Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 123:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1924 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Das Piratendorf war in Flammen aufgegangen.
Was von den Bewohnern dem verheerenden Geschützfeuer des englischen Kreuzers entronnen war, wurde auf der Insel unschwer eingekreist und gefangen genommen. – Dies habe ich bereits im vorigen Band erwähnt.
Der Kapitän des Kreuzers Sir Hoogreeve[2] und wir beide hatten am Vormittag nach der ereignisreichen Nacht den Gipfel des höchsten Berges der kleinen, riffumgürteten und völlig entlegenen Insel der Malediven-Gruppe[3] erstiegen und hielten von hier aus nordwärts mit einigem Interesse nach dem Pic de Malcolm Ausschau, jenem seltsamen Felsgebilde, das der Franzose Charles de Malcolm im Jahre 1801 als erster entdeckte und das er mit einigem Recht „Rocher de Chapeau“ kaufte, also Hutfelsen[4].
Im Norden der Pirateninsel lag der Hutfelsen. Mit einem Fernglas konnte man ihn recht gut erkennen. Er war der nächste Nachbar des Freibeuter-Eilandes, immerhin zwei deutsche Meilen1 entfernt.
Sir Hoogreeve, der hier im Indischen Ozean seit fünf Jahren gleichsam zu Hause war, sagte jetzt kopfschüttelnd:
„Wahrhaftig – er raucht! Als ich das letzte Mal hier vorüberkam, und das ist anderthalb Jahre her, habe ich nichts von vulkanischer Rauchentwicklung gemerkt.“
Harald blieb stumm, behielt das Glas an den Augen.
Der Kapitän wurde aufmerksam.
„Sehen Sie etwas Besonderes, Mr. Harst?“ fragte er meinen Freund.
Harald blieb stumm.
Behielt das Glas an den Augen. –
Hoogreeve fragte lauter:
„Gibt’s denn da etwas?“
Und jetzt ließ Harst das Glas sinken.
Sagte achselzuckend:
„Was ich gesehen habe, wird Sie nicht interessieren, Sir.“
„Hm! – Was denn?“
„Nichts anderes als ein Weib, das soeben eine der Klippen vor dem riesigen Felsgebilde erklettert hat.“
„Ah – Sie meinen, daß dieses Weib von hier schwimmend entkommen ist?“
„Oder in einem kleinen Boot. Nein … – Schwimmend wohl kaum. Haifische sind nicht wählerisch.“
„Ganz recht! – Dann müßte man eine Barkasse hinüberschicken und …“
„Das würde Sie stundenlang aufhalten, Sir. Ich bin ohnehin entschlossen, mit dem großen Kutter der Piraten, der unbeschädigt geblieben ist, hier im Malediven-Archipel ein paar Tage zu kreuzen. Meine Nerven verlangen nach Ruhe. Der alte Gaspard[5] und der Matrose Seridan von der Jacht der Minengesellschaft wollen uns begleiten.“
Ich war genau so erstaunt wie Sir Hoogreeve. Bisher hatte Harald von dieser Absicht auch nicht eine Silbe geäußert.
„Dann wollen Sie also sehr bald uns verlassen,“ meinte der Kapitän bedauernden Tones.
„Ja. Gaspard und Seridan bringen den Kutter schon in Ordnung.“
Hoogreeve lachte. „Weiß Gott, Mr. Harst, man erzählt so allerlei von Ihren Eigentümlichkeiten, aber daß jemand so verschwiegen sein könnte und so in aller Heimlichkeit uns um das Vergnügen bringen will, mit Harst und Schraut noch länger …“
Jetzt lachte Harald. „Es muß sein! Meine Nerven schreien geradezu nach Alleinsein, nach Einsamkeit und Entspannung.“ –
Natürlich war dies alles Schwindel! Harald Harst hat überhaupt keine Nerven! – –
Als wir dann eine Stunde später nach herzlichem Abschied von den Gefährten unseres Piratenabenteuers mit dem Kutter gen Norden segelten, als ich neben Harald am Steuer saß und mir den Buckel von der lieben Sonne braten ließ, als Gaspard, der schnurrige Alte, und Seridan, der junge wortkarge Matrose, vorn noch ein paar Segel setzten, – – als wir beide also so schön allein waren und als auch ich geradezu aufatmete, weil ich jetzt meinen Harald wieder ganz für mich allein hatte, da …
… da wollte ich loslegen.
Wollte ich sagen: „Alter Schwede, der Rocher de Malcolm hat für Dich doch noch andere magnetische Eigenschaften als lediglich die geflüchtete Piratenliebste!“
Aber – ich kam gar nicht dazu.
Harst erklärte gleichmütig:
„Die Geschichte ist die, mein lieber Alter: in der verflossenen Nacht, als ich mit Euch in dem brennenden Piratendorfe war, habe ich einen der Freibeuter, der mit Beinschuß in ein Dickicht gekrochen war, heimlich durch Gaspard und Seridan in den Kutter bringen lassen, weil der Mann mir hoch und heilig versicherte, er könne mir, was den Hutfelsen drüben angeht, ein äußerst wichtiges Geheimnis mitteilen.“
Mir war der Mund offen geblieben, nachdem ich ihn zu einem erstaunten „Oh!!!“ aufgerissen hatte.
Mir blieb er auch weiter offen.
Harald fügte nämlich hinzu:
„Dieser Pirat muß ein gebildeter Mann sein. Er ist schwarzbärtig, trägt Brille, ist nicht mehr ganz jung und kennt mich vom Hörensagen. Jedenfalls eine nicht alltägliche Persönlichkeit, die uns noch manches … zu raten geben wird.“
Ich war in der Tat sprachlos.
All das hatte Harald mir verborgen!! Hatte einen Freibeuter gerettet, hatte ein neues Abenteuer auf diese Weise eingeleitet – ohne mich!! – Man denke: ohne mich, Max Schraut, rechte Hand des großen Harald Harst!
Mein Mund klappte zu.
Klappte wieder auf.
Und – ich erklärte: „Ein Skandal ist das!! In der Tat – – ein Skandal!! Jetzt erst höre ich von …“
Harald rief Gaspard brüllend zu:
„Hallo, old Boy, – hier an’s Ruder mit Euch! Wir wollen mal den Mister John Johnston etwas ausforschen!“
So entging er meinen Vorwürfen.
So kam der alte Gaspard breitbeinig angestapft und brummte:
„Der Kerl ist ein Schwindler, Mr. Harst! ’ne Rolle Kautabak will ich fressen, wenn der Schuft Euch nicht belogen hat! Der wollte doch nur der Hanfkrawatte entgehen! Er wird Euch einen gehörigen Bären aufbinden und Ihr werdet dann nicht mal nachprüfen können, ob es auch wahr ist, was er da zusammenflunkert.“
Harald erwiderte schmunzelnd: „Lieber Gaspard, wenn der John Johnston so glänzend lügen kann wie Ihr, dann wird’s allerdings schwerhalten.“
„Oho!!“ protestierte der alte Seemann, „– oho!! Ich – – ich soll lügen!! Kein einziges Wort, das je über meine Lippen kam, ist wahr gewesen, – – Unsinn: nicht wahr gewesen,“ verbesserte er sich schnell.
Und wir beide lachten schallend, denn Gaspard war als „Garnspinner“ berüchtigt! –
Wir gingen nun hinab ins Vorschiff des großen gedeckten Kutters, der hier schon bewies, daß er geradezu erstklassig segelte.
In einer kleinen Kammer lag John Johnston mit verbundenem linken Bein auf ein paar Decken und alten Segeln.
Neben ihm stand eine Karbidlaterne, die seinen Kopf hell beleuchtete.
Er hatte in einem kleinen Büchlein gelesen, sagte nun in tadellosem Englisch und ganz in der Art eines uns gesellschaftlich Gleichgestellten:
„Gestatten Sie, Mr. Harst, daß ich Ihnen nochmals danke. Ich wiederhole, daß lediglich eine Reihe von Zufällen mich auf das Pirateneiland geführt haben und daß ich auch nicht an einem einzigen Raubzuge teilgenommen oder Beute irgendwelcher Art als meinen Anteil empfangen habe. – Mr. Schraut, nicht wahr?“ wandte er sich dann an mich. „Ich freue mich Sie kennen zu lernen, Mr. Schraut. Die Schilderungen der Abenteuer Ihres berühmten Freundes sind ja auch ins Englische übersetzt worden. Und ich kann wohl sagen, daß ich diese Schilderungen stets sehr gern gelesen habe. Es geht so ein frischer Zug durch …“
Harald unterbrach ihn, indem er auf einem Klappstuhl Platz nahm:
„Wenn Sie uns beiden jetzt also Ihr Geheimnis mitteilen wollten, Mr. Johnston. – Ich möchte rasch prüfen können, ob Sie nicht etwa nur als leichten Trick mir eine besondere Art „Geheimnis“ zugesichert haben. Sollte ich merken, daß Sie lediglich Ihre Phantasie spielen lassen, so werde ich Sie dem englischen Kreuzer ausliefern.“
Das intelligente und doch so merkwürdig abstoßende Gesicht John Johnstons verzog sich ironisch.
„Nachprüfen, ob ich … lüge, Mr. Harst?! – Oh, dann kehren Sie nur lieber sofort um und lassen Sie mich in Eisen legen, denn – – Sie werden mich für verrückt halten, wenn ich Ihnen meine Beobachtungen[6] mitteile.“
„Verrückt?! Das wohl kaum! – Ich habe im Leben so unendlich viel Seltsames durchgemacht, daß ich alles für möglich halte. Anderseits bin ich ein zu guter Menschenkenner, um mir Münchhausiaden auftischen zu lassen.“
John Johnston blickte jetzt starr in das grelle Licht der Karbidlaterne.
Ich sah, daß seine Pupillen sich vergrößerten, daß die Augen einen Ausdruck von Weltentrücktheit, um nicht zu sagen „etwas krankhaft Leeres“ bekamen.
Ich sah weiter, daß seine Wangen, die überhaupt nicht viel Farbe hatten, kalkweiß wurden, so daß der schwarze Bart noch schärfer sich abzeichnete.
Und – jetzt flüsterte der merkwürdige Mensch mit ebenso merkwürdig abgehackten Worten:
„Der … Malcolm … Felsen … ist … bewohnt, obwohl … er … allgemein … als … unersteigbar … gilt … Ich … habe dreimal … von der Pirateninsel aus oben auf dem Felsen in den … Rauchwolken … ein … ein … Weib … schweben sehen … – das ist’s … was … ich … beschwören könnte … – Das große … Schiffsfernrohr … hat mir … die Spitze … des Felsenhutes … so nahe … gebracht, daß … ich … sogar … sagen kann: das Weib … war blond!!“ –
Ich hatte unwillkürlich den Atem angehalten.
Die Art, wie John Johnston dies mit farbloser Stimme hervorstieß, als ob er dabei eine grauenvolle Vision schaute, machte einen seltsamen Eindruck. –
Harst beugte sich tiefer zum Lager des Verwundeten hinab.
„Ist das alles?“ fragte er eindringlich.
„Es … ist der Anfang,“ erwiderte Johnston plötzlich so schrill, daß ich leicht zusammenzuckte. „Vor vier Wochen fand ich am Nordstrande der Pirateninsel zwischen den Riffen die Leiche eines blonden Weibes von geradezu bezaubernder Schönheit. Ich habe sie in aller Stille begraben und mir nur vom Haupte der Toten eine lange Strähne Haar abgeschnitten. Die Leiche war gänzlich unbekleidet, und – – in der Brust, im Herzen steckte ein … malaiischer Kris mit Perlmuttergriff, ein … gekrümmter Dolch also.“
Er … faßte in die Innentasche der Weste seines gelblichen derben Leinenanzugs …
Und … er legte eine lange blonde Haarsträhne und einen malaiischen Kris auf die leichte Decke, die seinen Leib verhüllte.
Draußen klatschten und schäumten die Wogen des Indischen Ozeans gegen die Bordwände des Kutters.
Draußen auf Deck hörten wir Gaspard hin und her stampfen, hörten, wie er Seridan zurief, dem er das Ruder überlassen haben mußte:
„Bist ein Rindvieh, Bob Seridan!! Laß den Kutter zwei Strich abfallen, oder wir segeln an dem Felsding da vorüber, als wär’ der Kutter ’n voller Jan Maat mit zwölf Glas Gin im Magen!!“
Draußen …
Hier in der stickigen Vorschiffkammer sagte Harald ruhig:
„Weiter?!“
„Na – ist das noch nicht genug, Mr. Harst?! – Das blonde Weib kann doch nur die gewesen sein, die ich da oben schweben sah!“
„Wann war das?“
„Das erste Mal vor vier Monaten, und dann …“
„Halt! – Wie lange sind Sie bereits auf der Pirateninsel?“
„Ein Jahr.“
„Wie kamen Sie hin?“
„Ich … mußte aus England fliehen.“
„Eines … Verbrechens wegen?“
„Ja.“
Da beugte sich Harald noch tiefer.
„Und – es wurde ein Steckbrief hinter Ihnen erlassen?“
„Allerdings!“ – Das klang höhnisch – geringschätzig.
Johnstons Wangen hatten nun wieder Farbe.
Johnstons stechende dunkle Augen ruhten auf Harsts Gesicht.
„Dann – – sind Sie Professor Doktor Josua Jolling!“ sagte Harst nun mit erhobener Stimme. „Jolling, der durch seine Experimente mit dem von ihm erfundenen Sprengmittel dreißig Menschen tötete, da sein Laboratorium in die Luft flog.“
„Ich bin’s,“ nickte der Professor stolz. „Ich bin’s!! Und – ein Verbrecher soll ich sein – – Verbrecher!!“
Er lachte schneidend auf.
„England hat mich verstoßen! England hat mich bloßgestellt!! Hüte Dich, England!!“
Diese schrille Drohung, hervorgestoßen in jäh erwachtem Paroxysmus[7] von Wut, machte einen tiefen Eindruck auf mich.
Harst blieb kalt.
Fragte:
„Und wie gelangten Sie auf die Pirateninsel?“
„Durch Vermittlung eines Vertrauensmannes der Freibeuter, den ich in Bombay kennen lernte.“
„Und – wo – – begruben Sie die Tote?“
Diese plötzliche Frage nach der Leiche erschien mir recht auffallend.
„Am Nordstrande der Insel unter einem gelbblühenden Busch,“ erklärte Josua Jolling ohne Zaudern.
„Gut,“ nickte Harald. „Ich habe bisher keinen Grund, irgendwelche Zweifel zu hegen. – Noch eins, Mr. Jolling: seit wann zeigt sich oben auf dem Hutfelsen Rauch?“
„Seit etwa acht Monaten. Die Freibeuter wußten genau, daß der Fels bisher niemals Qualm ausgeströmt habe. – Ich behaupte nach alledem, Mr. Harst: der Rocher de Malcolm ist bewohnt!“
„Ohne Frage ist er’s! – Was hielten denn die Piraten von dem Rauche?“
„Vulkanische Erscheinungen, meinten sie insgesamt. Aber – das ist Unsinn! Der Qualm steigt ganz unregelmäßig auf. Und – – wechselt die Farbe! Ich als Chemiker verstehe etwas davon. Der Fels muß hohl sein, und Menschen hausen darin, die dort Steinkohlen verbrennen.“
Harald nickte sinnend.
„Ja … Menschen! Und doch sicherlich Menschen, die alle Ursache haben, sich verborgen zu halten.“
„Wie ich!!“ hohnlachte Josua Jolling. „Wie ich, der ich doch wahrlich der Welt viel Gutes erwiesen habe! Ich war’s, der …“
„Ihre Erfindungen kenne ich. – Sie sind erschöpft, Mr. Jolling. Wir werden Sie jetzt nicht länger ausfragen. Versuchen Sie zu schlafen. – Oder soll ich Ihren Verband vielleicht nochmals nachsehen?“
„Danke. Bin ja selbst halber Arzt.“ –
Wir verließen die Kammer.
Ich befand mich in einer ganz eigenartigen Stimmung. Jollings Persönlichkeit stieß mich ab, hatte aber auch sehr vieles an sich, was jeden Liebhaber besonderer Charaktere unwillkürlich anzog.
Jedenfalls: Dieser Mann war kein Durchschnittsgeist, von seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten ganz abgesehen!
Und ähnlich äußerte sich nun auch Harald, als wir Bob Seridan am Steuer abgelöst hatten.
„Ein genialer Mensch! Ehemals eine Leuchte der Wissenschaft, ein Vollblutengländer mit ungeheurem Rassenstolz! Jetzt jedoch ein Hasser Englands und … ein Mann, der auf der gefährlichen Grenze zwischen Genie und Irrsinn wandelt.“
„Ah – seine Augen! Dieser seltsame Ausdruck!“
„Ja – und noch anderes.“
„Anderes?!“
„Sein … Lügen.“
„Wie – er hat uns belogen?!“
„Zum größten Teil, mein Alter.“
Ich war ganz fassungslos über die Ruhe, mit der Harald dies sagte.
„Und Du … Du findest sogar nichts dabei, daß er uns also doch Märchen aufgetischt hat?!“ meinte ich.
„Nein, ich bin ihm dankbar dafür. Denn jetzt weiß ich, daß er … die Frau kennt, die ich beobachtete, wie sie eine der Klippen vor dem Hutfelsen erklomm.“
Ich verstand ihn nicht.
„Er kennt sie?! – Und woher weißt Du das?“
„Weil Josua Jolling kurzsichtig ist. Er trägt Brille. Die Gläser dieser Brille sind kein Fensterglas. Mithin kann er mit seinen Augen niemals von der Pirateninsel durch ein Fernrohr erkannt haben, welche Farbe die Haare des in den Rauchwolken schwebenden Weibes hatten. Das ist ausgeschlossen. Das könnte nur ich! Und – ich behaupte, mein Alter: die Frau, die die Klippe erkletterte, hatte prachtvolles langes Blondhaar, das frei herabhing und vom Winde zur Seite geweht wurde.“
Ich hörte atemlos zu.
„Und – weil der Wind es zur Seite wehte, muß es trocken gewesen sein, und weil es trocken war, hatte die Frau die Klippe nicht schwimmend, sondern im Boote erreicht, wie ich schon betonte. Und da sie im Boot zum Rocher de Malcolm gelangte, im ganz winzigen Boot, das niemandem auffiel, muß sie von der Pirateninsel gekommen sein und muß ihr Boot dort versteckt gehabt haben, denn – wir hatten ja schon nachts alle Fahrzeuge bis auf den Kutter zerstört.“
Ich begriff noch immer nicht vollständig.
Horchte nur.
Und Harald fuhr nach kurzer Pause fort:
„Wenn nun Jolling behauptet, ein blondes ermordetes Weib begraben zu haben, und wenn ich ein lebendes blondes Weib heute drüben auf der Klippe sah, – wenn Jolling eine blonde Frau auf dem Gipfel in den Rauchmassen bemerkt haben will, was doch bei seinen schlechten Augen ausgeschlossen ist, dann behaupte ich: es gibt ein blondes Weib, das dort im Rocher de Malcolm haust, und dieses Weib lebt noch, kennt Jolling und steht zu ihm in Beziehungen!“
Jetzt überschaute ich diese kurze Beweisführung.
Jetzt erwiderte ich:
„Und Du meinst, auch Jolling kennt den Felsen auch – – von innen?“
„Ja! – Ich könnte Dir noch weit mehr von meinen Kombinationen mitteilen. Ich weiß zum Beispiel genau, daß Jolling, sobald wir den Rocher de Malcolm erreicht haben werden, sich an Deck bringen lassen wird. Und dann wird irgendwie etwas geschehen, was Du auch nicht im entferntesten ahnst.“
„Und – Du ahnst es?“
„Ja … Und ich – werde es nicht verhindern. Ich werde nur Vorsorge treffen, daß wir die Sieger bleiben.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Herr, dunkel ist der Rede Sinn!!“
Harst lächelte.
Rief Bob Seridan zu:
„He, Bob, Ihr könntet einmal die frisch gescheuerten Deckplanken tüchtig ölen! Unten in der Kajüte steht eine große Kanne Öl. Ich gebe sie Euch heraus!“
Und flink schwang er sich die leiterähnliche Treppe in die kleine Kajüte hinab, überließ mir das Steuer und damit auch die Aufgabe, des alten Edward Gaspard kritische Fragen, wozu in aller Welt gerade jetzt die Deckplanken geölt werden sollten, zu beantworten.
Ich erklärte achselzuckend:
„Lieber Gaspard, – weshalb, wozu, warum?! – das weiß ich genau so wenig wie Sie!“
Da kehrte auch schon Harald mit der Ölkanne zurück.
Und – sofort verbreitete sich auf Deck ein scharfer Geruch nach Karbol.
„Verdammt,“ knurrte Gaspard Freund Harald an. „Haben Sie etwa Karbol in das Öl getan, Mr. Harst?!“
„Ja!! Das gibt frisch gescheuerten Planken einen schönen Glanz.“
„Und einen noch schöneren Gestank! – Kann das Zeug nicht leiden! Auch unser Gefangener stinkt danach – – der Verband!!“
Trotz Gaspards Protest mußte Bob Seridan das Deck ölen.
Und ich – ich sah zu, roch – roch den infernalischen Duft und … ahnte nicht, was Harst vorhatte.
Dann sagte er neben mir:
„Aha – die leichte Nebelbank hat sich gelichtet! Da ist der Rocher de Malcolm!“
Ja – da war er!
Keine fünfhundert Meter mehr entfernt.
Beschienen von der Mittagssonne.
Deutlich zu erkennen – die ganze Südseite, der wir zusteuerten. –
Fürwahr: ein seltsames Spiel der Natur hatte hier ein noch seltsameres Inselgebilde geschaffen!
Man stelle sich eine dunkle, kahle, rissige, spaltenreiche Felsmasse von etwa achtzig Meter Höhe vor, die einem eingebeulten Schlapphut ungefähr gleicht, der auf einem bis zur Nasenwurzel im Meere versunkenen Steinschädel zu sitzen scheint.
Man stelle sich vor, daß die Hutform dieses Felsgebildes tatsächlich geradezu in die Augen sprang, daß die Hutkrempe sich deutlich abhob und daß diese überhängende Krempe jeden Versuch, das Graniteiland zu erklimmen, unmöglich machen mußte.
Und dieser Rocher de Malcolm ist noch dazu von einem Kranz von Klippen umgeben, von denen einzelne bis zu acht Meter über den Meeresspiegel hinausragen.
All diese Klippen waren bewohnt: von Seevögeln der verschiedensten Art.
Ganze Schwärme kreisten über den Klippenzacken.
Wie weiße Wolken.
Lärmend – in steter Bewegung.
Ein Vogelstaat von Tausenden von leichtbeschwingten Luftbewohnern.
Und – das Ganze, der Rocher de Malcolm samt dieser Halskrause von Felszacken, umschäumt von einer nimmermüden Brandung, die ihr Tosen in das Gekreisch der Vogelscharen mischte. –
Näher und näher kamen wir.
Die Vogelkolonie geriet in wildesten Aufruhr.
Gaspard stand vorn und schaute nach einer Durchfahrt aus.
Brüllte jetzt:
„Mehr Backbord, Mr. Harst, – – mehr Backbord! – – So, nun ein wenig Steuerbord! Halt – so wird’s! Da ist ’n Loch in der Klippenreihe, durch das ’n großer Schoner hindurch könnte!“
Ohne besondere Gefahr glitt der Kutter in das völlig ruhige Wasser zwischen dem Hutfelsen und den Klippen hinein.
Und – im selben[8] Moment tauchte in der Vorderluke Bob Seridan wieder auf, der den Professor in den Armen trug.
Er hatte auf Harsts Befehl einmal nach ihm sehen müssen, und genau wie Harald vorausgesagt hatte, war Josua Jolling nun mit Bobs Hilfe an Deck erschienen.
Seridan trug den Verwundeten bis zu uns hin, setzte ihn vorsichtig auf die vertiefte Steuerbank und meinte:
„Er wollte frische Luft schöpfen! Na – ich lachte da, es stinkt hier oben, erklärte ich, – und doch wollte er an Deck.“
Jolling lehnte mit halb geschlossenen Augen in der Ecke der vertieften Halbrundbank, lächelte schwach.
Sagte leise: „Ich möchte mir den Rocher de Malcolm doch auch einmal aus nächster Nähe betrachten.“
„Was zu verstehen ist,“ nickte Harald. „Denn durch das Fernrohr können Sie von der Pirateninsel aus kaum sehr viel bei Ihrer Kurzsichtigkeit erkannt haben.“
„Allerdings nicht,“ meinte Josua Jolling diesmal vollkommen ehrlich.
Und – ich feixte innerlich, denn der brave Herr war ja soeben meinem Harald wunderschön auf den Leim gegangen, hatte zugegeben, daß er kurzsichtig sei, und hatte daher auch nie die „schwebende blonde Frau“ als blond feststellen können!! –
Der Kutter wurde nun von Edward Gaspard in einer buchtähnlichen Felsspalte vertäut.
Dann meinte Harald, wir könnten nun einmal … nach dem blonden Weibe suchen, das er vom Freibeutereiland drüben ganz genau hier erspäht habe.
Und diese Bemerkung, die für Josua Jolling etwas vollkommen Neues brachte, denn bisher wußte er von dieser Beobachtung Haralds auch nicht das Geringste, – diese Bemerkung rief eine Wirkung hervor, die Harst fraglos beabsichtigt hatte.
Der Professor riß die Augen auf.
Sein Kopf schnellte nach hinten.
So stierte er Harald an.
Und … stammelte dann:
„Sie … Sie wollen ein Weib hier bemerkt haben?! Ein Weib?! – Mister Harst, das muß eine Sehtäuschung gewesen sein!“
„Vielleicht ein Seegespenst, keine Sehtäuschung!“ scherzte mein Freund ganz harmlos. „Jedenfalls werden wir bei der Suche nach dieser Frau sogleich ermitteln können, ob der Fels erklimmbar ist … Ich denke, man wird den Rocher de Malcolm trockenen Fußes umrunden können. Und wenn’s regnen sollte, werden wir ebenfalls trocken bleiben. Die Hutkrempe schützt uns ja!“
Das tat sie!
Wie ein ungeheurer Schirm hielt das vorspringende Gestein sogar die Sonnenstrahlen ab. –
„Bob,“ befahl Harald dem wortkargen Seridan, „während wir drei nun über die Felsen turnen, werden Sie hier Krankenpfleger spielen und unser Mittagessen vorbereiten.“
„Sehr wohl, Mister Harst.“
Und Josua Jolling meinte: „Ich bleibe an Deck, Mister Harst. Sie haben doch nichts dagegen. Und dann: viel Glück! Hoffentlich gelingt es Ihnen, irgendwie herauszufinden, wo man die Spitze des Rocher de Malcolm erreichen könnte! Deshalb sind wir ja schließlich hierher gekommen.“
Mir schien’s, als ob eine ganz feine Ironie diese Worte durchklang.
Und – das war ja auch sehr gut möglich, denn Josua Jolling als Vertrauter der geheimnisvollen Blonden mußte vermutlich wissen, wie es mit dem Felsen und seinen Zugängen bestellt war, hoffte aber, daß wir diesen Zugang nach oben nicht finden würden! –
Wir drei, Harst, Gaspard und ich, verließen den Kutter und kletterten am Rande der „Stirn“ dicht am Wasser über Geröll und Steine dahin – kletterten langsam und bedächtig, hatten zur Rechten stets die Steinwand mit ihren Rissen und Klüften und prüften jede dieser Spalten sehr sorgfältig, ob dort nicht irgend etwas zu entdecken[9] sei, das uns den Weg nach oben wies.
Nichts fanden wir.
Nichts.
Und waren doch drei, die gute Augen hatten, waren bestrebt, daß uns auch nicht die winzigste Spur menschlicher Anwesenheit entginge.
Waren stets umtost von einem gewaltigen Naturkonzert, – dem der nahen Brandung, dem der wütenden Seevögel, die dieses Eindringen in ihr Reich sehr übel vermerkten.
Waren überzeugt, daß es hier etwas zu entdecken geben müsse, falls der Felsen wirklich bewohnt war.
Und suchten, kletterten, sprangen, halfen uns gegenseitig über gefährliche Stellen hinweg.
Waren nach einer halben Stunde auf der Nordseite des Rocher de Malcolm, der hoch über unseren Häuptern auch hier seine Krempe zur Seite reckte.
Fanden nichts als Vogelnester, Vogelunrat, Eierschalen, Federn, angetriebene Holzstücke, Seetangballen, deren fauliger Gestank die Luft verpestete.
Und hier, wo eine flache Platte Raum zum Sitzen bot, machte Harald halt.
„Ruhen wir uns aus,“ sagte er, setzte sich und rauchte sich eine Mirakulum an.
„Nun will ich Sie einweihen, lieber Gaspard,“ begann er dann.
Und erzählte, was sich in Josua Jollings Krankenkammer abgespielt hatte und was Edward Gaspard bisher nicht wußte.
„Verdammt – ein Professor!!“ entfuhr es dem biederen Maat. „Ist’s möglich – ein Professor!! Und ein Weib soll oben in dem Rauch geschwebt haben!! Na – solch ein Blödsinn! Gelogen hat der Kerl – gelogen! So wahr ich Edward Gaspard heiße!“
„Das hat er!“ meinte Harald ernst. „Gelogen, weil er mir doch ein … Geheimnis versprochen hatte! Und da ihm nichts Besseres einfiel, hat er eben Wahres und Erdachtes vermischt und – – sich so halb und halb verraten. Ich behaupte nochmals: der Rocher de Malcolm ist bewohnt, und zum mindesten haust das blonde Weib hier, das ich an den Klippen landen sah! Und dieses Weib …“
Ja – – dieses Weib!!
Ja – – dieses Weib meldete sich jetzt.
Meldete sich so, daß Harald jäh verstummte.
Irgendwoher war eine jener bekannten Stielhandgranaten klatschend auf einen Seetanghaufen aufgeschlagen.
Und blitzschnell hatte Harald das verderbliche Geschoß, das jeden Moment explodieren konnte, ergriffen und … in das Binnenwasser geschleudert.
Dort, etwa ein Meter unter der Oberfläche, explodierte es …
Eine Fontäne sprang hoch.
Fünf – sechs Meter.
Und außer der Wassersäule flog noch etwas empor.
Ein Hai … ein Haifisch, eine Riesenbestie, die nach Art dieser Meereshyänen sofort der Stelle zu geschwommen war, wo die Handgranate klatschend versunken.
Ein Hai, der nun seine ewige Freßgier mit dem Leben bezahlte.
Der mit halb zerfetztem Schädel wieder ins Wasser platschte und sinnlos vor Schmerz mit letzter Kraft vorwärtsschoß und sich dicht vor uns zwischen zwei Steinen festrannte und hier auch verendete. –
Harst hatte kaum die drohende Gefahr von uns dreien abgewendet, hatte kaum das seltene Schauspiel des mit wütenden Schwanzschlägen zwischen den Steinblöcken krepierenden Haifisches beobachtet, als er auch schon nach einem kurzen Blick zur „Hutkrempe“ empor … seine Clement aus der Tasche riß …
Und … feuerte.
Im Nu dreimal abdrückte.
Über uns aber zersplitterte … ein Spiegel.
Über uns – zehn Meter höher – ein großer viereckiger Spiegel, der zusammen mit einem zweiten an einer Stange befestigt war.
Nach Art jener Fensterspione befestigt, die es am Fenster sitzenden alten Damen gestatten, die Straße entlang alles zu beobachten.
Hier aber hatte dieser „Spion“ aus zwei Spiegeln einem unsichtbaren Gegner, der irgendwo oben in einer Spalte steckte, ermöglicht, unseren Ruheplatz zu erspähen und dann die Handgranate zu werfen.
Ich sah den Spiegel zersplittern.
Den einen …
Sah, daß die Stange eingeholt wurde.
Da schoß Harald abermals.
Traf auch den zweiten Spiegel.
Lachte kurz auf.
„Nur ein Weib kann so töricht sein, sich derart zu einem Angriff hinreißen zu lassen und … sich zu verraten! – Na, Gaspard, – ob der Rocher de Malcolm bewohnt ist?!“
„Ob er’s ist – – verdammt!!“ knurrte der alte Seebär zog seinen Seemannsknief aus der Hosentasche und fügte ganz pomadig hinzu:
„Zwei Mal hab’ ich schon im Magen von Haifischen Wertsachen gefunden. Seitdem schneide ich jedem Hai den Leib auf.“
Und gemütlich kletterte er zu den Steinblöcken hinab, packte den toten Hai beim Kopfe und zerrte das drei Meter lange Vieh mit unglaublicher Kraft aufs Trockene.
Harst warnte:
„Es kann noch eine Granate kommen, lieber Gaspard!“
„Ne, – denn nu ist ja der Spiegelknüppel unschädlich gemacht!“ lachte der Alte behaglich. „Ne – ich glaube nicht mehr an ne Neuauflage! Wenn’s das blonde Weib getan hat, dann wird sie …“
Er brach mitten im Satze ab.
Während seiner Worte hatte er rasch und geschickt dem Untier den Leib aufgeschlitzt.
Und – – hatte auch den Magen aufgetrennt.
Rief jetzt …
Rief jetzt …
Und – was er rief, war so unglaublich, daß ich zunächst an einen faulen Witz glaubte.
Rief:
„Eine Weiberperücke! Bei allen Heiligen – dies filzige Ding ist eine blonde Weiberperücke!! Der Haifisch hat sie verschluckt!“
Vorsichtig das unappetitliche nasse, schmierige Ding nur mit zwei Fingern haltend, kam er auf uns zu.
„Ins Wasser – – abspülen!!“ meinte Harald und winkte eifrigst. „Den Gestank erträgt kein Mensch, Gaspard! Ins Wasser, abspülen!!“
Der Seebär grinste.
„Stinkt noch schlimmer als unser Kutterdeck!!“
Und er tunkte die Perücke ins Wasser und säuberte sie gründlichst.
Was sich nun nach dieser Reinigungsprozedur aus dem schmierigen Klumpen herausschälte, war tatsächlich eine blonde, zerknüllte Weiberperücke, eine vollständige Perücke, die ursprünglich eine bestimmte Frisur gehabt hatte. –
Harst nahm das Ding und breitete es flach aus.
An der Unterseite war ein weißes kleines Leinwandstückchen eingenäht mit einem noch gut lesbaren Firmenaufdruck:
John S. Wellter,
Theaterfriseur,
London, Baccarystreet 18.
Und dann sagte er sinnend:
„Die Perücke hat der Hai höchstens vor fünf Stunden verschluckt und noch nicht verdaut. – Gaspard, untersuchen Sie den Haifischmagen weiter.“
Und der Alte nahm einen angeschwemmten Ast und durchwühlte den breiigen eklen Inhalt des Haifischwanstes aufs neue.
Rief dann.
Rief.
Und – diesmal war’s keine Perücke, die er triumphierend hochhob.
Diesmal war’s … ein menschliches Ohr.
Ein Ohr mit einem großen Hautlappen.
Und – – mit etwas Blankem im Ohrläppchen. – –
So – – fand Edward Gaspard den Ohrring, die kleine Gemme mit der kunstvollen Goldeinfassung. Die Gemme, die einen Hermeskopf mit Flügelhelm darstellte. –
Weiter fand er nichts.
Nun lag die Gemme in Haralds flacher Hand.
Und das menschliche Ohr, das zierliche Frauenohr lag auf einem Stein … neben der Perücke.
„Ich denke,“ sagte Harst nur gerade so laut, daß er das Toben der Brandung übertönte, „ich denke, dies drei gehört zusammen. Eine Frau wurde von einem Haifisch zerrissen, der ihre Perücke und ein Ohr verschlang. Alles andere geht uns nichts an.“
„Was denn?“ fragte Gaspard. „Was geht uns nichts an?“
„Nun, zum Beispiel die Frage, weshalb der Hai in seinem Magen nicht noch mehr unverdaute menschliche Leichenteile hat.“
Er nahm das Ohr mit zwei Ästen vom Steine auf und legte es in eine kleine Felsspalte, füllte diese mit Geröll.
Erklärte fast feierlich:
„Fürwahr, das ist ein Begräbnis, wie selbst ich noch keines durchgemacht habe! Ein Begräbnis, bei dem …“
Und – – hier trat eine neue Unterbrechung ein.
Keine … Handgranate!
Obwohl diese „Unterbrechung“ gleichfalls förmlich herbeigeschossen kam.
Ein Mensch war’s.
Ein Mann, jünger als wir.
Flinker, das Klettern gewöhnt: Matrose Bob Seridan!!
Brüllte – und vergaß seine sonstige Wurstigkeit.
Brüllte uns entgegen:
„Niedergeschlagen hat man mich! Gefesselt!! Und gerade als ich am Kochherd in der kleinen Kombüse stand!!“
Ganz atemlos war er.
Machte vor uns dreien halt.
Und platzte wieder heraus: „Hab’ den Schuft nicht mal gesehen, der sich da auf den Kutter geschlichen hatte! Hab’ nichts Böses geahnt, bis der Kerl mir ’n Klaps auf ’n Kopf versetzte … Da bin ich umgeknickt … Und wachte wieder auf – gefesselt.“
Er holte tief Atem.
„Der Lump hat aber nicht mit Bob Seridans Kräften gerechnet! Hab’ die Stricke abgestreift, hab’ den Gefangenen wie ne Stecknadel gesucht … Der ist nämlich weg, Mister Harst, verduftet. Und wenn der Höllenhund nicht die Beinwunde hätte, würde ich vermuten, er hat mir den Streich gespielt!“
Wieder holte er pfeifend Atem.
„Jedenfalls: der John Johnston oder wie die Kanaille sonst heißen mag, ist … verschwunden – spurlos! Und da bin ich denn rasch hierher gelaufen, um …“
Harst – mein alter Harst lief jetzt auch.
Lief nach Süden zu über Geröll und Steine – dorthin, woher Bob Seridan gekommen.
Edward Gaspard aber brüllte Seridan an:
„Rindvieh, den Kutter hättest Du nicht verlassen dürfen! Den Kutter werden sie uns stehlen!! Deshalb hat’s Mister Harst so eilig!“
Und wir drei folgten Harald.
Noch nie habe ich so geschwitzt wie damals bei dieser Parforcekletterei.
Noch nie habe ich so viel Seemannsflüche gehört wie damals aus Gaspards stoppelbärtigem Munde.
Denn – – als wir freien Ausblick nach Süden gewannen, da sahen wir den Kutter davonsegeln.
Dreitausend Meter war er bereits von dem Rocher de Malcolm entfernt.
Und doch erkannte ich, daß am Heck auf der Steuerbank Professor Josua Jolling saß!!
Sonst aber sah ich niemand weiter an Bord.
Niemand. –
Und dann …
Dann standen wir vier an der Stelle, wo unser Kutter vertäut gewesen.
Standen und starrten ins Leere.
Und Bob Seridan kratzte sich immer wieder den Schädel und murmelte:
„Ich Rindvieh – – ich Rindvieh!“
„Doppeltes Rindvieh!“ nickte Edward Gaspard erbost. „Was nun, Mister Harst?! Nun können wir vier hier Robinson spielen!!“
„Und – verdursten!“ sagte ich gereizt. „Falls wir …“
„… wir den Zugang zum Innern des Rocher de Malcolm nicht finden,“ ergänzte Harald gerade, als der Kutter am Horizont in einer Dunstschicht untertauchte.
Und – seltsam genug: Harst schmunzelte dazu, wandte sich an den alten Gaspard:
„Wir haben doch unser Deck so tadellos duftend gemacht! Das Öl ist noch lange nicht eingezogen! Und wer sich die Schuhsohlen ungewollt beim Betreten des Decks mit dem Parfüm eingerieben hat, der wird uns den Weg durch den Geruch weisen, den – – wir einschlagen müssen!“
Gaspard strahlte plötzlich.
„Verstehe – – verstehe alles!!“
Oh – er war nicht dumm, der brave Gaspard! Alles andere als das! Er fuhr fort:
„Ich kalkuliere, daß das Weib den Bob erledigt hat, Mister Harst! Dasselbe Weib, das den Spion handhabte!“
„Stimmt!“ erwiderte Harald. „Und da ich annehme, daß das Weib noch in dem Felsen sitzt, wollen wir vorsichtig sein und mehr in die Felsspalte hineintreten, wo man nicht hinterrücks auf uns schießen kann.“
Wir taten’s.
Standen eng beieinander.
Und Harald erklärte weiter:
„Das Weib schlug Bob nieder. Neben dem Liegeplatz des Kutters sah ich den fettigen Abdruck zierlicher Frauenschuhe.“
„Aha!!“ rief der Alte. „Also habe ich recht!“
„Vollkommen, lieber Gaspard. – Nachdem sie also Bob „erledigt“ und unseren Gefangenen davongetragen hatte, schleuderte sie von oben die Handgranate. Inzwischen muß aber der Professor …“
Hier fuhr Bob Seridan dazwischen:
„Professor ist der Schuft?!“
„Ja – und heißt Josua Jolling, ist eine Berühmtheit, der Mann. – Also Jolling beobachtete, daß Sie, Bob, sich befreit hatten. Da hat er mit dem blonden Weibe vereinbart, uns den Kutter zu entführen.“
„Hm?!“ grunzte Gaspard zweifelnd.
Harst ließ sich nicht stören.
„Das Weib befindet sich also noch im Rocher de Malcolm, wo es sich völlig sicher wähnt. Jolling und diese Frau – falls nicht noch mehr Leute in dem Felsen stecken – haben uns also ihrer Ansicht nach ganz in der Gewalt, da sie eben annehmen, wir müssen schließlich vor Hunger und Durst kapitulieren, falls sie uns nicht schon früher umgebracht haben.“
„Na – davon wird nichts!“ lachte Gaspard grimmig und reckte die Fäuste hoch.
„Nein – davon wird nichts,“ bestätigte auch Harald. „Ihr beide, Gaspard und Seridan, bleibt hier in der Spalte. Ihr habt ja Eure Revolver zur Verteidigung. Schraut und ich … stürmen den Rocher de Malcolm! Sollte uns etwas zustoßen, so könnt Ihr beide auf eigene Faust Euch zu retten suchen. Ich werde hinter Schraut und mir kleine weiße Muschelstückchen ausstreuen, damit Ihr wißt, wo wir geblieben sind.“
„Nehmen Sie uns mit,“ bat Gaspard.
„Nein … Denn wenn Schraut und ich hier irgendwie in eine Patsche geraten, müßt Ihr uns heraushauen! Alle vier in einem Hinterhalt – dann sind wir eben alle gleichzeitig geliefert!“
Gaspard sah das ein. –
Und wenige Minuten später brachen Harald und ich auf.
Brachen auf zu dem eigenartigsten Erkundungsgang, den ich je erlebt habe.
Zu einem gefahrvollen, unsicheren Unternehmen, bei dem nicht Auge und Ohr, sondern die … Nase uns helfen sollte.
Wer Karbolgeruch kennt, weiß auch, wie kräftig es riecht und wie lange sich dieser Geruch hält.
In unserem Falle hier war seit der Befreiung Jollings durch die Frau kaum eine Stunde verstrichen.
Deshalb waren die Spuren der öligen Schuhsohlen des Weibes mit den Augen eine ganze Strecke zu verfolgen.
Mit Harsts Augen! Nicht mit den meinigen!
Und – die Frau war nach Osten zu um den ungeheuren Steinkoloß herumgeklettert, während wir ihn vorhin nach Westen zu umrundet hatten.
Als die sichtbare Fährte aufhörte, trat Haralds Nase in Tätigkeit.
Es ist genugsam bekannt, daß die eingeborene australische Polizei, also die Australneger, zum Teil über so scharfen Geruchssinn verfügen, daß sie auch gewöhnliche menschliche Fährten „riechend“ wie ein Polizeihund verfolgen.[10]
Es ist fernerhin von mir in diesen meinen Schilderungen unserer Abenteuer wiederholt betont worden, daß Haralds Sinnesorgane sämtlich gerade infolge seiner zehnjährigen Tätigkeit als Detektiv so hervorragend entwickelt sind wie wohl kaum wieder bei einem Kulturmenschen.
Jedenfalls: er roch die Karbolfährte!
Er roch sie noch dort, wo das Gestein auch nicht den schwächsten öligen Glanz, nicht das kleinste Fleckchen mehr zeigte.
Er kroch auf allen Vieren.
Kroch, den Kopf ganz tief gesenkt.
Kroch und gelangte so bis in eine Spalte an der Ostseite des Rocher de Malcolm, die, breiter als alle bisher beobachteten, allmählich anstieg, dann aber ebenfalls wie all die übrigen … ein Ende hatte!
Nichts als Steinwände gab’s hier.
Und hier – – zog Harald die Clement.
Geladen hatte er sie schon wieder.
Flüsterte mir zu:
„Am Ziel, mein Alter!!“
Ich war überrascht.
Ich sah nichts von irgend einer Fortsetzung der Spalte.
Nichts!
Und Harald ließ sich wieder auf die Knie nieder.
Kroch … rückwärts.
Und gerade da, wo die Spalte eine sehr enge Stelle hatte, wo er soeben eine geraume Weile regungslos lang ausgestreckt gelegen hatte, so daß ich geglaubt hatte, er wollte nur verschnaufen …
Gerade an dieser Stelle packte er nun eine den Felsboden überragende Zacke und …
… und hob ein unregelmäßiges Stück Fels, eine Platte, langsam empor.
So langsam, daß er Zeit fand, sich zu überzeugen, ob auch niemand uns hier erwarte.
Unter dem Stein gähnte ein finsteres Loch.
Und dennoch konnte ich erkennen, daß hier die große Spalte von einer kleineren durchzogen wurde, die man durch schlau eingefügte Steinplatten und Geröll bis auf die eine Öffnung abgedichtet hatte.
In diese Öffnung fiel jetzt der Strahlenkegel einer Taschenlampe.
Zeigte uns, daß die kleinere Spalte kaum zwei Meter tief war, daß unten zwei Holzkisten gleichsam als Treppe standen. –
Harst turnte hinab.
Ich hinterher.
Und ich klappte den Stein nun wieder herab, aber – ich klemmte auf Haralds Geheiß ein großes Stück Muschel mit ein.
Dies sollte Bob und Gaspard nötigenfalls auf unsere Spur bringen.
Die Spalte hier unten zog sich nach Nordwest in das Innere des Rocher de Malcolm hinein.
Desselben Hutfelsens, der vor Monaten noch keinerlei vulkanische Neigungen verraten hatte und nun zeitweise rauchte. –
Hinein in das Felsmassiv ging die Spalte, erweiterte sich zur Höhle, die in Terrassen nach oben zu sich ausdehnte.
Längst hatten wir beide, um ja leise aufzutreten, die Schuhe ausgezogen.
Hatten auch Ohr und Augen sorgfältigst über unsere Sicherheit wachen lassen.
Hatten bisher nichts entdeckt, das auf die Anwesenheit von Menschen hindeutete.
Gar nichts.
Stiegen höher und höher.
Bis … die Höhle ein Ende hatte.
Wie die die Felsspalte draußen.
Über uns Gestein, das sich in schräger Wölbung über die Terrassen herabsenkte.
Im Dunkeln standen wir.
Bei ausgeschalteten Taschenlampen.
Ringsum Totenstille.
Kein Laut drang in diese Grotteneinsamkeit hinein.
Absolute Stille.
So, wie man sie selten erlebt. –
Und – wir standen und horchten.
Horchten.
Bis – – Harald flüsterte:
„Riechst Du’s auch?“
„Was?“
„Karbol – – auch hier!!“ –
Ja – jetzt spürte ich den Karbolduft.
Jetzt kniete Harst auch schon.
Und – – spielte eingeborenen Australpolizisten.
Führte uns, auf der Karbolspur weiterkriechend, bis in den äußersten Westwinkel dieser obersten Höhlenterrasse.
Und hier – ich will den Leser nicht allzu sehr auf die Folter spannen! – hier entdeckte mein alter Harald eine tadellos angelegte Steinplattentür, die wir ohne die Karbolfährte niemals gefunden hätten.
Niemals!! Ausgeschlossen!!
Und diese Tür drehte sich jetzt unter Haralds ziehender Hand nach außen.
Dahinter ein … Vorhang.
Und – hinter dem Vorhang eine Holzwand mit einer zweiten Tür – aus Brettern.
Und dahinter nun endlich der vollgültige Beweis, daß der Hutfelsen ein vielseitiges Geheimnis darstellte:
Ein … Laboratorium!!
Eingebaut in eine Höhle, – erbaut aus rohen Brettern.
Beleuchtet durch zwei elektrische Bogenlampen.
Und – ein Laboratorium, in dem nichts fehlte, um einem Gelehrten, einem Chemiker die Arbeit zu erleichtern.
Ein langgestreckter Raum, den ich an anderer Stelle beschreiben will. –
So lautlos waren wir hier eingedrungen, daß die blonde Frau dort vor dem mächtigen aus Steinen erbauten Ofen nicht ahnte, wer sie jetzt beobachtete.
Die Blonde dort trug ein schlichtes Sportkostüm.
Und – – hielt in der Rechten … eine blonde Frauenperücke, die sie gerade in die rote Glut des Ofens schieben wollte.
Verbrennen wollte sie die blonde Perücke, die Blonde.
Da packte jemand von hinten ihr Handgelenk.
Jemand, der dazu sagte:
„Noch einen Augenblick, Miß.“
Mit schrillem Schrei fuhr sie hoch.
Ihr Gesicht war farblos.
Die Augen fast gläsern vor Entsetzen.
Nicht lange.
Das Weib mußte gute Nerven haben.
Fragte jetzt drohend:
„Wie durften Sie es wagen, hier einzudringen?!“
Seltsam: der Ton ihrer Stimme änderte sich.
„Oh – das hätten Sie nie tun sollen, nie!“ Sie flüsterte … „Hier hausen Menschen, die ein Leben auslöschen wie ein Licht! – Fliehen Sie – –! Und – nehmen Sie mich mit!“
Ihr Flehen ward eindringlicher.
„Ja, nehmen Sie mich mit! Sie werden mich schützen! Haben Sie Erbarmen und …“
Harsts tiefere Stimme da:
„Lassen Sie die Komödie! – Die blonde Perücke werden Sie nicht mehr verbrennen, Sie … Mörderin!!“
Ich, – ich, Max Schraut, stand da wie ein ahnungsloser Säugling.
Mörderin??!
Mörderin.
Ich begriff nur eins: die blonde Perücke spielte hier eine große, große Rolle!!
Welche – –?!
Lieber Leser: im zweiten Teile steht’s!!
Ich müßte nun eigentlich dieses seltsame Abenteuer hier im zweiten Teil am selben Punkte wieder aufnehmen, wo ich’s soeben im ersten beschlossen habe.
Ich werde es nicht tun. –
Ich will den Leser dorthin zurückführen, wo Gaspard und Bob in der Felsspalte am Südrande des Rocher de Malcolm saßen und aus ihren Seemannspfeifen dichte Wolken hervorqualmten.
Wir, Harst und ich, hatten die beiden vor einer halben Stunde verlassen.
Und Bob, der sich noch immer schmählich kränkte, weil durch seine Schuld der Kutter uns genommen war, – dieser stramme brave Bob klopfte jetzt seine Holzpiep aus und sagte:
„Gaspard, ich gehe.“
(Gaspard hat mir all das nachher genau erzählt.)
„Wohin?“ fragt der Alte verwundert.
„Ihnen nach.“
„Harst und Schraut? Du willst ihnen schon jetzt folgen?! Du bist übergeschnappt.“
„Nein, ich habe nur das Gefühl, daß die beiden arg in der Patsche stecken, und da will ich eben meine Dummheit von vorhin wieder wettmachen.“
Gaspard, durch den ernsten Ton des Gefährten merkwürdig berührt, erhebt sich gleichfalls.
„Gut denn … Gehen wir … Ich weiß ja, Bob, Deine verdammten Ahnungen treffen meist zu.“
„Das tun sie.“
Und so kam’s denn, daß unsere beiden tüchtigen Freunde weit früher sich um uns besorgt zeigten, als wir dies vermuten konnten.
Hatte Harald ihnen doch erklärt, wir würden vor drei Stunden kaum zurücksein. –
Gaspard und Seridan folgten den weißen Muschelstückchen, die ich ausgestreut hatte.
Gelangten so an die große Spalte und … an das große Muschelstück.
Hier nun wäre Bob Seridan achtlos vorüber gegangen. Aber der alte Seebär hatte bessere Augen.
„Hallo – das Muschelstück steckt ja im Felsboden!“ meinte er.
Und – so fanden sie den Steindeckel der Öffnung.
So … fanden sie den Weg … ins Verderben!!
Arme, brave Kerle!
Ich sehe Edward Gaspards braunrotes Gesicht mit der dicken Nase mit den knollenartigen Auswüchsen noch heute vor mir.
Noch heute sehe ich jene Szene, wie der tapfere Alte …
Doch nein!
Jetzt will ich in meiner Schilderung dort fortfahren, wo Teil 1 endete. Jetzt wird der Leser den Zusammenhang unschwer herstellen können, und ich brauche nicht gerade an dem aufregendsten Punkt meiner Niederschrift erst klarzumachen, wie Gaspard und Seridan gerade da plötzlich auftauchen konnten. –
Also zurück ins Laboratorium.
Zurück zu Harst, der gerade der Blonden, die übrigens ein bildhübsches Weib war, das Wort Mörderin zugerufen hatte.
Die Wirkung blieb aus.
Die Blonde machte lediglich ein Gesicht, als hätte sie soeben nicht richtig gehört.
Und fragte dann harmlos:
„Verzeihen Sie, Mister. Mörderin sagten Sie?! Soll ich eine Mörderin sein?!“
„Sie sind’s!“
Seine Stimme war hart.
Da zuckte das Weib zurück.
Ihr Gesicht wurde fahl.
Und mit erlöschendem Atem flüsterte sie:
„Oh – – wieder um eine Hoffnung ärmer!! Und ich glaubte, Sie würden meine Befreier werden! Nur im ersten Moment hielt ich Sie für Josua Jollings Verbündete!“
Harald wurde jetzt stutzig.
Es lag etwas in der ganzen Art, in dem ganzen Auftreten dieses hübschen blonden Weibes, das unwillkürlich für sie einnahm.
Besonders die Augen hatten einen Ausdruck kindlicher Reinheit und unendlicher Trauer, – etwas so Weltschmerzliches lag darin, daß ich Harst fragend anschaute und ihm durch ein leichtes Kopfschütteln verriet, daß ich diese blonde Unbekannte für harmlos und seine Ansicht über sie für falsch hielte.
Eine kurze Pause entstand.
Harsts graue Augen ruhten fest auf dem Antlitz der Blonden.
Dann fragte er unvermittelt:
„Weshalb wollten Sie die blonde Perücke verbrennen?“
„Ich wollte es nicht … Ich mußte es.“
„Auf wessen Befehl?“
„Das darf ich nicht sagen. Ich … weiß es auch nicht.“ Ihre Augen bekamen plötzlich etwas Überirdisches, Visionäres.
„Sie wissen es nicht?!“ meinte Harald zweifelnd. „Drücken Sie sich genauer aus: Sie wollen es nicht wissen!“
„Nein – ich spreche die Wahrheit: ich weiß es nicht!“ Und ein unsagbar trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich weiß so vieles nicht … so sehr vieles! Ich … könnte Ihnen nicht einmal meinen Namen nennen. Ich habe ihn vergessen, und täglich, stündlich grüble ich darüber nach, wie ich … heiße.“
In ihren langen dunklen Wimpern zeigten sich ein paar Tränen.
Und die klaren Perlen rollten langsam über das liebliche Gesicht.
„Sie kennen doch aber des Professors Namen,“ meinte Harald nun weit weniger eindringlich und scharf. „Sie nannten ihn Josua Jolling … So heißt er auch. – Hat er Sie hierher gebracht?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wohnen Sie hier allein in dem Rocher de Malcolm?“
Man merkte ihr jetzt an, daß sie sich die größte Mühe gab, ihr Gedächtnis aufzufrischen.
Aber nur ihr Lächeln wurde noch verzweifelter.
„Auch das weiß ich nicht,“ flüsterte sie schließlich.
Harald ließ von ihr ab. Auch er hatte nun die Überzeugung gewonnen, daß er hier bei dieser Unglücklichen durch sein Verhör nichts ausrichten würde.
Er wandte sich mir zu.
„Bleibe bei der Frau,“ meinte er leise. „Nimm aber die Waffe zur Hand. Und sollte sich etwas ereignen, das Dir bedrohlich erscheint, so zaudere nicht lange. Die Geheimnisse dieses Felsens sind doch weit ernster als ich anfänglich glaubte. – Ich besinne mich auf den gegen Josua Jolling erlassenen Steckbrief ganz genau. In diesem Steckbrief war betont, daß …“
Er … brach mitten im Satze ab.
Er horchte … horchte.
Wie ich.
An unser Ohr war eine Art Musik gedrungen, ein seltsam weiches Tönen.
Keine Melodie.
Nein – eine Reihe zarter Akkorde – so sanft, als wehten sie aus einem Geisterreich herüber.
Und – – Harald sagte nun, wieder in englischer Sprache, denn zu mir hatte er sich des Deutschen bedient:
„Eine Äolsharfe – eine Windharfe! Sie muß oben auf der Spitze des Hutfelsens stehen.“
Da meldete sich die Blonde.
Lächelte jetzt ganz glücklich, weil sie uns Auskunft geben konnte … sagte:
„Ja – oben auf dem Rocher de Malcolm – ja, dort neben den vielen dünnen Drähten.“
Wir horchten auf.
Harald fragte schnell:
„Sind es Antennendrähte?“
Sie nickte eifrig.
„Gewiß – Antennendrähte.“
„Also wohnt der Professor hier, nicht wahr? Wo eine Antennenanlage, dort auch eine Einrichtung für Funkspruch. Wer sollte die Apparate bedienen, wenn nicht Jolling?“
Und die Blonde blickte ins Leere.
Leer waren wieder ihre Augen.
„Ich … weiß … es … wirklich nicht.“
Das – war dieselbe klägliche Antwort wie stets.
Inzwischen hatte ich auch die Stelle entdeckt, von der die Töne der Äolsharfe erklangen.
In die Holzwand eingelassen war ein schwarzer Trichter.
Ich deutete mit der Hand dorthin.
Harst nickte, und wir gingen auf den Trichter zu.
Die Töne drangen tatsächlich aus der großen Schallöffnung hervor.
Aber hier, wo wir nun so nahe davorstanden, hörten wir in den Akkorden noch andere Klänge mitschwingen: Laute aus menschlicher Kehle – Worte – Sätze – wie ein Flüstern, zu dem die Äolsharfe die Begleitung spielte.
So leise jedoch war dieses Raunen, daß wir die Köpfe ganz dicht an den Trichter brachten.
Und – – dann geschah’s.
Kein Angriff etwa.
Nein – etwas weit Gefährlicheres, Teuflischeres.
Die Äolsharfe war nur das Lockmittel gewesen, und das zarte Raunen hatte dieses Lockmittel noch verstärkt.
Während wir noch lauschten und fast den Atem anhielten vor Anspannung unseres Gehörs, – während wir dann gleichzeitig merkten, daß dieses Flüstern außer von den Tönen der Äolsharfe noch von jenem feinen zischenden Brausen begleitet war, wie es der Wellenzug eines drahtlosen Senders hervorruft, – während wir nun gleichzeitig tiefer einatmeten, befiel uns beide ein Gefühl plötzlichen Schwindels.
Wir taumelten gegeneinander.
Wir schauten uns an … verstanden uns …
Und – sanken gleichzeitig zu Boden.
Mein schwindendes Bewußtsein nahm als letzten Eindruck noch das Bild des blonden Weibes auf, die teilnahmlos vor dem mächtigen Ofen hockte und gerade … die blonde Perücke in die Glut stieß.
„Ein Chemiker wie Jolling kennt genug betäubende und dabei geruchlose Gasarten,“ sagte Harald ganz leise zu mir.
So leise, daß selbst ein Lauscher dicht neben uns nichts von diesen Worten verstanden hätte.
Und dies flüsterte er mir einige Stunden später in unserer Kerkerzelle ins Ohr.
In einer Kerkerzelle, die ohne Zweifel etwas recht Romantisches an sich hatte.
Eine Spalte, die durch schmale Ritzen von außen etwas Licht erhielt.
Nach Westen zu lagen diese schmalen Sehschlitze.
Und einige so niedrig, daß wir, nebeneinandersitzend und an Armen und Beinen gefesselt, dazu noch durch Stricke einer an den anderen gebunden, doch die am Horizont allmählich verschwindende Sonne und das wunderbare Farbenspiel des Sonnenuntergangs beobachten konnten.
Abend war’s also geworden, bevor wir uns von der Betäubung so weit erholt hatten, daß wir wieder klaren Verstandes unsere Lage überdenken konnten.
Und als wir’s taten und unsere Ansicht über die Blonde, die Geheimnisse des Rocher de Malcolm und Professor Jolling austauschten, da hatte Harald jene Sätze gesprochen, mit denen ich dieses Kapitel eingeleitet habe.
Und – – kaum gesagt, da von oben her, von den engen Rändern der Spalte, allerhand Geräusche … Worte … Flüche aus rauher Seemannskehle – immer deutlicher.
Bis als erster Bob Seridan zu uns hinab schwebte.
An einem Tau mit Haken, der an einem Strick um die Brust befestigt war.
Einer jener Haken, an denen noch eine dünne Schnur angebracht ist, die den eigentlichen Haken durch einen Ruck öffnet.
Und dies geschah, als Bob Seridan nun auf den Füßen stand.
Das Tau nebst Haken wurde wieder nach oben gezogen.
Und dann begann da oben Edward Gaspard seinen ganzen Vorrat an Kernflüchen in verschwenderischer Weise über die Blonde auszugießen.
„Verdammtes blondes Weibsbild, komme ich frei, so drehe ich Dir das Genick um! – Blonde Kanaille, die Pest möge Dir in den Hals kriechen! Warte nur, Mister Harst wird Euch heimtückischen Banditen schon das Fell über die Ohren ziehen!“
All das half dem guten Gaspard gar nichts.
Auch er schwebte nun abwärts.
Auch er landete in unserem Kerker.
Sah uns … Und im Gegensatz zu dem schweigsamen Bob brüllte er:
„Tod und Teufel, – die Herren auch hier?! Auch in die verwünschte Falle gegangen?! – Oh, wenn ich geahnt hätte, daß der verdammte Trichter außer dem seltsamen Gewinsel noch Gas ausströmte …!! Umgefallen sind der Bob und ich wie alte Weiber, wenn sie sich in den Finger schneiden und Blut sehen! Regelrecht umgesunken!“
Harst sagte da sehr ruhig:
„Glauben Sie, daß Sie durch Ihre Aufgeregtheit irgend etwas ändern, lieber Gaspard?! – Setzen Sie sich … Es gibt hier sehr viel Schönes zu sehen … zum Beispiel den Sonnenuntergang.“
„’n Dreck mach’ ich mir daraus, Mr. Harst! Was soll mir ein Sonnenuntergang, wo das verflixte blonde Weib uns so fein kaltgestellt hat – uns alle vier! Man denke – selbst Harst gefangen!! Ich könnte vor Wut aus meiner alten braunfaltigen Haut springen.“
„Sie sollen nicht springen, sondern sich setzen! – So, das ist verständig … Nun sind wir doch wenigstens wieder beieinander, lieber Gaspard.“
„Erzählen Sie!“ bat ich, denn ich wollte endlich Aufschluß darüber haben, ob die Blonde uns tatsächlich hinters Licht geführt hätte. –
Wenn’s ans Erzählen ging, war Gaspard rasch dabei.
Wollte ich seine langatmigen, durch Flüche gespickten Ausführungen hier etwa wörtlich wiedergeben, dann müßte ich zwei volle Manuskriptseiten verschwenden.
Jedenfalls: Bob und er waren genau wie wir in das Laboratorium gelangt, hatten dort nur die Blonde vorgefunden, hatten aus dem Weibe trotz unendlicher Fragen auch nur das lügnerische „Ich weiß nicht“ herausquetschen können und waren dann wie wir durch die Töne der Äolsharfe vor den Trichter gelockt worden.
Waren hier wie wir betäubt umgefallen und erst vor kurzem im Laboratorium erwacht – gefesselt, wehrlos, auf den Dielen in einer Ecke.
Und hatten als Wächterin die Blonde bei sich gehabt, die, einen Revolver in der Hand, sie dann gezwungen hatte, mit gefesselten Armen vor ihr her die Terrassen der Grotte hinabzusteigen und bis an die Spalte zu gehen, in der wir bereits eingekerkert waren.
„Ich sage Ihnen, Mister Harst, dieses Weib hat ein Auftreten, daß man wirklich Angst vor ihr kriegt!“ betonte der Alte nun zum zweiten Male. „Zuerst tat sie so, als ob die so ’nen kleinen Vogel hätte und in ihrem Hirn ’n paar Spanten locker wären. Aber das änderte sich dann, als wir wieder zu uns kamen. Da zeigte sie ihr wahres Gesicht! Ein Satan ist’s! Und Kräfte hat sie – Kräfte!! Wie ne Athletin! Tatsache!!“
Harst ließ diesen Redefluß still über sich ergehen.
Er sagte gar nichts.
Nur als Gaspard nun endlich Schuß machte, da meinte er mit jenem versonnenen Gesichtsausdruck, der am besten bewies, wie sehr ihn all diese Vorgänge im Geiste beschäftigten:
„Ich wünschte, wir hätten uns auf dieses Abenteuer nicht eingelassen. Wir befinden uns nun unwiderruflich in der Gewalt von Leuten, die hier im Rocher de Malcolm sich vor der Welt verborgen halten!“
Und – von oben her, wo dichtestes Dunkel lauerte, jetzt die Antwort – die sanfte Stimme der Blonden:
„Mister Harst, es wird Ihnen an nichts fehlen. Lediglich die Freiheit kann ich Ihnen und Ihren Gefährten nicht wiedergeben – vorläufig nicht! Wenn Sie versprechen, nicht fliehen zu wollen, sollen Sie auch eine bessere Zelle angewiesen erhalten. Überlegen Sie sich’s bis morgen früh, Mister Harst.“
Dann Stille.
Bis Gaspard in jäh losbrechender Wut brüllte:
„Das Genick drehe ich Dir um, Kanaille!! Das Genick!“
„Nicht doch!“ meinte Harald etwas ärgerlich. „Benehmen Sie sich gesittet, Gaspard! – Und jetzt wünsche ich, nicht gestört zu werden. Es gibt allerlei gegeneinander abzuwägen.“
Leider aber sollte diese Ruhe Harald nicht beschert werden.
Nein – anderes ereignete sich.
Und diesmal war’s der wortkarge Bob Seridan, der wohl in Rücksicht auf die Blonde da oben ganz vorsichtig flüsterte:
„Einen ganzen Monat will ich dursten, wenn das da draußen nicht unser Kutter ist, der da im roten Glast des Sonnenuntergangs von Westen her dem Hutfelsen sich nähert!“
Drei Augenpaare lugten durch die Ritzen.
Drei Augenpaare sahen dort auf See den Kutter bei frischer Abendbrise heranschießen.
Sahen, daß am Steuer nur ein einzelner Mann saß, daß das Deck im übrigen leer war.
Noch mehr sahen wir.
Der Mann gab mit einem Taschentuch, das er als Winkerflagge benutzte, Signale nach dem Rocher de Malcolm hin.
Dann verschwand der Kutter südwärts aus unserem Sehfelde.
„Er war’s!“ knurrte Gaspard. „Bei Gott – er war’s! Und meine schöne alte Tabakpfeife schenke ich dem, der mir sagen kann, was das alles für’n Reim gibt! Ich jedenfalls mache mir keinen Vers daraus! – Sie, Mister Harst – Sie haben wohl schon einen Vers bereit?“
„Vielleicht, Gaspard.“
„Oho – – schießen Sie los, Mister!“
„Vielleicht hatte ich den Vers schon gedichtet, bevor wir die Pirateninsel verließen … vielleicht!!“
„Na, das ist doch wohl nicht gut möglich,“ lachte Gaspard kopfschüttelnd.
„O doch! In dem hinter Professor Josua Jolling erlassenen Steckbrief stand ja so allerlei, was mir wichtig erschien, und … ich hatte Jolling bereits in der Nacht erkannt, als er mich anflehte, ihn vor einer Verhaftung zu bewahren. Ich tat nur so, als wüßte ich nicht, wer er sei. Und auch mein Erstaunen in der Vorschiffkammer des Kutters war … Spiegelfechterei.“
Das letzte galt mir.
Jedenfalls: der gute Harald hatte auch mich wieder einmal getäuscht!
Und – auf den „Vers“ war ich jetzt genau so erpicht wie Gaspard und Bob.
Leider aber erklärte Harst nach beliebter Methode:
„Fragt jetzt nichts. Gönnt mir Ruhe! Ich muß mit mir ins Reine kommen, was ich tun soll.“
Und so wurde es denn still in der kühlen Felsspalte.
Kühl und dunkel.
So dunkel, daß wir sehr bald nichts mehr voneinander sahen.
Draußen rauschte die Brandung an den Klippen.
Schrien und kreischten die Seevögel.
Hier drinnen schnarchte Bob Seridan behaglich und rasselnd.
Und der alte Gaspard schlief gleichfalls – ganz fest.
Grunzte im Schlaf.
Grunzte wie ein satter Rüsselträger, der sich so recht wohl fühlt.
Auch ich kämpfte mit dem Schlaf.
Und wäre wohl auch eingenickt, wenn Harald mich nicht sanft angestoßen hätte.
„Bleibe munter!“
Da raffte ich mich auf.
Und wieder vergingen endlose Minuten. Vielleicht eine volle Stunde.
Wie sollte ich die Zeit schätzen – woran?!
Mein Blick ruhte zumeist draußen auf der dunklen, nur matt schillernden See – auf den weißen Strichen der Wellenkämme.
Und langsam tauchten die Sterne am Nachthimmel auf.
Allmählich wurde es dort draußen wieder heller.
Allmählich begriff ich, was Harst schon angedeutet hatte: daß der Rocher de Malcolm ein unheimliches … Verbrechernest sein müßte!
Dann raunte Harald mir zu – ganz leise:
„Jetzt weiß ich’s! Jetzt kann ich Dir auch voraussagen, was geschehen wird.“
„Und das wäre?“
„Josua Jolling ist jetzt im Kutter zurückgekehrt. Er wird es nicht wagen, uns zu beseitigen oder länger hier festzuhalten. Er ist ja davon unterrichtet, daß Kapitän Groonar das Ziel unserer Segelpartie kannte. Wenn wir also nicht wieder auftauchen, würde Hoogreeve den Hutfelsen fraglos aufs genaueste untersuchen lassen. Und das wird Jolling vermeiden wollen, das fürchtet[11] er. Mithin wird er zu neuen Lügen seine Zuflucht nehmen. Wird uns Theater vorspielen – vielleicht sehr wirkungsvolle Szenen. Und wird uns höflichst bitten, ihn nicht zu verraten.“
„Wie kann er diese Komödie wagen, wo so vieles gegen ihn spricht?!“ warf ich zweifelnd ein.
Und da – – ereignete sich auch schon die Einleitung zu dem, was Harald vorausgesagt hatte.
Da schoß von oben eine breite Lichtflut über uns hin.
Wir schauten empor – schauten in das grelle Licht einer großen Karbidlaterne.
Und hörten zugleich Professor Josua Jollings überlaute Stimme …
Überlaute Stimme:
„Meine Herren, ich bin geradezu entsetzt über das, was eine Bedauernswerte Ihnen angetan hat!“
Ah – also wirklich! Die Komödie begann!!
Und jetzt kletterte Jolling auch schon an einem rasch herabgeworfenen Tau zu uns hinab.
Bob und Gaspard waren erwacht. Der alte Seebär empfing Jolling mit einer Flut von Schmähungen.
Der Professor entschuldigte sich wortreich.
„Die Herren werden später alles begreifen.“
Und nahm uns die Fesseln ab.
Redete dabei weiter.
„Das blonde Mädchen ist geistesgestört. Es ist meine Nichte Klaire Weller.“
Gaspard beruhigte sich.
Harst zeigte sich sehr gemessen.
Und wenige Minuten später standen wir fünf oben in der Grotte.
Hier sagte Jolling mit der Liebenswürdigkeit des Weltmannes zu Gaspard:
„Bitte, wenn Sie und Seridan vielleicht draußen den Kutter bewachen wollten. Es ist besser, daß der Kutter nicht ohne Aufsicht bleibt. Es könnten doch einige der Freibeuter entkommen sein und hier vielleicht landen.“
Gaspard war sofort einverstanden. Er legte keinerlei Wert darauf, hier im Innern des Rocher de Malcolm zu bleiben. Und Bob erst recht.
Wir begleiteten sie bis zu der Steinluke, und Gaspard rief Harald noch zu: „Nachher erzählen Sie uns dann alles, Mr. Harst.“
Er schloß den Steindeckel, und wir beide waren mit dem mir jetzt doppelt unheimlichen Josua Jolling allein.
Er ging voran, leuchtete uns – hinein in das Laboratorium mit seinen Tischen und Schränken, Apparaten und elektrischen Drahtleitungen.
Und hier – hier saß neben dem Ofen in einem einfachen Lehnstuhl ganz in sich zusammengesunken Klaire Weller, die Blonde.
Schaute uns aus leeren Augen an.
So, als ob sie durch uns hindurchsah, als ob wir gar nicht vorhanden wären.
Und ließ doch keinen Blick von uns.
Keinen Blick. –
Jolling trat zu ihr.
Strich ihr über das reiche Blondhaar.
„Geh’ nun schlafen, Kind,“ sagte er gütig. „Und bitte diese Herren um Verzeihung.“
In ihren langen dunklen Wimpern erschienen wieder Tränen.
„Ich … ich glaubte nur richtig zu handeln, als ich die Gaszufuhr des Trichters einschaltete. Verzeihen Sie.“
Dann schritt sie müde hinaus – durch die zweite Tür, die in uns noch unbekannte Räume führte.
Jolling bat uns Platz zu nehmen.
Wir setzten uns um ein kleines Rauchtischchen in bequeme Polsterstühle.
Dann begann der Professor:
„Sie können mit Recht von mir nun die Wahrheit verlangen, meine Herren.“
„Die kenne ich,“ meinte Harald kühl. „Die Sache ist die: Sie und Klaire Weller sind die Bewohner des Rocher de Malcolm.“
Jolling nickte. „Ich besuchte den Hutfelsen vor fünf Jahren aus Anlaß einer indischen Reise, und da entdeckte ich, daß er hohl war.“
„Dann flohen Sie hierher,“ fügte Harst hinzu. „Mit den Piraten haben Sie nie etwas zu tun gehabt. Sie sahen in der vergangenen Nacht von der Spitze dieses Felsens das Piratendorf brennen und ruderten mit Klaire Weller hinüber, um sich zu überzeugen, was dort vorgefallen. Ein Sprengstück einer Granate verwundete Sie, als Sie in den Büschen dem Dorfe zuschlichen. Schwer verletzt blieben Sie liegen. Bis – wir Sie fanden. Klaire Weller aber kehrte erst vormittags mit dem kleinen Boote nach dem Rocher de Malcolm zurück, und da beobachtete ich sie, wie sie die eine Klippe erkletterte.“
Pause.
„Und dann, Mr. Jolling, haben Sie uns das Märchen von der im Rauche schwebenden Gestalt aufgebunden – und von der blonden Toten, die Sie begruben.“
Jolling nickte wieder.
„Sie belogen uns,“ fuhr Harald fort, „um uns hierher zu locken, damit Sie fliehen, verschwinden könnten.“
„Ja,“ bestätigte der Professor festen Tones. „Es ist so … Ich wollte verschwinden! Spurlos! Aber Klaires widersinniges Tun, der Wurf der Handgranate, machte alles zwecklos, stieß all meine Berechnungen um. Meine Flucht mit dem Kutter sollte Sie täuschen. Ich hoffte, Sie würden den Eingang in den Hutfelsen nicht finden.“
Er lächelte fein – ein überlegenes Lächeln.
„Klaire hat mir die Geschehnisse hier radiotelephonisch mitgeteilt – nach der nächsten unbewohnten nördlichen Insel, wo ich mit dem Kutter gelandet war und wo ich eine drahtlose Station errichtet habe … Und – da bin ich denn zurückgekehrt, meine Herren. So liegen die Dinge.“
Er schob uns ein Zigarettenkistchen hin.
„Bedienen Sie sich doch. – Und – fragen Sie, Mister Harst, wenn es noch etwas zu fragen gibt.“
Oh – ich hätte schon allerlei zu fragen gehabt! Aber ich wagte es nicht mich einzumischen. Ich hütete mich, das menschliche Ohr, den Gemmenohrring und die blonde Perücke zu erwähnen.
Ich wartete.
Und Harald sagte nur:
„Weshalb nahmen Sie Ihre Nichte hierher mit?“
„Weil sie seit langem in meinem Hause lebte und weil ich die arme Kranke nicht in England lassen wollte.“
„Sie flohen damals mit Ihrer Motorjacht.“
„Ja – und alles, was Sie hier sehen, stammt aus meiner Jacht. Ich habe sie völlig abgewrackt.“
„Und was treiben Sie hier, Mr. Jolling?“
„Ich experimentiere … Meine Hexenküche, mein Laboratorium, hat schon viel Wunderbares gesehen. Ich bin … Spiritist.“
„Ah – Spiritist?! – Deshalb kamen Sie auch auf den Gedanken, mir von der Erscheinung des im Qualm schwebenden …“
„Nicht deshalb!“ unterbrach Jolling meinen Freund. „Nein – aus einem anderen Grunde.“
„So?!“
„Ja, – – weil es mir gelungen ist, Seele und Körper zu trennen – bei Lebenden.“
„Verzeihen Sie … Das verstehe ich nicht,“ meinte Harald kühl.
„Schon möglich,“ lächelte Jolling. „Es ist auch schwer zu begreifen. Und doch ist’s eine alte indische Geheimkunst, Mr. Harst. Mahatma nennt man diese Trennung von Leib und Seele, wobei letztere gleich einem Astralleib uns erscheint.“
„Hm – Sie gestatten, daß ich das für Phantastereien halte, Mr. Jolling.“
„Sie werden überzeugt werden. – Zunächst möchte ich Sie jetzt durch die anderen Räume führen. Bitte kommen Sie, meine Herren.“ –
Ich will mich hier mit Einzelheiten nicht zu lange aufhalten.
Will nur erwähnen, daß ich unendlich verblüfft darüber war, wie geschickt Jolling hier in die Grotte außer der Hexenküche noch drei Zimmer eingebaut hatte.
Und dann schritt er uns voran eine steile Holztreppe empor – hinauf zur Spitze des Rocher de Malcolm.
Hinauf in die Tropennacht mit dem herrlichen Geflimmer unzähliger Sterne.
Ein Rundblick tat sich uns auf, wie er bezaubernder kaum sein konnte.
Der Mond stand am nächtlichen Firmament. Und sein weiches Licht lag in breiter Bahn auf dem Meere – enthüllte uns ferne Inselchen – auch das Pirateneiland.
Wir standen stumm und ergriffen da.
Wir hörten neben uns die weichen Klänge der Äolsharfe.
Und auch in den Antennen sang leise der Wind.
„Verstehen Sie nun, daß es sich hier schon leben läßt,“ sagte Jolling leise.
Harst erwiderte:
„Die Gesellschaft einer Irren würde mich krank machen.“
„Oh – man gewöhnt sich an Klaires Eigentümlichkeiten.“
Und wieder schwiegen wir.
Mir war’s, als ob die Äolsharfe mir zuraunte, daß Josua Jolling uns abermals belogen habe.
Seltsam: gerade hier in dieser reinen Umgebung, hier unter dem Sternenzelt empfand ich’s mit vollster Deutlichkeit: Der Mann war ein Verbrecher, und der Inhalt des Haifischmagens stand irgendwie in engster Beziehung zu seinen … Untaten!
Und in die nun wiederum uns einhüllende friedliche Stille platzte wie eine Bombe Haralds Frage hinein:
„Ist es Ihnen wirklich möglich, uns das sogenannte Mahatma vorzuführen, Mr. Jolling?“
„Gewiß … Jederzeit … Ich muß dann nur Klaire Weller wecken, denn mit ihr experimentiere ich.“
„Ob die damit verbundenen seelischen Erschütterungen ihr nicht schaden?“
„Nein … Sie ahnt ja gar nicht, was eigentlich vorgeht.“
„Und sie ist mit dabei?“
„Ja – mit in der Hexenküche!“
Mir schien’s, als vibrierte Jollings Stimme in leisem Spott.
„Also dann – gehen wir,“ fügte er hinzu. „Sie sollen nicht ganz um die Nachtruhe kommen, meine Herren.“
Wir stiegen wieder hinab ins Laboratorium.
Jolling entschuldigte sich. „Ich will nur meine Nichte wecken.“
So waren wir denn allein.
Saßen am Rauchtischchen …
Harst rauchte lässig. Und die Töne der Äolsharfe füllten den weiten Raum.
Bläuliche Ringe formten Haralds Lippen.
Zwischenein … wie ein Wehen nur:
„Es sind zwei.“
Ich blickte ihn an.
Verstand ihn nicht.
Da trat auch schon Josua Jolling ein.
Und hinter ihm Klaire Weller gesenkten Kopfes.
Wie eine Nachtwandlerin schritt sie zu dem Lehnstuhl, setzte sich.
Geschäftig eilte der Professor hin und her.
Und eine ganz eigentümliche Erregung bemächtigte sich meiner.
Eine Erregung, die rasch zunahm, als Jolling nun einen Tisch vor den Lehnstuhl rückte.
Auf den Tisch stellte er eine große Spiritusheizlampe. Und darüber auf einen Dreifuß einen mächtigen Kupferkessel.
In den Kessel tat er allerlei Pulver hinein, goß dann aus einer Flasche eine grüne Flüssigkeit dazu.
Zündete den Spiritusbrenner an.
Und – wandte sich an Klaire Weller. –
Wir hatten unsere Stühle neben das blonde Mädchen gerückt.
Wir beobachteten, wie Jolling über das Gesicht Klaires magnetische Striche zog.
Und wie das Mädchen sich nun langsam aufrichtete und in einer Art Starrkrampf dasaß. –
Jolling flüsterte uns zu:
„Kraft meines Willens kann ich nun die Seele vom Körper trennen. Sie, meine Herren, brauchen nur den Kessel zu betrachten – recht scharf! Und – – eine Bitte: Sobald Sie etwas Außergewöhnliches sehen, rühren Sie sich nicht! Jede Störung Ihrerseits könnte Klaires Tod zur Folge haben!“
Harald nickte nur. –
Ich schaute auf den großen Kupferkessel.
Leichte Dämpfe wallten auf.
Ein süßlicher fader Geruch durchzog die Hexenküche.
Der Qualm duftete immer stärker.
Wie Nebel legte er sich mir auf Hirn und Augen.
Wie eine Trübung meiner Sinne.
Noch dichter wurden die Dämpfe.
Die Äolsharfe schien lauter zu klingen.
Eine wohlige träumerische Mattigkeit spann mich ein.
Ich schien … zu schweben.
Ich verlor das Gefühl, aus körperlichem Stoff zu bestehen.
Wie eine Feder schwebte ich.
Und stierte nur immer in die Wolke des Qualmes.
Stierte.
Riß die Augen weiter auf.
Und … erkannte plötzlich in den wallenden Schwaden ein Gesicht.
Das Gesicht Klaire Wellers.
Zug um Zug das schöne, liebliche Antlitz.
Sah nun auch den Körper – in lose Schleier gehüllt.
Mein Hirn sträubte sich gegen das Wunder.
„Betrug!“ schrie eine Stimme in mir. „Betrug – Gaukelei!“
Aber – das Antlitz da oben bewegte sich – lächelte schmerzlich – war niemals ein totes Bild.
Hatte Leben, Seele. –
Mein Herz jagte.
Ich wartete.
Harald würde doch zweifellos eingreifen.
Würde den Schwindel aufdecken. –
Nichts geschah.
Dichtere Wolken.
Zerflossen wieder.
Und die Erscheinung war vorüber. Jolling löschte die Lampe. Hob den Kessel vom Tisch. Öffnete eine Luftklappe an der Decke. –
Ich saß ebenso starr da wie Klaire Weller. Hörte wie aus endlosen Fernen den Professor sagen:
„Das war das Mahatma.“
Er trat vor das Mädchen hin und weckte sie.
„Geh nun wieder zur Ruhe, Kind.“
Sie ging – wie eine Nachtwandlerin.
Ohne uns zu beachten. –
Dann – dann meldete Harald sich.
Sagte kühl:
„Ein netter Trick, Mister Jolling.“
Der Professor krauste die hohe kluge Stirn.
„Trick?!“
„Ja, – wenn Sie nicht gerade wollen, daß ich … Schwindel sage!“
Jolling setzte sich in den Lehnstuhl – mit einem Gesicht, das ein mildes Lächeln zeigte.
„Sie scherzen,“ meinte er.
Ich aber kam nun vollends zu mir. Ich merkte: jetzt nahte die Entscheidung!
Harald schlug ein Bein über das andere, hob die rechte Hand …
„Bitte – über dem Kessel befand sich die zweite Luftklappe, Mr. Jolling.“
„Und das heißt?!“
„Das heißt: die schwebende Gestalt, die Seele Klaire Wellers, ihr angeblicher Astralleib war – – ein Mensch von Fleisch und Blut!“
Jolling schüttelte den Kopf.
„Klaire saß hier im Sessel … Und Klaire schwebte doch auch in den Qualmwolken!“
Er schaute mich an.
„Nicht wahr, Mr. Schraut?“
„Ja.“
„Also, Mr. Harst?!“
„Also bleibt der Schwindel bestehen, weil es … zwei Zwillingsschwestern Weller gibt, die sich durchaus ähnlich sehen!“
Diese Worte wirkten.
Ließen Jolling hochfahren.
Sein Gesicht flammte.
Aber Haralds Clementpistole hielt ihn in Schach.
„Keine Dummheiten, Jolling! Setzen Sie sich wieder! – Wir wollen als gebildete Männer die Fragen erörtern. Sollte aber etwa Ellen Weller …“ – seine Stimme schwoll an – „ein Attentat oder dergleichen versuchen, so werde ich von meiner Waffe Gebrauch machen! Hinaus kann niemand aus dem Rocher de Malcolm, er müßte denn hier an uns vorüber! Und ich werde niemand vorüberlassen – niemand!“
Jolling hatte sich verfärbt.
„Ich möchte mit folgendem beginnen,“ nahm Harald die Aussprache wieder auf. „Ich kenne Ihren Steckbrief ganz genau, Jolling, auch den erweiterten in den Fahndungsblättern.“
Der Professor war leicht zusammengezuckt.
„Ja – das haben Sie wohl nicht befürchtet, Jolling. – Ja – in diesem erweiterten Steckbrief stand mancherlei … Über Ihre Eigentümlichkeiten … über Ihre Ehe, Ihre Frau, Ihr … weites Herz und über Ihre Nichten Klaire und Ellen Weller.“
Jolling atmete japsend.
Seine Stirn glänzte von Schweißperlen.
Mit einem Male dann rief Harst mir zu:
„Rasch – zünde die beiden Karbidlaternen an! Es könnte Miß Ellen einfallen, uns das elektrische Licht auszuschalten.“
Jollings Gesicht verzerrte sich. Man sah ihm die Wut an, weil er nun wieder um eine geringe Hoffnung, die Partie zu seinen Gunsten zu ändern, ärmer geworden.
Die Laternen brannten.
Und Harald erklärte:
„Sie haben damals vor etwa anderthalb Jahren sowohl Ihre Frau als auch Ihre Nichten mitgenommen. Ihre Frau war seit Jahren harmlos geisteskrank. Man sagte: aus Kummer über Ihre … Seitensprünge als Ehemann! Und man sagte weiter, Sie hätten mit Ihrer Nichte Ellen, einem Geschöpf von allerbedenklichsten moralischen Eigenschaften, ein … Verhältnis gehabt. – Die Polizei suchte Sie. Aber Ihre Jacht blieb verschollen. Nur die englische Regierung erhielt von Ihnen drei Drohbriefe, in denen Sie äußerten, Sie würden Englands Großmachtstellung vernichten. Man glaubte an leere Renommistereien Ihrerseits.“
Schrilles Lachen durchtönte den Raum.
„Man irrt sich!“ rief Jolling. „Ich werde England vernichten! Es hat mich ausgestoßen! Ich werde …“
Da – kam er zu sich, besann sich, schwieg.
Harald beobachtete ihn.
„Anderseits behauptet man, daß Sie, Professor Jolling, Ihre Frau stets mit vornehmster Rücksicht und Liebenswürdigkeit behandelt haben. Sie sollen kein schlechter Mensch sein trotz Ihrer ehelichen Untreue, die Sie durch reiche Geschenke und manches andere wieder gutzumachen suchten. Ihr Charakterbild wird nach den Aussagen Ihrer Bekannten vervollständigt, die als Ihren bösen Geist Ihre Nichte Ellen bezeichnen, von der man wissen will, daß sie es darauf abgesehen hatte, Frau Jolling zu werden.“
Des Professors Kopf war nach vorn gesunken.
Er saß jetzt in der Haltung eines Menschen da, der … sich ehrlich schämt.
Vielleicht hatte gerade Haralds nachsichtiger Ton der letzten Sätze diese Wandlung bewirkt.
Vielleicht. –
Nun wieder Stille.
Eine peinvolle Stille.
Dann Harst:
„Haben Sie Ihrer Gattin einmal ein Paar echt venezianische Ohrringe geschenkt – mit Gemmen, Hermesköpfen?“
„Ja.“ Er blickte erstaunt auf.
„Wo ist Ihre Gattin zurzeit?“ fragte Harald nun.
„In ihrem Gemach.“
„Haben Sie sie schon begrüßt.“
„Nein. Sie kommt sehr selten zum Vorschein.“
Ich – ich fieberte plötzlich.
Eine furchtbare Ahnung war in mir aufgestiegen.
Harst … faßte in die Tasche.
Brachte den einen Ohrring zum Vorschein.
„Da – ist das vielleicht der Ohrring Ihrer Gattin?“
Jolling sprang auf.
„Er ist’s! Woher haben Sie ihn – – woher?“
„Setzen Sie sich wieder … Sprechen wir zunächst noch über Klaire Weller, die angeblich ebenfalls Geisteskranke.“
Jolling sank schwer in den Lehnstuhl zurück.
„Sind Sie Hypnotiseur?“ fragte Harald.
„Nein.“
„Aber Ellen versteht diese so leicht zu verbrecherischen Zwecken auszunutzende Kunst?“
„Ja.“ Sehr zögernd.
„Und Ellen hat Klaire schon häufiger hypnotisiert?“
„Ja … sehr oft.“
„So auch heute, wie ich merkte,“ erklärte Harald sehr bestimmt. „Klaires Gedächtnis war künstlich getötet. – Und als wir sie hier überraschten, wollte sie gerade eine Perücke verbrennen. – Trug Ihre Gattin Perücken?“
„Ja. Sie hatte nach einer Typhuserkrankung fast alles Haar verloren. Und gerade das war es, was mich als Mann abstieß.“
„Der kahle Kopf! Also deshalb die Perücken! – Mr. Jolling, ich … fürchte, Ihrer Frau ist etwas …“
Der Professor ließ Harst nicht aussprechen, sprang wieder auf.
„Etwas … zugestoßen, Mister Harst?! Der Ohrring, – – woher haben Sie ihn?“
„Gefunden! – Vielleicht sorgen Sie dafür, daß Miß Ellen sich hier einfindet. Vielleicht gibt es nach Ellens Zimmer Telephonverbindung. Vielleicht – – horcht die junge Dame auch an der Tür und hört mich!“
Wie recht Harald mit dieser Vermutung hatte, zeigte sich schon im nächsten Augenblick.
Die zweite Tür, die nach den Innenräumen, flog auf.
Auf der Schwelle stand ein blondes Weib in seidenem Kimono.
Das Ebenbild der sanften Klaire.
Und – doch nicht Klaire Weller! Nur die Zwillingsschwester! Ein anderes Geschöpf, das sofort seinen wahren Charakter verriet.
Sie kam näher.
Sie war üppiger als Klaire, mehr Weib, das den Mann berauschen kann.
Sie blieb vor Harald stehen.
„Ich habe gelauscht. Ich bin nicht feige. Ich war es, die mit Josua Jolling auf der Pirateninsel war. Mich sahen Sie die Klippe erklettern, mich sahen Sie als Astralleib Klaires in den Wolken des Kessels schweben. – Was wünschen Sie von mir?“
„Sehr vieles, Miß. – Zunächst: wo ist Frau Anny Jolling?“
„Entflohen!“
Da schrie Jolling leise auf.
„Entflohen!“ wiederholte Ellen kalt. „In dem zweiten Zinkboot. Als ich von der Pirateninsel zurückkehrte, teilte Klaire mir ihre Flucht mit.“
Jollings starre Augen ruhten angstvoll auf den reizvollen Zügen des jungen Weibes.
„Dann … dann wird die Ärmste umkommen!“ flüsterte er.
„Sie … ist tot!“ sagte Harst sehr laut und fast drohend. „Sie ist tot, Miß!“
„So?! Dann wissen Sie mehr als ich, Mister Harst!“
„Allerdings.“ –
Aus Jollings Lehnstuhl ein tiefes Stöhnen.
„Tot – – tot?! Das … das ist ja nicht möglich!“ flüsterte der Professor wieder.
„Es ist leider Tatsache.“ Harald sprach weicher. „Sie ist auch nicht etwa verunglückt, sondern ermordet worden.“
Jolling wurde fahl. Sein entsetzter Blick forschte in Ellens jetzt so kaltem Antlitz.
„Ermordet, indem man sie vom Felsen ins Meer warf. In dem Magen eines Haifisches fanden wir … eine blonde Perücke und den Ohrring.“
„Dann hat sie sich selbst getötet,“ meinte Ellen mit abschreckender Gleichgültigkeit.
„So?! Selbst getötet?! – Und wie erklären Sie es, Miß Weller, daß wir Ihre Schwester hier antrafen, als sie … eine blonde Perücke verbrennen wollte?! Sollte Klaire vielleicht durch … Hypnose dazu und zu anderem gezwungen worden sein?! Sollten Sie vielleicht die Perücke durch Klaire haben verbrennen lassen, damit es den Eindruck machte, als hätte Frau Jolling ihre Perücken auf der Flucht mitgenommen?!“
Ellen schwieg.
Und aus des Professors Lehnstuhl abermals ein qualvolles Stöhnen. –
Harst mit erhobener Stimme nun:
„Ich werde Ihnen den Mord wohl nie nachweisen können, Miß Weller. Aber ich bin fest überzeugt, daß Sie Ihre Schwester durch Suggestion gezwungen haben, Frau Jolling in die See hinabzustoßen, während Sie und der Professor auf dem Pirateneiland weilten! Vielleicht nicht! Denn – es wird sich ja vielleicht durch Gegenhypnose Klaires Gedächtnis wieder auffrischen lassen!“
Auch das machte keinen Eindruck auf das blonde Weib.
Eindruck machte nur auf sie Jollings Benehmen, seine Blicke.
Sie trat auf ihn zu.
„Glaubst Du etwa … diesen Unsinn?“ fragte sie scheu … „So … sprich doch! Glaubst Du es?!“
Und Professor Josua Jolling blieb stumm. Seine Augen wichen zur Seite. Sein Gesicht bekam etwas Gequältes, etwas, das Ellen Weller hätte warnen sollen.
Und doch drang sie weiter in ihn …
„Ich verlange eine Antwort!“ rief sie erregt. „Du wirst doch …“
Er war mit einem Ruck aufgestanden.
Seine Stirn lag in Falten. Sein Mund war zur schmalen Linie zusammengepreßt.
Er … schaute sie an.
Vernichtend – in jäh aufflackerndem Haß.
„Du – Du hast mich meiner Frau entfremdet! Du hast Dich zwischen uns gedrängt!“ Keuchend kamen die Worte über seine Lippen. „Jetzt – jetzt … habe ich genug von alledem! Was auch geschehen sein mag: sie … ist … tot!! Tot!! Und ich – – will den Wahnwitz meiner Pläne aufgeben, will … zurückkehren zu den Menschen, sühnen!“
„Narr – – Narr!!“
Ein Hohnlachen gellte durch die Hexenküche.
„Narr!! Im Gefängnis wirst Du enden! Aber ich, Josua Jolling, ich – – werde frei sein! Ich werde …“
Und bevor einer von uns zuspringen konnte, hatte sie beide Laternen zu Boden geschmettert, hatte den Schalthebel herumgerissen.
Finsternis ringsum.
Eine Tür schlug zu.
Harsts Taschenlampe flammte auf. – –
Wir haben damals umsonst nach Ellen Weller gesucht.
Wir suchten stundenlang.
Und dann hat Josua Jolling uns das zweite Geheimnis des Rocher de Malcolm gezeigt, – – die zweite Werkstatt unter der Hexenküche, die Fälscherwerkstatt, in der er ganze Stöße falscher englischer Banknoten aufgestapelt hatte, – Banknoten, die so tadellos nachgemacht waren, daß niemand sie von den echten hätte unterscheiden können.
Und hier erklärte er uns:
„Wenn ich die Länder der Welt mit diesen Falschstücken überflutet hätte, wäre Englands Kredit ins Wanken geraten! Das wollte ich! Das war … mein Vernichtungsplan!!“ –
Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß wir am nächsten Mittag mit dem Kutter den Hutfelsen verließen, daß Josua Jolling zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist und daß Klaire Weller längst glückliche Gattin des wackeren Bob Seridan ist – ja, Bob Seridans Gattin!
Und Ellen Weller?!
Über Ellen habe ich noch mancherlei zu sagen.
Auch über den Rocher de Malcolm.
Das wird sich im nächsten Band zeigen. –
Für heute schließe ich:
„Wiedersehen!!“
Ende!
Nächster Band: Das Geheimnis von H. O. 3.
Verlagswerbung:
Der Detektiv
Eine Reihe anerkannter Detektiverzählungen.
Bisher sind folgende Bände erschienen:
Bd. 1–6 vergriffen. – 7. Zwei Taschentücher. – 8. Die Jagd auf einen Namen. – 9. Die Augen der Jolante. – 10. Der Fluch eines Geschlechts. – 11. Die verschwundene Million. – 12. Die Festung des Ali Azzim. – 13. Die tote Lady Rockwell. – 14. Der Fakir von Nagpur. – 15. Der blinde Brahmane. – 16. Das Auge der Prinzessin Singawatha. – 17. Das Löschblatt von Amritsar. – 18. Die leuchtende Fratze. – 19. Schattenbilder. – 20. Der Löwe von Flandern. – 21. Der ewige Jude. – 22. Das Armband der Lady Melville. – 23. Die Rätselbrücke. – 24. Der Einsiedler von Tristan da Cunha. – 25. Die Siegellacktröpfchen. – 26. Die Gesellschaft der roten Karten. – 27. Die Uhrkette des Bill Hamilton. – 28. Der Tempel der Kali. – 29. Nur ein Tintenfleck. – 30. Der Stern von Siam. – 31. Eine leere Streichholzschachtel. – 32. Der Sprechende Kopf. – 33. Das Geheimnis des Scheiterhaufens. – 34. Die Gefangene von Trawalkor. – 35. Die Eishöhle in Nepal. – 36. Der Mord im Warenhause. – 37. Der Spielklub W. W. – 38. Ein gefährlicher Auftrag. – 39. Der sterbende Fechter. – 40. Die Gespenster-Rikscha. – 41. Eine Löwenjagd im Sinai. – 42. Der Afghan-Teppich. – 43. Der Acht-Grad-Kanal. – 44. Der leere Koffer. – 45. Acht Stunden Frist. – 46. Der Klub der XII. – 47. Die Bajadere Mola Pur. – 48. Der goldene Gonggong. – 49. Die Kugel aus dem Nichts. – 50. Der Piratenschoner. – 51. Die Büchse der Pandora. – 52. Der Tintenlöscher des Sahdi Ahmed. – 53. Auf des Messers Schneide. – 54. Strandkorb Nr. 121. – 55. Das Lichtbild ohne Kopf. – 56. Das Haus in der Wildnis. – 57. Das Geheimnis des Brasilianers. – 58. Die Spielhölle von Hongkong. – 59. Das Rätsel von Paragwana. – 60. Ein amerikanisches Duell. – 61. Die Ganges-Piraten. – 62. Eine Wettfahrt ums Leben. – 63. Die Bärenjagd in Kaschmir. – 64. Das Licht in der Lehmhütte. – 65. Der chinesische Messerwerfer. – 66. Die leere Tonne. – 67. Die Gauklergesellschaft Shingra Mar. – 68. Der Klub der Zuchthäusler. – 69. Lord Ralleys Schreckensnächte. – 70. Das Geheimnis der Insel Morton. – 71. Die Katzen der Gräfin Baltholm. – 72. Der Tote im Fahrstuhl. – 73. Die Höllenmaschine Doktor Blucks. – 74. Das Geheimnis der Kabine 24. – 75. Das Rätsel der Trollhätta-Insel. – 76. Lord Plemborns Verbrechen. – 77. Die Leiche im Gletschertunnel. – 78. Sechs leere Briefbogen. – 79. Das Geheimnis des Elefantenjägers. – 80. Lady Myntors letzter Wunsch. – 81. Der Giftpfeil des Wedda. – 82. Der Schlangenbeschwörer von Agra. – 83. Das Patent des Doktor Murphison. – 84. Die Buschklepper der Thar-Wüste. – 85. Das blinde Hindumädchen. – 86. Die Wundergeige des Virtuosen. – 87. Der Geister-Spiegel. – 88. Das Geheimnis des Wannsees. – 89. Giftkonfekt. – 90. Schatten an der Wand. – 91. Der tote Zigeuner. – 92. Das Rätsel der Schoneryacht. – 93. Die tote Karawane. – 94. Das Wunder von Patna. – 95. Frau Inges Tränen. – 96. Der tote Kanarienvogel. – 97. Der Obstkahn am Elisabethufer. – 98. Das geheimnisvolle Fenster. – 99. Anita Armands Verhängnis. – 100. Unser 100. Abenteuer. – 101. Die Piraten der Havelseen. – 102. Der Napoleon aus Wachs. – 103. Der dritte Schuß. – 104. Das Zimmer ohne Fenster. – 105. Das Paket im Urbanhafen. – 106. Der unheimliche Mieter. – 107. Das Känguruh der Miß Dolling. – 108. Die Motoryacht ohne Namen. – 109. Der Kampf gegen Lionel Barring. – 110. Das Geheimnis der Tokkara-Höhle. – 11. Die große Null. – 112. Das Geheimnis des Bosporus. – 113. Anna Karstens Amulett. – 114. Der Mann mit dem Glasauge. – 115. Der Kopf des Maharadscha. – 116. Die Treppe des Todes. – 117. Dr. Groupys Verhängnis. – 118. Das Geisterschiff. – 119. Der Tennisschläger der Rani. – 120. Der Mann mit dem Kreuze. – 121. Tawa Burru, der Verrückte. – 122. Das Piratendorf. – 123. Die Hexenküche. – 124. Das Geheimnis von H. O. III. – 125. Die Gräfin mit den Kormoranen. – 126. Der Bouillonkeller 113.
Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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108: |
Die Motorjacht ohne Namen. |
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Anmerkungen: