschluß über die Erbauer dieses Schlupfwinkels gaben, denn – an den meisten Gemälden klebten hinten Papierschildchen mit den Namen von … Schiffen, und diese Schildchen hatten alle etwa folgenden Aufdruck:
Bestandverzeichnis A
der Reederei … soundso.
Dampfer Triton,
Nr. 128.
„Piraten – Seeräuber,“ erklärte Harald. „Zusammengeraubtes Gut von Dampfern, die im Stillen Ozean verschollen sind. – Da: Dampfer Osiris, – da: Dreimaster Kingstown – und so weiter! – Nun weiß ich’s, mein Alter: Sindra Mar und Judith-Ozeana sind Mitglieder einer Piratenbande, die die Tresore der Orkalla-Minen ausplündern will und auch ausplündern wird. Denn wir beide, die wir allein dies verhindern könnten, sind hier gefangen gesetzt worden!“
Seine Augen sprühten auf, sprachen eine ernste Drohung aus. – –
Zehn Minuten später hatten wir in dem Stalle neben der Blockhütte eines jener kleinen, zerlegbaren Aluminiumboote gefunden, wie sie von Forschungsexpeditionen zumeist benutzt werden.
Und neben dem Stalle fanden wir auch einen artesischen Brunnen: Trinkwasser!
Wir hatten nun alles, was wir brauchten. Wir vertrauten dem Meere, das uns günstig sein würde.
Ein stetiger Wind trieb ein kleines Segelboot gen Osten der Küste Vorderindiens zu.
Hiermit schließe ich den ersten Teil.
Hiermit: wir landeten unweit der Hafenstadt Quilam, erfuhren hier, daß eine Verbrecherbande einen ungeheuren Diamantenraub in Orkalla verübt hatte.
Und – reisten mit der Bahn von Quilam nach Orkalla!!
So – – begann unser Kampf gegen das Piratendorf.
Generaldirektor Tompsen war wie die meisten Engländer ein leidenschaftlicher Angler.
Seit dem Unheil der vorvergangenen Nacht, in der eine Bande maskierter Räuber von fünfzehn Mann, die Tresore im Verwaltungsgebäude ausgeräumt und vorher zwei Wächter, drei Aufseher und vier Arbeiter niedergeknallt hatte, war er so beschäftigt gewesen, daß seine Nerven geradezu nach dem beruhigenden Angelsport verlangten.
Gegen sechs Uhr nachmittags begab er sich dabei mit seinem Angelzeug nach jener Bucht, die er so sehr gern als Jachthafen benutzt hätte, wenn eben nicht die Einfahrt so eng gewesen wäre.
Er suchte sich ein bequemes Plätzchen und warf drei Angeln aus, zündete sich seine kurze Pfeife an und überlegte nun nochmals all die trüben Ereignisse der letzten Tage.
Harst und Schraut waren spurlos verschwunden.
Verschwunden war auch Sindra Mar, der rätselhafte Schuft, und die blonde Judith Longfellow hatten die Banditen entführt, die mit einem großen Kutter nachts nach Orkalla gekommen waren.
Mister Tompsen seufzte.
Der Schaden, den die Orkalla-Gesellschaft erlitten, ging in die Millionen.
Was nützte es, daß nun die Geheimpolizisten hier zu Dutzenden umherschwärmten, daß sogar der bekannte Detektiv Sidney Lomarlay aus Singapore der Gesellschaft seine Dienste angeboten hatte und heute mittag hier eingetroffen war?!
Die Diamanten waren … futsch, und … futsch waren auch die beiden einzigen Männer, zu denen Mr. Tompsen volles Vertrauen hatte, denen allein es vielleicht gelungen wäre, die Beute den Banditen wieder abzujagen. –
Tompsen zog den ersten Fisch heraus.
Ärgerte sich: am Haken hing ein Seeteufel. Einer jener unglaublich häßlichen Fische, die leider zu gern anbeißen.
Fluchend warf der Generaldirektor das Ungeheuer wieder ins Wasser zurück.
Und gerade als er einen neuen dicken Wurm auf den Haken streifte, sagte jemand ganz leise hinter ihm:
„Drehen Sie sich nicht um, Mr. Tompsen. Hier liegen Harst und Schraut gut gedeckt zwischen den Steinen, und niemand außer Ihnen soll erfahren, daß wir noch am Leben sind.“
Tompsen faßte sich schnell.
Erwiderte, ohne den Kopf zu drehen:
„Gott sei Dank, Mr. Harst! – Wissen Sie schon, was hier geschehen?!“
„Ob ich’s weiß! – Nun sollen Sie mir aber noch ein paar Fragen beantworten, denn der Wirt unten in Orkalla in der Hafenschenke konnte uns armseligen indischen Kulis nur mäßigen Aufschluß geben. – Zunächst: Wann traf Mr. Lomarlays Depesche ein, in der er als Inhaber des Detektivinstituts den Fall übernehmen wollte?“
„Gestern abend.“
„Und woher kam sie?“
„Aus Madras. – Er hatte dort zu tun gehabt.“
„Danke. – Miß Judith Longfellow ist also ebenfalls geraubt worden?“
„Leider. Die Banditen hielten mein Wohnhaus umstellt und erzwangen die Herausgabe der Erzieherin.“
„Ereignete sich sonst noch bei dem Überfall etwas, das Ihnen besondere auffiel? Ich meine irgend etwas Außergewöhnliches?“
„Hm – nachher beobachtete ich etwas – nachher, Mr. Harst! Ich war an den Strand geeilt, nachdem die Banditen das Feld geräumt hatten, und da beobachtete ich mit Hilfe meines Fernglases etwas sehr Seltsames. Die Nacht war mondhell, und ich konnte den Kutter der Räuber genau verfolgen. Er steuerte südwärts auf Ceylon zu. Mit einem Male zogen die Schufte die Segel ein. Dann schwand das Mondlicht für Sekunden hinter einem Wolkenfetzen, und als es wieder hell wurde, war der Kutter wie weggezaubert. Und ich hätte ihn auch ohne Segel unbedingt bemerken müssen, Mr. Harst … Doch – die See war leer! Es schien, als ob die Schufte den Kutter, den sie übrigens dem Fischer Maralar in Orkalla gestohlen hatten, versenkt haben müßten! – Begreifen Sie das?!“
„Ja …“
„Wie – Sie könnten mir erklären, ob …“
„Ich könnte es, will es aber erst später tun. – Nun hören Sie genau hin, Mr. Tompsen. Ich sagte schon, daß nur Sie Kenntnis von unserer Rettung haben dürfen. Man hatte uns auf ein Inselchen der Malediven-Gruppe verschleppt. Sie werden Ihre Motorjacht Orkalla sofort reisefertig machen, werden aber zwei neue Matrosen anwerben – uns beide.“
Und Harald erteilte dem Generaldirektor nun die genauesten Anweisungen, damit unser Inkognito unbedingt gewahrt bliebe.
Dann zum Schluß: „Der Kapitän der Jacht erhält von Ihnen Befehl, demjenigen zu gehorchen, der ihm einen Ausweis von Ihnen zeigt – mir, Harald Harst! Ich werde mich dem Kapitän erst auf See zu erkennen geben.“ – –
Bereits abends neun Uhr meldeten wir uns bei Kapitän Groonar an Bord der Orkalla – als indische Matrosen.
Und genau um elf Uhr stach die Motorjacht bei prächtigem Wetter in See. –
Sie hatte insgesamt elf Mann Besatzung. Wir beide waren in einem besonderen Verschlag im Vorschiff untergebracht worden. Die übrigen Matrosen waren hellbraune Singhalesen von der Insel Ceylon, der Steuermann ein Irländer namens Coogan, und der Maschinist ein Schwede namens Rolfsen …
Kaum hatte die Orkalla das Land aus Sicht verloren, als wir beide zu Kapitän Groonar in seine Kajüte hinabstiegen.
Groonar saß und trank Whisky.
Kein angenehmer Mensch, dieser Groonar, schon äußerlich nicht.
„He – was wollt Ihr?!“ schnauzte er uns an.
Vor ihm auf dem Tische lag ein versiegelter Brief.
„Brüllen Sie nicht so,“ sagte Harald leise, aber scharfen Tones.
Der Kapitän stutzte.
„Verdammt – das ist ja …“
„Öffnen Sie jetzt den Brief Tompsens,“ unterbrach Harst ihn. „Sie wissen, daß jemand Sie dazu auffordern wird. Der Jemand bin ich!“
„Verdammt!“ knurrte Groonar und gehorchte.
Las … las …
Fragte: „Sind Sie Mr. Harst?“
„Ja. Und Sie werden nun genau das tun, was ich anordne.“
„Hm …“
„Weigern Sie sich? Ich denke, der Inhalt des Briefes ist klar!“
„Das ist er!“ Und des Kapitäns pockennarbige Bulldoggenfratze verzog sich wütend.
„Sie werden also sofort Kurs auf die östlichste der Malediven-Inseln nehmen. Es ist nur ein kleines Eiland, wahrscheinlich ohne Namen auf den Seekarten …“
„Wenn’s sein muß!“ brummte Groonar unfreundlich.
Da wurde Harst wütend.
„Kapitän, falls Sie den Ton nicht ändern, werde ich Sie zwingen, sofort den Hafen von Orkalla wieder anzulaufen, und dort – werden Sie nicht mehr Angestellter der Minengesellschaft sein! Verstehen Sie mich! Man wird Sie augenblicklich entlassen!“
Ein tückischer Blick traf Harald.
„Ich … gehorche ja schon!“ lachte der widerliche Patron höhnisch. „Was wollen Sie denn noch mehr?! Ich werde sofort an Deck gehen.“
Indem … klopfte es …
Die Kajütentür ging auf, und ein schlanker bartloser Mann trat ein.
Ein Mann mit faltigem Gesicht, halb zugekniffenen Augen.
„Teufel – wo kommen Sie her?“ rief der Kapitän aufspringend.
Der Fremde verbeugte sich.
„Ich hatte heute abend das Vergnügen, Sie bei Mr. Tompsen kennen zu lernen, Mr. Groonar.“
Er hatte bisher die Hände auf dem Rücken gehalten, brachte sie nun zum Vorschein, und – – hielt uns jedem … einen Revolver vor das Gesicht.
„Solltet Ihr beiden Halunken auch nur mit der Wimper zucken, so drücke ich ab!“ drohte er. „Ich bin Sidney Lomarlay, der Detektiv. Vielleicht habt Ihr Schufte schon von mir gehört!“
Über Groonars Gesicht lief ein Schimmer satanischer Freude.
Er brüllte kreischend:
„Ah – das sind wohl gar nicht Harst und Schraut, Mr. Lomarlay?!“
„Bewahre! Gauner sind’s! Mitglieder der Banditenbande wahrscheinlich, die die Diamanten raubten.“
Und Harst … mein Harald Harst benahm sich jetzt sehr seltsam.
Sagte ganz bescheiden:
„Mr. Lomarlay, Sie befinden sich da wirklich in einem schweren Irrtum. Ich bin Harald Harst.“
Der Herr Kollege aus Singapore, übrigens eine stramme imponierende Erscheinung, lächelte ironisch.
„Gestatten Sie,“ sagte er mit überlegenem Hohn, „– gestatten Sie zu bemerken, daß ich heute nachmittag unten an der Bucht beobachtete, wie Sie beide den Generaldirektor so fein eingewickelt haben. Er durfte sich nicht mal nach Ihnen umdrehen! Ihre Stimme wird wohl mit der des echten Harst Ähnlichkeit haben, Sie Schurke, und das haben Sie tadellos ausgenutzt! – Kapitän,“ wandte er sich an den grinsenden Groonar, „rufen Sie ein paar Matrosen herbei und lassen Sie diese Verbrecher fesseln – auf meine Verantwortung! Und damit Sie ganz im Bilde sind: ich hatte mich hier an Bord geschlichen, um mit diesem Gesindel auf meine Art abzurechnen! Wir werden jetzt auch tatsächlich nach dem Malediven-Eiland fahren und dort mal Umschau halten! Die beiden Halunken hier werden schon wissen, weshalb sie gerade dorthin wollen!“
Und wieder sagte Harald da – ohne die geringste Erregung, obwohl die Sachlage doch wahrlich jedem das Blut zu Kopfe getrieben hätte:
„Mr. Lomarlay, ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam, daß ich tatsächlich Harald Harst bin. Ich …“
„Halten Sie das Maul!“ polterte da der grobe Kapitän los. „Jetzt mit einem Male schlagen Sie Schuft ein ganz anderes Tönchen an! Vorhin mir gegenüber waren Sie großschnäuzig, als ob ich’n Londoner Stiefelputzer wäre! – Mr. Lomarlay, ich hole nun ein paar von meinen braunen Jungs!“
Und er schob sich an uns vorbei zur Tür hinaus.
Lomarlay stand noch immer mit den schußfertigen Revolvern da und meinte nun gutmütig-überredend:
„Boys, gebt das Spiel auf! Ihr seid Mitglieder jener Banditenbande, nicht wahr?“
Er trat etwas zurück, um uns besser beobachten zu können.
Harald erwiderte:
„Mr. Lomarlay, woraus schließen Sie denn, daß die beiden indischen Kulis, die hinter Mr. Tompsen an der Bucht im Geröll lagen, nicht Harst und Schraut in einer Verkleidung gewesen sein können?“
„Weil Harst und Schraut offenbar tot sind, Boys! Tompsen war zu leichtgläubig. – Wollt Ihr nun gestehen?!“
Harald schwieg.
Da traten auch schon der Maschinist Rolfsen, der Schwede, und zwei Singhalesen ein.
Wir ließen uns ruhig die Arme auf den Rücken fesseln.
Ließen uns ruhig von Rolfsen und den Matrosen in unsere Kammer führen, wo sie uns einschließen sollten.
Hier aber flüsterte Harald in deutscher Sprache dem Schweden hastig zu:
„Verstehen Sie deutsch?“
„Ja …“ Rolfsen war offenbar sehr überrascht.
„Ich bin Harald Harst! Kommen Sie nachher heimlich zu uns. Es soll Ihr Schade nicht sein! Sie hören meinem Deutsch ja an, daß ich kein Ausländer bin. Und – schweigen Sie!“
Rolfsen, der blonde stramme Bursche, warf die Tür zu und verschloß sie.
Harald flüsterte:
„Er wird kommen!!“
Gegen ein Uhr morgens erschien der Schwede auch wirklich.
Sehr leise – sehr vorsichtig.
Wir saßen auf Haralds Bettrand. Rolfsen ließ den Schein seiner Laterne über uns hingleiten. In der Rechten hielt er als Waffe eine kurze Eisenstange. Er war noch mißtrauisch.
Und sagte dann flüsternd – auf Deutsch:
„Es hat mich in der Tat überrascht, daß Sie des Deutschen mächtig sind. Immerhin ist das noch kein Beweis, daß Sie beide Harst und Schraut sein können, denn vorläufig muß ich dem Detektiv Lomarlay mehr glauben als Ihnen beiden.“
„Gewiß, Herr Rolfsen … Das müssen Sie. Ich werde Ihnen nun aber den Beweis erbringen, daß Lomarlay sich irrt. – Zunächst, wo ist der Detektiv, was tut er?“
„Er schläft. Er hat mit dem Kapitän bis vor einer halben Stunde wacker gezecht. Nun schlafen sie.“
„Danke. – Setzen Sie sich bitte uns gegenüber dort auf Schrauts Bett. – Hören Sie mich an.“
Rolfsen nahm Platz.
„Herr Rolfsen, ich trage stets meinen von der Berliner Polizei abgestempelten Ausweis bei mir, ebenso Schraut, selbst wenn wir verkleidet sind … – Wollen Sie bitte aus dem rechten Ärmelaufschlag unserer Kulijacken diese Ausweise herausnehmen. Als besondere Kennzeichen werden Sie dort bei mir zwei Schußnarben, eine am linken Oberarm, die andere an der rechten Schulter, sowie einen Leberfleck über dem Herzen vermerkt finden, während bei Freund Schraut ähnliche Merkmale angegeben sind. Sie werden diese Merkmale in Augenschein nehmen und dann kaum mehr zweifeln, daß Herr Kollege Lomarlay stark auf dem Holzwege ist.“
Rolfsen prüfte die Ausweise.
„Die sind echt,“ meinte er kopfnickend.
Und dann schaute er sich die besonderen Kennzeichen an, sagte staunend:
„Ja – um alles in der Welt, Herr Harst, – weshalb haben Sie denn nicht Lomarlay gegenüber diesen Beweis geführt?! Sie sind doch Harald Harst, und das da ist ebenso zweifelsfrei Herr Schraut.“
„Allerdings – wir sind’s! Ich habe meine ganz besonderen Gründe, Lomarlay die Ausweise nicht unter die Nase zu halten.“
Harald war in bester Laune.
„Und diese Gründe sind so schwerwiegender Art, daß ich Sie bitte, uns weiter als … Verbrecher zu behandeln. – Ob der Steuermann Coogan wohl zu uns halten würde, Herr Rolfsen?“
„Ja. Er haßt den Kapitän. Und auch die Matrosen hassen den Säufer Groonar, der es nur so tadellos versteht, vor Herrn Tompsen den Biedermann zu spielen. Und gerade ich habe auf die Leute den größten Einfluß. Sie können überzeugt sein, Herr Harst, daß die ganze Besatzung außer Groonar im Notfalle zu Ihnen hält, zumal ich jetzt ja weiß, daß Herrn Tompsens Brief, der Sie gleichsam zum ersten Kapitän macht, mit vollem Recht geschrieben wurde.“
Gleich darauf entfernte sich Rolfsen ebenso lautlos wie er gekommen war.
Als wir wieder allein in der dunklen Kammer waren, fragte ich Harald:
„Wie denkst Du eigentlich über Lomarlay?“
„Hm – das ist doch wohl klar, mein Alter,“ war die zweideutige Antwort.
Und – ich schwieg. Ich war auch müde und matt.
Fünf Minuten später war ich trotz meiner Fesseln auf meinem Bett eingeschlafen. – –
Zwei endlose Tage und Nächte brachten wir in dem engen stickigen Verschlage zu.
Zwei Tage, die uns wie Monate erschienen.
Und ein einziges Mal in diesen achtundvierzig Stunden gaben der Kapitän und der Detektiv Lomarlay uns die Ehre und fragten, ob wir nun endlich ein Geständnis ablegen wollten.
Harald blieb stumm. –
Desto eifriger gestaltete sich insgeheim der Verkehr zwischen uns und Rolfsen und dem Steuermann Coogan. Sie verschafften uns jede nur irgend mögliche Erleichterung, mußten andererseits jedoch sehr vorsichtig sein, damit der Kapitän nicht argwöhnisch würde.
In diesen endlosen Stunden hatte ich überreich Zeit gehabt, über mancherlei nachzudenken.
Ich wurde mir trotzdem nicht klar darüber, was für eine Rolle Sidney Lomarlay hier spielte. Es erschien mir doch geradezu widersinnig anzunehmen, daß er etwa absichtlich gegen uns intrigiere. Aus welchem Grunde, zu welchem Zweck?! Er mochte überzeugt sein, daß wir tatsächlich Verbrecher seien, obwohl auch hiergegen mancherlei sprach.
Kurz – Lomarlays Persönlichkeit blieb für mich zweifelhaft, und dies umsomehr, als Harald mit bekannter Hartnäckigkeit sich überhaupt nicht über ihn äußerte. –
Dann aber kam jene dritte Nacht an Bord der Motorjacht Orkalla, jene Nacht, deren Ereignisse unauslöschlich in meiner Erinnerung haften geblieben sind.
Elf Uhr war’s.
Da erschien sehr eilig Rolfsen in unserer Kammer und meldete, daß die Insel in Sicht sei.
Harst überlegte kurz.
„Wir kommen mit an Deck,“ erklärte er dann. „In der Dunkelheit werden Lomarlay und der Kapitän uns nicht erkennen. Und wenn – dann ist’s auch kein Unglück.“
So schlichen wir mit nach oben, hielten uns ganz vorn am Bugspriet auf und waren in unserer Kuli-Verkleidung von Singhalesen gar nicht zu unterscheiden.
Es war eine halbdunkle, gewitterschwüle Nacht.
Im Osten flammte der Horizont alle fünf Sekunden in prächtigem Wetterleuchten auf.
Die Insel war als dunkle Masse auf den leicht schillernden Fluten geradeaus zu erkennen.
Lomarlay und Groonar standen auf der Kommandobrücke. Die Positionslaternen gaben genügend Licht. Ich sah zu meinem Erstaunen, daß Lomarlay am Steuerrade lehnte und die Hände an den Radspeichen hatte.
„Der Kollege steuert,“ flüsterte ich Harald zu.
„Oh – er versteht’s!“ – Das war alles.
Die Jacht schwenkte herum.
„Merkst Du?!“ meinte Harst ironisch. „Mister Lomarlay weiß hier glänzend Bescheid offenbar! Er will hinter jener Landzunge ankern, in deren Nähe der unterirdische Gang in das Dickicht beginnt.“
Und diese Worte wirkten in meinem Hirn wie ein greller Blitzschlag.
Urplötzlich tauchte in mir ein Verdacht auf, der bisher als zu widersinnig von mir immer verworfen war.
Doch – ich kam nicht dazu, diesen Verdacht Harald gegenüber zu äußern.
Auf der Brücke der Jacht flammte mit einem Male ein grünes Licht auf – ein bengalisches Zündholz.
Und im selben Moment brüllte der Kapitän auch schon:
„Schuft – nun weiß ich Bescheid!“
Das Flämmchen erlosch.
Ich hörte einen gellenden Schrei.
Hatte noch gesehen, daß Groonar dem Detektiv an die Kehle gefahren war.
Sah nun, daß ein Mann mit langem Satz von der Brücke in die Wogen sprang.
Sah Harald auf die Kommandobrücke stürmen.
Und – er hatte nun die Radspeichen in Händen.
Er riß das Steuerrad herum, so daß die Jacht in kurzem Bogen wieder von der Spitze der Landzunge sich entfernte.
Jetzt auch Haralds scharfe Stimme:
„Rolfsen – den Scheinwerfer einschalten! Wir müssen Licht haben!“
Sekunden später flammte vor mir das Riesenauge des Scheinwerfers auf.
Und – der Strahlenkegel streifte die Landzunge, den Strand.
Da lag unweit des Ufers ein Schiff mit zwei Masten – ein Schoner von geringer Größe anscheinend.
Der Lichtkegel glitt über ihn hinweg.
„Beleuchtet den Schoner!!“
Rolfsen drehte den Strahlensender.
Drehte hierhin – dorthin.
Ich stand neben ihm.
„Pest, wo ist der Kahn geblieben, Herr Schraut?!“ fluchte der Schwede aufgeregt.
Das Schiff, der Zweimaster drüben war verschwunden.
So spurlos, so plötzlich verschwunden, als hätten ihn Geisterarme durch die Luft davongetragen.
„Scheinwerfer aus!“ ertönte Harsts Befehl.
Der Strahlenkegel schien in die riesige Linse zurückzukriechen.
Nach dem grellen Licht waren die Augen derart geblendet, daß es einige Minuten bedurfte, bevor sie wieder fähig waren, in dem Halbdunkel der Nacht etwas zu unterscheiden.
Harst rief mich auf die Brücke.
Und hier … stolperte ich fast über einen menschlichen Körper.
Es war Kapitän Groonar.
Und – er war tot.
Tot – – Stich ins Herz – erstochen von Sidney Lomarlay. –
Harald steuerte die Jacht jetzt parallel zur Küste der Insel nach Süden.
Die Orkalla lief nur mit halber Fahrt. Vorn am Bugspriet paßte Coogan auf, ob nicht Untiefen sich bemerkbar machten. –
Ich kam kaum richtig zu klaren Gedanken. Harald hatte auch Rolfsen auf die Brücke befohlen.
„Sind Waffen an Bord?“ fragte er den Schweden.
„Gewiß, Herr Harst. Seitdem immer wieder Schiffe hier in den asiatischen Gewässern als verschollen gemeldet werden und das Gerücht umgeht, ein Korsar treibe hier bis ins Gelbe Meer hinauf sein Unwesen, hat Tompsen die Orkalla mit einem Revolvergeschütz ausgerüstet. Es ist im Nu montiert. Außerdem sind für jeden Mann ein Karabiner und zwei Revolver vorhanden.“
„Dann – an Deck mit dem Geschütz! Heraus mit den anderen Waffen!“ –
„Sofort, Herr Harst!“ –
Auf der Orkalla herrschte eine fieberhafte Aufregung.
Und doch wußte niemand, um was es sich handelte.
Nur daß die Lage ernst und gefahrdrohend war, merkten wir an Haralds Befehlen.
Er verteilte die Leute an der Reling rund um das Deck.
Rolfsen mußte das Geschütz laden.
„Sie schießen, sobald ich Feuer kommandiere,“ hatte Harst erklärt.
„Ja – worauf denn?“ fragte der Schwede kopfschüttelnd.
„Oh – das werden Sie schon sehen,“ lautete Harsts Antwort.
Zwei Matrosen mußten den toten Kapitän unter Deck schaffen.
Und – die Jacht steuerte nun wieder der Landzunge zu.
„Schraut – an den Scheinwerfer!!“
So erhielt auch ich meinen Posten.
Wir alle schwitzen in dieser siedend heißen Nacht wie in einem Backofen.
Wir alle hatten nur den einen Wunsch: Wenn etwas passieren mußte, wenn ein Kampf bevorstand, dann – recht bald!
Selbst Rolfsen, der sonst ein sehr ruhiger Mensch war, flüsterte mir halblaut zu, denn das Revolvergeschütz stand unweit des Scheinwerfers:
„Herr Schraut, was ist eigentlich los?! Ich fiebere förmlich! Herr Harst macht uns ja geradezu wild!!“
„Sicher nicht ohne Grund,“ meinte ich.
Und meine Augen schweiften zur Landzunge hinüber.
Wo war Lomarlay geblieben?! Hatte er die Insel erreicht?! Hatte einer der Haifische, deren Rückenflossen hin und wieder neben der Jacht auftauchten, ihn in die Tiefe gezogen?!
Auch Rolfsen begann nun diese Frage zu erörtern.
Und mit hinein in diese Unterhaltung vom Ufer her ein schriller – überschriller Schrei.
Ein helles Gewand flatterte.
Eine Frau stürmte dem Strande zu.
„Scheinwerfer!!“ rief Harst.
Und – ich ließ den Lichtkegel aufflammen.
Ich beleuchtete das Ufer.
Die Frau.
Hinter der … ein Mann dreinhetzte.
Nochmals schrie sie da in heller Angst schrill auf.
Sprang ins Wasser.
Drehte sich um.
Ihre Stimme klang klar in die stille Nacht:
„Zurück, Sindra Mar – – zurück!“
Ein Hohnlachen.
Und – – ein Feuerstrahl aus Judith Longfellows vorgestreckter Hand.
Sindra Mar taumelte, schlug in den Sand.
Und – fast gleichzeitig vom Meere her – hinter uns ein Knall – – ein Schuß eines Geschützes.
Heulend fuhr ein Geschoß dicht über unser Deck hin.
Ganz von selbst stellte ich da den Scheinwerfer ab.
Blickte gen Westen.
Von dort war der eherne Gruß gekommen.
Aber – dort war nichts zu sehen – – nichts! Kein Schiff – kein Licht.
Harsts Stimme:
„Ein Boot ausschwingen – – rasch!“
Inzwischen war Judith Longfellow verschwunden.
Das Boot trug Harst, mich und vier Singhalesen an Land.
Steuermann Coogan sollte inzwischen die Jacht vor Anker legen.
Wir näherten uns vorsichtig dem Ufer. Als der Kiel des Bootes über den Sand schrammte, sprang Harald mit langem Satz als Erster auf trockenen Boden.
Die vier Singhalesen mußten im Boote bleiben.
„Ihr schießt auf jeden, der sich nähert und auf Anruf nicht stehen bleibt,“ befahl Harald.
Dann eilten wir den Bäumen zu, vorüber an Sindra Mars reglosem Körper.
Hinein in den unterirdischen Gang.
Hier holte Harald eine Taschenlampe hervor.
Schaltete sie ein.
„Clement heraus, mein Alter!“
Wir hatten noch unsere kleinen treuen Repetierpistolen.
Wir hatten sie, und es war so gut, als ob wir zu einem Dutzend gegen die Lichtung und das Blockhaus vorrückten.
In der Blockhütte war es hell.
Die Fenster schimmerten durch das Dunkel. Die Tür, stand halb offen.
Wir schlichen näher.
Lautlos – – langsam.
Mißtrauisch.
Wußten wir, wer uns hier außer Ozeana noch gegenübertreten würde?!
Und – – hörten plötzlich das fassungslose Schluchzen einer Frau.
Erblickten durch die breite Türspalte Ozeana, die vor dem eleganten Schreibtisch saß und den Kopf in die Arme gestützt hatte.
Ganz zusammengekauert saß sie da.
Weinte … weinte.
Und – im übrigen war der Salon, dieser vornehme, stilvolle Salon hier inmitten der Inselwildnis, leer … leer.
Niemand war bei dem Mädchen, das mit zur Bande der Diamantenräuber gehörte, zu den Piraten.
Wir warteten.
Lagen im Schatten eines Busches.
Hatten das Bild des verzweifelten blonden Mädchens dicht vor uns. –
Und – nach Minuten erhob sie sich.
Faßte in die Tasche ihres hellen Sportrockes. Holte eine … Photographie hervor.
Küßte sie.
Griff nach der Schreibtischplatte.
Nach dem dort liegenden Revolver.
Richtete die Waffe gegen die eigene Stirn.
Stand mit dem Rücken nach uns hin.
Ein Schatten glitt hinter sie. Harst war’s. Harst packte ihren Arm … Mit einem Schrei fuhr sie herum … Die Waffe entlud sich, die Kugel fuhr … in die große Photographie im Elfenbeinrahmen … Das Glas zersplitterte.
„Ozeana,“ sagte Harald gütig, „was Sie auch gefehlt haben mögen: diese Sekunden, in denen Sie entschlossen waren, Ihrem Leben ein Ende zu machen, gleichen vieles aus. Man mag den Selbstmord eine Feigheit nennen. Moralisten tun’s, die nie den Mut finden würden, von selbst, aus eigenem Willen die Schwelle des Todes zu überschreiten.“
Er nahm ihr den Revolver ab.
Aufschluchzend sank sie wieder in den Schreibsessel, bedeckte das Gesicht mit den Händen … weinte. –
Ich war leise eingetreten.
Hob das Bild auf, das Ozeana geküßt hatte.
Es war eine Photographie des Ingenieurs Hektor Laronge von den Orkalla-Minen.
Es war Ozeanas stille Liebe … Es war das Bild des Mannes, auf den Sindra Mar eifersüchtig gewesen – schon damals, als wir an der Wand der Kulibaracke lauschten.
Harald aber wies auf das andere Bild, auf die große Photographie, das Doppelbild Ozeanas und des Mannes im grauen Spitzbart.
Es lag auf dem Teppich.
Und die Kugel – ein seltsamer Zufall! – war dem Manne mitten durch die Brust gegangen. –
Harst beugte sich über die Weinende.
„Ozeana, nun ist die Stunde da, wo Sie beichten müssen,“ sagte er eindringlichen Tones. „Erleichtern Sie Ihr Herz. Brechen Sie vollständig mit der Vergangenheit – um Hektor Laronges willen!“
Da fuhr sie empor.
Der Name wirkte.
Flammende Röte schlug ihr in die Wangen.
Und langsam setzte sie sich wieder.
Totenblässe überflog ihr schmales Antlitz.
Sie zitterte … kämpfte mit sich.
„Ich … ich darf nicht beichten!“ stieß sie dann hervor.
Weinte leise.
„Weil Sie Ihren … Vater nicht bloßstellen wollen, Ozeana.“
Sie schwieg.
„Weil Sie Ozeana Lomarlay heißen,“ sprach Harald weiter.
Und ich … ich starrte ihn entgeistert an.
Ozeana Lomarlay?! – Ja – sollte …
Und wieder sagte Harald da schon:
„Ich weiß alles, Ozeana … alles! Ihr Vater ist einer der gefährlichsten modernen Verbrecher, ist … Detektiv und … Seeräuber in einer Person! Noch nie hat die Kriminalgeschichte des Erdenrundes Derartiges zu verzeichnen gehabt: Detektiv und Pirat! – Ich weiß, daß Ihr Vater in Singapore gegen zwanzig männliche Angestellte beschäftigt, und diese Leute sind … die Besatzung seines Schiffes, diese Leute sind wie er zumeist von Singapore abwesend – dienstlich vorgeblich – – vorgeblich!“
Er hob das Doppelbild auf.
„Dies sind Sie, Ozeana, – dies ist Ihr Vater … Und zwar Ihr Vater als Pirat, als Seeräuberkapitän mit falschem Bart. Denkt man sich den Bart weg, so hat man Sidney Lomarlays, des Detektivs, Gesicht.“
Ozeana Lomarlay hatte wieder die Hände vor das Gesicht gedrückt.
„Reden Sie!“ bat Harald energischer. „Sie lieben Hektor Laronge! Ihr Leben kann in eine andere, glücklichere Kurve einbiegen, wenn Sie es wollen. Sie haben Ihr Schicksal selbst in der Hand, Ozeana. Ehrlich müssen Sie sein!“
Sie … weinte stärker und … schwieg.
Harald blieb hartnäckig.
„Ozeana,“ begann er von neuem, „jeder Mensch lebt sein eigenes Leben! Es gibt Verhältnisse, in denen Kindesliebe oder doch Kindesrücksicht schwinden muß! Wie oft haben Väter, Mütter ihre Kinder verflucht, weil diese in der Liebe ihren eigenen Weg gingen, weil sie Ehen schlossen, die dem elterlichen Ehrgeiz nicht genehm waren. Kindesliebe, Elternliebe ist ja soundso oft nichts anderes als eine althergebrachte Interessengemeinschaft. Schreibtischphilosophen erheben diese Liebe in den Himmel, Lebenskenner wissen, daß diese … Interessengemeinschaft oft Kleinigkeiten wegen in die Brüche geht … Innerlich haben Sie sich doch längst von Ihrem Vater losgesagt.“
Ozeana schwieg.
Da – gab Harald diesen Kampf vorläufig auf.
„Folgen Sie mir bitte,“ sagte er jedoch ebenso milde. „Sie werden auf der Jacht Orkalla Unterkunft finden. Und – glauben Sie mir: Sie werden glücklich werden! Dafür will ich sorgen!“
Sie erhob sich.
Gesenkten Hauptes schritt sie uns voran. Ich hatte ihr Hektor Laronges Bild gereicht. Sie schob es vorn in ihre Bluse, dankte mir mit warmem Blick. –
Als wir an Sindra Mars Leiche vorüberkamen, schwankte Ozeana plötzlich vor Schwäche.
Harst stütze sie.
Harst sagte:
„Er wollte sich an Ihnen vergreifen. Sie trifft keine Schuld.“
Wir bestiegen das Boot.
Gelangten auf die Orkalla. Hier wurde dem blonden Mädchen die Kajüte des toten Kapitäns eingeräumt.
Und bevor wir Ozeana nun allein ließen, erklärte Harald nochmals:
„Glauben Sie mir, Ozeana, auch für Sie wird die Stunde kommen, wo die Vergangenheit hinter Ihnen versinkt.“
Er reichte ihr die Hand.
„Gute Nacht, Ozeana. Ich bin Ihr Freund, und wer Harald Harst zum Freunde hat, geht nicht unter.“ –
Wir fuhren dann abermals an Land.
Der Morgen graute bereits.
Jetzt begleiteten Rolfsen und Coogan uns, da Harald meinte, daß die Piraten keinen Angriff mehr wagen würden.
Jeder kann sich leicht selbst vorstellen, welchen Eindruck Haralds Eröffnungen auf die beiden Seeleute gemacht hatten.
Lomarlay ein Pirat – der Pirat, der die asiatischen Meere zum Schauplatz seiner Untaten gemacht hatte: das war mehr, als sie je vermutet hatten!
„Und sein Schiff?“ fragte Coogan nun, als wir der Leiche Sindra Mars zuschritten.
„Kein Schiff werden Sie sehen,“ erwiderte Harst kurz. –
Die ersten Sonnenstrahlen schossen über den Ozean hin, als wir die Leiche durchsuchten. Wir fanden Edelsteine, Geld, Schmuck, Waffen.
Und – Harald fand noch beim sorgfältigen Betasten der Kleider des Toten eingenäht in das Jackenfutter einen zerknitterten, versiegelten Brief:
Nur im Falle meines Todes dem Gericht zu übergeben und zu öffnen. – Anvertraut meinem Freunde Sindra Mar.
Sidney Lomarlay.
So stand auf dem Umschlag.
Und Harst meinte dazu achselzuckend.
„Nehmen wir an, Lomarlay ist von einem Haifisch getötet worden.“
Er schnitt den Umschlag auf.
Zog den großen, vielfach gefalteten Bogen heraus.
Überflog die Unterschrift.
Sagte nur:
„Es ist Ozeana Lomarlays Lebensgeschichte,“ und steckte den Brief zu sich. –
Singhalesen begruben die beiden Toten.
An Kapitän Groonars Grab hielt Harst eine kleine Ansprache.
Erklärte ernst – zum Schluß:
„Er hat zu spät eingesehen, daß Lomarlay ein Schurke war … Und daß er es erkannte, daß er in heller Wut sich auf den Verbrecher stürzte, kostete ihm das Leben.“
So fand der Kapitän eine letzte malerische Ruhestätte in den Sanddünen der kleinen Insel angesichts des endlosen Meeres.
Wir haben dann das Eiland mit Hilfe der Besatzung der Jacht aufs genaueste durchforscht.
Es war jedoch außer uns niemand mehr auf der Insel.
Und daher lichtete die Jacht mittags die Anker und steuerte ostwärts auf die Palk-Straße zwischen der Spitze Nordindiens und Ceylon zu.
Ich hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, Harald allein zu sprechen.
Jetzt, wo wir unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck friedlich in Liegestühlen eine Zigarette rauchten, fragte ich nach dem Inhalt des Schriftstücks des Piraten.
Seltsam: Haralds Stirn krauste sich finster!
Und seine Stimme klang ebenso seltsam rauh, als er erwiderte:
„Dieser Lomarlay ist ein … Ungeheuer!“
„Inwiefern?“
„Zunächst – er hat die Besatzungen all der von ihm gekaperten Dampfer niedergemetzelt. Die Dampfer gelten ja als mit Mann und Maus verschollen.“
Pause.
„Was er sonst noch getan, sollst Du nachher in Ozeanas Gegenwart hören. Wenn sie aufwacht, wenn sie dann gespeist hat, werde ich erfahren, wo das … Piratendorf liegt, in dem Lomarlay mit Weibern und seinen Gesellen herumtollt.“
„Piratendorf?“
„Ja – er erwähnt es in seiner Beichte. – Laß das jetzt … Nachher!“
„Hm – und … und sein Schiff? – darf ich danach fragen?“
„Ah – – das Schiff! Auch das erwähnte er. Und wenn Du auch das hörst, wird Dir alles klar werden – die geheimnisvollen Vorgänge in Orkalla an der Bucht – und weiter.“ – –
Vier Uhr nachmittags war’s.
Da saßen wir beide und Ozeana an dem Tischchen in der Kapitänskajüte.
Da begann Harald, indem er Ozeana freundlich zunickte:
„Seien Sie jetzt tapfer! Ich will Ihnen die Beichte des größten Schurken vorlesen, den je die Erde getragen hat.“
„Ah – meines Vaters!“ Und sie erblaßte.
„Nein, Ozeana … Lomarlay ist … nicht Ihr Vater! – Hören Sie.
Singapore, Februar 1923.
Ich, Sidney Lomarlay, bekenne folgendes:
Ozeana ist nicht mein Kind, sondern das meiner Jugendliebe, die den Major Barton geheiratet hat. Aus Rache, weil sie mich verschmähte, habe ich ihr Ozeana, die eigentlich Judith Barton heißt, geraubt und … zur Verbrecherin, zu meiner Gehilfin erzogen.
Wenn es mir auch nie gelang, Judith zur Teilnahme an einem meiner Beutezüge zur See zu bewegen, so benutzte ich sie doch als Spionin. Der Gedanke, daß Amelia Glosters Kind durch mich moralisch gemordet worden war, hat meinen Haß befriedigt. –
Ihr aber, Ihr weisen Herren, die Ihr die Staaten als Polizeibeamte bewacht: ich spotte Eurer, sage Euch heute: ein Dorf existiert an einer entlegenen Küste, das meine Schöpfung ist!
Dort habe ich meine Siege gefeiert, dort habe ich den Auswurf der Menschheit angesiedelt, habe all diese Mörder, Verbrecher, Mörderinnen, Dirnen, Betrügerinnen noch mehr … sinken lassen.
Eine Pesthöhle der Verworfenheit ist mein Dorf! Und von dort werden mir geeignete Nachfolger erstehen, die den Seeraub fortsetzen.
Freilich – mein[10] Schiff, mein Unterseeboot, das ich mühsam vom Grunde des Ozeans für meine Zwecke hob und wieder instand setzte, – dieses prachtvolle Schifflein wird dann vielleicht nicht mehr die Meere heimlich durchkreuzen, wird mit mir in die Tiefe gegangen sein! –
Wie ich meine Jugendliebe Amelia Gloster gehaßt habe, so hasse ich die ganze Menschheit! Mein Leben war nichts als eine Reihe ruchloser Taten! Mein Leben war ein einziges Hohngelächter über die Dummheit der Menschen, die nicht ahnten, daß der Detektiv Sidney Lomarlay selbst der größte Verbrecher war!
Es lebe die Niedertracht, die Gemeinheit, die Verderbtheit!
Sidney Lomarlay
Kapitän der Unterseepiraten
Der Rächer“
Nie werde ich den Anblick des verzerrten Gesichts Judith Bartons vergessen.
Nie den heiseren Ruf, mit dem sie hochschnellte, als Harald das Schriftstück jetzt wieder zusammenfaltete.
„Mr. Harst – ich kenne das Dorf! Mr. Harst, ich werde die Jacht dorthin führen!“
Die Augen des blonden Weibes sprühten Haß … maßlosen Haß.
Und dann – kam der Rückschlag der ungeheuren Aufregung.
Mit gurgelndem Laut sank sie Harald bewußtlos in die Arme.
* * *
In der folgenden Nacht gegen ein Uhr morgens …
Eine regnerische, böige Nacht … – Die Orkalla liegt in dem Klippengürtel der Insel Havaratti, die zu den Lakkadiven[11] gehört, vor Anker.
Ist soeben erst mühsam, vorsichtig mit Hilfe eines Bootes hier in diese Untiefen hineingelotst worden.
Und neben ihr liegt das englische kleine Kanonenboot Vanhattan. –
Judith Barton hat uns genau beschrieben wie man die Bucht auf der anderen Seite der Insel ansteuern könne, in der das Piratendorf hart am Ufer seine luftigen Hütten emporreckt – unter freundlichen Palmen.
Hat uns beschrieben, wo die ständigen Wachtposten am Eingang der Bucht auch nachts für die Sicherheit des Verbrecherdorfes sorgen. –
Nun kletterten wir beide ins Boot, dazu der Kapitän des Vanhattan und zwei weiße Matrosen, – dazu auch Judith Barton.
Mit umwickelten Rudern treiben wir durch die Klippenkanäle.
Draußen an den Riffen brüllt die Brandung.
Regen klatscht uns in die heißen Gesichter.
So steuern wir dem Buchteingang zu.
Vorsichtig – – lautlos.
Nur ein Schatten im Regengrau. –
Judith flüstert:
„Anlegen!“
Wir landen.
Sie schleicht voran.
Nur Harst und ich folgen ihr.
Und nähern uns dem hohen Baume, in dessen Krone die beiden Wachtposten in einem Hüttchen sitzen.
Einem nach der See hin offenen Hüttchen, zu dem Bambusleitern emporlaufen.
Wir klimmen hinan.
Der Baum schwankt unter den Windstößen.
Regenfluten ersticken jedes Geräusch.
Oben … brennt eine halb abgeblendete Laterne am Boden des Baumhäuschens.
Zwei Chinesen, Galgenvogelgesichter, hocken da und rauchen.
Schwatzen.
In der Ecke liegt ein Weißer … ein hagerer Kerl.
Erhebt sich jetzt … Sagt zu den beiden Eigelbvisagen:
„Es wird Zeit! Die Edelsteine haben wir … Ein Boot stehlen wir noch … dann mag der Kapitän uns nachpfeifen.“
Und er blendet die Laterne vollends ab. –
Wir beeilen uns, klettern die Leitern wieder hinunter.
Stehen unten auf der Lauer.
Die drei kommen – ahnungslos.
Und – Harst schlägt zu – mit der Faust – – Hiebe aufs Herz.
Ich bekomme den einen Gelben bei der Kehle, und Judith hilft mit. –
Wir schleppen die drei und den Kasten mit den Edelsteinen der Orkalla-Minen zum Boot.
Stoßen ab.
Eine halbe Stunde später werden die Jacht und das Kanonenboot in die Buchtmündung gelotst.
Wieder mit äußerster Vorsicht, denn am Dorfe stehen weitere Posten, und deshalb ist auch eine Einkreisung unmöglich. –
Kapitän Kappsing von dem Vanhattan hat die Geschütze feuerbereit machen lassen.
Unser Revolvergeschütz ist gleichfalls auf das Dorf gerichtet, von dem wir nur zwei erleuchtete Fenster in dieser Dunkelheit sehen. –
Die Nacht schwindet langsam.
Im Osten lichtet sich der Himmel.
Das Pestnest drüben zeigt sich deutlicher.
Und – am Ufer an einer Holzbrücke liegt das Piratenschiff, das einstige Kriegsboot, das U-Boot. –
Lomarlay schläft stets an Bord.
Judith weiß es.
Er ist überaus mißtrauisch. –
Kapitän Kappsing gibt uns ein Zeichen.
Und dann … dann … ein Granathagel.
Ein Geschoßregen übergießt das Piratenschiff.
Granaten platzen.
Granaten finden den Weg in die Munitionskammer.
Mit ohrbetäubendem Knall fliegt das U-Boot auseinander.
Wie eine Seifenblase.
Das Dorf brennt.
Menschen flüchten.
Granathagel überschüttet das Domizil der Verbrecher.
Palmen knicken um.
Rote Lohe fährt gen Himmel.
Und Judith steht neben uns auf dem Vorschiff der Jacht.
Unser Revolvergeschütz kracht.
Kutter, Boote – alles, was am Ufer liegt, was zur Flucht dienen könnte, wird zerfetzt, zerlöchert.
Dann – plötzlich Stille.
Das Kanonenboot landet Matrosen.
Das große Kesseltreiben beginnt. Und halbnackte Männer, Weiber, Kreaturen des Ungeheuers Lomarlay, werden gefangen eingebracht. –
Judith und wir beide durchstreifen die rauchenden Trümmer.
Finden Tote, Verwundete.
Finden … Lomarlays Leiche neben der eines Weibes.
So war er doch nicht an Bord des U-Bootes gewesen! So hatte ihn der Tod in den Armen irgend einer Dirne ereilt.
Wir wenden uns ab.
Judith ist bleich geworden. – Wir steigen die Hügel der Insel empor.
Schauen gen Osten.
Und dort lichten sich die Wolken … die Sonne bricht durch.
Die Sonne umspielt uns.
Harald sagt leise:
„Nun ist Ozeana Lomarlay tot für immer.“
„Ja – tot durch Harald Harst!“
„Und Judith Barton wird … glücklich werden. Ich versprach es ihr.“
Die Sonne verscheucht das letzte Gewölk.
Es ist, als ob die Liebe Judith zulächelt. – –
* * *
Frau Ingenieur Laronge hat uns vorgestern die Geburt ihres ersten Kindes angezeigt.
Hat geschrieben: „… Der Junge wird Harald heißen, und Sie beide sollen Taufpate sein.“
Wir werden die Reise bis Orkalla nicht scheuen. Wir möchten Judith wiedersehen und den kleinen Harald anstaunen. –
Die Liebe hatte Judith wirklich zugelächelt. – –
Nun ist die Geschichte des Piratendorfes beendet.
Die nächste fängt an – von Hexen und Kesseln, Dämpfen und anderen Dingen.
Das alles kommt nun an die Reihe – im folgenden Band.
Ende!
Nächster Band: Die Hexenküche.
Verlagswerbung:
Bisher sind folgende Bände erschienen:
Bd. 1–6 vergriffen. – 7. Zwei Taschentücher. – 8. Die Jagd auf einen Namen. – 9. Die Augen der Jolante. – 10. Der Fluch eines Geschlechts. – 11. Die verschwundene Million. – 12. Die Festung des Ali Azzim. – 13. Die tote Lady Rockwell. – 14. Der Fakir von Nagpur. – 15. Der blinde Brahmane. – 16. Das Auge der Prinzessin Singawatha. – 17. Das Löschblatt von Amritsar. – 18. Die leuchtende Fratze. – 19. Schattenbilder. – 20. Der Löwe von Flandern. – 21. Der ewige Jude. – 22. Das Armband der Lady Melville. – 23. Die Rätselbrücke. – 24. Der Einsiedler von Tristan da Cunha. – 25. Die Siegellacktröpfchen. – 26. Die Gesellschaft der roten Karten. – 27. Die Uhrkette des Bill Hamilton. – 28. Der Tempel der Kali. – 29. Nur ein Tintenfleck. – 30. Der Stern von Siam. – 31. Eine leere Streichholzschachtel. – 32. Der Sprechende Kopf. – 33. Das Geheimnis des Scheiterhaufens. – 34. Die Gefangene von Trawalkor. – 35. Die Eishöhle in Nepal. – 36. Der Mord im Warenhause. – 37. Der Spielklub W. W. – 38. Ein gefährlicher Auftrag. – 39. Der sterbende Fechter. – 40. Die Gespenster-Rikscha. – 41. Eine Löwenjagd im Sinai. – 42. Der Afghan-Teppich. – 43. Der Acht-Grad-Kanal. – 44. Der leere Koffer. – 45. Acht Stunden Frist. – 46. Der Klub der XII. – 47. Die Bajadere Mola Pur. – 48. Der goldene Gonggong. – 49. Die Kugel aus dem Nichts. – 50. Der Piratenschoner. – 51. Die Büchse der Pandora. – 52. Der Tintenlöscher des Sahdi Ahmed. – 53. Auf des Messers Schneide. – 54. Strandkorb Nr. 121. – 55. Das Lichtbild ohne Kopf. – 56. Das Haus in der Wildnis. – 57. Das Geheimnis des Brasilianers. – 58. Die Spielhölle von Hongkong. – 59. Das Rätsel von Paragwana. – 60. Ein amerikanisches Duell. – 61. Die Ganges-Piraten. – 62. Eine Wettfahrt ums Leben. – 63. Die Bärenjagd in Kaschmir. – 64. Das Licht in der Lehmhütte. – 65. Der chinesische Messerwerfer. – 66. Die leere Tonne. – 67. Die Gauklergesellschaft Shingra Mar. – 68. Der Klub der Zuchthäusler. – 69. Lord Ralleys Schreckensnächte. – 70. Das Geheimnis der Insel Morton. – 71. Die Katzen der Gräfin Baltholm. – 72. Der Tote im Fahrstuhl. – 73. Die Höllenmaschine Doktor Blucks. – 74. Das Geheimnis der Kabine 24. – 75. Das Rätsel der Trollhätta-Insel. – 76. Lord Plemborns Verbrechen. – 77. Die Leiche im Gletschertunnel. – 78. Sechs leere Briefbogen. – 79. Das Geheimnis des Elefantenjägers. – 80. Lady Myntors letzter Wunsch. – 81. Der Giftpfeil des Wedda. – 82. Der Schlangenbeschwörer von Agra. – 83. Das Patent des Doktor Murphison. – 84. Die Buschklepper der Thar-Wüste. – 85. Das blinde Hindumädchen. – 86. Die Wundergeige des Virtuosen. – 87. Der Geister-Spiegel. – 88. Das Geheimnis des Wannsees. – 89. Giftkonfekt. – 90. Schatten an der Wand. – 91. Der tote Zigeuner. – 92. Das Rätsel der Schoneryacht. – 93. Die tote Karawane. – 94. Das Wunder von Patna. – 95. Frau Inges Tränen. – 96. Der tote Kanarienvogel. – 97. Der Obstkahn am Elisabethufer. – 98. Das geheimnisvolle Fenster. – 99. Anita Armands Verhängnis. – 100. Unser 100. Abenteuer. – 101. Die Piraten der Havelseen. – 102. Der Napoleon aus Wachs. – 103. Der dritte Schuß. – 104. Das Zimmer ohne Fenster. – 105. Das Paket im Urbanhafen. – 106. Der unheimliche Mieter. – 107. Das Känguruh der Miß Dolling. – 108. Die Motoryacht ohne Namen. – 109. Der Kampf gegen Lionel Barring. – 110. Das Geheimnis der Tokkara-Höhle. – 11. Die große Null. – 112. Das Geheimnis des Bosporus. – 113. Anna Karstens Amulett. – 114. Der Mann mit dem Glasauge. – 115. Der Kopf des Maharadscha. – 116. Die Treppe des Todes. – 117. Dr. Groupys Verhängnis. – 118. Das Geisterschiff. – 119. Der Tennisschläger der Rani. – 120. Der Mann mit dem Kreuze. – 121. Tawa Burru, der Verrückte. – 122. Das Piratendorf. – 123. Die Hexenküche. – 124. Das Geheimnis von H. O. III. – 125. Die Gräfin mit den Kormoranen. – 126. Der Bouillonkeller 113.
Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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Band |
1–6: |
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Anmerkungen: