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Die Villa mit den vier Schornsteinen

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 142:

 

Die Villa mit den vier Schornsteinen.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Was Fritz Nachschlüssel erzählte.

Im Zollhafen von Kalkutta fand eine Schiffsversteigerung statt. Am Bollwerk des Zollbassins lag eine malaiische Prau vertäut, die man beim Schmuggeln erwischt hatte. Da die Besatzung und der Kapitän noch mancherlei anderes auf dem Kerbholz hatten, wurde die Prau, ein plumper Zweimaster mit eingebautem Hilfsmotor, öffentlich versteigert.

Es hatten sich hierzu nur wenige Interessenten eingefunden. Den Zuschlag erhielt schließlich ein schlanker, sehniger Europäer, der mit zwei anderen etwas abseits von den zumeist farbigen Bietern stand.

Der Auktionator fragte den Herrn nach Namen, Wohnort und dergleichen …

„Harald Harst, Berlin, zur Zeit King-Edward-Hotel, Kalkutta,“ erklärte der schlanke mit dem scharfgeschnittenen Gesicht. „Beruf Privatdetektiv … Ich will die Prau zu einer Vergnügungsreise nach den großen Sunda-Inseln erwerben. Ich bitte, die Schiffspapiere auf den Namen Blücher auszustellen. So soll die Prau fortan heißen. Ich wohne in Berlin-Schmargendorf in der Blücherstraße Nr. 10 … Daher der Name …“

Er bezahlte den sehr mäßigen Versteigerungspreis, unterschrieb ein paar Papiere und entfernte sich mit seinen Freunden.

Diese Freunde waren der ehemalige Steuermann Fritz Dietrich, jetzt Angestellter der Tierfirma Hagenbeck, und ein zweiter Detektiv von behaglicher Leibesfülle und mit etwas feistem Gesicht, zu kleiner Nase, auf der eine Hornbrille saß, und einem vergnügten Schmunzeln um den ebenfalls etwas „verbauten“ Mund … Der Mund hätte kleiner sein können, die Nase größer …

Und dieser gutgenährte Max Schraut, also ich, Schreiber dieser unserer Erinnerungen, sagte nun:

„Rein geschenkt haben wir den Blücher bekommen …! – Was meinen Sie dazu, lieber Dietrich?“

„Die Prau ist gut … Ein tipp toppes Geschäft … Gratuliere, Herr Harst …“

Harald nickte zufrieden. „Hoffentlich verläuft das, was wir mit dem Blücher vorhaben, ebenso tipp topp … – Sie werden jetzt also die nötige Besatzung besorgen, Dietrich, werden das Schiff für drei Wochen verproviantieren, und – wie lange brauchen Sie dazu?“

„Zwei Tage … Ich bin hier in Kalkutta gut bekannt …“ – –

Zwei Tage später schwamm der Blücher auf den langen Wogen des Meerbusens von Bengalen.

Wir waren jetzt zu zwölf an Bord: drei Europäer und neun Singhalesen, bescheidene Kerle, die Dietrich absichtlich ausgewählt, weil die Singhalesen von der Insel Ceylon ehrlich, fleißig und zuverlässig sind. Die Malaien sind bessere Seeleute, aber ihnen ist nie recht zu trauen.

Um noch ein paar Angaben über die Prau zu machen: Länge 21 Meter, Breite 7 Meter, zwei Masten mit Schonertakelung, am Bug und Heck je ein Aufbau mit drei Kammern. Als Ballast hatten wir Sandsäcke unten im Raum, als Waffen für jeden Matrosen einen Revolver, für uns Repetierpistolen.

Es waren wundervolle Tage, diese Fahrt zur Südwestküste Sumatras, der zweitgrößten der Sunda-Inseln …

Es war eine angenehme Fortsetzung des weniger angenehmen Erlebnisses in Kalkutta, das ich im vorigen Band unter dem Titel „Der Maskenball der Toten“ geschildert habe …

Der Leser kennt dies Abenteuer. Er weiß, daß wir in einer der Bugkammern der Prau mit einem Tiger und einem in einen Kasten eingesperrten Manne Bekanntschaft gemacht hatten. Dieser Mann war Fritz Dietrich … jetzt Kapitän des Blücher …

Am dritten Tage nach unserer Abreise von Kalkutta saßen wir abends auf dem Achterdeck unter dem Sonnensegel und lauschten den melancholischen Gesängen unserer Singhalesen, hörten dazu den Motor gleichsam den Takt schlagen und befanden uns in jener träumerischen Stimmung, die wohl jeden nach einer guten Mahlzeit bei völliger Sorgenfreiheit und beim leisen Wiegen eines dahingleitenden Schiffes überkommt …

„Eigentlich könnten Sie uns Ihr Urwalderlebnis jetzt nochmals erzählen, lieber Fritz Nachschlüssel,“ sagte Harald und streute die Asche seiner Mirakulum über Bord.

Wenn Harst guter Laune war, nannte er unseren blonden, frischen, jungen Kapitän Dietrich stets Nachschlüssel, denn ein Dietrich – das ist ja ein Nachschlüssel …

Und Harald fügte hinzu: „Ihr damaliges Abenteuer paßt mit seinen geheimnisvollen Begleitumständen sehr gut in unsere jetzige Stimmung hinein … Wenn man satt und müde ist, regt einen so leicht nichts auf …“

Dietrich rauchte seine kurze Pfeife wie immer …

„Nun – wenn’s sein muß,“ meinte er … „Vielleicht fällt mir auch noch dabei diese oder jene Einzelheit ein, Herr Harst. – Es sind nun etwa zwei Wochen her … Da lag der Schoner, der von uns für Hagenbeck gemietet war, an der Südwestküste Sumatras, die sehr felsig und sehr buchtenreich ist, in einer tief ins Land einschneidenden Bucht. Wir hatten mit Erlaubnis der holländischen Kolonialregierung – Sumatra ist ja niederländischer Besitz – dort in dem völlig menschenarmen Landstrich allerlei Getier gefangen: Affen, zwei schwarze Panther, einen Tiger, Schlangen, – kurz, eine ganze Menagerie. Eines Nachts wurden wir drei Kollegen – sonst waren nur Malaien an Bord – durch die Wache geweckt. Der Mann behauptete, er habe am nahen Ufer eine weißgekleidete Europäerin gesehen.

Es war Vollmond. Als wir in unseren Schlafanzügen an Deck eilten, war von einer Frau nichts mehr zu bemerken. Wir schnauzten den Malaien an, weil er sich durch irgend etwas hatte Narren lassen, und krochen wieder unter die Moskitonetze.

Vormittags dann nahm derselbe Malaie mich bei Seite … Ich habe die Farbigen stets anständig behandelt, und sie hatten zu mir das meiste Vertrauen. – „Mister Dietrich“, sagte der Malaie in seinem fürchterlichen Kauderwelsch, „gestern war doch ein Trupp Orang-Kubu hier an der Bucht …“ – Und er spuckte zum Zeichen der Verachtung aus, denn die Orang-Kubu werden von den Malaien kaum als Menschen angesehen, stehen ja auch noch auf niederster Kulturstufe und führen in den Urwäldern ein faules Nomadenleben. „Einer der Orang-Kubu, dem ich etwas Tabak für ein Stück Quarzgold gab, erzählte mir, Mister Dietrich, daß drüben nach Norden zu, mitten im Walde ein großes Haus stehe, in dem Europäer wohnten … Also kann die weiße Frau, die ich nachts sah, zu diesen Europäern gehören.“

So sprach der Malaie, und ich lachte ihn aus, denn es erschien mir einfach unmöglich, daß hier, wo auf mindestens sechzig Meilen im Umkreis kaum ein Malaiendorf zu finden war, Europäer hausen sollten.

Aber der Malaie schwor Stein und Bein, daß der Orang-Kubu ihn gewiß nicht belogen habe. Der Kubu habe das Haus ganz genau beschrieben … Es sei aus getrockneten Tonziegeln erbaut, habe Fenster, Türen, – kurz: all dies machte mich stutzig, und ohne meinen beiden Kollegen etwas von meiner Absicht mitzuteilen, nahm ich meine Büchse, etwas Proviant und ein Buschmesser und machte mich auf den Weg – angeblich zur Jagd …

In die Bucht mündet ein von Norden kommendes Flüßchen. Bei unseren mannigfachen Streifzügen hatten wir die nördlichen Teile der Urwälder wegen ihres dichten Unterholzes und wegen der zahllosen steilen Schluchten bisher gemieden.

Ich watete jetzt in dem Flüßchen vorwärts und erreichte nach etwa einer Stunde eine große Lichtung, an deren Nordseite sich der Wasserlauf hinschlängelte, während an der Südseite hinter einer Kulisse von Palmen und Pisangs[1] die Umrisse eines Gebäudes zu erkennen waren.

Mein Erstaunen über diese Bestätigung der Angaben des Orang-Kubu war geradezu grenzenlos.

Man stelle sich vor, Herr Harst: mitten im Urwald ein europäisches Wohnhaus mit Fenstern, flachem Dach, Schornsteinen!

Und dabei sah ich nun noch, mich näher schleichend, daß das Gebäude zierlich ausgeführt war und fast die Bezeichnung Villa verdiente …

Meine Neugier, meine Abenteuerlust, die hier sozusagen den höchsten Grad erreicht hatten, ließen mich jeden Gedanken an Gefahr und unbekannte Schrecknisse vergessen. Trotzdem blieb ich vorsichtig. Mit der gespannten Repetierbüchse im Arm kroch ich noch näher an das Haus heran.

Jetzt konnte ich Einzelheiten unterscheiden. Die Fenster des Erdgeschosses waren durch plumpe Holzläden geschützt. Über dem Eingang, zu dem fünf Stufen emporführten, war ein Balkon mit Holzgeländer angebracht. Auf diesem Balkon schlich ein schwarzer Panther, der ein Halsband mit einer dünnen Kette trug, unruhig hin und her. Die Balkontür stand halb offen.

Nachdem ich so die Vorderfront wohl eine halbe Stunde lang beobachtet hatte, ohne eine Menschenseele gewahr zu werden, kroch ich in den Büschen nach der Rückseite der Urwaldvilla.

Leider hatte mich jetzt der Panther gewittert und begann zu jaulen.

Ich hielt mich deshalb auch an der Rückfront nicht lange auf, vielleicht drei oder vier Minuten. Wie ich dann äußerst vorsichtig mich entfernen wollte, sauste plötzlich irgend etwas dicht neben mir in die Sträucher. Es war ein Rohrpfeil mit Eisenspitze. Und die Spitze war mit einer bräunlichen lackartigen Masse überzogen: Pfeilgift!

Derartige Pfeile benutzen, wie mir bekannt war, die Orang-Kubu …

Ich machte nun, daß ich schleunigst aus der Nähe des Hauses wegkam, denn der Pfeil konnte nur von dort auf mich abgeschossen worden sein – vielleicht aus einer Spalte der Fensterläden heraus.

Als ich den Waldsaum erreicht hatte, schaute ich nochmals zurück.

Und da war es mir, als ob hinter dem dicksten der vier Schornsteine der Urwaldvilla eine helle Gestalt verschwand. Es kann ein weißgekleidetes Weib gewesen sein, aber ebenso gut auch ein Mann im weißen Leinenanzug.

Während ich nun dem Flüßchen wieder zustrebte, wobei ich sehr oft das Buschmesser benutzen mußte, um mir einen Weg durch das Schlingpflanzengewirr zu bahnen, glaubte ich nach einiger Zeit zuweilen neben mir im Dickicht einen Menschen zu bemerken, der jedoch stets wieder verschwand, wenn ich angestrengt hinstarrte. Diese Person, die ich nie deutlich zu Gesicht bekam, mußte einen Anzug tragen, der genau in der Farbe zum Grün des Dickichts paßte.

Ein neuer Giftpfeil, der neben mir in einen Baum fuhr, belehrte mich bald, daß es hier um mein Leben ging. Unter diesen Umständen tat ich als klettergeübter Seemann das Klügste: ich schwang mich rasch auf einen Baum, erklomm dann einen dickeren Stamm und tauchte so in den Blattkronen völlig unter.

Immerhin zwang mich dieser Weg durch die Baumwipfel zu weiten und beschwerlichen Richtungsänderungen, so daß ich erst nach Stunden das Flüßchen unter mir blinken sah.

Um nicht noch jetzt einem heimtückischen Pfeile zum Opfer zu fallen, wartete ich eine weitere Stunde und musterte dauernd das Buschwerk. Dann erst wagte ich mich hinab und kam auf diese Weise erst nach Dunkelwerden bei der Bucht an, sah den Schoner noch wie bisher vor Anker liegen, pfiff ein Boot herbei und ließ mich an Bord bringen.

Meine Kameraden schliefen schon. In derselben Nacht überfiel uns dann die Prau, der jetzige Blücher. Die Matrosen nahmen mich gefangen und schleppten mich mit fort. Die beiden anderen Deutschen entkamen an Land. Was aus ihnen und dem Schoner geworden ist, weiß ich nicht. –

So, Herr Harst, nun habe ich Ihnen nochmals alles berichtet … Nun will ich Ihnen auch nochmals danken, weil Sie so bereitwilligst mir Gelegenheit geben, nach meinen Kameraden zu suchen … Ich bin der Firma Hagenbeck gegenüber verpflichtet, alles zu tun, was in meinen Kräften steht, den Schoner mit seiner wertvollen Ladung zurückzugewinnen. Als Mensch aber muß ich meinen beiden Landsleuten, die vielleicht irgendwo von Malaien gefangen gehalten werden, unbedingt Hilfe bringen …“

 

2. Kapitel.

Vor der Geheimtür.

Das war’s, was Fritz Dietrich erzählte …

Wir kannten das alles schon …

Nein – doch nicht alles … So hatte er bisher zu erwähnen vergessen, daß der Pfeilschütze im Dickicht einen grünen Anzug getragen haben müsse. Mithin konnte dies kein Orang-Kubu gewesen sein.

Der Gesang unserer Singhalesen war schon vor einer Weile verstummt …

Jetzt erhob sich plötzlich auf dem Vorderdeck Lärm … ein so wilder Lärm, daß wir aufsprangen und hinliefen.

Salaru, unser baumlanger brauner Steuermann, hatte einen Menschen am Kragen und schüttelte ihn derb …

Ringsum standen die anderen Matrosen …

Eine Flut von Zurufen empfing uns …

Schließlich stellte es sich heraus, daß unser Koch unten im Ballastraum aus einem der Ballastsäcke etwas Sand zum Scheuern hatte holen wollen … Dabei hatte er einen Fremden erwischt, der offenbar in Kalkutta als blinder Passagier an Bord gekommen war und sich bisher dort unten verborgen hatte.

Es war ein Farbiger, dieser kleine zerlumpte Kerl … Ein Inder scheinbar.

Harst nahm ihn am Arm und führte ihn in den Achteraufbau, in die sogenannte Kapitänskajüte …

Salaru, der Steuermann, zündete flink die Hängelampe an …

Der kleine braune Strolch stand mit gesenktem Kopf vor dem Tische, an dem wir drei Platz genommen hatten. Das Verhör sollte beginnen.

„Durchsuche seine Taschen,“ befahl Harst dem riesigen Singhalesen.

Der Kleine, der unserem Salaru kaum bis an die Rippen reichte, sträubte sich nicht.

Merkwürdige Dinge kamen da zum Vorschein …

Erstens: eine Repetierpistole und zwei Schachteln Patronen, ein starkes Klappmesser, eine vernickelte Taschenlampe modernster Art, eine Brieftasche, die ungefähr 300 Pfund Sterling enthielt (sonst nichts!), ferner ein goldener Zahnstocher, eine Nagelfeile und … ein blauseidenes Taschentuch, das nach Parfüm duftete.

Fürwahr: dieser kleine Kerl mit dem bartlosen dunkelbraunen Gesicht und dem schmierigen Turban war gut ausgestattet!

„Wer bist Du?“ fragte Harald …

Schweigen …

„Weshalb hast Du Dich an Bord geschlichen?“

Schweigen …

„Mister Harst, ein Tauende wird ihn gesprächig machen …!!“

Harst lächelte und meinte:

„Man kann derartige körperliche Überredungsmittel in diesem Falle nicht gut anwenden. Der Mann ist ein verkleideter Europäer … Salaru, streife ihm das Hemd bis zum Bauche hinab …!“

Das war nicht mehr nötig …

Der Mensch begann zu reden – wie ein Wasserfall – tadelloses Englisch …

„Mister Harst, entschuldigen Sie mein unerlaubtes Eindringen in die Prau … Mein Name ist James Lollerby … Ich bin Angestellter der India-Bank in Kalkutta … Mein Beruf widert mich an. Der Kontorschemel ist für mich eine Marterbank … Als ich in den Zeitungen las, wie Sie den Mörder Doktor Wallace entlarvt haben, den dann der Tiger zerriß, da packte mich die unwiderstehliche Sehnsucht, einmal mit Ihnen auf Abenteuer auszuziehen … Ich hörte, daß Sie die Prau gekauft hatten, ich nahm Urlaub, steckte meine Ersparnisse zu mir und schlich mich hier an Bord, versehen mit Lebensmitteln für drei Tage …“

„Genug …!“ unterbrach Harald ihn. „Ich verzeihe Ihnen, Mr. Lollerby. Hoffentlich haben Sie auch Ausweispapiere bei sich?“

„Natürlich – – natürlich, Mr. Harst … Sie hätten mich sonst womöglich für einen Schwindler gehalten …“

Und er riß den Turban vom Kopf, wickelte ihn auseinander und reichte Harald zwei Zettel. Es waren Ausweise für den Bankbeamten James Lollerby, von der Polizei abgestempelt, beide mit Personalbeschreibung …

„Nun ist die Sache in Ordnung,“ meinte Harald. „Ich heiße Sie willkommen … Wer auf solche Weise ein Abenteuer erzwingt, verdient Anerkennung …“

Und er gab ihm lachend die Hand …

Lollerby strahlte …

Und nach einer halben Stunde saß er in einem meiner Flanellanzüge, der ihm freilich noch zu groß war, mit am Tisch … Die braune Hautfarbe hatten ihm unsere Singhalesen mit Spiritus abgerieben.

Der kleine Lollerby entpuppte sich als angenehmster Gefährte. Für seine dreißig Jahre war er noch verblüffend naiv und schwatzhaft, konnte aber unzählige Schnurren vortragen, kannte geradezu verblüffende Kartenkunststücke und überraschte selbst Harst durch seine Fingerfertigkeit.

Gegen elf Uhr gingen wir zu Bett.

Auch der Heckaufbau hatte drei Räume. Die Kajüte lag in der Mitte. Links schliefen Harald und ich, in der rechten Kammer jetzt Dietrich und Lollerby.

Als wir eine halbe Stunde unter unseren Moskitonetzen geschwitzt hatten (der Wind hatte von irgendwoher einen nach Legionen zählenden Mückenschwarm ausgerechnet auf unseren Blücher geweht!), hörte ich, daß Harald wieder aufstand.

„Was gibt’s?“ fragte ich flüsternd …

„Gefahr, mein Alter …“

Er war dicht vor meinem Bett …

„Dieser Lollerby ist nicht nur ein Schwindler, sondern wahrscheinlich noch etwas weit Schlimmeres … Ich will den Ballastraum des Blücher durchsuchen … Komme mit … Unsere Schlafanzüge genügen …“

Ganz leise öffnete er die Tür …

Wir traten auf Deck hinaus … Die Wache kam uns entgegen. Harst winkte ab … Der Mann wollte offenbar melden, daß nichts Neues zu melden sei.

Wir klappten die Luke zwischen den beiden Masten hoch und stiegen mit einer Schiffslaterne die breite Leiter hinunter. Die Prau war ja völlig für Frachtfahrten eingerichtet und daher nur Ladedecks vorhanden.

Als wir im Kielraum, wo die Ballastsäcke sauber verstaut waren, uns zehn Minuten lang genau umgesehen hatten, mußte auch Harald zugeben, daß hier nichts zu finden war.

„Was suchst Du eigentlich?“ fragte ich nun endlich etwas ärgerlich, denn der Verdacht gegen Lollerby erschien mir lächerlich.

„Wo ein Mann sich eingeschlichen hat, können’s auch ein halbes Dutzend sein … – Suchen wir im Ladedeck …“

Also wieder die Leiter halb nach oben …

Drei große Verschläge gab es hier … alle drei leer …

Harst schritt hin und her, noch immer voller Mißtrauen.

Ich sah zu – gähnte … gähnte herzhaft …

Dachte: „Zuweilen schießt der gute Harald doch weit über das Ziel hinaus!“

Weshalb dieser Verdacht gegen den Kontorschemelreiter?! Das war doch wirklich ein harmloses Gewächs …!

Und – siehe da – auf schlagende Art wurde ich nun jählings eines besseren belehrt …

Harst hatte vor einer der Zwischenwände der drei Räume halt gemacht …

Winkte …

Ich trat näher …

„Mein Alter, man hat den Kopf nicht zu dem Zweck, damit die Hutmacher Verdienst haben, und die Augen nicht dazu, Brillengläser davor zu pflanzen … – Die Prau ist wegen Schmuggelns beschlagnahmt worden. Jedes Schmugglerschiff hat Verstecke. Diese Wand hier vor uns erscheint als einfache Bretterwand – hier am Durchgang nach dem Nebenraum. Nach der Bordwand hin aber verbreitert sie sich keilförmig. Das heißt: es ist hier ein Hohlraum vorhanden. Meinem Augenmaß nach hat er eine größte Breite von drei Meter … Suchen wir die Tür …“

Und – siehe da!! muß ich hier abermals ausrufen! – Harst fand diese Tür, wenigstens die Umrisse …

Beleuchtete die Bretter …

Sagte laut: „Sollte sich dort drinnen jemand aufhalten, so bitte ich höflichst, zum Vorschein zu kommen …“

Diese Worte waren eigentümlich.

Harald lieferte sofort die Erklärung für diese geschraubte Ausdrucksweise …

„Nämlich, mein Alter: wenn Du hier vor dieser Brettergeheimtür Deine Nase aufforderst, die Luft recht genau zu inspizieren, so wirst Du …“

Da – – ich:

„Donnerwetter – es riecht nach demselben Parfüm, wie James Lollerby es bei seinem blauseidenen Taschentuch …“

Harald:

„Ja – das stimmt! Es war ein Damentüchlein … Und vielleicht steckt dort drinnen eine junge Dame, die gleichfalls Lust verspürte, mit uns auf Abenteuer auszuziehen …!“

Er klopfte gegen die Tür …

Er hat nie wieder gegen diese Tür geklopft …

Der Hieb, der meinen kahlen ahnungslosen Schädel von hinten traf, hätte einen jungen Ochsen niedergestreckt. Ich bin weder jung noch ein Ochse. Aber ich knickte lautlos um wie ein nasses Wäschestück, das von der Trockenleine fällt …

Und Harald erging es genau so …

 

3. Kapitel.

Der Schmugglerkönig.

Nach einem solchen Hieb mit einem Sandsack fühlt man, falls man nicht gerade in die Gefilde der Seligen abgewandert ist – infolge Gehirnerschütterung! –, nach dem Erwachen einiges Unbehagen. Damen nennen das Migräne. Zu einer ordentlichen Migräne gehört auch Erbrechen. Und das trat denn auch bei mir ein …

Immerhin: ich war wach und lag auf meinem Bett, allerdings gefesselt. Ein Malaie mit einem infamen Spitzbubengesicht spielte Krankenwärter und hielt mir ein Becken unter …

Auf dem anderen Bett lag Harald …

Den Kopf hatte er durch Kissen hoch gestützt und beobachtete mich …

Zwei Stunden später war mir ein wenig besser.

Da trat der kleine James Lollerby ein. Der Lump trug noch immer meinen Flanellanzug.

Er benahm sich jedoch sehr anständig und sagte zu uns:

„Meine Herren, es tut mir unendlich leid, daß die Malaien, die dort in dem Versteck saßen, mit Ihnen so brutal umgesprungen sind. Andererseits war es unbedingt nötig, daß ich wieder in Besitz meines Schiffes gelangte. Die Prau gehört nämlich mir und nicht etwa einem Manne aus Batavia. Ich heiße auch nicht Lollerby, sondern ganz anders. Wie – das ist gleichgültig. – Die sechs Malaien, meine Schwester und ich hatten uns in die Geheimkammer zurückgezogen, als Doktor Wallace Sie beide an Bord brachte. Wir acht haben dort böse vier Tage verlebt. In Kalkutta durften wir nicht heraus, da wir sonst verhaftet worden wären. Jetzt bin ich wieder Herr der Prau und jetzt, wo Ihr Freund Dietrich und die Singhalesen genau so wehrlos wie Sie sind, frage ich Sie, Mr. Harst: Was hatten Sie mit der Prau vor? Was war Ihr Ziel? – Ich warne Sie vor jeder Unwahrheit, Mr. Harst … Von Ihrer Antwort hängt alles ab …“

Harald, die Hände auf der Brust gefesselt, setzte sich aufrecht …

„Mr. Lollerby, Sie haben uns gestern abend belauscht, als Dietrich auf dem Achterdeck sein Erlebnis erzählte … Wenn Sie die Achterluke etwas anhoben, konnten Sie jedes Wort verstehen … Ich hörte einmal ein Geräusch von der Luke her, glaubte aber an eine Ratte. – Weshalb fragen Sie also, wohin wir wollen?“

Lollerby (weiß Gott, wie der Pirat in Wahrheit hieß!) erwiderte ebenso höflich:

„Ich habe gelauscht … Ich hörte jedoch nicht alles … Ich möchte die Urwaldvilla besuchen. Vielleicht gibt es dort etwas … zu finden. – Wenn Sie, Mr. Harst, mir gleichzeitig im Namen aller übrigen versprechen, Frieden zu halten, sollen Sie frei sein. Außerdem verlange ich aber noch die Prau zurück.“

„Die sollen Sie haben, sobald die Sache erledigt ist, Mr. Lollerby … – Ich sage ganz offen: Ihre Art gefällt mir. Wir sind einig … Wir sind Verbündete – gegen die Urwaldvilla!“

Lollerby verbeugte sich …

„Einverstanden, Mr. Harst … Ich möchte noch betonen, daß Sie mich nicht falsch einschätzen dürfen … Gewiß, ich bin Schmuggler … Ich bin sogar das Oberhaupt der größten Schmugglerorganisation in den indischen Gewässern … Ich bin wie ein Gespenst … nie zu fassen und doch jedem bekannt – jeder Zollbehörde … Man hat hinter mir Steckbriefe erlassen, hat …“

Harald fiel ihm ins Wort …

„Dann – dann sind Sie der Holländer van Graaven …! Kein anderer!“

„Zu dienen: van Graaven, Pieter van Graaven, der Schmugglerkönig …“

Und er nahm uns die Fesseln ab … –

Abermals eine Stunde darauf (es war sieben Uhr abends) lernten wir an Deck unter dem Sonnensegel van Graavens Schwester Antje kennen … –

Antje van Graaven …!!

Ein Kapitel für sich! – Nein, was rede ich: ein Roman für sich …

In einem bescheidenen Sportanzug mit Kniehosen stand sie vor uns …

Schlank, rank, schneidig …

Nichts von holländischer Fischblütigkeit …

Ein rassiges Mädel mit grauen Schelmenaugen …

Eine Abenteurerin[2] besonderen Stils …

Dietrich, Fritz Nachschlüssel, machte verliebte Augen …

Ich leckte mir die Lippen …

Harst reichte ihr die Hand …

„Also so sehen Sie aus, Fräulein Antje van Graaven … In der Kalkutta-Times las ich letztens so allerlei von Ihnen …“

Sie lachte keck – aber ohne jede Unfeinheit …

„Sicher lasen Sie nichts Gutes, Herr Harst …“ Sie sprach ganz leidlich deutsch …

„Wie man’s nimmt … Sie haben da in Bombay Gold geschmuggelt – ein Meisterstück …!“

„Ihre Anerkennung freut mich, Herr Harst … – Setzen wir uns … Der Abendbrottisch ist schon gedeckt …“ –

Nun – um es gleich zu sagen: diese Reise nach Sumatra werde ich schon Antjes wegen nicht vergessen …

Überhaupt: es herrschten an Bord des Blücher ja recht absonderliche Verhältnisse. Unsere Singhalesen und die sechs Malaien waren spinnefeind miteinander. Wie bissige Köter, denen man Maulkörbe angelegt hat, schlichen sie auf dem Deck umher. Hinzu kam, daß die Singhalesen Mohammedaner und die Malaien Buddhisten waren. Und was die verschiedene Religion in Asien ausmacht, habe ich hier schon wiederholt erwähnt. Aber zu Zank und Streit kam es nicht. Dazu waren unsere Singhalesen zu vernünftig, während Pieter van Graaven, der Schmugglerkönig, seine Malaien zu gut unter der Fuchtel hatte. –

Am fünften Tage, so gegen sechs Uhr nachmittags, näherten wir uns unserem Ziel. Fritz Dietrich hatte sich als Kapitän bewährt. Er fand die betreffende Bucht ohne Schwierigkeiten, und zum ersten Male in ihrem Leben lernten nun Harst und Schraut, die Unzertrennlichen, einen Teil der Insel Sumatra kennen.

Die Bucht zog sich etwa eine halbe Meile weit in vielfachen Windungen ins Land hinein. Die Ufer waren zumeist steil, voller Schluchten, nur hier und da bewaldet. Das kahle Gestein, ein grauschwarzer Granit, grinste überall unter der dünnen Schicht Erde hervor.

Der äußerste Winkel der Bucht erweiterte sich zum seeartigen Becken. Und hier umgab uns und die ankernde Prau die Überfülle tropischer Wunder mit all ihrer Mannigfaltigkeit, hier erhoben sich Urwaldriesen dicht am Wasser, hier zogen sich Lianen in dicken Girlanden von schrägen Bäumen über das Wasser hin, hier spiegelte sich all dies Köstliche auf der stillen Oberfläche der Bucht mit allen Einzelheiten wider[3]

Nachdem die beiden Anker des Blücher ausgeworfen waren und unser Schiff zwanzig Meter vom Lande entfernt fest vor diesen Ankern lag, wurde das eine Boot ausgeschwungen und einige Malaien und Pieter van Graaven ruderten ans Ufer, um im Walde frische Früchte zu sammeln.

Wir beide, Dietrich und Antje standen an der Reling und schauten dem Boote nach.

Ich schwärmte in allerlei Erinnerungen an Ceylon, da dieses Uferbild stark an eine Bucht der Westküste Singahalas (so nennen die Eingeborenen die Insel Ceylon) erinnerte …

Antje van Graaven rauchte eine Zigarette und meinte:

„Es ist hier wirklich schön … Ich möchte nur …“

Wie dieser Satz beendet werden sollte, habe ich nie erfahren …

Das Boot hatte soeben angelegt …

Und im selben Moment hatten die Malaien gellend aufgeschrien, waren blitzschnell vom Boote ins Wasser gesprungen …

Pieter van Graaven aber sank mit zwei langen Rohrpfeilen in der Brust langsam im Boote zusammen …

Vollständig lautlos war dieser Überfall erfolgt …

Aus dem Dickicht des Waldes kamen die Geschosse …

Und Dietrich brüllte ingrimmig:

„Die Orang-Kubu, das Gesindel …!!“

Ja – es mußten mindestens ein Dutzend Orang-Kubu gewesen sein, denn von den vier Malaien, die nun schwimmend die Prau zu erreichen suchten, waren drei verwundet und versanken, bevor wir ihnen Hilfe bringen konnten.

Wir vier an der Reling waren einen Moment wie gelähmt …

Gerade der Frieden dieser reizvollen Umgebung, gerade der Umstand, daß überall am Waldrande Vögel und anderes Getier, darunter eine Herde zierlicher Affen von der Familie der Meerkatzen, in aller Ruhe uns beobachtet hatte, ohne zu fliehen, war für uns der – leider trügerische – Beweis völliger Sicherheit gewesen.

Harst sprang als erster jetzt zum zweiten Boot, half es zu Wasser bringen und befahl den Singhalesen, ein paar Bretter an der einen Seite als Schutzwände aufzustellen. Es genügten gewöhnliche Kistendeckel, die denn auch im Nu zur Stelle waren.

Wir beide und zwei Singhalesen ruderten dann an Land …

Die Singhalesen hielten die Kistendeckel fest. Es war dies ein immerhin recht zweifelhafter Schutz gegen die Giftpfeile der braunen Urwaldnomaden.

Inzwischen war der unverwundete Malaie an Bord der Prau zurückgekehrt. Pieter van Graaven aber lag regungslos im Boot, das von einer sanften Strömung wieder vom Ufer abgetrieben worden war.

Ich erwischte es mit dem Bootshaken, und so ruderten wir wieder zur Prau.

Graaven, der Schmugglerkönig, war tot. Der eine Pfeil hatte ihm von der Seite das Herz durchbohrt, der zweite saß in der Lunge.

Antje vergoß keine Träne. Nur ihre Gesichtsfarbe war unnatürlich blaß, und ihre Augen wie erloschen …

Als Graaven auf dem Achterdeck niedergelegt worden war, kniete sie neben ihm nieder und küßte ihn. Dann erhob sie sich – alles mit seltsam automatenhaften steifen Bewegungen.

„Herr Harst,“ sagte sie leise und in einem Übermaß von Schmerz, der uns erschütterte, „Herr Harst, ich bin nicht Pieter van Graavens Schwester, sondern seine rechtmäßige Frau … eine geborene Schweizerin … Herr Harst – eine Frage: glauben Sie, daß die Orang-Kubu aus sich selbst heraus diesen Überfall unternahmen oder ob die Bewohner der Urwaldvilla sie angestiftet haben?“

Harald erklärte schlicht: „Das letztere, Frau Antje …“ (Bisher hatte er stets Fräulein Antje gesagt.)

„Dann …“ – und Antje starrte nach der Urwaldstelle hinüber, woher die Pfeile gekommen waren, „wird meine Rache alle die auslöschen, die mir den Gatten mordeten …“

Sie sprach es ohne jede besondere Erregung. Aber in dieser Stimme lag die ganze erprobte Energie der berühmten Abenteurerin …

Und ebenso leidenschaftslos fügte sie hinzu: „Herr Harst, was gedenken Sie jetzt zu tun?“

„Das einzige, was wir tun können: diese Bucht verlassen und nachts in der Nähe in eine andere Bucht einlaufen, wo wir den Blücher verbergen und unbemerkt die Expedition nach der Urwaldvilla vorbereiten können …“ –

Zehn Minuten später glitt die Prau mit Hilfe ihres Motors wieder ins offene Meer hinaus, entfaltete ihre Segel und steuerte gen Westen … bis zum Anbruch der Dunkelheit.

Dann kehrten wir um …

Fritz Dietrich bewährte sich jetzt noch besser … Er hatte, als wir wie Flüchtlinge die Bucht verließen, unweit der Buchtmündung eine ganz enge, andere Einfahrt bemerkt und hoffte, daß diese uns in eine für unsere Zwecke geeignete Wasserstraße führen würde.

Bei Dunkelheit steuerte er diese Einfahrt an. Sie war wie eine enge Felsenschleuse. Der Gefahr, auf ein Riff oder eine Untiefe aufzulaufen, beugten wir dadurch vor, daß wir ein Boot mit fünf Singhalesen vorausfahren ließen, die dauernd loten mußten.

Und gerade als dann der Mond hochkam und als der Glanz der südlichen Sternenpracht zauberhafte Beleuchtung schuf, erlebten wir eins von jenen Wundern, die niemand vorausahnen kann: diese Bucht war wie ein Kanal mit himmelhohen, kahlen, steilen Ufern, war zumeist nur dreißig Meter breit und … endlos, – – endlos schnitt sie in das Land ein, machte große Bogen, Winkel, erweiterte sich an drei Stellen zu runden Seen und … endete schließlich in völlig flachem Urwald als verkrautetes, schilfumwogtes Wasserbecken …

Nur eine einzige Lücke gab es in diesen Baummauern der Ufer …

Und als jetzt einer der Singhalesen den Vordermast erklettert hatte, um von dort Ausschau zu halten, kam er plötzlich sehr eilig wieder herab, meldete, daß drüben im Schilf ein Fahrzeug mit gekappten Masten läge und daß er durch die Baumlücke ein Gebäude mit vier Schornsteinen erspäht habe … mindestens dreihundert Meter entfernt. –

Worauf Fritz Dietrich ebenfalls den Mast erkletterte und ein Fernglas mitnahm.

Er bestätigte dann, was wir alle schon vermutet hatten: es war die Urwaldvilla! Und das Fahrzeug im Schilf konnte nur der Schoner sein, der damals von den Malaien überfallen worden war.

 

4. Kapitel.

Die Frau aus der Urwaldvilla.

Ein Boot führte uns beide und zwei Singhalesen sowie Fritz Dietrich zunächst nach dem Schoner.

Wir waren überaus vorsichtig, obwohl die Prau kaum bemerkt worden sein konnte.

In diesem Falle war die Vorsicht überflüssig. Wir kamen an Bord des Schoners, dessen Masten entfernt worden waren, und fanden ihn vollständig ausgeplündert. Alle Eisenteile und Messingbeschläge waren losgerissen und gestohlen worden. Der Schoner war ein Wrack, nichts weiter.

Hier in dem doppelt mannshohen Schilf hatte er ein Versteck, wie es besser kaum sein konnte.

Das wichtigste aber: von der Backbordreling lief eine Planke zur Krone eines umgestürzten Urwaldriesen hinüber, so daß man auf diese Weise an Land gelangen konnte.

„Lieber Dietrich,“ sagte Harald zu unserem Freunde, „Sie werden jetzt die Prau hier aus diesem Becken wieder ist den Kanal schleppen lassen. Spannen Sie ein Boot vor den Blücher. Der Motor macht zu viel Lärm. Schraut und ich werden mal auskundschaften, wie es um das Haus drüben steht. Wir werden bis zum nächsten Abend wegbleiben. Morgen abend also holen Sie uns hier mit einem Boot in aller Stille wieder ab.“

Dietrich wollte natürlich mit. Aber Harald machte ihm klar, daß wir Antje doch nicht ohne Schutz auf der Prau mit all den Farbigen zurücklassen könnten. Das sah er auch ein. Antje hatte ja fraglos in seinem braven Herzen allerlei Unheil angerichtet.

Das Boot entfernte sich. Die Schilfstengel rauschten, als es sich hindurchdrängte.

Wir standen an Deck des ausgeplünderten Schoners und … fühlten uns jetzt erst so recht frei und behaglich. Harald liebte keinen größeren Anhang.

„Menschenballast – uns nur hinderlich,“ sagte er stets.

Der Schoner lag im Mondschatten. Das Nachtgestirn war hinter den Kronen der Waldriesen versteckt.

„Warten wir noch,“ meinte Harald leise … „Warten wir, ob die Luft rein ist …“

Wir setzten uns auf den Deckel der Vorderluke. So ragten nur unsere Köpfe über die Reling hinweg. Wir konnten die Planke und den Urwaldkoloß, den ein Sturm gefällt und halb ins Wasser geschleudert hatte, trotz der Dunkelheit übersehen.

Harst hatte bisher über die Villa mit den vier Schornsteinen noch nicht viel geäußert. Aus Dietrichs Erzählung war ja auch wenig zu entnehmen gewesen. Daß die Bewohner des Hauses mit den Orang-Kubu im Bunde standen, daß sie diese tückischen Wilden als Wache benutzten, war nicht mehr anzuzweifeln. Der Trupp Orang-Kubu, der damals in der Nähe des ankernden Schoners erschienen war, hatte fraglos lediglich spionieren sollen.

Weshalb wohnten die Leute hier in dieser gottverlassenen Einsamkeit?! Und wie viele waren es?! Weshalb hielten sie jeden Fremden auf so mörderische Art von sich fern?!

Das alles war schwer zu beantworten …

Harald sann vor sich hin. Aber seine Augen waren wach …

Und dann kam’s … Wie immer gleich einer Explosion.

Er sagte ohne besondere Betonung:

„Antje kennt die Urwaldvilla, und Pieter van Graaven kannte sie auch … Sie haben uns beschwindelt …“

Ich war erschlagen …

„Woraus schließt Du hierauf?“ fragte ich zweifelnd …

„Bitte …!“ Und er gab mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier … „Wenn Du Dich hinter die Reling bückst, kannst Du getrost Deine Taschenlampe einschalten, mein Alter … Es ist ein Brief, den ich Pieter van Graaven aus der Brieftasche nahm – zwischen Futter und Leder …“

Daß ich es jetzt sehr eilig hatte, diesen Brief zu lesen, ist verständlich …

Ich kniete hinter der Reling …

Meine Taschenlampe flammte auf … –

… Es gibt Zwischenfälle, die so verblüffend wirken, daß man zunächst kaum recht weiß, was geschehen ist …

Und solches ereignete sich jetzt hier …

Harst war plötzlich mit einem Satz neben mir …

Seine Sportmütze flog über meine Taschenlampe …

Seine Hand preßte sich auf meinen Mund …

Dann erst raunte er mir zu:

„Keinen Laut … Es kommt jemand …“

Und schon hörte ich, wie die unter den Schritten eines Menschen wippende Planke leise knarrte …

Schon kroch Harald näher an die Planke heran …

Da erschien auch schon in meinem Gesichtskreis ein Weib im Sportanzug …

Im grünbraunen Anzug mit Kniehosen …

Eine Europäerin … blond, schlank, mittelgroß …

Im selben Moment hatte Harald sich aufgerichtet …

„Guten Abend, Miß Cotton,“ sagte er und packte die Frau beim linken Handgelenk …

Sie schrie gellend auf.

Ich war im Nu zur Stelle … Den Brief hatte ich in die Tasche gestopft …

Miß Cotton?! – Woher dieser Name?! Woher kannte Harald ihn?! Etwa aus dem Brief?!

Er sagte schon, und seine Stimme war nicht eben freundlich:

„Sie sind uns einige Aufklärungen schuldig, Miß Cotton … – Bitte, gehen wir in die leere Kajüte des Schoners – Schraut, halte Dich ganz dicht neben uns, denn es könnten Pfeile aus dem Walde uns gefährden … Miß Cotton gibt einen sicheren Schild ab …“

Ich sah nun das Gesicht des Weibes aus der Nähe …

Eine Frau von vielleicht dreißig Jahren … Sonngebräunt … aschblond … dunkle Augen und ein sonderbar kleiner Mund – fast ohne Lippen …

Ein Mund, der mir nicht behagte … Noch weniger die starre Ruhe dieses Antlitzes …

Wir betraten die kleine Kajüte im Heckaufbau … Die Tür war nicht mehr vorhanden …

Harald, die Clement in der Rechten, lehnte am Türrahmen …

Ich hatte die Taschenlampe wieder eingeschaltet …

Die Frau stand zwischen uns, umspielt von dem weißen Lichtkegel … Ihre Augen hatten nur Interesse für Harst …

„Wer sind Sie, Master?“ fragte sie durchaus höflich … „Ich wundere mich, daß einmal ein paar Europäer sich hier in diese Wälder verirren …“

„Ich denke, wir lassen jedes Komödienspiel, Miß Cotton,“ erwiderte Harst und beobachtete das Deck und die Planke. „Sie werden mir niemals einreden, daß ein Zufall Sie gerade jetzt hierher geführt hat …“

„Und was sonst?!“ Ihr Ausruf klang so erstaunt und echt, daß man zweifelhaft werden konnte, ob sie wirklich log … „Nur ein Zufall, Master, nur …!“ fügte sie hinzu. „Ich liebe es, nachts umherzustreifen, denn am Tage pflege ich meinen Vater und meinen Bruder …“ Ihre Stimme wurde traurig und leiser. „Wir wohnen nur deshalb hier, weil meine beiden einzigen Angehörigen von der Insel Gustara entflohen sind … Falls Sie es nicht wissen: Gustara ist eine Insel im Süden von Sumatra. Dort hat die niederländische Kolonialregierung ein Lepraheim eingerichtet. Alle vom Aussatz Befallenen werden dort interniert … Die Insel ist nur von Aussätzigen besiedelt …“

Mir lief es kühl über den Rücken …

Lepra …! Aussatz …! Die entsetzlichste und dabei so sehr ansteckende Krankheit, die den Körper allmählich verfaulen läßt …!!

Harsts gelassene Stimme da:

„Es ist möglich, daß Sie die Wahrheit sprechen … – Sie sind Miß Alice Cotton?“

„Ja … – Und jetzt sagen Sie mir bitte, woher Sie meinen Namen kennen?“

„Durch einen Brief …“

„Einen Brief?!“

Ah – sie zuckte zusammen.

„Durch einen an Ihre Schwester gerichteten Brief, Miß Cotton … – Sie haben also nicht nur einen Vater und einen Bruder … Ihre Schwester ist Frau Antje van Graaven …“

„Das ist richtig … – Ich habe Antje jedoch seit fünf Jahren nicht mehr gesehen … Wir … kennen uns auch nicht mehr … Antjes Lebenswandel stößt mich ab … Im Grunde ist sie nichts als eine Verbrecherin … – Aber Ihren Namen weiß ich noch immer nicht, Master …“

„Harald Harst …!“

Das wirkte wie ein Peitschenhieb …

Alice Cotton richtete sich kerzengerade auf … Ihre Lippen öffneten sich … Goldplomben schimmerten in ungewöhnlich großen Vorderzähnen …

„Der … Detektiv Harst?“ sagte sie seltsam tonlos …

Und der Kopf sank ihr auf die Brust …

„Das … hätte ich nicht erwartet,“ murmelte sie … „Nein – – das nicht!“ Sie schien mutlos und niedergeschlagen …

„Wollen Sie das Märchen von den Leprakranken aufrecht erhalten, Miß Cotton?!“ meinte Harald mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Sie haben eben die Prau bemerkt … Ihre Leibgarde, die Orang-Kubu, mögen Ihnen das Wiederauftauchen meines Fahrzeugs gemeldet haben. Sie selbst haben uns dann beobachtet. Nun wollten Sie uns in Ihre Urwaldvilla locken … uns beide … Und vielleicht beabsichtigen Sie, die Prau zu überfallen … – Sie sind unsere Gefangene, Miß Cotton … – Schraut, bewache diese … Dame, die von ihrer Schwester in so wegwerfender Weise spricht …“

Ich zog die Clement …

Harald bückte sich und verschwand …

Da der Schoner noch ein Boot, ein ganz winziges Ding vorn am Bug neben der Ankerwinde liegen hatte, da ferner an Deck zwei lange Bootshaken, freilich ohne die Eisenspitzen, vorhanden waren, konnten wir mit Miß Cotton sehr bald der Prau folgen …

Daß wir beim Besteigen des Bootes die allergrößte Vorsicht walten ließen und unsere Körper nach Möglichkeit bedeckten, war bei der Gefährlichkeit der Giftpfeile selbstverständlich … –

Eine halbe Stunde darauf hatten wir den im Kanal verankerten Blücher erreicht …

Es war hier zwischen den hohen Felsenufern sehr dunkel …

Wir sahen einen der Singhalesen mit seinem hellen Turban an der Reling lehnen … –

Miß Cotton mußte als erste an Deck – die Strickleiter empor …

Als wir nun den Singhalesen anriefen, als Harst den Mann, da er keine Antwort gab, rüttelte, sank … ein Toter dumpf polternd auf die Planken …

Man hatte die Leiche durch ein paar Baumäste gestützt …

Man … –: die Orang-Kubu …!!

Und Miß Alice Cottons Hohnlachen belehrte uns, daß wir … die Partie vorläufig verloren hatten …

 

5. Kapitel.

Der Sultan von Gadjanoor[4].

„Ein Wort von mir, und Sie sind erledigt, meine Herren …“ sagte sie spöttisch …

Wir sahen es …

Dunkle Gestalten huschten aus dem Heckaufbau …

„Das Wort können Sie sich sparen,“ meinte Harald kühl. „Es sei denn, daß Ihnen Menschenleben wirklich so gar nichts gelten, Miß Cotton …“

„Da haben Sie recht, Herr Harst …“ Und sie sprach mit einem Male deutsch. „Menschenleben sind nicht mehr von Belang für mich wie eine Tigerkatze, die ich aus den Baumkronen herabschieße … – Sie beide werde ich schonen, weil ich … Sie brauchen kann …“

„Und … unsere Gefährten? Frau Antje?“ Harald rief es in jäher Angst …

„Das müssen Sie die Orang-Kubu fragen …!“ – Ein Auflachen … Es schnitt mir ins Herz …

Und dann …

„Geben Sie Ihre Waffen ab, meine Herren … Auch Ihre Taschenmesser und die Taschenlampen …“

Wir gehorchten …

Die braunschwarzen Kerle waren nun in nächster Nähe … Zum ersten Male sah ich Orang-Kubu …

Einer von ihnen trat vor Miß Cotton hin …

Da sagte Harald auch schon:

„Das sind doch keine Orang-Kubu … Das können nur Angehörige der Urbevölkerung Sumatras, also Orang-Mamma sein, Miß Cotton …“

„Beides stimmt, Herr Harst,“ erwiderte sie jetzt durchaus höflich … „Es ist ein Mischstamm … daher erscheinen die Burschen auch so zwergenhaft …“

Der Kerl vor Alice Cotton trug lediglich ein Lendentuch, dazu aber unzählige Ketten aus Zähnen um den Hals und Armbänder aus Muscheln. Das straffe, schwarze Haar fiel ihm frei bis in den halben Rücken hinab und war mit Papageifedern durchflochten. Als Waffen trug er Bogen, Pfeilköcher aus Rinde, einen anderthalb Meter lagen Speer und einen langen plumpen Dolch in dem über das Lendentuch geschnallten Gürtel.

Das Gesicht mit der eingedrückten Nase wirkte negerähnlich. Unter den Wulstlippen sah man, daß die oberen Schneidezähne kurz abgefeilt waren.

Miß Cotton sprach zu dem kleinen Halunken ein paar Worte in malaiischer Sprache.

Daraufhin trat der Kerl wieder zurück.

„Wenn Sie mir ohne Gegenwehr folgen wollen,“ meinte unsere Feindin jetzt, „so werde ich Sie nicht fesseln lassen. Ich möchte mit Ihnen Frieden schließen, Herr Harst – – später …“

„Frieden?! – – Nun – immerhin: wir folgen freiwillig …“

Man brachte uns in ein Boot … Es war keins der Boote des Blücher. Sechs von den kleinen schwarzen Schuften ruderten. Miß Cotton saß neben uns am Steuer und handhabte die Ruderpinne.

Das Boot schoß nur so dahin …

Legte dann an dem ausgeplünderten Schoner an …

Ein Marsch durch nächtlichen Urwald folgte …

Eine Viertelstunde, und … die sogenannte Villa lag vor uns … genau so, wie Fritz Dietrich sie beschrieben hatte … genau so …

Vor der Hintertür hockten drei der halbnackten Wilden. Miß Cotton ging voran, zündete im Flur eine Laterne an und winkte uns …

Daß dieses Haus trotz des gefälligen Äußeren mit den primitivsten Mitteln hergestellt war, erkannte man hier im Innern nur zu deutlich. Ein elendes Bauernhaus, eine sogenannte Kate, konnte nicht jämmerlicher wirken.

Der Fußboden aus gestampftem Lehm war rissig und holperig. Die Wände aus Tonziegeln nur roh abgeputzt … Die Türen aus ungehobelten Brettern nur mit einer Wasserfarbe, ein Braunrot, gestrichen …

Miß Cotton öffnete die zweite Tür rechts … Hob die Laterne … Vielleicht damit wir desto deutlicher das Wunderbare schauten …

Man hat für Filmaufnahmen häufig zauberhaft schöne orientalische Gemächer aufgebaut … Filmregisseure haben einen phantastischen und doch erlesenen Geschmack bewiesen …

So war es hier … Nur daß hier keines Filmmannes geschulter Blick Farben fein abgetönt und orientalische Möbel mit Geschick zur Geltung gebracht hatte …

Andere Augen hatten hier ein berückend farbenfrohes Bild geschaffen …

„Mein Werk …!“ sagte Alice Cotton mit einem klingenden Lachen … „Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren … Ich erscheine sofort wieder … Ich möchte nur noch bemerken, daß jeder Fluchtversuch aussichtslos ist …“

Sie ging …

Und hinter einem golddurchwirkten Kaschmirvorhang trat ein Orang-Kubu hervor, der in einer Art Livree steckte … Die Livree eines indischen Dieners aus begütertem Hause …

Lautlos zündete der kleine Kerl, der gar nicht so übel aussah, mehrere Wandleuchter an …

Wir setzten uns nebeneinander auf eine Ottomane … Sie war mit einem Tigerfell belegt … Neben der Ottomane befand sich an der Wand eine Waffendekoration, darunter auch zwei jener merkwürdigen chinesischen Rüstungen, die früher so häufig nach Deutschland exportiert wurden und die das allerbeste Zeugnis für chinesische Handfertig ablegten …

Die Ketten- und Plattenpanzer mit geschlossenen Helmen schienen Harald kurze Zeit außerordentlich zu interessieren. Er schaute sie an … Ein Lächeln glitt um seinen Mund …

Dann trat der Diener wieder ein, stellte ein Elfenbeintischchen vor uns hin und servierte uns Tee und allerlei kalte Speisen, die fraglos aus Konservenbüchsen stammten …

„Hm – sehr gastliche Aufnahme!“ meinte Harald …

„Warten wir auf die Hausfrau …“

Alice Cotton kehrte nach etwa zehn Minuten zurück …

Jetzt Dame – ganz Dame … In einem schlichten Hauskleid aus bräunlicher Seide … Ganz modern gearbeitet … Dazu Lackschuhchen, durchbrochene Strümpfe … Die Finger voller kostbarer Ringe …

Urwaldvilla …!! – Jetzt aber war diese Bezeichnung berechtigt … Diese Frau erhob das Haus zur Villa, mochte sie auch eine Verbrecherin sein …

Verbrecherin?! – Und als mir dies durch den Kopf schoß, da fragte ich mich, sie immer noch anschauend: „Weshalb verteidigt sie dieses Haus in so nachdrücklicher Weise?! Was gibt es hier zu verbergen?!“

Sie setzte sich zu uns …

Mit einer reizenden Geste sagte sie:

„Bitte – langen Sie zu, meine Herren …“

Harald richtete sich straffer auf …

„Was ist aus der Besatzung meiner Prau geworden, Alice Cotton? Antworten Sie …!!“

„In dem Kampf sind zwei Singhalesen und ein Malaie gefallen, Herr Harst … Die andern leben …“

„Und – befinden sich wo?“

„Hier im Hause, Herr Harst …“ – Auch das sagte sie im liebenswürdigen Plauderton …

„Und – wozu brauchen Sie mich, Alice Cotton …?“

„Oh – vielleicht wäre es sogar für Sie ein zu schwieriges Unternehmen, Herr Harst … Ich habe …“

Und jetzt ging es diesem Weibe genau so wie mir vorhin auf dem Schoner. Ich hatte den Brief lesen wollen, den ich noch zusammengeknüllt in der Tasche trug. Alice Cotton hatte ebenfalls etwas außerordentlich Wichtiges uns mitteilen wollen …

Draußen plötzlich ein besonderer Pfiff …

Draußen vor den dicht verhängten Fenstern …

Und dieser Pfiff ließ das Weib emporfahren … Sie wechselte die Farbe … Ein Ausdruck wilder Angst trat in ihre Züge … Und ebenso plötzlich hob sie flehend die Hände …

„Verbergen Sie sich …!“ stammelte sie … „Verbergen Sie sich irgendwo … Unter der Ottomane … Ich will versuchen, den … den Ankömmling noch ein paar Minuten draußen aufzuhalten …“

Schon war sie hinaus …

Harst schaute mich an … „Rätsel über Rätsel, mein Alter … Unlösliche Rätsel …! Los denn … – unter die Ottomane … Wir werden dort gerade Platz haben …“

Kaum hatten wir das Tigerfell und die seidene Decke wieder zurechtgelegt, als auch schon die mißtönend kreischende Tür sich öffnete …

Stimmen …

Eine tiefe Männerstimme:

„Du bist merkwürdig erregt, Alice …“ – Das war kein Engländer trotz der englischen Sprache …

Alice Cotton lachte … „Bei einer solchen Überraschung soll ich gleichgültig bleiben, Sidar?!“

Und … Harald, den Mund an meinem Ohr, flüsternd – hauchend:

„Es ist Sidar Ma Tongi, der Sultan des Malaienstaates Gadjanoor …“

Er hatte mit der kleinen Klinge des Federmessers, das er nicht abgeliefert, ein Löchlein in die Seidendecke gebohrt … Er sah den Mann …

Und ich mußte mich schon darauf verlassen, daß er sich nicht irrte …

Ein Sultan also …!!

Harald hatte recht: Rätsel über Rätsel gab uns die Villa mit den vier Schornsteinen auf!

Vielleicht war sie gar nur ein Liebesnest, das der farbige Fürst hier für seine Geliebte erbaut hatte …!

Vielleicht …!!

 

 

Der Orang-Utan des Sultans.

 

1. Kapitel.

Die Schlucht unter der Villa.

Wir unter der Ottomane.

Und als gefährlicheren Gegner jetzt den mächtigsten der malaiischen Vasallenfürsten Sumatras …

Sidar Ma Tongi war weit über die Grenzen des Sundaarchipels und Indiens hinaus bekannt. Der reichste Mann Sumatras, hieß es von ihm … Und der selbstbewußteste, brutalste … dem Namen nach ein Vasall der Holländer – nur dem Namen nach … Niemand wagte ihm in seine Despotenlaunen hineinzureden. Letztens noch hatte in indischen Zeitungen ein langer Artikel über ihn gestanden … Er hatte da zwei seiner Hofbeamten hinrichten lassen … Sie sollten Tigern und Panthern zum Fraße vorgeworfen worden sein … Eine Untersuchung verlief im Sande …

Auch Bilder von diesem Sidar hatte das Kalkutta-Magazin veröffentlicht. Nach diesen Bildern war Sidar Ma Tongi ein Farbiger mit einem Gesicht, in dem die wildesten Instinkte sich ausprägten …

Gnade uns Gott, dachte ich, wenn dieser Tyrann uns hier findet[5] …!! –

All das schoß mir so in Sekunden durch den Kopf …

Inzwischen hatte Alice Cotton schon mit forciert munterer Stimme gesagt:

„Gehen wir ins Nebenzimmer, Sidar … Hier ist seit Wochen nicht gelüftet … Die Luft erstickt mich …“

Was der Sultan antwortete, konnte ich nicht mehr verstehen. Der Vorhang zum Nebenraum war hinter den beiden zugefallen.

Ich atmete auf …

Aber … Harald flüsterte: „Schade, nun entgeht uns Vieles …“

Und zu meinem Entsetzen kroch er unter der Ottomane hervor und auf den Türvorhang zu …

Was sollte ich tun?! Liegen bleiben?! Nein, das hatte keinen Zweck … Auch ich wollte hören, was Alice und der Sultan trieben …

Also ich kroch hinterdrein …

Harald stand schon aufrecht neben dem Türvorhang … Und ich gesellte mich zu ihm. Die Gefahr, hier erwischt zu werden, blieb sich gleich, ob einer oder zwei Männer lauschten …

Oh – es gab allerlei zu erlauschen …

Alice Cotton bot dem Sultan eine Erfrischung an …

„Was wünschest Du, Sidar …?“

„Nichts, Alice, ich habe es eilig … Was machen die Gefangenen?“

„Sie sind sicher aufgehoben …“

„Und der Orang-Utan?“

„Ihm bekommt der dunkle Käfig ganz gut, Sidar …“

„Ich wollte Dich ermahnen, doch ja wachsam zu sein, Alice,“ erklärte der Sultan mit einer Stimme, die sorgenvoll klang … „Es treiben sich da in Pamelang (das war die Residenz des Despoten, die hoch in den Gawur-Bergen liegt) ein paar Holländer herum, fraglos Spione der Kolonialregierung … Ich fühle mich dadurch beunruhigt. Die Leute sind überaus vorsichtig. Drei Anschläge sind schon mißglückt …“

„Du siehst Gespenster, Sidar …!“ lachte Miß Cotton … „Was können denn auch ein paar Regierungsdetektive erreichen?! Dieses Haus hier ist eine Festung, weil es so mitten im Urwald liegt … – Habe keine Angst, nicht einer der Gefangenen entwischt mir …“

„An dem Orang-Utan liegt mir am meisten, Alice … Das weißt Du … – Ist denn hier etwas geschehen?“

„Meine Leibgarde hat eine Prau geentert, Sidar … Diese Räuberstückchen sind den kleinen Schurken ja leider nicht abzugewöhnen …“

„Allah vernichte die Schurken …!! Sie werden uns noch eines Tages in Ungelegenheiten bringen!“

„Ausgeschlossen, Sidar … Vollkommen ausgeschlossen, so lange ich hier zu befehlen habe … – Eine Frage, die ich schon oft an Dich gerichtet habe: weshalb hältst Du den Riesenaffen hier mit gefangen?!“

„Laß das …! Die Zeiten sind vorbei, Alice, wo ich Dir alles anvertraute … Ich bin argwöhnisch geworden … Und länger als ein Jahr fesselt mich keine Frau …“

„Bitte – es waren nur zehn Monate, Sidar …! Doch – darüber bin ich längst hinweg … längst! Ich bin nur noch Deine Kameradin, – und auf mich ist Verlaß!“

„Ja – das sagst Du, Alice …! Das behauptet jedes Weib … Weit natürlicher wäre es, wenn Du mich glühend hassen würdest …! – Ich will jetzt in die Höhle hinab … Niemand begleitet mich …!“ Und dies sprach er so drohend, daß wohl jedem die Lust vergangen wäre ihm zu folgen …

„Bitte – hier sind die Schlüssel …“

Und als Alice Cotton diese Worte recht laut rief (fraglos um uns zu warnen), da zog Harald mich rasch nach der Ottomane hin …

Im Nu waren wir unter dem Ruhebett verschwunden …

Und gedämpft abermals Alices Stimme:

„Hier ist auch eine Laterne, Sidar … – Soll ich Dir inzwischen nicht doch einen Imbiß herrichten lassen?“

„Nein – überflüssig …“

Schritte …

Eine Tür klappte …

Dann setzte sich jemand auf das Ruhebett …

Das Tigerfell und die Seidendecke wurden gelüftet …

Alice flüsterte:

„Bleiben Sie, wo Sie sind …! Und danken Sie Ihrem Schöpfer, daß ich Ihre Anwesenheit verheimlichen konnte … – Wir sprechen uns nachher …“ –

Zehn Minuten verstrichen …

Dann kehrte der Sultan zurück …

Diesmal blieb er mit Miß Cotton hier im Zimmer …

„Erledigt!“ sagte er … „Lebe wohl, Alice … Ich habe noch zwei Stunden Marsch bis zur Bucht, wo mein Motorkutter liegt … Leb’ wohl …! Und – nochmals: läßt Du einen der drei entschlüpfen, so …“

Und dieses „so“ war eine brutale Drohung …

Dann klappte abermals die Tür. Miß Cotton war mit hinausgegangen …

Sie erschien nach wenigen Minuten …

„Bleiben Sie noch, wo Sie sind,“ sagte sie halblaut. „Ich habe dem Sultan ein paar Orang-Kubu nachgeschickt, damit ich rechtzeitig gewarnt werde, falls er umkehrt … Zuzutrauen ist ihm alles, dem … dem lächerlichen farbigen Herrn mit seinen verrückten Geheimnissen …“

Ah – diese Sätze – – das war Haß, besinnungsloser Haß …! Also hatte der Sultan doch richtig vermutet: Alice hatte es ihm nicht vergessen, daß er sie als seine Geliebte nach kurzer Zeit bei Seite geschoben hatte …! –

Harald erwiderte rasch: „Dieses Versteck ist reichlich unbequem, Alice Cotton … Bringen Sie uns anders wohin … Am besten in den Höhlenkeller … Den wird der Sultan kaum mehr betreten …“

Sie war einverstanden …

Wir kamen hervor … Alice führte uns an der Hand durch den dunklen Flur bis an eine Balkentür …

Schloß die beiden Schlösser auf … Gab uns eine Laterne und eine Schachtel Zündhölzer …

Sperrte hinter uns wieder ab …

So lernten wir den Höhlenkeller der Villa mit den vier Schornsteinen kennen …

Und – – waren überrascht über das, was wir fanden.

Das Haus war über einer kurzen, breiten Schlucht errichtet. Ungeheure Baumstämme waren über die Schlucht gelegt, und auf dieser Decke erhob sich diese Behausung der früheren Geliebten des Sultans …

Die Schlucht bildete also gleichsam die Kellerräume. Hier waren, ebenfalls aus starken, roh behauenen Bäumen, Zwischenwände errichtet … Es gab mindestens ein Dutzend verschließbare Verschläge …

Eine widerwärtige Luft erfüllte den Keller … Es stank nach Dingen, die man kaum recht bezeichnen kann.

Aber – kühl war es hier, angenehm kühl, ganz im Gegensatz zu den oberen Räumen … –

Harald hielt die Laterne hoch …

„Ob hier etwa unsere Freunde stecken?!“ meinte er kopfschüttelnd …

Und er rief Fritz Dietrichs Namen …

„Hallo – – Dietrich …!!“

Keine Antwort …

Oder doch …!!

Aus einem dunklen Winkel kam ein wildes Heulen hervor: die Töne eines bis zum Äußersten gereizten Riesenaffen!

Wir traten näher …

Da war ein Verschlag, vorn mit dicken Eisenstäben …

Da hockte in dem Käfig ein mächtiger Orang-Utan, der jetzt, als der Laternenschein ihn traf, mit ungeheurer Kraft die Gitterstäbe rüttelte …

Das Tier brüllte dabei, wie ich nie ein Geschöpf habe toben hören …

Harald senkte die Laterne schnell …

Da schwieg die Bestie …

Nur brummende Laute folgten uns beiden, die wir jetzt schleunigst in den Gang zwischen den Kellergelassen zurücktraten, damit das Tier nicht nochmals einen Wutanfall bekäme. Dieses Gebrüll mußte ja auch außerhalb des Hauses zu hören sein … –

Harst flüsterte:

„Tadellos …!! Man wundert sich über diese Kraft der Kehle …!“

Ich schaute ihn an …

„Was soll das, Harald?!“

Eine ungewisse Ahnung stieg in mir auf …

„Oh – ich erinnere mich an Miß Cottons Bitte … Wir sollten ihr helfen … Jetzt weiß ich, was sie herausbringen möchte …!“

„Und – das ist natürlich das Geheimnis dieses Orang-Utan …?“

„Nicht schwer zu raten …! – Natürlich dieses Geheimnis! Und ich glaube, es lohnt sich, daß wir uns damit abgeben. Ich finde, diese Urwaldvilla wird langsam aus einem verwunschenen Schloß zu einer … politischen Verbrecherbude …! – Suchen wir unsere Freunde … Sie müssen hier irgendwo stecken … Suchen wir nur … Vielleicht hat diese Kellerschlucht eine Fortsetzung … Gehen wir den Gang vollends hinab …“

Wenn ein Mann von Haralds Qualitäten etwas sucht, so muß es schon überaus schlau verborgen sein, wenn er es nicht finden soll …

Hier in diesem Falle handelte es sich nur um die primitive Schlauheit jener Malaien, die einst dieses Gebäude auf Befehl ihres Sultans errichtet hatten.

Am Ende des Ganges schien rissiger, unregelmäßiger Fels jeden weiteren Weg zu versperren …

Schien …

Harald – und ich im selben Moment – sahen beim Laternenlicht, daß hier ein Stein in eine Felsspalte eingeklemmt war, damit diese unauffällig verschlossen sei … – ein Stein, der jetzt unter Harsts tastender und ziehender Hand sich zur Seite drehte. Er saß in zwei Zapfen, und diese harmlose Tür ging in eine kleinere Grotte mit noch verpesteterer Luft …

Vier Verschläge …

Harald rief …

Dietrich antwortete sofort …

Aber auch Frau Antje van Graaven, die arme Witwe des Schmugglerkönigs meldete sich, ebenso unsere treuen Singhalesen und die Malaien …

Wir stellten fest, daß Frau Antje in dem einen Verschlag eingesperrt war, Dietrich im zweiten, im dritten die Farbigen. Der vierte war unverschlossen und leer …

Während Harald noch die Vorlegeschlösser besichtigte, tauchte durch die Felsspalte ganz überraschend Alice Cotton auf …

Sie war im ersten Augenblick derart empört über unser eigenmächtiges Eindringen hier, daß sie Harald grob und drohend anfuhr …

„Ich lasse Sie beide fesseln …! Ich werde meine Orang-Kubu rufen und …“

Harald lachte ihr ins Gesicht …

„Alice Cotton, wir wollen die Dinge jetzt ein wenig anders anpacken … Sie wünschen, daß wir ermitteln, was es mit dem Riesenaffen auf sich hat … Sie hassen den Sultan … Ein Weib, das sich vernachlässigt sieht, wird zur … Tigerin …! Ich kann das verstehen …! – Geben Sie unsere Gefährten frei, lassen Sie uns Frieden schließen und Sie sollen binnen vierundzwanzig Stunden volle Aufklärung über des Sultans … Umtriebe erhalten … – Hier – – schlagen Sie ein …! Es ist der einzig mögliche Ausweg für Sie! Andernfalls würde ich …“ – und er hatte blitzschnell ihre Handgelenke gepackt – „… würde ich Sie zu meiner Gefangenen machen und dafür sorgen, daß die Orang-Kubu trotz ihrer Giftpfeile harmlose Kaninchen werden …“

Alice Cotton suchte sich loszureißen …

Ihr Gesichtsausdruck sagte genug …

Hier war im Guten nichts zu erreichen …

Harald gab mir mit dem Kopfe ein Zeichen.

Ich öffnete das leere Kellergelaß …

Alice Cotton flog unsanft hinein …

Harst verschloß die Tür …

Und hinter dieser Tür kreischte das Weib:

„Sie werden sterben – – alle, alle …!“

Die mit einem Lederriemen aneinandergebundenen Schlüssel der Kellerabteilungen lagen auf dem Felsboden, waren Alice entfallen …

Ich schloß die Kerker auf …

Unsere Gefährten umdrängten uns …

Harald wehrte ab …

„Wir müssen erst die Orang-Kubu vertreiben,“ sagte er hastig. „Die kleinen Kerle können uns jeden Augenblick über den Hals kommen … – Wartet hier, Freunde … Wir sind bald wieder zurück … Zur Sicherheit verschließen wir oben die Kellertür …“

Wir eilten davon …

Wie Harald sich die Überwältigung der gefährlichen Bogenschützen dachte, war mir unklar, zumal wir nicht einmal unsere Pistolen hatten …

 

2. Kapitel.

Der geräucherte Tote.

Nun – die Dinge spielten sich in so eleganter Weise (der Ausdruck elegant trifft wirklich zu) dank Haralds feiner Taktik ab, daß ich, der mehr Zuschauer war, meine helle Freude daran hatte.

Wir gingen also die Kellertreppe empor und schlossen die starke Tür, die in den Flur mündete, auf, denn Alice Cotton hatte die Tür hinter sich abgesperrt …

Im Flur brannten jetzt zwei Laternen. Sechs der braunschwarzen Kerle lungerten hier herum. Der eine, den wir schon auf dem Schoner als den Häuptling erkannt hatten, trat sofort an uns heran …

Harst sagte recht langsam auf englisch:

„Die Miß ist unten bei den Gefangenen geblieben … Wir sollen ihr etwas bringen … – Ist der Sultan endgültig auf und davon?“

Der Orang-Kubu nickte …

„Weg sein – ganz weg, Mister … Was Ihr bringen sollt?“

„Oh – die chinesischen Rüstungen aus dem Salon … Wir wollen den Affen binden …“

Das war eine Antwort, die alles und gar nichts erklärte …

Wir schritten gelassen den Flur hinab und betraten das Zimmer …

Der Häuptling schien jedoch mißtrauisch geworden zu sein. Aber Harald packte ihm jetzt eine auf einem Gestell befestigte Rüstung auf die Schulter und sagte: „Da – Du kannst mitkommen …“

Der braunschwarze Herr stand mit ziemlich blödem Gesicht da …

Die Rüstung war schwer …

Und mein Harald ging nun in das Nebengemach, suchte, fand: unsere Pistolen, unsere Taschenlampen!

Und kehrte zurück, nahm die zweite Rüstung in den Arm …

Ich leuchtete, schloß die Kellertür auf …

Schloß wieder ab …

Und kaum waren wir dann unten im Kellergang, als Harald die Rüstung hinlegte, sich wieder aufrichtete und … dem Herrn Häuptling einen Jagdhieb vor den Schädel versetzte, worauf der Orang-Kubu vorschriftsmäßig bewußtlos hinschlug.

Hiermit war der Sieg unser – endgültig! Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß wir die Ketten- und Plattenpanzer anlegten, die Helme aufsetzen … Etwas eng waren uns die Rüstungen ja, aber – was tat’s …?! Sie schützten uns tadellos …

Den gefesselten Häuptling ließen wir im Gang liegen …

Kehrten nach oben zurück …

Unser Erscheinen in diesem Aufzuge wirkte auf die Orang-Kubu etwa wie Geisterspuk …

Harald deutete durch Gesten an, daß die braunschwarzen Burschen ihre Bogen und Pfeile abliefern sollten …

Was – – natürlich nicht geschah … Die Kerle verstanden zwar, was sie sollten, hofften aber noch immer, uns durch ihre Giftpfeile verscheuchen zu können …

Wir standen mit dem Rücken gegen die Kellertür … Harald wartete noch … Ein Pfeil prallte ihm gegen die Brust …

Sofort antwortete er mit einer Kugel … mit durchschossenem Knie sank der Orang-Kubu schwerfällig um …

Jetzt stürmten auch die anderen kleinen Gesellen herbei … Ein Pfeilregen klatschte gegen die Tür, gegen die Kettenpanzer, die Metallhelme … – unschädlich …

Noch zwei Knieschüsse brachte Harald an …

Die Orang-Kubu hatten ihre Pfeile zwecklos vergeudet …

Und jetzt war’s Harst, der mit zwei Sätzen gegen die noch Stand haltenden heimtückischen Burschen vordrang …

Im Nu waren sie zum Vordereingang hinaus – im Nu im Walde verschwunden …

Wir schlossen die Tür ab … Auch die Hintertür, nachdem wir die vier Verwundeten ins Freie getragen hatten …

Daß die Orang-Kubu zurückkehren oder es gar wagen würden, das Haus anzugreifen, war kaum anzunehmen …

Die Giftpfeile zerbrachen wir sämtlich, und die vergifteten Spitzen warfen wir in einen Schrank im Flur, den wir dann versperrten.

Nun – das war wirklich alles wunderbar glatt gegangen … Es fragte sich nur, was nun weiter werden sollte … Denn wir mußten damit rechnen, daß die Orang-Kubu, die noch ihre Bogen hatten, die Pfeile in kurzem, wenn auch primitiv, ergänzen würden …

Schleunigst holten wir jetzt die Gefährten nach oben … Den Häuptling sperrten wir in eines der Gelasse …

Unsere Singhalesen und die Malaien hatten im Nu die oberen Räume durchsucht, hatten auch drei Gewehre und mehrere Revolver gefunden …

Fritz Dietrich übernahm es, das Haus gegen jeden Angriff zu schützen. So konnten denn wir beide uns mit Antje van Graaven und mit ihrer Schwester beschäftigen.

Wir stiegen in den Keller hinab und teilten Miß Cotton zunächst durch die Tür mit, was sich oben ereignet hatte.

Alice Cotton war jetzt zahm geworden. Sie hatte wohl eingesehen, daß ihr Verhalten uns gegenüber ein schwerer Fehler gewesen.

Sie war jetzt die Bescheidenheit und Nachgiebigkeit in Person …

Aber Harald traute ihr nicht …

Wir hatten infolge der jähen Hast von Ereignissen noch nicht Zeit gefunden, die Rüstungen abzulegen. Nur die Helme hatten wir abgenommen. Und – wie vorsichtig man diesem Weibe gegenüber sein mußte, zeigte sich jetzt mit erschreckender Deutlichkeit …

Kaum hatte Harald die Tür des Verschlages geöffnet, als Alice Cotton auch schon aus ihrem Revolver zwei Schüsse auf Harst abgab …

Schüsse, die mir fraglos den Freund für immer geraubt hätten, wenn nicht die Stahlplatten des Panzers die Kugeln abgefangen hätten.

Diese niederträchtige Heimtücke ließ selbst Harald den Kavalier, der er auch Verbrecherinnen gegenüber zu sein pflegte, völlig vergessen …

Er sprang zu, riß Alice Cotton in den Gang, drückte sie zu Boden …

Selten habe ich ihn so erregt gesehen wie damals …

Ich fesselte dem Weibe die Hände auf den Rücken …

Nicht sanft …!!

Und schob sie dann vor mir her …

So betraten wir den orientalischen Salon, in dem Antje einsam auf der Ottomane saß …

Frau Antje warf nur einen flüchtigen Blick auf die Schwester …

„Eine würdige Lage für eine Cotton – – gefesselt!“ sagte sie mit schneidender Schärfe. „Du bist tief gesunken, Alice … Ich weiß nicht, ob ich Dich überhaupt noch Schwester nennen soll …!“

Alice Cotton lachte schallend …

„Schwester?! Ob ich wohl Wert darauf lege?! Was bist Du denn geworden?!? Frau eines Schmugglers, eines Betrügers!“

„Schweig’ …!! Schweig’ …!! Du hast ihn ermorden lassen …! Du …!! Deine Orang-Kubu streckten ihn durch Pfeilschüsse nieder … Was hast Du mit seiner Leiche getan?!“

„Bestattet …! In allen Ehren … Ein Hügel wölbt sich über dem Grab … Obwohl Pieter van Graaven diese Rücksicht wahrlich nicht verdiente …!“

Feindinnen waren’s, die hier aufeinanderprallten …

Jedes verwandtschaftliche Band war zerschnitten …

Wir beide standen abseits … Harald flüsterte: „In dieser gereizten Stimmung werden sie noch mehr enthüllen … Hier gibt es noch andere Geheimnisse …“

Doch – wir täuschen uns …

Antje erwiderte auf diese letzte Äußerung nichts mehr … Sie hatte den Kopf gesenkt und starrte zu Boden …

Also schien es doch ganz so, als ob Pieter van Graaven seiner Schwägerin gegenüber ein Unrecht begangen …! Denn sonst würde Frau Antje diese Bemerkung Alices kaum ruhig hingenommen haben …

Und wieder raunte Harald mir zu:

„Ich hatte mir mehr von diesem Wiedersehen der Schwestern versprochen … Schade …! Sie sind beide jetzt vorsichtig …“

Und er schritt auf Alice Cotton zu, sagte durchaus höflich:

„Wie denken Sie sich das Weitere nun, Alice Cotton?! Ihre Revolverkugeln hätten mich erledigt … Dieser Angriff war töricht und unüberlegt … Wir sind Herren des Hauses … Ihre Leibgarde ist in den Wald geflüchtet … – Also – wie denken Sie sich unser gegenseitiges Verhältnis?! Ich bin hergekommen, um einmal diese Urwaldvilla und ihre Geheimnisse näher kennen zu lernen … Dann wollte ich den Schoner suchen … Ich habe diesen gefunden … Aber – wo sind die beiden Deutschen, die außer Fritz Dietrich noch auf dem Schiff weilten? Beantworten Sie mir zunächst einmal diese Frage …“

„Entflohen, Herr Harst … Die Orang-Kubu haben sich gegen meinen Willen des Schoners bemächtigt und ihn ausgeplündert … Die beiden Deutschen entkamen in die Wildnis … bisher konnte ich sie nirgends entdecken, obwohl die Orang-Kubu vorzügliche Fährtensucher sind …“

„Nun gut … Ich will annehmen, daß dies der Wahrheit entspricht … – Nun zu Punkt zwei: ich sollte Ihnen das Geheimnis enthüllen, das mit dem Riesenaffen des Sultans Sidar verknüpft ist … Trotz dieses Ihres Wunsches feuerten Sie auf mich … Sie wollten also lieber mich tot als in Freiheit sehen. Als Ihr Gefangener sollte ich das Geheimnis enträtseln. – Weshalb dies?! Weshalb Ihre Angst vor Harald Harsts voller Bewegungsfreiheit?!“

Alice Cotton schaute flüchtig zu Frau Antje hinüber …

Ich beobachtete scharf …

Frau Antje blickte gleichfalls auf … Mir schien, daß die Schwestern sich irgendwie mit den Augen verständigten.

Harald lächelte unmerklich …

Aber dieses Lächeln wich einem Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit …

Vor den Fenstern hörte ich Lärm – Stimmen – einen schrillen Befehl Fritz Dietrichs … Dann ein paar freudige Hallos … Dann … Stille …

Bis die Tür aufflog …

Und in das prächtige Gemach traten Fritz Dietrich und zwei zerlumpte blondbärtige Weiße ein …

„Meine Hagenbeck-Kollegen!!“ rief Fritz „Nachschlüssel“ freudig … „Hier der Geologe Doktor Erwin Scholz – – hier Kapitän Liebert …“

Händeschütteln … Frohe Begrüßungsworte …

Doktor Scholz meinte vergnügt: „Herr Harst, endlich lerne ich Sie beide persönlich kennen, und dies unter Umständen, die ganz … „Harst“mäßig sind …“

Sein Blick fiel auf Alice Cotton …

„Ah – da ist ja diese Kanaille von Weib …!!“ fügte er in grimmiger Wut hinzu. „Herr Harst, sie hat den Überfall auf den Schoner geleitet … Sie ließ uns hierher schleppen … Sie hat uns wie räudige Köter behandelt … Ein Zufall war’s, daß wir flüchten konnten … Und bei dieser Flucht kamen wir durch die oberen Zimmer … Vom Dache sprangen wir auf den Ast eines Urwaldriesen … Oben, Herr Harst, – dort oben steht ein Sarg mit der Leiche eines Mannes, die offenbar nach Art der Südseeinsulaner … geräuchert und so vor dem Verwesen geschützt ist …“

 

3. Kapitel.

Der Geheimschreiber des Sultans.

Ah – – Miß Cotton war fahl geworden …

Und – – lachte doch höhnisch auf …

„Sie phantasieren – – ein Sarg?! Ein Toter? – Ich weiß nichts davon … Gehen Sie doch nach oben … Suchen Sie …!!“

„Das wäre überflüssige Mühe,“ meinte Harald gelassen. „Nämlich … das Suchen … Doktor Scholz wird mir nur das Zimmer zeigen, wo der Sarg gestanden hat … – Kommen Sie, Doktor …“

Und leise zu mir: „Gib auf die beiden Frauen gut acht, mein Alter … Die Dinge hier sind doch schwieriger als wir annehmen konnten …“

Und Doktor Scholz und Harst gingen hinaus …

Wir drei – Dietrich, Kapitän Liebert und ich – setzten uns … Alice Cotton mit ihren auf den Rücken gefesselten Armen lehnte an einem geschnitzten Schranke …

Liebert war ein Mann von gut vierzig Jahren, breitschultrig, derb, mit ungeheuren Händen …

„Dja,“ meinte er nun, „das war ein tolles Dasein, das wir da mitten im Urwald geführt haben, Herr Schraut … Drei Wochen lang … Man sieht es meinem Anzug an …

Und heute hatten der Doktor und ich uns vorgenommen, irgend einen Küstenort aufzusuchen … Wohin wir in der Wildnis wanderten, wußten wir kaum … Wir kannten nur die ungefähre Richtung … Und mit einem Male stießen wir so auf eine kleine Lichtung … Sahen diese[6] verdammten Mistfinken von Orang-Kubu dort hocken … Hatten vier Verwundete bei sich … – Na – wir wichen ihnen aus … Und dann … hier das Haus … hier Freund Dietrich …!! War das eine Freude!!“

Ich hörte wohl zu … Aber meine Augen glitten unablässig zwischen Antje und Alice hin und her …

Ich sah auch, daß die beiden zuweilen sich anschauten …

Nicht mehr voller Haß …

Nein – wie in versteckter Sorge …

Fritz Dietrich meinte nun, daß die Orang-Kubu wohl kaum etwas unternehmen würden …

„Wir müßten die Prau holen und drüben in dem Schilfsee verankern,“ fuhr er fort … „Die Nacht geht zu Ende … Es wird bereits hell …“

Harald und Doktor Scholz erschienen wieder …

Alice Cotton heftete ihre höhnischen Blicke auf Harsts Gesicht …

„Nun – wo … ist der geräucherte Tote …?!“

„Weggeschafft … Reste des schwarz gestrichenen Holzsarges fand ich in der oberen Küche unter dem Brennholz … Ich habe die Stücke zusammengesteckt … Sie stammen von einem Sarg … – Alice Cotton, wer war dieser Tote?“

Schweigen …

Trotzig schaute das Weib zu Boden …

„Frau Antje van Graaven[7],“ wandte er sich an die junge Witwe des Schmugglerkönigs, „wissen Sie es vielleicht?“

Schweigen …

Verlegen schaute Frau Antje zu Boden …

Und still war’s in dem wunderschönen Raum …

Draußen erwachte das Leben des Urwaldes …

Vogelstimmen … Das zärtliche Gurren von Wildtauben … Der heisere Ruf des großen Nashornvogels … Das Gezwitscher kleinerer Sänger …

Dietrich zog die Vorhänge auf … Öffnete die Fenster, stieß die Läden zurück …

Zwielicht drang ins Zimmer, kämpfte mit dem flackernden Kerzenschein …

Da sagte Harst – und wirklich fuhr von Osten her gerade das erste Strahlen der aufgehenden Sonne über den Urwald hin:

„Alice Cotton, die Sonne bringt alles an den Tag … Ich werde Sie in eins der oberen Zimmer einsperren und dort bewachen lassen … – Lieber Dietrich, ordnen Sie das Nötige an …“

Fritz Dietrich winkte dem Weibe …

„Folgen Sie mir …!“

Sie rührte sich nicht … Wieder blickte sie Harald an.

Sagte: „Antje wird für mich bürgen … Ich werde tun, was Sie wünschen, Herr Harst … Nur – lassen Sie mich frei … in Freiheit …“

„Bürgen?! Antje …?! – Oh – der geheimnisvolle Tote scheint ja Ihren gegenseitigen Haß ausgelöscht zu haben …! Sehr seltsam das …!! – Diese Bürgschaft muß ich ablehnen. Ich tue nichts halb. Ich will alles erfahren – alles …“

Und zu mir:

„Du hast ja den Brief noch in der Tasche, mein Alter … Gib ihn mal her …“

Draußen der Jubel der Vogelwelt …

Hier drinnen zwei blasse Frauen … Zwei, die jetzt auf das geknitterte Papier stierten …

Harst las vor:

An Bord unseres Schiffes.

Ich hatte mir ja vorgenommen, nie wieder an Dich zu schreiben, Alix … Aber Deine letzte Nachricht verlangt eine Antwort. Sorge dafür, daß „er“ so erhalten bleibt, wie es für alle Fälle nötig ist … Im übrigen bist Du mir unverständlich. Wenn der Sultan Dich nicht mehr als seine Geliebte betrachtet, – weshalb bleibst Du dann in dem furchtbaren Hause?! Du würdest doch mit dem, was Dir der Sultan geschenkt hat, in jeder Weltstadt behaglich leben können. Es würden ja genügen, wenn Du „ihn“ sicher unterbringst … –

Antje.

Frau Antje van Graaven war immer bleicher geworden.

Ihre auf der Ottomane hockende Gestalt war völlig zusammengesunken … Ein Häuflein Unglück, sagt der Volksmund zu solchem Bilde.

„Nicht wahr …“ erklang da Haralds Stimme … „Dieser er, der … so erhalten bleiben sollte, wie es für alle Fälle nötig ist, kann doch nur der zur Mumie verwandelte Tote sein … – Nicht wahr, Frau Antje?“

„Quälen Sie mich nicht, Herr Harst …“ rief sie jetzt leise … „Ich darf und werde nicht sprechen …!!“

Harald nickte. „Gut, – dann führen Sie, lieber Dietrich, Alice Cotton nun in eines der oberen Zimmer … Stellen Sie ein paar Singhalesen vor die offene Tür …“

Dietrich ergriff das Weib, das wahrlich übergenug auf dem Gewissen hatte, beim Arm und zog sie mit hinaus …

„Wir,“ meinte Harald nun, „wir drei könnten in den Keller hinabsteigen, Doktor … Kapitän Liebert leistet wohl Frau Antje Gesellschaft … Wir werden Ihnen den Orang-Utan zeigen und auch die beiden anderen Gefangenen uns ansehen … – Übrigens – falls Sie sich niederlegen wollen, Frau Antje … Im Nebenzimmer steht ein Bett … Sie müssen müde sein …“

Die junge Witwe nickte zögernd …

„Ja … Ich bedarf der Ruhe … Ich werde mich zurückziehen … – Herr Harst, verargen Sie[8] es mir nicht, daß ich …“

„Oh – durchaus nicht …“ fiel er ihr ins Wort … „Durchaus nicht … – Gute Nacht, Frau Antje …“

Und Doktor Erwin Scholz und wir beide stiegen in die Kellerschlucht hinab.

Der Doktor war bereits von Harald von allem Nötigen unterrichtet worden. Er hatte als Geologe und Angestellter Hagenbecks allerlei praktische Erfahrungen mit den verschiedenartigsten Tieren gesammelt …

Als wir uns jetzt dem Orang-Utan-Käfig näherten, flog die Bestie genau so grimmig wie das erste Mal gegen das Gitter und rüttelte an den Stäben … heulte, brüllte, tobte …

Bis Doktor Scholz in ein herzliches Lachen ausbrach, das mich angesichts dieses irrsinnigen Riesenaffen aufs höchste verblüffte …

Harald lachte gleichfalls, sagte dann, mir auf die Schulter klopfend:

„Alterchen, das ist gar kein Affe … Das ist ein in ein Affenfell genähter Mensch von kleinem Wuchs, aber großer Kraft …“

Im ersten Moment glaubte ich, daß Harald mich lediglich ein wenig „frozzeln“ wollte, wie die Münchener sagen.

Aber weil Doktor Scholz jetzt ganz nahe an den Käfig heranging und dem Riesenvieh nochmals ins Gesicht lachte, verwarf ich diesen Gedanken schleunigst …

Zumal der Doktor nun auch in malaiischer Sprache rief:

„Laß das Brüllen, Bursche … Du bist erkannt … Wir werden Dir Deinen Pelz schon abziehen!“

Brummelnd und knurrend zog sich der falsche Orang-Utan da in den dunklen Hintergrund des Käfigs zurück.

Harst hob die Laterne, hielt sie dicht an die Gitterstäbe …

Wir sahen so einen Verschlag in dem Käfig, der mit trockenem Gras gefüllt war …

Der falsche – der unechte Affe hatte sich in diesen Verschlag verkrochen.

Umsonst drohte Doktor Scholz ihm auf alle mögliche Art …

„Und doch müssen wir ihn haben!“ meinte Harst energisch. „Suchen wir jetzt erst die beiden anderen Gefangenen.“

Wir brauchten nicht zu suchen … Wir vernahmen ihre Stimmen aus den Nachbarverschlägen, als Scholz auf malaiisch rief, es sollten sich Leute melden, die hier eingesperrt seien …

So fanden wir des Sultans beide Hofbeamten, die den Zeitungsmeldungen nach wilden Tieren vorgeworfen worden waren …

Zwei Malaien gesetzten Alters mit intelligenten Gesichtern … Zwei, die uns dankbar die Hände drückten, die nur sehr wenig über den Grund ihrer Bestrafung durch den Sultan angeben konnten. Sie hatten lediglich bei einer Beratung, der wie immer der holländische Resident (Aufpasser) des Sultans beiwohnte, in einer Frage über Zölle dem Residenten aus ehrlicher Überzeugung recht gegeben …

Man hatte sie dann unter einem Vorwand vor Gericht gestellt. Sie sollten gemeinsam einen Diener des Sultans ermordet haben – eine völlig aus der Luft gegriffene Beschuldigung, die dann freilich durch erkaufte Zeugen beschworen wurde … –

Diese Angaben schienen Harst nicht wesentlich zu interessieren …

Kaum hatte der eine der Männer seinen kurzen Bericht beendet, als Harst auch schon fragte, ob sie irgend etwas über den Orang-Utan wüßten …

Sie verneinten …

Wir begaben uns wieder vor den Käfig …

Harald nahm seine Clement …

„Doktor,“ sagte er zu Landsmann Scholz, „rufen Sie dem unechten Vieh recht laut zu, daß ich schieße, falls es nicht herauskommt …“

Der Doktor tat’s … Er beherrschte das Malaiische recht gut.

Der Orang-Utan blieb in dem Holzkasten seiner Schlafhütte …

Da … feuerte Harald …

Feuerte durch eine Ecke des Kastens …

Das Geschoß zersplitterte hinten an der Felswand …

Und jetzt, wo der in das Affenfell eingenähte Mensch merkte, daß es ernst wurde, kroch er hervor und kam bis an die Gitterstäbe …

Doktor Scholz befahl:

„Lege das Fell ab … – sofort!“

Und Harald zielte auf den unechten Affen …

Der gab seine Sache nun völlig verloren und zog sich in kurzem die dünnen Schnüre aus den Nähten des Felles …

Ein verwachsener zwergenhafter Farbiger kam zum Vorschein …

Hinter uns gleichzeitig zwei Ausrufe:

„Tipi-Piti …!! Der Geheimschreiber des Sultans!!“

Die Hofbeamten riefen’s …

Drängten näher heran …

Der Verwachsene hatte den abstoßend häßlichen Kopf vorgestreckt … Starrte die beiden an …

Man merkte, daß er überrascht war, sie hier zu sehen …

Er murmelte etwas …

Seine Züge drückten Angst und Verlegenheit aus …

Und Harald zu den beiden Befreiten:

„Was wißt Ihr über den Geheimschreiber? Hat er etwas mit dem Prozeß gegen Euch zu tun? Hat er vielleicht den Diener ermordet, und hat der Sultan ihn hier nur vor den holländischen Detektiven in Sicherheit bringen wollen?“

Das, was Harald jetzt ausgesprochen hatte, war die einzig mögliche Lösung des Rätsels gewesen …

Und – sie traf zu … Die Hofbeamten bestätigten es …

„Ist die Person dieses Krüppels dem Sultan denn so wichtig?“ fragte Harald wieder …

„Tipi-Piti ist des Sultans rechte Hand … Er kennt all seine Geheimnisse … Tipi-Piti hat schon andere Schandtaten begangen als nur diesen Mord …“

Und immer noch bedrohte die Clementpistole den Verwachsenen …

Weiß Gott: dessen Gesicht glich tatsächlich dem eines bösartigen Affen … Augen funkelten in diesem mißgestalteten Schädel, die wie die Lichter eines lauernden Panthers waren …

Und – immer noch die Pistole Harsts auf des Geheimschreibers Kopf gerichtet …

„Spricht der Halunke englisch?“ fragte Harald einen der Hofbeamten.

„Sehr gut – auch niederländisch …“

„Danke …“ – Harst schaute den Gnom drohend an … „Wenn Du etwa lügst, so werde ich Dich töten … – Hast Du den Diener des Sultans in dessen Auftrag ermordet?“

Der kleine Schuft mit dem lächerlichen Namen nickte …

„Antworte deutlich …!“

„Ja …!!“

Eine heißere Stimme war’s …

„Weshalb sollte der Diener sterben?“ forschte Harald weiter …

Der Geheimschreiber wand sich wie in Krämpfen …

Aber die Pistolenmündung war seinem Schädel zu nahe.

„Der Sultan hatte das Weib des Dieners verführt …!“ rief der Gnom kreischend … –

Wenn man bedenkt, daß die Untertanen dieses malaiischen Fürsten strenggläubige Mohammedaner sind, wenn man weiß, wie sehr der Moslem die Ehre seines Hauses zu wahren bestrebt ist, der wird begreifen, daß Sultan Sidar Ma Tongi, der ohnedies nicht beliebt war, durch die Schändung einer fremden Ehe, die allgemeine Verachtung auf sich geladen haben würde … Deshalb mußte also der Ehegatte verschwinden – stumm gemacht werden … Diese Mordpraxis war so recht Orient, war so recht eines Sultans eines halbzivilisierten Malaienstaates würdig …

Doktor Erwin Scholz konnte sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen. Dieses Geständnis des Geheimschreibers, also diese Bestätigung von Haralds Kombinationen hatte den guten Doktor total verwirrt …

„Ist das zu glauben …!!“ stammelte er … „Solch’ ein Schuft von Sultan. Und – daß war Miß Alice Cottons Geliebter …!! – Na – ich danke …!!“

Dieses „danke“ wurde bereits halb verschluckt …

Ein Singhalese kam die Treppe herabgestürmt …

„Mister Harst, – – der Sultan ist wieder da …!!“ keuchte der treue braune Bursche …

 

4. Kapitel.

Als der Ball herabflog …

Der Sultan von Gadjanoor hat Anspruch auf das Prädikat Hoheit … Die Königin der Niederlande hatte Sidar Ma Tongi als ersten diesen Titel verliehen.

Nun – Seine Hoheit sollte in der Urwaldvilla sehr wenig ehrerbietig empfangen werden. Diesen Empfang hatten Fritz Dietrich und Kapitän Liebert besorgt …

Als wir oben den Luxussalon betraten, saß Seine Hoheit, der im übrigen europäische Sportkleidung trug, auf einem Sessel, und dicht vor ihm saß der vierschrötige Liebert, in der Rechten einen Revolver. Seitwärts standen zwei Singhalesen mit Orang-Kubu-Speeren … Dietrich lehnte am Fenster …

Der Sultan machte ein Gesicht wie ein Nußknacker, als der Doktor und wir beide uns jetzt vor ihm aufpflanzten. Die Hofbeamten hatten wir im Keller zur Bewachung des Geheimschreibers zurückgelassen …

Sein überaus hageres Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen und den kalten, dunklen Augen war, wie gesagt, im Übermaß lohender Wut unglaublich verzerrt …

Harald verbeugte sich …

Wir hatten die chinesischen Rüstungen längst abgelegt … Unsere Sportanzüge glichen in Schnitt und Farbe auffallend dem seiner Hoheit …

„Mein Name ist Harald Harst,“ stellte der Freund sich dem farbigen Potentaten vor. „Detektiv Harald Harst, Hoheit …“

Die Augen des Sultans schlossen sich für einen Moment.

Vielleicht um das jähe Erschrecken zu verheimlichen …

„Weshalb sind Sie umgekehrt, Hoheit?“ sagte Harst dann ziemlich unhöflich. „Ich möchte Sie vor jeder Unwahrheit warnen, Hoheit … Sie werden von mir gehört haben … Ein Sultan von Gadjanoor gilt mir nicht mehr als jeder andere Mensch. Ich stütze das Recht und bekämpfte das Unrecht …“

Sidar Ma Tongis Gesichtsmuskeln zuckten wie im Krampf …

„Antworten Sie!!“ rief Harst, als der Sidar mit einem verächtlichen Lächeln schwieg …

Dieses Lächeln war ebenso hochmütig wie verächtlich …

Verstärkte sich noch …

Harald bekam die drei bekannten Falten auf der Stirn …

„Dietrich – Schraut!! Fesselt den Menschen …!!“

Und diese Harstsche Stimme war scharf wie ein Messer …

Da schnellte Hoheit denn doch empor …

Die Nüstern der schmalen großen Nase flatterten …

„Sie sind wahnsinnig,“ sagte er mit unnatürlicher Ruhe. „Sie befinden sich hier innerhalb der Grenzen meines Staates, Mister Harst … Sie …“

Haralds energische Handbewegung brachte ihn doch aus dem Text …

„Hoheit, Sie sind umgekehrt, weil Alice Cottons Erregung Ihren Verdacht geweckt hatte … Ist es so?“

„Ja …“

„Ich habe Ihre Unterredung mit Miß Cotton belauscht, Hoheit. Ihr Geheimschreiber kann Sie begleiten, wenn er will … Die beiden Hofbeamten werde ich dem holländischen Residenten zuführen …“

Des Sultans Antlitz war erdgrau geworden …

„Ich habe kein Recht, Sie hier festzuhalten,“ fügte Harst hinzu. „Sie können gehen … Aber ich warne Sie, etwa das Haus zu umschleichen … also kehrt zu machen …! Wollen Sie den gedungenen Mörder also mit sich nehmen?“

Seine Hoheit bot ein überaus klägliches Bild …

Er stand da wie einer, dem jählings das Gehirn nicht mehr arbeitet. Zu niederschmetternd waren für ihn diese Eröffnungen …

Seine Lippen bewegten sich … Er wollte sprechen … Er fand nicht die Worte …

Man denke: Sultan Sidar Ma Tongi, reichster Fürst des Sunda-Archipels, – und hier wie ein gemeiner Halunke (was er[9] auch war!) durch Revolver, Speere und die Persönlichkeit eines Deutschen in Schach gehalten …!!

Man denke: ein fast allmächtiger Tyrann, der sich den Teufel was um die holländische Oberhoheit scherte, – – und hier ein Nichts, eine Null, ein … Gefangener!! –

Langsam setzte er sich wieder …

Offenbar wollte er Zeit gewinnen …

Sein Kopf sank auf die Brust … Er stützte das bartlose Kinn in die Linke … Ich sah an dieser Hand Ringe von unerhörter Kostbarkeit glänzen …

Er saß minutenlang regungslos …

Dann – hob er den Kopf …

„Ich biete Ihnen fünf Millionen, wenn Sie schweigen …“ Er sprach es hastig und doch mit aller Gewißheit, daß wir diesem Angebot unterliegen würden … „Ich werde Ihnen, Mr. Harst, einen Scheck auf die Bank von London ausstellen … Ich …“

„Sie beleidigen uns,“ antwortete jetzt Kapitän Liebert grimmig. „Halten Sie also besser das Maul, Hoheit … Wir sind nicht käuflich … Wir nicht … Andere vielleicht …“

„Bravo!“ rief Doktor Scholz …

Und Fritz Nachschlüssel: „Sie Lump haben anscheinend noch nie mit ehrlichen Menschen verkehrt!!“

Wieder überzog Erdfarbe des Sultans Gesicht …

Harst tat so, als hätte er diesen Bestechungsversuch gar nicht gehört …

„Soll ich also Ihren Geheimschreiber heraufholen lassen?“ fragte er Sidar Ma Tongi …

„Ja …!!“

„Ich tue es, obwohl ich weiß, daß der Verwachsene natürlich … verunglücken wird, Hoheit … Er hat den Tod verdient. Ob die Holländer ihn aufknüpfen oder ob Sie ihn umbringen lassen, ist mir im Grunde gleichgültig …“

Er winkte Doktor Scholz und mir …

Wir eilten in den Keller, holten den Geheimschreiber …

Als wir, ihn zwischen uns führend, eintraten, schaute der Sultan den Buckligen mit einem durchaus gleichgültigen Blick an …

Dann stand er auf …

Und durch eine Kopfbewegung befahl er seinem Vertrauten, ihm zu folgen …

Von uns nahm er keine Notiz mehr …

Durch den Vordereingang verließen die beiden die Urwaldvilla und schritten dem Waldrande zu … –

Es hat damals, im Dezember 1924, in allen Zeitungen gestanden: daß der Sultan von Gadjanoor und sein Geheimschreiber einem Attentat einer früheren Geliebten des Fürsten zum Opfer fielen …!

Nun – ein wenig anders war die Sache nun doch …

Wir standen alle am Fenster, als die beiden Malaien, Sultan und Schreiber, unten vorübergingen … Wir waren also Augenzeuge dessen, was hier so unvermutet geschah … Und Glück hatten wir gehabt, weil die Splitter der zerspringenden Fenster uns nur leicht die Gesichter verletzten …

Jedenfalls: der Sultan und der Verwachsene hatten sich etwa zehn Meter vom Hause entfernt, als etwas wie ein Ball hinter ihnen im Bogen von oben durch die Luft sauste und auf die Erde aufschlug …

Im gleichen Moment hatte Harald, der als vorderster neben Doktor Scholz am Fenster stand, die Arme ausgebreitet und uns alle ins Zimmer zurückgeschleudert …

Ein donnernder Knall …

Das Klirren der Fenster …

Tonputz fiel in Stücken von der Decke …

Stille …

Dann das Geschrei unserer Singhalesen und Malaien …

Wir wie gespickt mit Glassplitterchen …

Ans Fenster …

Dort, wo die Bombe explodiert war, ein metertiefes Loch …

Von Sidar und dem Geheimschreiber nichts – nichts …

In den nahen Sträuchern ein paar Kleiderfetzen … –

Unsere Singhalesen sammelten dann zusammen, was von den zerfetzten Körpern weit umhergestreut war … –

Harald und Fritz Dietrich verfolgten Alice Cotton, die erst die Bombe geschleudert hatte und dann aus dem Fenster gesprungen war … Ihrer Wächter Aufmerksamkeit hatte sie schlau abzulenken gewußt … Wir fanden in dem Zimmer noch mehr Bomben – in einer Kiste … –

Nach zwei Stunden kehrten Harald und Dietrich zurück – ohne Erfolg! Alice war entwischt … Vielleicht hatte sie sich mit ihren Orang-Kubus vereinigt … Wir mußten sehr auf der Hut sein … Wenn sie nur zwei von den Bomben etwa mitgenommen hatte, konnte sie das ganze Haus zerstören …

Wir trafen denn auch in Rücksicht hierauf allerlei Vorsichtsmaßregeln, die sich nachher trefflich bewährten. So wurde schleunigst durch Dietrich und vier Singhalesen die Prau in den schilfumkränzten See geschafft. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Landsmann Dietrich hart am Seeufer das Grab Pieter van Graavens. Frau Antje, hiervon in Kenntnis gesetzt, eilte sofort in Begleitung von Doktor Scholz dorthin und blieb nachher auch auf der Prau, beschützt von Fritz Dietrich, der die Witwe aufs zarteste zu trösten suchte …

 

5. Kapitel.

Der vierte Schornstein.

In der Urwaldvilla befanden sich jetzt nur noch drei Singhalesen, Doktor Scholz und wir beide. Auch Kapitän Liebert und die beiden malaiischen Hofbeamten waren auf die Prau übergesiedelt, da Harald dies gewünscht hatte.

Der Tag verstrich. Nichts ereignete sich … Abends gegen acht Uhr schickte Harald auch den Doktor und die drei Singhalesen nach der Prau und begründete dies dadurch, daß er nur mit mir allein hier noch den Rest der Geheimnisse enthüllen könnte: den Verbleib der Mumie, die vorn im ersten Stock in einem Sarge gelegen hatte …

Wir standen vor der Hintertür des Hauses und schauten den Abziehenden nach. Doktor Scholz winkte uns noch wiederholt zu, machte aber ein sehr mürrisches Gesicht. Es paßte ihm gar nicht, daß er nicht mit von der Partie sein durfte … Er erwartete sicherlich großartige Erlebnisse, die nur uns beiden vorbehalten bleiben sollten.

Harald sagte: „So, mein Alter, jetzt gehen wir ins Haus, verschließen die Türen und beziehen auf dem Dache Posten …“

Ich glaubte mich verhört zu haben …

„Auf dem Dache, Harald?“

„Ja … Komm’ nur, es wird Dich schon interessieren …“

Das stimmte. Er interessierte mich sogar außerordentlich … Ich brannte lichterloh vor Neugier, was wir auf dem Dache sollten … –

Harst nahm aus der unteren Küche zwei große eiserne Schürhaken mit, außerdem eine Laterne und vier Polsterkissen aus dem Orientsalon …

„Weshalb sollen wir uns auf dem Bretterdach Schwielen drücken …?!“ meinte er …

Gegen halb neun hatten wir uns oben auf den dicksten der vier Schornsteine gesetzt – oben auf den Rand, hatten nun einen tadellosen Rundblick über die Umgebung und konnten vorläufig jeden sehen, der sich dem Hause näherte. Bis halb zehn blieb es hell. Erst dann setzte die Abenddämmerung ein …

Wir konnten auch bis zur Prau hinüberblicken … Die Entfernung betrug etwa zweihundert Meter. Freilich standen viel Bäume dazwischen, und nur einzelne Blattlücken zeigten uns unseren Blücher und die friedlich auf dem Achterdeck sitzenden Gefährten.

Harald spendete mir eine Mirakulum …

„Bitte – die Sache ist’s wert …“ – Er gab mir Feuer …

Wir rauchten … Ich wartete …

„Ja, sieh’ mal, mein Alter … Das Haus hat vier Schornsteine … Wir haben in die plumpen Dinger hineingeschaut, weil die Mumie dort verborgen sein konnte …“

Pause … – Ich wartete …

„Hm – möchtest Du Dir nicht die Schornsteine genauer anschauen …?!“ erklärte Harald nach einer Weile … „Aber recht genau … Vielleicht merkst Du, was ich schon von unten gesehen habe …“

Ich sprang von der klobigen Esse herab … Und jetzt, wo Harst mich gleichsam mit der Nase auf dieses Auffällige gestoßen hatte, da erkannte ich, daß dieser dickste Schornstein weit jüngeren Datums war …

Harst kam nun auch von dem luftigen Sitz herunter und meinte:

„Ja, mein lieber Alter, dieses dicke Ding ist Blendwerk der Hölle … Das ist nur eine Schornsteinattrappe, die in die Nebenesse unten einmündet … Wie wär’s, wenn wir mal den Schornstein beklopfen, um nach einem Hohlraum zu suchen …“

Jetzt ging mir ein Licht auf …

Und mit Feuereifer klopfte ich … horchte …

Aha – hier an dieser Seite gaben die in der Sonne gehärteten Ziegel einen dumpferen klingenden Ton …

„Los!!“ rief Harst …

Auch er war leicht erregt …

Auch er arbeitete nun mit wahrer Wut …

Wir wußten: wir standen jetzt vor der Lösung des Geheimnisses! Nur eine Tonziegelschicht trennte uns davon …

Unsere Schürhaken rissen Teile der Ziegel heraus …

Unsere Schürhaken erweiterten die Öffnung …

Ziegelstücke polterten auf das Dach …

Immer mehr …

Jetzt konnten wir schon einen Blick in den Hohlraum der Schornsteinwand werfen …

Jetzt noch ein paar Ziegel …

Dann … sahen wir …!!

Die Mumie hockte in dem Loche …

Die Mumie …!!

Entsetzlich entstellt … Ohne Haare, Löcher im Gesicht, die Nase zerrissen …

Ein Anblick, daß einem graute …

Ein richtiger, durch Rauchentwicklung hergestellter Mumienkopf …

Darunter ein dürrer Hals … Reste eines Hemdes …

Und doch war noch zu erkennen, daß der Greis ein Europäer gewesen …

Da sagte Harald leise:

„Fraglos der Vater Frau Antjes und ihrer Schwester …“

Ich dachte an das, was Alice Cotton uns auf dem Schoner von der Leprakrankheit erzählt hatte …

Ich wollte etwas erwidern …

Ein Schuß fiel rechts von uns – in den Bäumen …

Ein Blick genügte …

Alice Cotton …!!

Alice Cotton drüben am vierten Schornstein – mit erhobenem Arm … In der Hand … eine Bombe …

Wurfbereit …

Aber – – ein zweiter Schuß aus der nahen Baumkrone … Doktor Scholz’[10] Gesicht dort im Blätterdach …

Und Alice Cotton taumelte … sank langsam zurück … Die Bombe fiel ihr auf den Schoß, blieb liegen …

Mit drei – vier Sätzen war Harald neben ihr … Hob das gefährliche Geschoß auf … Ich hinterdrein … – Alice Cotton lebte noch … Die zweite Kugel hatte die Brust quer durchschlagen …

Harst kniete neben ihr, stützte ihren Kopf …

Alice Cotton flüsterte mit letzter Kraft:

„Herr … Harst … Mein … Vater … Lepra … Wohnte hier … heimlich … Bat mich, seine Qualen zu beenden … ihn zu erschießen … Dieses … Verlangen war ernstlich … Herr Harst … ich … tat … es … Ich … erschoß ihn im Schlaf … Wollte … mich … sichern gegen … Mordanklage … Deshalb … ließ ich … die Leiche … durch Orang-Kubu präparieren, damit … die Lepranarben erhalten blieben …“

Die Stimme wurde unverständlich …

Ihre Augen bekamen jenen überirdischen Ausdruck, der das nahende Ende verkündet …

Harst beugte sich tiefer … nahm ihre Hand …

„Alice Cotton, was Sie auch getan haben: Gott wird Ihnen verzeihen, vergeben …“

Ob sie diese gütigen Worte noch verstanden hatte, war schwer zu entscheiden …

Ganz sacht schlief sie dann ein …

Drei umstanden die Tote …

Der dritte war unser Retter, Doktor Scholz … blaß, verwirrt …

„Mein Gott, das erste Menschenleben, das ich vernichtet habe …“ stöhnte er …

Harald drückte ihm die Hand …

„Doktor – ein Leben für zwei! Vergessen Sie das nicht …!“ – –

Am anderen Morgen verließ unser Blücher die lange Bucht … Wir nahmen Kurs auf Batavia, den Haupthafen von Java … Dort meldeten wir die Geschehnisse den holländischen Behörden … Dort verließen Fritz Dietrich mit Frau Antje heimlich die Prau, damit die Witwe des Schmugglerkönigs nicht etwa verhaftet würde …

Wir haben die Urwaldvilla nicht mehr wiedergesehen … Im Sultanat Gadjanoor herrscht jetzt der älteste Sohn des Sidar, ein Jüngling, der vollständig unter Einfluß des holländischen Residenten steht – zum Glück …! –

Hiermit muß ich mich für heute von den Lesern verabschieden …

Wenn wir uns im nächsten Band wiedersehen, hat der Schauplatz gewechselt …

Ein anderes, kleines Eiland im hohen Norden wurde unser Winterquartier …

 

Nächster Band:

Das Gespenst von Jan Mayen.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































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75:
76:
77:
78:
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95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Bananenbaum – Die Früchte (Dessert- bzw. Kochbanane) werden auch Paradiesfeige bzw. Pisangfeige genannt. Siehe auch Wikipedia: Bananen.
  2. In der Vorlage steht: „Abenteuerin“. – Zwei Vorkommen auf „Abenteurerin“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „wieder“.
  4. „Gadjanoor“ / „Hadjanoor“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Gadjanoor“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „befindet“.
  6. In der Vorlage steht: „diesen“.
  7. In der Vorlage steht: „van Gaaren“. – Drei Vorkommen auf „van Graaven“ geändert.
  8. In der Vorlage steht: „Sei“.
  9. In der Vorlage steht: „es“.
  10. In der Vorlage steht: „Scholz“.