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Die Fürstin der Gwala-Berge

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 147:

 

Die Fürstin der Gwala-Berge.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Frau, die den Toten beschwor …

Nördlich der indischen Hafenstadt Bombay liegt unweit der Meeresküste die Eisenbahnstation und Fabrikstadt Bassein. Und nordöstlich von Bassein wieder beginnt ein von einzelnen kurzen und felsigen Höhenzügen durchbrochener Dschungelgürtel.

Was Harst und ich inmitten dieser Dschungel in der Tempelruine des Bergkegels erlebten, hing mit Ben Bensons drei Fingern zusammen. Der Leser kennt diese Geschehnisse aus dem vorigen Band, weiß, daß wir dort im Hofe der Tempelruine einen uralten Ziehbrunnen fanden, an dessen morschem Balken an einem ebenso morschen Tau die zur Mumie eingetrocknete Leiche eines Inders und unterhalb dieser im Grase einen haselnußgroßen Diamanten von vorzüglichem Schliff sowie den dazu gehörigen breiten Goldreif, altindische Arbeit.

Dies hier als Einleitung …

Wir hatten an einem überaus heißen Julitage das Ehepaar Patterson zum Dampfer begleitet, hatten herzlichen Abschied von John Patterson und seiner Doris-Irina genommen und waren dann ins Hotel d’Angleterre zurückgekehrt, um die Tagesstunden im kühlen Lesesaal zuzubringen …

Wir waren jetzt – so glaubte ich, ohne „Arbeit“ …

Ich hoffte auf ein paar angenehme Tage, auf Ausflüge und Mußestunden, in denen ich meinen Verpflichtungen gegenüber meinem Verleger nachkommen und sofort „Die drei Finger Ben Bensons“ zu Papier bringen wollte …

Bis zum Abend gab ich mich dieser trügerischen Hoffnung mit vollem Behagen hin, arbeitete, rauchte, hörte die Jazzbandkapelle im Speisesaal sehr gedämpft und schaute nur hin und wieder zu Harald hinüber, der in einem Schaukelstuhl ruhte und zu schlafen schien – stundenlang.

Abends gegen sieben Uhr brachte ein frischer Seewind willkommene Abkühlung.

Harst erhob sich und beugte sich über meine Schreiberei.

„Packe ein!“ sagte er. „Wir reisen …!“

So ist er …

„Wir reisen!“ – abgemacht …!

„Wohin?“ gestattete ich mir zu fragen.

„Sonderbar …! Willst Du Dir denn ein Thema für einen neuen Band entgehen lassen?! Willst Du den Toten in der Tempelruine wirklich nicht beachten?! Warst Du es nicht, der den Diamant und den Goldreif fand?! Ist nicht eine Leiche, die am Ziehbalken eines Brunnens hängt und unter der ein Juwel im Grase lag, nicht Stoff genug?! Läßt sich daraus etwa nicht allerlei ableiten?! Glaubst Du, daß der Mann sich selbst aufgeknüpft hat?! Und – wie kam ein so armer Inder in den Besitz eines Ringes, der ein Vermögen wert ist?! – Schließlich: nimmst Du etwa an, daß Lewis Balland, dem wir hier den Familienschmuck der Herzöge von Lancire abgejagt haben, ein so harmloses Tierchen ist, daß er sich nicht zu rächen versuchen wird?! Bist Du töricht genug, hier im Lesesaal keine Spione Ballands zu vermuten?!“ – Er sprach immer leiser … „Nein, mein Alter, Balland ist bereits kräftig an der Arbeit … drüben in der anderen Ecke sitzt seit zwei Stunden eine Europäerin, die scheinbar einen Roman verschlingt. In Wahrheit möchte sie uns verschlingen … – Komm, wir bezahlen unsere Hotelrechnung, bestellen ein Auto und gondeln gen Bassein … Wir werden dann ja sehen, ob jemand uns folgt …“ –

Acht Uhr …

Unser Auto glitt auf tadelloser Straße gen Norden …

Indien zeigte uns wie immer sein Doppelgesicht: europäische Überkultur im Bereich der großen Städte, und ein paar Meilen weiter elende Dörfer, Tiergehege, von Dornen umstarrt, zum Schutze gegen Panther und Tiger …

Es war im übrigen niemand hinter uns her … Wir hatten genau aufgepaßt … –

Unsere Koffer hatten wir im Hotel in Verwahrung gegeben. Unsere praktischen Rucksäcke enthielten alles, was wir brauchten.

Harald nahm jetzt sein Fernglas vor. Wir hatten die Stadt Bassein hinter uns und im verglühenden Schein des Abendrots sahen wir links der Straße die grünen Stellen eines unendlichen Dschungels.

Harald spähte nach dem Bergkegel aus. Dann befahl er dem indischen Schofför zu halten. Wir stiegen aus.

Der Inder machte ein höchst verdutztes Gesicht …

Er war kultiviert, fragte bescheiden:

„Wollen die Herren von hier zu Fuß weiter wandern? Das nächste Dorf ist noch fünf Meilen entfernt, und die aufgeschüttete Straße durchschneidet sumpfige Gebiete, in denen es Legionen Stechmücken gibt …“

Harst sagte nur: „Wir haben Mückenschleier und Handschuhe … Was macht die Taxe?“

Er bezahlte, gab ein sehr anständiges Trinkgeld und meinte:

„Wenn Dich jemand aushorchen sollte, wohin wir gefahren sind, so lüge den Betreffenden an … Und dann geh zu Detektivinspektor Perkins und gib ihm diesen Brief. – Forscht Dich aber niemand aus, so verbrenne den Brief und schweige.“

Der Inder, ein Mohammedaner, schwor bei Allah und dem Propheten, daß er tun würde, was der freigebige Sahib wünschte … –

Das Auto machte kehrt. Wir wanderten weiter. Als wir sehr bald eine felsige Stelle erreicht hatten, bogen wir nach links ab.

Um elf erschien der Mond. Auf allerlei Umwegen, stets auf den niederen Höhenrücken im Dschungel uns haltend und das unsichere Dickicht meidend, gelangten wir gegen Mitternacht zu der einsamen Tempelruine. Wir schalteten die Taschenlampen ein, fanden hier im Innern der halb verschütteten Tempelruine alles wie vordem, schlugen zwei Brillenschlangen mit unseren derben Stöcken tot und rüsteten uns zur Nachtruhe. Unsere seidenen Hängematten, die zusammengerollt kaum zwei Fäuste groß waren, hatten wir rasch ein Meter über dem Boden befestigt. Noch ein kalter Imbiß, ein Schluck Tee und eine Verdauungszigarette, dann lagen wir in den Hängematten und sahen draußen vor dem Ruineneingang im milden Glanz des Mondes die zerstörte Treppenbrüstung – grauweißen Marmor – gespenstisch leuchten …

Ringsum Totenstille …

Und acht Meter weiter hing im Tempelhofe noch immer der Tote am Brunnenbalken. Harald war durch die Mauerspalten gekrochen und hatte nachgesehen.

Totenstille …

Harald atmete tief … Mitunter ein paar Schnarchtöne.

Dann geckerte eine Mauereidechse – eins dieser niedlichen Tierchen, die ihren Kehlsack aufblasen und dann diese merkwürdigen Trompetentöne ausstoßen.

Das liebe Viecherl befand sich auf der Jagd … Bald tutete es hier, bald dort …

Harst erwachte natürlich, brummte:

„Infames Vieh …!!“

Vorläufig war’s mit dem Schlafen nichts …

Ich langte nach der Taschenlampe und ein paar Steinen … Als die Eidechse gerade unter meiner Hängematte sich meldete, beleuchtete ich sie flink und begann das Steinbombardement, traf auch, schlug ihr den Schwanz ab und verjagte sie. Der Schwanz würde von selbst nachwachsen. Die Eidechsen haben es eben besser als wir Menschen. Haut man uns ein Bein ab, bleiben wir Krüppel.

Nun hatten wir Ruhe …

Harst schlief abermals ein …

Mich jedoch hatte die Eidechsenjagd doch allzu munter gemacht. Ich gähnte, gähnte … und fiel schließlich in jene unangenehme Art von Halbschlaf, der die Nerven mehr erregt als beruhigt.

Plötzlich schreckte ich empor …

Lauschte …

Mir war’s, als ob ich eine Stimme hörte – ganz undeutlich …

Eine eintönige Stimme, die nach kurzen Pausen immer wieder zu vernehmen war – irgend woher …

Ich erhob mich ganz leise …

Aber Harald erwacht ja bei dem geringsten Geräusch …

Meine Hängematte knarrte – und da fragte er schon:

„Was gibt’s?!“

„Es spricht jemand …“

„Ich höre schon …“

Er stand gleichfalls auf …

Wir horchten …

„Das kommt vom Tempelhof her,“ erklärte er dann flüsternd …

Wir wanden uns durch die Mauerspalten … Der Schlangen wegen hatte Harst seine Lampe in der Linken und den Stock in der Rechten.

Als wir das Gestrüpp erreicht hatten, das hier an den Mauern des Hofes wucherte, richteten wir uns auf …

Der Mond beleuchtete den quadratischen Hof, den Brunnen, den Ziehbalken, an dessen unterem Ende ein großes Felsstück befestigt war, während an dem hochstehenden Ende die Leiche hing – kein lieblicher Anblick.

Auf dem marmornen Brunnenrand, schräg unter dem Toten, saß eine Inderin … – ein junges Weib, ärmlich gekleidet …

Sie hatte den Kopf zurückgebogen und schien zum Monde emporzustarren …

Der Mond stand schräg über dem mumienhaften Toten … Und die Frau sprach mit der Leiche … unaufhörlich, bald lauter, bald leiser … Sie sprach nicht den uns geläufigen Dialekt des Gouvernements Bombay, sondern eine uns unbekannte Mundart …

Manche Sätze ihres einseitigen Zwiegesprächs mit dem Toten waren genau zu verstehen – jedes Wort … Aber den Sinn erfaßten wir nicht …

Die ganze Szene hatte etwas Unheimliches, seltsam Melancholisches an sich …

Die Zeit verrann …

Regungslos saß die Frau … Ihr Plappern wurde erregter …

Zuckende Bewegungen durchliefen plötzlich ihren Körper …

Ebenso plötzlich war sie mit einem Satz oben auf dem Brunnenrand, reckte die Arme zu dem Toten empor …

Schrie ein paar Worte – wie in wildester Verzweiflung …

An den Armen trug sie klirrende Spangen … Um den Hals eine vielfache Kette von großen bunten unregelmäßigen Steinen …

So stand sie da – schien den Toten zu beschwören …

Immer lauter, gellender wurden ihre sich überstürzenden Worte … –

Und – wenn ich hier nun weiterhin dem Leser schildern muß, was auf diese in ihrer Art ebenso phantastische wie nervenaufpeitschende Beschwörungsszene folgte, kann ich nur vorausschicken: auch Harald war minutenlang wie gelähmt.

Ich schaute ihn an …

Sein Gesicht zeigte eine Verblüffung, wie sie bei ihm selten ist …

Denn – – der halb Verweste, halb zur Mumie vertrocknete Leib dort oben, der am Halse in der Schlinge des morschen Taus hing, bewegte sich mit einem Male …

Ruckweise …

Wie vorhin die junge Inderin …

Das Tau kam dadurch ins Schwingen … Der Körper pendelte hin und her …

Die Arme hoben sich …

Die Hände griffen in die Luft, packten das Tau …

Und ich … glaubte zu träumen … in meiner Hängematte …?! Zeigte mir nicht lediglich meine rege Phantasie im Traum dies Unnatürliche, Widersinnige …?!

Da flüsterte Harald ein einziges Wort …

Ein Wort, das alles, was Indien an Unbegreiflichem dem nüchternen Europäer bietet, in sich schließt:

„Ein Yogi!“

Ah – ein Fakir – – ein Zauberer … Ein Mensch aus der Yogi-Kaste, deren uralte Geheimnisse sich vom Vater auf den Sohn – auf Enkel, Urenkel weitervererbt haben … – Ein Yogi, einer, der den Gesetzen der Natur trotzt, der europäischen Gelehrten unlösliche Rätsel aufgibt …

Und wieder flüsterte Harst:

„Ein mit Aussatz behafteter Yogi …!“

Daher also an den Zehen die hervorragenden Knochen, daher dieses entsetzlich entstellte Gesicht …

Ein aussätziger Yogi …!!

Das erklärte vieles …

 

2. Kapitel.

Stein und Ring.

Ich habe hier in diesen Schilderungen unserer Abenteuer schon wiederholt auf die rätselhaften „Kunststücke“ der indischen „Zauberer“ hingewiesen. Weder der Ausdruck „Kunststück“ noch „Zauberer“ trifft insofern das Richtige, als der wahre, echte Yogi aus der Yogi-Kaste mit einem Taschenspieler etwa so viel gemein hat wie ein auf niederster Kulturstufe stehenden Orang-Kubu von der Insel Borneo mit einem der gebildeten Malaien aus den Hafenstädten derselben Insel.

Der echte Yogi ist ein Mann, der durch jahrelanges Training des Geistes und damit des Willens in einem Maße Herr der Organe seines Leibes geworden, daß er deren Funktion für längere Zeit auszuschalten vermag. Ich erinnere nur an folgendes: Yogis haben sich bis zu 42 Tagen lebend begraben lassen. Andere wieder können willkürlich ihr Herz bis zu acht Schlägen aussetzen lassen. Wieder anderen ist die Gabe des „Hellsehens“ verliehen, sie erleben also Dinge im Geiste mit, die fern von ihnen sich ereignen, sie können also die Seele gleichsam vom Körper trennen und in die Ferne senden. – Das sind unumstößliche Tatsachen und auch nur einige Beispiele der Wunderkräfte der Yogis … –

Nun zurück in den kleinen Hof des verfallenen Hindutempels …

Zurück zu uns beiden Lauschern, die wir hier soeben Zeugen eines unheimlichen Vorgangs geworden: das Bündel Lumpen, Knochen und scheinbar mumienhaft vertrockneten Fleisches dort oben am Brunnenbalken hatte Leben bekommen!!

Etwas Unerhörtes war geschehen …

Und noch mehr geschah …

Die Inderin sprang plötzlich vom Brunnenrand hinab und lief zum Brunnenbalken, der in zwei Stützpfählen hing und an dessen unterem Ende als Gegengewicht ein großer Stein befestigt war.

Die Frau mit den leise klirrenden Armspangen zeigte uns nun im Mondlicht ihr junges Antlitz weit deutlicher als bisher … Ein Antlitz von überraschender wilder Schönheit … Keins jener puppenhaften runden indischen Frauengesichter …

Nein – ein schmales rassiges Antlitz, länglich, nur wenig vorspringende Backenknochen …

Und dazu große dunkle Augen – mandelförmig wie die der dunkelhaarigen Zirkassierinnen …

Jedenfalls trotz des ärmlichen Überwurfes eine schlanke, prachtvolle Figur – geschmeidig wie eine Tigerin, ebenso kräftig und graziös … Denn die gestreiften gelben Bestien der indischen Dschungel besitzen eine natürliche, lässige Grazie … Das wird jeder bestätigen, der die Riesenkatzen einmal in Freiheit beobachtet hat …

Die Inderin drückte jetzt den Brunnenbalken herab – sehr langsam und vorsichtig, bis der Yogi den Erdboden, das hohe, hier wuchernde Gras berührte und dann matt in dem fahlgrünen Pflanzenteppich versank …

Wir sahen ihn nicht mehr … Nur die Bewegungen des Grases und … anderes: wie das junge Weib ein Bündel aufhob und es vom Brunnenrande dem Fakir zuwarf …

Dazu rief sie ein paar Worte in der fremden Sprache …

„Eßwaren,“ flüsterte Harst …

Der Yogi hatte sich nun aufrecht gesetzt … Wir beobachteten, wie er Früchte, Hirsebrot und etwas Fleisch verschlang …

Er aß nicht – er fraß …

Das Weib stand wieder auf der Brunneneinfassung …

Zehn Minuten vergingen …

Hin und wieder sprach die Frau zu dem Aussätzigen …

Der antwortete nur durch Zeichen mit den schrecklichen Skeletthänden …

Nun schien er gesättigt …

Und – kroch durch das Gras … kroch gerade an der Stelle wie suchend umher, wo ich vorgestern den losen Edelstein und dann auch den dazu gehörigen Goldreif gefunden hatte …

Beides trug ich noch in der Tasche …

Der Yogi suchte ohne Zweifel nach diesen Dingen …

Wieder rief die Frau ihn an …

Sie näherte sich ihm nicht, weil sie die Ansteckung fürchtete …

Der Fakir erhob sich im Grase …

Winkte, deutete auf die Erde, machte dem Weibe durch Zeichen klar, daß Stein und Ring verschwunden …

Der Yogi war erregt …

Mit einem Male aber verharrte er regungslos, hatte die rechte Hand über die eingesunkenen Augen gedeckt und zeigte uns, daß von dem Daumen und kleinen Finger dieser Hand nur noch … Knochen und Fleischfetzen übrig …

So stand er – – endlos …

Bildsäule …

Und ebenso die Inderin, die kein Auge von ihm ließ …

Auch Statue …

Der Mond beleuchtete diese Szene … Und doch: sein bleiches Licht verstärkte nur den unheimlichen Eindruck …

Allmählich stieg da in mir die Gewißheit auf, daß der Yogi … wandelte …

Das heißt: er ließ seinen Geist wandeln und dem Diebe des Edelsteines und des Ringes nachspüren … –

Harald stieß mich an …

„Achtung …!“

Oh – er hätte sich dies schenken können …

Ich war bereits gewarnt … Ich kannte indische Fakire …

Da ließ die zum Leben erwachte Mumie die aussatzzerfressene Hand von den Augen sinken …

Und jetzt gab der Stumme der Inderin hastig Zeichen – so flink, wie dies Taubstumme vermögen …

Die Frau rief ein paar Worte …

Abermals Zeichen …

Dann … kam das Weib zögernd auf unser Versteck zu …

Der Yogi hatte also herausgefunden, daß wir hier in dem Gestrüpp verborgen waren und mit uns Diamant und Goldreif … –

Die Frau machte halt …

Sie konnte uns unmöglich sehen …

Sagte in leidlichem Englisch:

„Sahib, mein Vater läßt Dich bitten, das wieder herauszugeben, was Du hier gefunden hast …“

Also – mir galten diese Worte …

Und – – Harst drängte sich durch die Zweige, zog mich mit in den Mondschein hinaus …

Zwei Schritte vor uns die braune Venus …

Harst – freundlich:

„Du wirst zurückerhalten, was wir fanden … – Wie heißt Du?“

Sie schüttelte leicht den Kopf …

Und kaum hörbar: „Ich habe keinen Namen …“

Harald stutzte … sann nach …

Dann: „Bist Du eine Gwali?“

„Ich war es, Sahib …“

„Dein Volk hat Dich verstoßen?“

„Ja, Sahib …“

„Und der Yogi dort ist Dein Vater?“

„Nein – mein Großvater … mein Vater ist tot, auch meine Mutter … Ich habe nur noch den Großvater … Und den hat Bathwara, der Gott der Seuchen, gezeichnet …“

„Wie heißt Dein Großvater?“

„Er hat keinen Namen, Sahib, und er ist stumm … Er hat seine Zunge gelähmt …“

Also ein freiwillig Stummer – ein Yogi, der ein Gelübde abgelegt hatte …

Das Mädchen sprach weiter:

„Mein Großvater sagte mir durch seine Hände, daß Ihr beide, o Sahib, gute Menschen seid … Er kann seine Augen in die Vergangenheit zurückkehren lassen … Ihr seid keine Diebe …“

„Nein … Mein Freund wird Dir Stein und Ring aushändigen, wenn Du uns einige Fragen beantworten willst …“

„Ich werde antworten, Sahib … Nur …“

„… nur?!“

„Du darfst nichts fragen, was den Großvater und mich betrifft … Wir büßen, o Sahib …“

Harald wandte sich an mich …

„Gib ihr Stein und Ring, mein Alter … Wir werden dies Geheimnis trotzdem enthüllen … Es ist vielleicht das dunkelste, das sich uns je darbot …“ Er sprach Deutsch …

Und ich zog die beiden Gegenstände aus der Tasche und reichte sie dem Mädchen …

Sie neigte anmutig den Kopf …

„Ich danke Dir, Sahib … Ihr seid gut … Und Ihr werdet uns nicht verraten … Die Rani würde …“

Sie stockte …

Drehte sich hastig um, ging zum Brunnen zurück …

Rani – – Rani …!! Also Fürstin …!! Welche Fürstin?!

Meine Gedanken fanden Ablenkung …

Das Mädchen hatte Stein und Ring dem Yogi zugeworfen …

Der hob beides auf, legte beides dorthin, wo ich es gefunden …

Und schritt zum herabgedrückten Ende des Brunnenbalkens, legte sich die Schlinge des Taues um den abschreckend dünnen langen Hals …

Ließ die Arme sinken, schloß die Augen …

Stand – – Statue …

Minutenlang …

Bis sein Körper zu schwanken begann …

Wie der eines Trunkenen …

Bis die Inderin nun den Stein des unteren Endes kraftvoll herabpreßte und … den Yogi an dem Tau in die Luft erhob …

Einen scheinbar Gehenkten …

Und doch einen Lebenden … –

Um uns kümmerte sie sich nicht weiter …

Wir schienen für sie nicht mehr vorhanden …

Nun hatte der Brunnenbalken genau die frühere Stellung erreicht …

Alles – war wie früher …

Reglos der Yogi dort oben …

Die Inderin verschwunden – verschwunden im Gestrüpp – schlangengleich …

Wir beide still und wie benommen …

In meiner Seele ein leises Grauen …

Indien … Indien …!!

Wunderland …!!

Und dann Harald – ganz sachlich:

„Die Rani der Gwala-Berge, mein Alter, – die Fürstin Raßmalar … Wir werden sie besuchen … Der Yogi und seine Enkelin sind Gwali, Bewohner des kleinsten selbständigen indischen Fürstentums Gwali …“

Und da – wußte ich …

Gwala-Berge …

Dort drüben im Nordosten jenseits des Dschungelgürtels.

Dort hatte ich das kahle Gebirgsmassiv emporragen sehen, als wir hier dem Kegelberge zuwanderten … –

Wir legten uns zum zweiten Male nieder …

Schliefen ein …

Und zwölf Meter entfernt hing der aussätzige Yogi …

Die lebende Mumie …

Das lebende tote Geheimnis …

Unter ihm im Grase lagen Stein und Ring …

 

3. Kapitel.

Die Miß mit den Wildenten.

Ah ja – dieses Abenteuer mit Raßmalar, der Fürstin von Gwala, hatte seine besonderen Reize …

Man muß schon wie wir aus Neigung Detektiv sein, um Dingen nachzuspüren, die uns nur Zeit, Geld und die gesunden Knochen kosten konnten und die so wenig einträglich sein dürften wie der Beruf eines Berliner „Altertumsforschers“ … Worunter man bekanntlich jene Leute versteht, die die Müllberge durchwühlen und das Brauchbare gleich an Ort und Stelle sortieren: Lumpen, Blechbüchsen, Knochen und so weiter …

Jedenfalls: diese Jagd auf die Lösung eines dunklen Geheimnisses war ein ausgesprochenes Privatvergnügen von uns!

Dieses „Vergnügen“ spann sich nun folgendermaßen fort:

Wir schliefen bis gegen neun Uhr vormittags vollkommen ungestört. Harald weckte mich dann. Er war schon früher mit der ihm eigenen Lautlosigkeit aufgestanden, hatte den Frühstückstee zubereitet und erklärte als Morgengruß:

„Der Yogi ist verschwunden …“

Ich glaube, ich wäre ohne diese Nachricht niemals so blitzschnell munter geworden …

„Verschwunden?!“ rief ich …

Und im Nu standen die Ereignisse der Nacht mit aller Deutlichkeit wieder in meinem Geiste …

„Verschwunden?!“ wiederholte ich ungläubig, denn zuweilen gestattet sich Harald Scherze, die nicht ganz nach meinem Geschmack sind …

„Du kannst ja nachsehen, mein Alter,“ erwiderte er nur … „Ich war soeben im Tempelhofe … Der Brunnenbalken trägt nur noch das Tau mit der Schlinge … Und auch Stein und Ring sind futsch …“

„Dann ist der Fakir mit seiner Enkelin auf und davon …“

„Ja – das wäre die eine Möglichkeit … Hiergegen spricht aber dies hier …“

Und er nahm vom Boden ein zusammengeknülltes, leicht angeschmutztes Stück Gazeleinwand auf, das sehr scharf nach Karbol roch und noch feucht war …

Fügte hinzu:

„Dieser Fund, den ich im Tempelhofe machte, deutet auf eine gewaltsame Entführung des aussätzigen Fakirs hin … Die Leute, deren Spuren ich noch im Grase prüfen konnte – es waren vier Männer mit derben Sandalen –, haben den Yogi nicht mit bloßen Händen anzupacken gewagt – der Ansteckungsgefahr wegen …“

„Und sie entfernten sich wohin?“

„Durch eine der Mauerspalten – den Berg hinab … Dort in einer Dschungellichtung haben fünf Pferde und drei Kamele längere Zeit gestanden, also die Reittiere der vier Leute und ihrer Begleiter …“

Er warf die Gaze[1] weg, wusch sich in unserer Gummischüssel die Hände und sagte:

„Frühstücken wir … Dann Aufbruch nach Nordost – den Spuren folgend …“

Wir aßen, tranken …

Ich konnte nicht anders: ich mußte meine Phantasie spielen lassen und theoretisch das Geheimnis lösen …

„Nicht wahr, Harald,“ begann ich, „der Yogi hat den kostbaren Ring der Fürstin von Gwala gestohlen und sich selbst dann diese schreckliche Sühne auferlegt: sich in einen starrkrampfähnlichen Zustand versetzt und sich von seiner Enkelin aufknüpfen lassen …“

Harald trank seinen Aluminiumbecher leer und griff nach einer Zigarette …

„So würde ein Säugling kombinieren,“ meinte er …

„Oho!! Ein Säugling kombiniert überhaupt nicht …!“

„Woher weißt Du das? – Hast Du je Kinder gehabt und erzogen?!“

„Nein … Aber …“

„… aber jemand, der einen Ring mit einem überaus kostbaren wasserklaren Diamant stiehlt und dies nachher bereut, gibt wohl zunächst die Beute zurück …“

„Gestatte: der Dieb hat dies vielleicht nicht gewagt …“

Harald machte eine abwehrende Handbewegung …

„Bemühe Dich nicht, mein Alter … Keine Hirnschmalzvergeudung! Sie ist hier vorläufig zwecklos … Denn ich selbst kann Dir nur eins erklären: gar nichts kann ich erklären! Wir stehen noch zu sehr am Anfang der Dinge … Wir müßten uns aufs Herumraten verlegen, könnten all die Widersprüche niemals ausgleichen …“

Er rauchte, und auch ich nahm eine Zigarre.

Dann packten wir unsere Rucksäcke …

Und krochen in den Tempelhof …

Sonnenschein jetzt ringsum … Ein helles freundliches Bild … Nichts Schauerliches … Der Tote fehlt … Der lebende Tote …

Die Spuren der vier Eindringlinge waren im Grase klar zu erkennen. Wir sahen, daß diese Leute von unserer Anwesenheit nichts geahnt hatten. Sie hatten gar nicht den Versuch gemacht, in die halb verschüttete Tempelhalle, unser Nachtquartier, hineinzukriechen … Sie waren mit dem Yogi, den sie den Eindrücken im Grase nach in eine mit Karbol besprengte Decke gewickelt hatten, durch die geborstenen Mauern ins Freie gelangt …

Und wir waren nun hinter ihnen her …

Zu Fuß … Auf schmalen Wildpfaden durch den Dschungel – meilenweit … Schweigend … Die schweren Rucksäcke schleppend … Oft durch Morast watend … Umschwärmt von blutdürstigen Mücken … Stechfliegen und ähnlichem Dschungelgelichter … Geschützt durch die Schleier und Lederhandschuhe … Ganze Ströme von Schweiß vergießend …

Stundenlang … Harald stets fünf Schritt voran …

Fährtensucher, die etwas von der alten Indianerromantik spürten …

Bis gegen fünf Uhr nachmittags ein Fluß uns den Weg versperrte …

Ein träger schlammiger Fluß von vielleicht dreißig Meter Breite, dessen Ufer noch Sumpfstreifen von gleicher Breite hatten …

Gestank entstieg dem trüben Wasser … Gluthitze brütete über dem wogenden Röhricht … Vögel schrien, Wildenten fielen ein … Pelikane und Marabus standen in philosophischer Ruhe auf Baumstümpfen …

Hier waren wir mit unserem Latein zu Ende … Hier fanden wir die Eindrücke eines großen Flachbootes, das die Tiere und Reiter aufgenommen hatte …

„Pech!“ murmelte Harald … „Suchen wir eine Brücke … Es gibt bestimmt hier irgendwo eine der primitiven Hängebrücken aus Tauen und Baumästen …“

Und er nahm die Landkarte des Gouvernements Bombay zur Hand und vertiefte sich in deren Einzelheiten …

Sagte: „Es ist der Gwala-Fluß … Kommt aus den Gwala-Bergen … Hier ungefähr befinden wir uns … Und hier diese punktierten Linien sind Hängebrücken … Außerdem ist hier links an diesem Ufer ein schwarzes Viereck: ein Haus …! Suchen wir es …“

Scharf nach Norden wandten wir uns … Der Fluß machte eine Krümmung, und eine längere Felspartie gestattete uns, ganz dicht am Ufer dahinzuwandern …

Da hörten wir das Rattern eines Motorbootes …

Hinter einer Schilfinsel schoß es bevor … Ein offenes Boot … Zwei Inder darin und eine weißgekleidete Europäerin mit großem Strohhut, dicht verschleiert … Sie saß am Steuer …

Winkte …

Wir winkten zurück …

Das Boot landete …

So lernten wir Miß Gwendolin Baacer kennen, Tochter des Herrn, dem die Plantage weiter nördlich gehörte: das eingezeichnete Haus!

Miß Baacer war ein munteres vergnügtes Geschöpf … Sie hatte Wildenten geschossen … Stolz zeigte sie auf ihre Beute …

Wir – oder vielmehr Harald – hatte natürlich andere Namen genannt … Schraut war ein Mr. Schmidt und Harst ein Mr. Harmer geworden … Deutsche Zoologen – – Studienreise – – und so weiter – ein harmloser Schwindel … –

Miß Baacer war sofort bereit, uns überzusetzen …

„Freilich müssen wir entweder eine Strecke stromauf oder stromab,“ meinte sie … „Denn hier an dieser Stelle ist drüben nur undurchdringlicher Sumpf … Das sehen Sie ja auch, meine Herren …“

„Ja – ich sehe alles,“ nickte Harald. Und dieses „alles“ klang so merkwürdig, daß ich argwöhnisch wurde …

Es gab doch nichts zu sehen … Wenigstens nichts, was irgendwie verdächtig schien …

Miß Baacer entging denn auch Harsts seltsame Bemerkung …

Mir nicht …!! Ich bin auf seine Eigenheiten eingespielt … Und daher blieb ich wachsam … –

Das Boot schoß wieder in den Fluß hinaus …

Wir saßen neben Gwendolin Baacer am Steuer … Vor uns lagen die sieben Wildenten, ihre Jagdbeute … neben Harst lehnte der munteren Jägerin leichte Doppelbüchse …

Und die nahm Harald nun zur Hand …

„Eine tadellose Waffe, Miß Baacer …“

„Nicht wahr?! Und schießt vorzüglich …“

Harst hielt die Nase über die Mündungen …

„Hm – haben Sie mit dieser Büchse die Enten erlegt, Miß Baacer?“

„Freilich …!“

„Wann denn?“

Oh – das war bereits ein Verhör … Das war nicht mehr der liebenswürdige Harald …!

„Vor einer halben Stunde etwa …“ – und diese Antwort der Miß klang bereits ein wenig gezwungen …

„So … so … – halbe Stunde …!! Und der Schrotlauf der Büchse riecht absolut nicht mehr nach Pulver – – merkwürdig!! Und die Enten da – auch sehr merkwürdig! – Die sind bereits vor drei Stunden geschossen – mindestens … Man … riecht es ja … In dieser Hitze stinkt Geflügel schon nach zwei Stunden …! – Miß Baacer, Sie müssen es wirklich schon ein wenig schlauer anfangen, wenn Sie wieder einmal jemandem auflauern, den Sie schon im Hotel d’Angleterre in Bombay beobachtet haben …! Damals – es war erst gestern nachmittag – waren Sie dunkelblond … Heute sind Sie hellblond …!“

Und wie er das so mit beißender Ironie sagte, stellte er die Büchse beiseite und griff in die Jackentasche …

Und – ich machte diese Handbewegung genau mit …

Wir beide hatten plötzlich unsere Clementpistolen im Schoße, und ebenso plötzlich schrie die angebliche Miß Baacer vor Schreck leise auf …

Harst lachte gutmütig …

„Miß, ich weiß ja nicht, wer Sie in Wahrheit sind … Aber daß Sie niemals Gwendolin Baacer heißen, nehme ich als gewiß an … Sie sind ein Werkzeug Lewis Ballands … Sie sollten uns diesem Manne in die Hände spielen … Was nun leider vorbeigelungen …!“

Die Miß jedoch … lachte ihm jetzt ins Gesicht …

Denn über alledem hatten wir auf den Kurs des Bootes nicht genau achtgegeben …

Es war mit einem Male in eine enge Wasserrinne des auch hier noch felsigen Gestades hineingeglitten …

Der Motor stoppte …

Die Miß lachte …

Und einer der Inder hatte bereits einen Bootshaken in das Geröll gestoßen …

Das Boot lag still …

Hinter ein paar großen Steinen hervor sahen wir … fünf Büchsenläufe auf uns gerichtet …

Die Miß meinte höhnisch:

„So, Mr. Harst, – habe ich die Sache wirklich so unbegabt angefangen?“

Harald schob die Clement in die Tasche zurück …

„Nein, Sie haben Ihre Sache doch leidlich gut gemacht … Wir haben keine Lust, uns niederknallen zu lassen … Wir ergeben uns …“

Und das war in dieser Lage allerdings notwendig …

Sehr notwendig … Fünf Gewehre – und die Schützen tadellos in Deckung – Das war eine zu ungleiche Partie …!

 

4. Kapitel.

Harst, der ungalante …

… Zu ungleiche Partie …

Und daher ließ ich ebenfalls meine Clement in der Tasche verschwinden …

Im selben Augenblick erhoben sich die fünf verborgenen Gegner …

Es waren sämtlich Inder …

Aber Inder von mittelgroßer gedrungener Figur und schmalen Gesichtern …

Gesichtern, wie die beiden Leute im Motorboot sie gleichfalls besaßen und wie wir einen ähnlichen Gesichtsschnitt bei der Enkelin des Yogi schon bewundert hatten …

Die fünf Farbigen stiegen ins Boot … die Gewehre stets schußbereit … Verneigten sich tief vor der strohblonden dicht verschleierten Miß …

Und – ich bemerkte da in Haralds Antlitz einen Ausdruck ungläubigen Staunens …

Schon hatte die Miß die Schleier gelüftet …

Fuhr mit einem feinen Batisttüchlein über das stark gepuderte Gesicht …

Die Miß … hatte hellbraune Haut … Die Miß … war eine Inderin …

„Ah – die Rani von Gwala …!“ sagte Harald und verbeugte sich …

Ich tat dasselbe …

Ich war geradezu wie vor den Kopf geschlagen … Sicherlich habe ich in dem Moment recht blöde dreingeschaut.

Die Fürstin ließ die Schleier wieder fallen …

Das Boot glitt in den Fluß zurück …

Und die Rani rief ihren Leuten ein paar Worte zu – einen Befehl …

Dann zu uns – in demselben tadellosen Englisch, nur herrisch und fast hochmütig:

„Sie befinden sich hier bereits in meinen Lande … Ein Zipfel meines kleinen Fürstentums reicht bis über den Fluß hinaus … Sie werden sich ohne Gegenwehr fesseln lassen …“

Harald lächelte …

„Rani Raßmalar, ich habe bereits mancherlei über Sie gehört und gelesen … Nicht viel Gutes … Sie sind eine indische Despotin, wie es keine zweite gibt … Lord Wilford nannte Sie kürzlich „den weiblichen Nero“ Indiens … – Aber – mir sind Sie doch nicht gewachsen, o Rani …! Ich pflege zu warten, bis sich Gelegenheit bietet, eine Scharte auszuwetzen … Sie gestatten …!!“

Und – das war wieder einmal ganz Harst: er packte zu … hatte das schlanke junge Weib auf dem Schoß …

Preßte sie an sich …

Und – ich, ein gelehriger Nachahmer des Freundes, war ebenso ungalant …

Packte zu … hielt der Fürstin Beine an meinen Leib gedrückt: als Schild …

Und mit der Rechten heraus die Clement …

Wie Harald …

Der schon den Indern zurief:

„Legt die Gewehre weg … – sofort!“

Und – – feuerte …

Zur Warnung … Traf genau den Kolben einer der Büchsen …

Dem Inder flog die Waffe aus der Hand – in den Fluß …

Noch war die Fürstin wie gelähmt über den frechen Angriff …

Noch lag sie still – von Haralds linkem Arm umschlungen – von mir umklammert …

Dann kam Leben in den sehnigen geschmeidigen Körper …

Aber ein Harst scherzt nicht …

„Liegen Sie still!“ fuhr er die Fürstin an … „Ich schlage Ihnen den Pistolenkolben vor die Stirn, wenn Sie sich nicht ruhig verhalten …!“

Sie … lag still …

Der Schleier hatte sich verschoben … Ich sah ihr Gesicht … Es war von einer Färbung jetzt, die geradezu unbeschreiblich …

Die Reste von Puder auf dem hellbraunen Gesicht konnte die Erdfarbe der Wangen nicht völlig verdecken – jenes schmutzige Grau, das bei den dunkel getönten Rassen das Erbleichen ersetzt …

Die ohnmächtige Wut über diese schmachvolle Behandlung hatte ihr alles Blut aus dem Antlitz gedrängt … Sie zitterte … Die Augen flammten … Sie, die Rani von Gwala, sie, die Despotin Raßmalar, hier von zwei verhaßten Europäern wie eine Verbrecherin angepackt …!!

Niemals hatte sie derartiges für möglich gehalten … Niemals hatte sie mit einem so rücksichtslosen energischen Angriff auf ihre Person gerechnet!

Und ihre Leute?!

Ihre Leute, die auf uns nicht zu schießen wagten, weil sie allzu leicht die Rani hätten treffen können, hatten die Büchsen wirklich niedergelegt …

Standen gleichfalls wie erstarrt vor Wut und Entsetzen …

Stierten auf die Fürstin – aus schillernden Augen – zusammengeduckt wie die wilden Bestien – ebenfalls aschgrau im Gesicht – prachtvolle Kerle, sehnig, männliche Züge – eben Gwali, die ihr Bergland bisher mit zäher Tapferkeit gegen britische Bevormundungsversuche verteidigt hatten …

Und das Boot war nun, da niemand das Steuer handhabte, mit voller Kraft in ein Schilffeld hineingerast …

Der Motor arbeitete weiter, bis die Wasserpflanzen sich mit zähen Ranken um die Schraube legten … bis einer der Inder den Motor abstellte …

Über mannshohe Schilfstengel ringsum … Eine Mauer von schlankem wogenden Röhricht … Wildenten stiegen mit lautem Geschrei empor … Mit trägen Flügeln strichen zwei Marabus davon …

Harst rief den Gwalis zu:

„Dort liegt ein angetriebener Baumstamm … Springt über Bord … Verschwindet …!“

Seine Clement drohte …

Die meine half …

Die braunen Knappen der Fürstin zauderten …

Peng – peng … – Harald hatte zwei Schüsse abgegeben … Zwei schmierige Turbane wirbelten durch die Luft …

Die Gwali hüpften ins Wasser – sehr zögernd … Das Badebedürfnis ist bei diesem Bergvolk nicht allzu groß … Die Kerle stanken bis zu uns hin …

Wateten zu dem Baumstamm … Schoben ihn aus dem Schilf hinaus … Hingen daran – ruderten mit der freien Hand …

Einer von ihnen, sauberer gekleidet, mit ergrautem Patriarchenbart, brüllte eine Drohung in einem elenden Kauderwelsch …

Dann verschwand der treibende Baum hinter dem Inselchen …

„Dein Taschentuch, mein Alter …“ sagte Harald …

Ich verstand … Mein Taschentuch gab eine schmerzlose Fessel für die zarten Handgelenke der Rani …

Schweigend duldete sie alles. Nur ihre Augen redeten eine klare Sprache unendlichen Hasses …

Dann saß sie aufrecht da …

„Schraut, bewache die Fürstin,“ befahl der Freund auf englisch. „Ich werde das Boot flott machen und die Schraube in Ordnung bringen …“

Er ergriff den Bootshaken …

Die Wasserpflanzen waren jedoch so fest um die Schraube geschlungen, daß er über Bord steigen mußte. Das Wasser reichte ihm bis zum Gürtel …

Dann drückte er das Boot aus dem Schilfe heraus, schwang sich empor und warf den Motor an …

Langsam glitt das Boot stromaufwärts … Wir hatten die Rani zwischen uns genommen – ganz dicht, wieder als Schutzschild gegen heimtückische Schüsse vom Ufer her …

Harst steuerte … Ich hatte die Augen überall …

Die Sonne sank bereits … Es wurde abend …

Dann rechts eine seeartige Erweiterung des Flusses – eine enge Einfahrt …

Das Boot glitt hinein … Scharen von Wasservögeln umschwärmten uns … Der Dschungel reichte hier bis dicht an die Ufer … Ein schwarzer Tigerleib schnellte von einem niederen Ast ins Gestrüpp, ein flüchtender Panther, der dort auf der Lauer gelegen hatte …

Und mitten in dieser kleinen Lagune ein grüner Fleck, von grauem Gestein überragt … – eine Insel – kaum ein Inselchen, eine Klippe nur, von Gebüsch und Röhricht umrankt, aber steil und gut acht Meter hoch …

Nach Norden zu fanden wir eine lichtere Stelle im Schilf, landeten, banden das Boot fest. Harald erkletterte den Felsen, kehrte sehr bald zurück …

„Oben gibt es eine Vertiefung – einen bequemen Lagerplatz, mein Alter … Dort werden wir über den nächtlichen Fiebernebeln ruhen können … Trotzdem nehmen wir jeder eine Dosis Chinin …“

Bisher hatte er zu der Rani nicht mehr gesprochen …

Jetzt wandte er sich zu der reglos und halb zusammengesunkenen Gestalt …

„Rani Raßmalar, Sie werden uns folgen … Mit gebundenen Händen kommen Sie nicht auf den Felsen hinauf … Ich warne Sie …“

Er nahm ihr das Taschentuch von den Handgelenken …

Sie schaute an ihm vorüber … Wir waren Luft für sie … Ein unendlicher eisiger Hochmut sprach aus ihren starren Zügen …

Harald knotete an die Bootskette des kleinen Fahrzeugs eine Leine. Und die Leine zog er hinter sich her … Ich mußte vorangehen … Der Anstieg war stellenweise schwierig.

Oben eine Plattform von fünf Meter im Quadrat. In der Mitte ein tiefer gewölbter Riß im Gestein …

Oben wurden der Rani wieder die Hände auf dem Rücken gefesselt …

Ein kühler Wind kam von den Gwala-Bergen herüber, hinter deren schroffen Höhenzügen die Sonne längst untergetaucht war …

Harald kletterte noch dreimal zum Boote hinab, brachte die Büchsen der Gwali, ein Segel, zwei Bootshaken, unsere Rucksäcke und einige Baumäste.

So wurde aus diesem Segel, den Bootshaken und Ästen in dem tiefsten Winkel der Einbuchtung für die Fürstin ein Zelt errichtet, Decken hineingelegt …

Die Dunkelheit kam … Und die Nebelschleier wallten unten über der Lagune in immer dichteren Schwaden …

Die Rani saß jetzt nach Art der Orientalinnen in ihrem Zelte, dicht am Eingang … Speise und Trank lehnte sie wortlos ab …

Unser Spirituskocher war in Tätigkeit …

Die Romantik dieser Situation wirkte bei mir … Ich vergaß die Gefahr und freute mich des Bildes ringsum … Ein Nebelbild …

Nichts als warme übelriechende Dunstmassen umlagerten den Felsen … Man ahnte nur den Fluß, die Lagune … Man hörte nur das Vogelvolk und schrille Jaulen eines Panthers …

Wie in einer Wüste … Als ob unter uns ein endloses Sandmeer sich erstreckte …

Als wir gegessen und getrunken und jeder eine Kapsel Chinin als Vorbeugungsmittel geschluckt hatten, als Harald die Leine, die von der Kette und vom Boote bis hier nach oben reichte, noch straffer gespannt und an einen Stein gebunden hatte, der umfallen mußte, sobald man unten etwa an der Kette zog, zündete er ein kleines stark qualmendes Feuer an, damit die gefährlichen Stechmücken verscheucht würden … Die rötliche Glut umspielte der Rani stolzes junges Gesicht …

Sie war noch jung, die Herrin der Gwala-Berge … Und schon seit Minuten grübelte ich darüber nach, wo ich dies Gesicht bereits gesehen haben könnte …

Gewiß – im Hotel d’Angleterre in Bombay … Dort aber hatte die Fürstin unter der dicken Schicht Puder und dem leichten weißen Schleier mir nur ihr maskiertes Antlitz flüchtig gezeigt … Dort hatte Harald sie für eine Spionin Lewis Ballands[2] gehalten … Und das war ein Irrtum gewesen …

Ein Irrtum, der jetzt seine Aufklärung fand …

 

5. Kapitel.

Das Mädchen ohne Namen.

Romantik …

Ja – es gibt schon Stunden in unserem abenteuerlichen Leben, über die ein Dichterlingherz wie das meine sich freut …

Über alles Außergewöhnliche freut es sich … Nur nicht den Alltagstrott mitmachen, nur nicht Spießbürgerstumpfsinn … nur nicht daheim hinter dem Ofen hocken und mit Fliegenklatsche armselige Brummer jagen …! Dann schon lieber ein Loch im verehrlichen Kadaver riskieren und … Verbrecher jagen oder ähnliche Herrschaften …

Wie hier die Rani von Gwala …

Und zu der sprach Harald nun:

„Rani Raßmalar, ich bitte Sie, mir einige Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten … Sollten Sie stumm bleiben, so werde ich Sie morgen mit nach Bombay nehmen und dem Gericht übergeben. Sie haben uns beide überfallen, mit dem Tode bedroht … Sie haben keinerlei Anlaß dazu gehabt … Sie wissen wohl, daß in Bombay vor kurzem ebenfalls ein indischer Fürst, der seine Geliebte ermorden lassen wollte, durch die polizeilichen Ermittlungen arg kompromittiert worden ist … Auf Ihre Person ist man überhaupt schon schlecht zu sprechen, Rani Raßmalar … Sie regieren dort in Ihren Bergen noch allzu mittelalterlich … – Wie gesagt: Sie haben die Wahl: entweder antworten Sie oder – Sie sind von morgen eine Gefangene …“

Der rötliche Flammenschein zuckte über der Rani steinernes Antlitz …

Es kostete die Fürstin offenbar ungeheure Überwindung, zu antworten …

„Fragen Sie …!!“ – Herrisch klang es … Sie schaute nicht auf …

„Weshalb kamen Sie heimlich und verkleidet nach Bombay, das Sie bisher nie oder doch nur in inkognito besucht haben? Weshalb ins Hotel d’Angleterre …“

„Um Sie zu beobachteten …!“

„Danke … – Und weshalb dies Interesse für meine Person?“

Schweigen …

„Bitte!!“ mahnte Harst …

Schweigen …

„Ah – Sie wollen nicht lügen, Rani Raßmalar … Immerhin ein anerkennenswerter Charakterzug … Darf ich Ihnen dann den Grund nennen?! Ihre Spione waren bereits in der Umgebung der Tempelruine tätig, als wir das erste Mal dort weilten … Und weil Sie dann merkten, daß wir dem Manne am Brunnenbalken mehr Beachtung schenkten als Ihnen lieb sein konnte, haben Sie sich überzeugen wollen, ob unser Interesse für den Toten rege genug sei, nochmals nach der Ruine zurückzukehren … – Kurz, Sie wußten, daß wir jetzt in der Tempelhalle übernachteten … Ihre Spione mögen auch belauscht haben, daß wir … – Doch nein, ich will nicht zu ehrlich sein, Rani Raßmalar. Das ist Ihnen gegenüber kaum angebracht. Sie sollen im ungewissen bleiben, was ich weiß, und was ich nicht weiß …“

Der schmale rassige Kopf der Rani von Gwala hob sich langsam …

Sie schaute Harald an …

Ich habe wiederholt glitzernde Schlangenaugen im Lichtschein einer Taschenlampe gesehen … Schlangenaugen haben stets etwas Unheimliches an sich …

Diese Augen der Fürstin glichen in diesem Moment denen einer Kobra …

Und mit unendlichem Hohn und unendlichem Hochmut sagte sie:

„Sie wissen gar nichts und werden nie Gelegenheit haben, dieses Nichts zu ergänzen … Sie haben mit einem namenlosen Mädchen im Tempelhofe gesprochen und miterlebt, daß ein Yogi lebendig ward … Sie haben kurze Zeit einen Edelstein und einen Goldreif in Ihrem Besitz gehabt … Und – das ist der Schluß Ihrer Weisheit, Mr. Harst … Für immer …!!“

All das, was in ihrer Haltung und in dem Ausdruck ihrer Züge bisher auf ohnmächtige Wut hingedeutet hatte, war jetzt mit einem Schlage verschwunden …

Woher diese jähe Veränderung?! Woher der Mut dieses Weibes, so zu einem Harald Harst zu sprechen?!

Ich wurde argwöhnisch …

Und blickte auf Harald …

Der hatte den Kopf wie angestrengt lauschend etwas zur Seite geneigt …

Ich hörte nur den Lärm der Wasservögel …

Diese vielfachen Vogelstimmen, die unaufhörlich in mißtönendem Chor durch die Nebeldünste drangen …

Und vernahm dann doch einen fremden Laut … – wie die schrillen Rufe des indischen Regenpfeifers …

Harald nickte mir zu …

Und sagte auf deutsch:

„Die Leute der Fürstin haben uns hier entdeckt … Ich habe damit gerechnet … Es ist nicht weiter schlimm … Dieses Abenteuer durfte doch nicht wie schales Bier werden … Wir können die Wahrheit nur ermitteln, wenn wir einige Gefahren auf uns nehmen …“

Nun – ehrlich eingestanden: diese Aussicht auf „einige Gefahren“ entzückte mich keineswegs …

Wenn ich dies Medusenantlitz der Rani sah, wenn ich mich daran erinnerte, wie wir Ihre Hoheit (denn dieses Prädikat war ihr von der englischen Regierung eingeräumt worden) behandelt hatten, dann … konnte mir niemand verargen, daß ich jetzt Harald ebenfalls in unserer Muttersprache zuraunte:

„Das Weib wird uns kaltblütig ermorden …!! Überlege Dir genau, ob Du …“

Er winkte ab …

Und – fast im gleichen Augenblick polterte der Stein herab, um den das Seil geschlungen war …

Harst sprang auf … packte das Seil und zog es mit jähem Ruck scharf an …

Aus der Nebeltiefe ein kurzer Schrei – ein Plätschern im Wasser …

Es gehörte nicht allzu viel Phantasie dazu sich auszumalen, daß dort unten ein Mensch durch die Bootkette ins Wasser geschleudert war …

Harst hielt das Seil straff in den Händen …

Beobachtete die Rani … Befahl mir:

„Schieße zweimal in der Richtung des Bootes … Sie sollen merken, daß wir auf dem Posten sind …“

Ein Zufall war’s, daß die feuchten Holzscheite unseres Feuers gerade da zusammensanken und daß es für Sekunden dunkel wunde … Dann sprühte die Glut wieder auf …

Mißtrauisch blickten wir in das Zelt …

Nein – nicht in das Zelt …

Denn der Zipfel des Segels, der als Vorhang bisher hochgesteckt gewesen, war jetzt herabgefallen …

Ich war mit einem Satz vor dem primitiven Spitzzelt …

Riß das Segel beiseite …

Leer …

Leer … keine Spur von der Rani … Aber in der Rückwand klaffte ein meterlanger Schnitt …

Harst kam … Ein Ruck: der ganze Zeltbau flog zusammen …

Dann kroch er bis zum Rande des Felsens, der gerade hier nach Süden schroff abstürzte …

Wandte den Kopf, nachdem er einige Zeit gelauscht hatte …

„Unbegreiflich, mein Alter …! Sie kann doch unmöglich in die Tiefe hinabgesprungen sein …! Höchstens – – man hat hier etwa einen entästeten Baum gegen den Felsen gelehnt … Sie könnte so hinabgeklettert sein … Doch – ich sehe nichts von einem Baum … Und in den wenigen Sekunden wird sie wohl kaum bis unten gelangt …“

Schwieg …

Eine Stimme aus der Tiefe …

Die Rani – – wirklich die Rani …

„Auf Wiedersehen, Mr. Harst …! Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht …!“

Harald hatte sich aufgerichtet …

Die Vogelkolonie der Lagune geriet jetzt in einen Aufruhr, als ob dort unten hinter der Nebelschicht der Teufel hauste …

Der Lärm der zahllosen gefiederten Bewohner dieses toten Seitenarmes des Flusses übertönte alles …

Wildenten schossen aus den stinkenden Fieberschleiern empor und flüchteten …

Das ganze geflügelte Getier riß aus …

„Mehrere Boote …“ meinte Harald achselzuckend … „Eine ganze Heeresmacht …! Nun – noch sind wir hier sicher … Wir haben die Gewehre, unsere Pistolen … Ich werde die Nordseite bewachen … Nur von dort kann ein Angriff erfolgen … Zerschlage die Äste … Hinein damit ins Feuer … Wir brauchen Licht … Jetzt, wo wir die Fürstin nicht mehr als Geisel für unser Leben …“

Wieder brach er mitten im Satz ab …

Das flüchtende Vogelvolk war in der Ferne verschwunden … Und jetzt hörten wir … Schüsse … dumpf – ganze Salven … von unten … Aber nicht eine Kugel pfiff über unsere Felsplattform hinweg … Nur in der Tiefe vornahmen wir das Rieseln und Rollen losgesprengten Gesteins …

Ebenso jäh verstummte die scheinbar zwecklose Schießerei …

Wir standen … alle Nerven, Muskeln gespannt … Unwillkürlich griffen die Hände in die Jackentaschen … nach den treuen Pistolen …

Stille … atemraubend … Und nervenpeinigend …

Dann – – hinter uns – von dort, wo das Zelt noch soeben sich erhoben, wo noch die Decken lagen, aus denen die Rani Raßmalar mit untergeschlagenen Beinen als Statue gesessen, ein Geräusch …

Wir starrten hin … Die Decken bewegen sich, werden emporgehoben … Eine Steinplatte fällt zur Seite …

Ein Kopf erscheint aus einer uns unbekannten Spalte.

Ein Kopf – – der des Mädchens ohne Namen …

Die Enkelin des Yogi …

Ihre Halsketten schillern …

Sie sinkt vornüber …

Harst zieht sie vollends aus dem schmalen Loche …

Ich lege die Steinplatte wieder über die Öffnung … Sehe noch, daß dort eine hölzerne Leiter undeutlich mit gelbweißen Sprossen schimmert … Und kenne nun den Fluchtweg der Rani …

Drehe mich um …

Harst hält den Kopf einer Sterbenden in den Händen …

Die junge Inderin stößt mit letzter Kraft hervor:

„Raßmalar, o Sahib, meine …“

Und – ihre Stimme wird zum Gurgeln … Ein Blutstrom … – das Ende … –

Und – – all das dreißig, vierzig Meilen nordöstlich einer Riesenstadt, wo elektrische Bahnen in Eisenschienen dahingleiten, wo an den Hafenkais die modernsten Elevatoren arbeiten, wo Europas Kultur sich mit orientalischem Zauber zu seltsamstem Bilde mischt …

Dort das Leben einer Weltstadt …

Hier – – die blutige Romantik der Wildnis …

Indien – – Indien …!!

 

 

Das Schlangental.

 

1. Kapitel.

Und nochmals Stein und Ring …

Harald ließ den Kopf der Toten sanft auf den Boden gleiten …

„Entflohen und erschossen …“ sagte er … „Armes Kind …! Wer die Tragik Deines Lebens völlig kennt, würde vielleicht vor Entsetzen über die Verderbtheit der Welt … in ein Kloster gehen …“

Wenn jemals ein Ausspruch Haralds – und derartige Redensarten, die aus dem Munde anderer wie eine lächerliche Banalität klingen, haben bei ihm stets eine tiefere Bedeutung – wenn mich je etwas wunderte, dann war es dieser kurze Hinweis auf die vollkommene Schuldlosigkeit dieses braunen Mädchens …

Verderbtheit der Welt …!! – Wie war das wohl anders aufzufassen als in der Art, wie ich es tat?!

Ich starrte auf die Tote hinab …

Jetzt hatten ihre Züge einen Ausdruck überirdischen Friedens angenommen … Jetzt war nichts mehr von der wilden Angst und dem grauenvollen Flehen um Hilfe in diesem schmalen Antlitz …

Und – wem, wem nur ähnelte die junge Inderin – wem?!

So stand ich in mich versunken da …

Neben mir der Freund, dessen heller Geist vielleicht bereits die Tragik dieses armen Geschöpfes durchschaut hatte …

Dann – die Gegenwart …

Ein Wort Haralds warf mich zurück aus zwecklosem Sinnen in die rauhe gefährliche Welt der Wirklichkeit …

„Das … Boot!“ sagte er nur …

Und ich hörte das Rattern eines Motors …

Aus den Dünsten der Wildnis kam das Geräusch empor zu uns wie ein Gruß einer anderen Welt – zu uns dreien, zwei Lebenden, einer Toten …

Zu uns, die wir gleichsam über allem Irdischen schwebten … auf Wolken, aus einem steinernen Floß, das von Geisterhänden durch ein Wolkenmeer getragen wurde …

Da erst dachte ich wieder an die entflohene Fürstin, an die zahllosen Schüsse, die zahllosen Feinde, die uns umlauern mußten …

Da erst …

Aber das Rattern des Motors entfernte sich … erstarb in der Ferne – nach dem Flusse zu …

Harald hatte das Seil gepackt …

Das Seil, das jetzt nicht mehr an der Kette des Bootes festgebunden sein konnte, das sich also unschwer emporziehen lassen mußte …

Harst … zog …

Zog wie jemand, der eine schwere Last emporschafft …

Das Seil rieb sich an den Rändern unseres Felsens … Steinstücke polterten herab …

„Holz auf das Feuer!“ rief Harald …

Und die Glut lohte höher …

Da hob er auch schon ein langes Bündel an dem Rest des Seiles über den Rand des Gesteins …

Ein langes Bündel …

Legte es nieder – neben die Tote ohne Namen …

Ein Etwas, das in eine bunte indische Wolldecke eingebunden war …

Karbolgeruch umwehte mich plötzlich … Und die Nase, der Geruchssinn war diesmal der Vermittler rascher Erkenntnis: der Yogi – – der Großvater der erschossenen jungen Inderin …!

Harst trat zurück …

Öffnete seinen Rucksack, hatte schon die kleine Reiseapotheke geöffnet, träufelte sich Flüssigkeit aus einem Fläschchen auf die Finger, desinfizierte sich …

Der – – Aussätzige …!! Ansteckungsgefahr …!! Lepra – – entsetzliche Seuche, jahrelanges Hinwelken, Verfaulen am lebendigen Leibe …!

Mir rann es eisig über den Rücken …

Lepra …!! Der Yogi …!!

Ob man auch ihn gemordet hatte?!

Harald wandte sich mir zu …

„Mein Alter, die Rani Raßmalar läßt uns nicht Zeit, auch nur Atem zu holen … Immer wieder hat sie neue Überraschungen bereit …!“

Das Bündel regte sich nicht …

Aber – war das etwa ein Beweis, daß der Yogi wirklich tot?!

Ein Yogi kann am Brunnenbalken in einer Schlinge hängen – tagelang …

Und lebt!

Wir wußten es … –

„Wir müssen die Decke öffnen,“ meinte Harald … „Bei einiger Vorsicht entgehen wir der Ansteckungsgefahr …“

Nochmals besprengte er seine Hände mit Lysol …

Zerschnitt dann die Stricke, die das Bündel zusammenhielten …

Es war der Yogi …

Starr – wie tot …

Ein Anblick beim unsicheren Schein der züngelnden Flammen – ein gräßlicher Anblick, diese Reste von Mensch …

Harald beugt sich tiefer …

Erhebt sich wieder …

„Wer will nun sagen, ob aus diesem Leibe das Leben bereits entflohen?! – Berühren darf ich ihn nicht … Ich kann nur eins …“

Und er träufelt nochmals Lysol über die Finger …

Nimmt nun aus dem Rucksack das kleine Streufläschchen mit Pfeffer …

Bückt sich …

Die zerfressene Nase des Yogi bestäubt er …

Erwartet von dem starken Reiz auf die Nasenschleimhäute ein Mittel gegen den vielleicht bestehenden starrkrampfähnlichen Zustand …

Ein Irrtum …

Der Yogi rührt sich nicht … – Haben wir nun zwei Tote hier auf dem Plateau oder eine Tote und einen in tiefem Schlafe der Selbsthypnose Befindlichen?!

Wir wissen es nicht … Wir fühlen aber beide, daß wir den Fakir, diesen armen Aussätzigen, nicht länger neben uns dulden können …

Harald schnürt die Decke um die kläglichen Überreste eines Mannes, der uns beiden in allem fraglos weit überlegen …

„Wir werden ihn vorsichtig in das Felsloch hinablassen,“ meint er und besprengt von neuem seine Hände. „Wir geben der Rani das unheilvolle Geschenk zurück …!“

„Einen Angriff befürchtest Du nicht?“ frage ich mit einiger Sorge.

„Nein … Sie werden sich hüten … Sie brauchen kein Menschenleben zu opfern … Sie werden uns hier … aushungern, mein Alter, falls wir eben nicht fliehen können … Versuchen wollen wir’s …“

Ich lüfte vorsichtig die Felsplatte, leuchte mit der Taschenlampe hinab …

Der unregelmäßige Schacht geht senkrecht in die Tiefe … Die Leiter ist jetzt verschwunden … Unten, wo die Spalte sich grottenartig zu erweitern scheint, nichts Verdächtiges …

Wir kürzen das Seil, so daß uns noch etwa sieben Meter für unsere Zwecke verbleiben. Dann senkt sich das Bündel etwa bis zur Hälfte des Schachtes. Sollte der Yogi doch nicht tot sein, so wird er unschwer sich befreien können.

Die Steinplatte liegt wieder über der Öffnung …

In einem Winkel der muldenartigen Vertiefung betten wir die junge Inderin zur letzten Ruhe. Die Hälfte des Segelleinens wird ihr Bahrtuch. Dann häufen wir Steine und Geröll behutsam über die Leiche, bauen eine Art hohlen Hügels …

Es ist jetzt ein Uhr morgens …

Und was haben wir in diesen Stunden hier oben auf dem Felsen alles erlebt …!!

Noch immer schwimmt unter uns das Nebelmeer mit grauen Schwaden …

Hin und wieder erscheinen Züge von Wildenten, wollen zurückkehren zum gewohnten Brutplatz, schießen in die Fieberschleier hinein und … kommen wieder in wilder Flucht emporgetaucht …

Die Lagune ist von Menschen besetzt … Der beste Beweis. Das Vogelvolk flüchtet aufs neue …! – Gwali sind’s – – Knappen der Rani, wilde Bergbewohner, kampferprobt …

Ich wünsche insgeheim, daß auch wir Flügel hätten … Dann fliehen – vielleicht mitten durch bemannte lauernde Boote?! –

Harald … bückt sich plötzlich …

Und auch ich habe da am Boden zwischen dem Geröll – dort, wo die Tote gelegen, wo das bedauernswerte Kind gestorben, etwas funkeln sehen … gleißen, sprühen …

Harst … hebt … den Ring empor … Hält ihn zwischen den Fingerspitzen. Der Edelstein ist jetzt eingefügt …

„Sie hat den Ring in der Hand gehabt,“ sagt Harst leise … „Nun haben wir ihn abermals in Besitz, diesen Ring des Unheils … Mir ist, als ob das ganze Geheimnis dieses Yogi und seiner Enkelin sich um das uralte Schmuckstück mit den eingravierten Schriftzeichen dreht. Ich kann mich täuschen … Vielleicht ist’s ein Ring, der zu dem Fürstengeschlecht der Beherrscher der Gwala-Berge irgendwie in Beziehung steht[3] …“

Und er steckt den Ring in die innere Tasche seiner Weste …

Nimmt das Stück Leine, das uns über die Steilwand hinab in das Gestrüpp am Fuße der Klippe tragen soll …

Er knotete das eine Ende um den Bootshaken und drückt diesen in eine tiefe Ritze des Gesteins.

Wir schultern unsere Rucksäcke …

„Ich klettere voran … Wenn ich dreimal an dem Seil rucke, folgst Du mir …“

Ich nickte nur …

Über uns der tropische Sternenhimmel – eine funkelnde Pracht …

Und Harald taucht hinein in die Nebelschwaden …

Auch sein Kopf verschwindet … Ich bin allein …

Wieder stößt ein Schwarm Enten aus den grauen Schleiern flüchtend nach oben …

Unten … die Feinde …

Ich halte die Finger an dem straff gespannten Seil …

Warte …

Vorhin spürte ich minutenlang eine lähmende Müdigkeit … Jetzt regen die Nerven sich …

Ich denke daran, wie schwer es sein dürfte, in Kleidern und mit dem Rucksack zu schwimmen …

Warte …

Die Nerven melden sich stärker … Ich fiebere fast …

Endlos langsam verrinnen die Minuten … Ich glaube Geräusche in der Tiefe zu hören … Es sind nur Täuschungen …

Dann – – drei Rucke …

Hinab also …

Auch ich verschwinde in dem übelduftenden Dunst der fieberschwangeren Wildnis …

Lande unten …

Kaum zwei Schritt weit kann man sehen … Eine Hand ergreift die meine …

„Schritt für Schritt …!“ raunt Harald …

Zieht mich vorwärts …

Nasse Zweige streichen über mein Gesicht …

Vorsichtig setze ich den Fuß auf Steine und weichen Morast …

Dann wieder des Freundes Stimme:

„Achtung, hier liegt das Boot, das ich … geliehen habe …“

Ich fühle den Bootsrand …

Ein Bretternachen …

Hinein …

Harsts Gestalt nimmt im Nebel Riesenmaße an …

Lautlos taucht er das plumpe Blattruder ein … Lautlos gleitet der gestohlene Kahn …

Mein jagendes Herz beruhigt sich …

Die Rettung winkt … Wir werden entkommen …

Um uns her das graue Nichts und Stille …

Seltsam erscheint diese Stille – unheimlich …

Weiter schleicht der Nachen … Das Wasser am stumpfen Bug plätschert kaum …

Ich hocke am Boden … Schätze: acht Meter sind wir bereits von dem Felsen entfernt …

Zehn Meter jetzt …

Noch mehr … – elf, zwölf Meter … – mindestens …

Gerettet … frei …!! Frei, um der Rani Raßmalar beweisen zu können, daß Harst und Schraut selbst in die Gwala-Berge einzudringen wagen …

Und da geschieht das nie Geahnte:

Neben dem Bretterkahn schießen nackte Schwimmer aus dem Wasser – schnellen sich empor wie Forellen die nach Insekten schnappen …

Reißen Harst zu Boden …

Rückwärts schlägt er nieder … Halb über mich …

Eine Holzkeule kracht auf meinem Schädel … Gesegnet die Sportmütze: ohne sie wäre mein Hirn für alle Zeit endgültig ramponiert gewesen!

 

2. Kapitel.

Der Kobrazahn.

Es gibt angenehmeres Erwachen aus langer Bewußtlosigkeit als das uns von einem mißgünstigen Schicksal bescherte … Damals in den Gwala-Bergen, im kahlen Gebirgstal …

Es gibt Weiber, deren schlanker, junger Leib, deren schmales, rassiges Gesicht eine Teufelin birgt …

Es gibt für jeden Menschen Stunden, die er nie wieder erleben möchte, die selbst in der Erinnerung nach Jahren nichts von ihrer Furchtbarkeit einbüßen … Ein eherner Griffel gräbt all die Einzelheiten gleich tiefen Wunden in unser Gedächtnis ein … Wunden, die nie verheilen … –

So war es damals, als wir, eng nebeneinander an einen in die Erde gerammten Pfahl gefesselt, wieder zum Bewußtsein kamen …

Ein Erwachen, das ganz allmählich erfolgte … Bei dem der Geist nur allmählich äußere Eindrücke verarbeitet …

Und diese Eindrücke waren derart, daß sie im Moment zu drohender Gewißheit wurden, sobald sie nur die Schwelle des Bewußtseins überschritten hatten …

Ein Blick ringsum …

Ein Stutzen …

Traum – – Fieberdelirien?!

Ich schließe wieder die Augen …

Öffne sie …

Dasselbe Bild: Schlangen – – fünf Kobras – ausgewachsene Brillenschlangen, mit dünnen Lederriemen an Pflöcke gebunden …

Ein Halbkreis von Schlangen …

Giftzähne bewachen uns … Nicht einmal die Füße können wir vollkommen ausstrecken …! –

Harst ist wach … Mein Schädel ein Sammelpunkt der verschiedensten Schmerzempfindungen … Meine Augen tränen … In den Ohren klingt das Blut wie Waldesrauschen …

Und doch: wir leben! Noch leben wir …!! – Mir fällt die Rani ein … noch leben wir …

Die halb verschleierten Blicke prüfen die weitere Umgebung: die Zelte, die weidenden Dromedare, die bewaffneten Inder …

Zu viel der Eindrücke sind’s …

Ich spüre einen neuen Ohnmachtsanfall … Das Tal, die Zelte – alles kreist um meine Person …

Den Anfang verstehe ich nicht …

Und seine Stimme reißt mich zurück vom Rande des Abgrundes abermaliger Bewußtlosigkeit …

Er spricht laut und energisch …

Den Anfang verstehe ich nicht …

„… Sie würden es büßen, Rani Raßmalar … Harst und Schraut werden gesucht werden. Wir haben Freunde, die ihr Leben für uns wagen – zum Beispiel Detektivinspektor Perkins in Bombay …“

Ein schrilles Lachen …

Vor dem Zelte links von uns steht die Fürstin, neben sich einen Panther an goldener Kette … Gekleidet in ein halsfreies buntseidenes Phantasiegewand, in dem die rote Farbe vorherrscht …

Merkwürdig, wie europäisch der Gesichtsschnitt der Rani ist … Dasselbe fiel mir bereits bei der namenlosen Inderin auf …

Sie lacht … Ein unendlich hochmütiges, haßerfülltes Lachen …

Erwidert dann:

„Glauben Sie etwa, Mr. Harst, daß England Ihretwegen gegen mich einen Feldzug unternehmen wird?! Heute – wo Indien einem offenen Pulverfasse gleicht?!“

Und sie läßt sich auf dem kostbaren Gebetteppich neben dem Zelteingang nieder …

Der schwarze Panther faucht nach Katzenart … Die Kobras kriechen hin und her – stetig sich mühend, die Lederschlinge loszuwerden …

Und wenn sie die Riemen nach uns hin straff spannen, sind ihre gefährlichen stumpfen Giftschlangenköpfe nur noch Zentimeter von unseren an den Leib gezogenen Füßen entfernt …

Ein Wunder, daß sie uns nicht längst gebissen haben, als wir bewußtlos in den Stricken hingen … mehr als ein Wunder …

Meine Gedanken hasten … In Sekunden überschaue ich die ungeheure Grausamkeit dieser Folter …

Wie lange werden wir uns wach erhalten, wie lange den Schlaf verscheuchen können, damit wir nicht schlafend die ungefesselten Beine den Giftzähnen ahnungslos darbieten?!

Und – einmal wird uns die Müdigkeit doch überwältigen …

Dann – – sind wir verloren …

Die Kobras sind bis aufs äußerste gereizt durch die Schlingen, von denen sie sich nicht befreien können …

Die Kobras werden uns töten … Der Biß einer ausgewachsenen Kobra tötet in fünf Minuten … –

Und wieder schrillt das Lachen der Rani …

„Außerdem, Mr. Harst – wer wird Sie beide hier finden, hier im wildesten Teile der Gwala-Berge?! Niemand – – niemand!! Wie lange hoffen Sie denn noch den gekrümmten Giftzähnen Ihrer Wächter zu entgehen?! Vielleicht noch zwölf Stunden – – vielleicht!! Und dann werden Sie beide verscharrt werden – irgendwo …! Mag man nach Ihnen nur suchen … Suchen und finden – – hier in meinen Bergen, wo ich nicht einmal englische Bergingenieure dulde, wo jeder Schafhirte sofort jeden Fremden nach meiner Hauptstadt meldet?! – – Nein, Mr. Harst, Ihre Sache steht schlecht …! Mit mir hätten Sie sich niemals auf eine derartige Fehde einlassen sollen – – niemals! Sie hätten nie vergessen dürfen, daß Sie es mit einer indischen Fürstin zu tun hatten, die in ihren Entschließungen durch keinerlei Rücksichten eingeengt ist …! – Sie beide haben Ihr Schicksal verdient …!“

Sie schien auf eine Antwort zu warten …

Harst schwieg …

Er hatte den Kopf auf die Brust gesenkt … Ich sah an seinem Hinterkopf einen kleinen Verband … Man hatte die Wunde also wenigstens vor den zahllosen Fliegen geschützt … Bei mir handelte es sich wohl nur um eine Riesenbeule …

Nochmals schaute die Fürstin zu uns hinüber … Sie wartete umsonst … Harald … spielte den … Mutlosen … spielte!! Und er ist ein perfekter Komödiant in des Wortes bester Bedeutung …

Stille nun …

Drüben, wo die Spitzzelte der Begleitmannschaften der Rani standen, bewegten sich die Leute hin und her – Männer, die nicht die leichte luftige Tracht der Inder aus der Ebene trugen, sondern Lederwämse, die bis zu den Knien reichten, um die Hüften einen breiten Gurt, der von Waffen starrte – alles schöne Gestalten mit der freien stolzen Haltung der Bergbewohner – ein ganz anderer Schlag von Menschen als die hageren Kulis von Bombay, als die Bauern des flachen Landes …

Wenn man diese Männer aufmerksam betrachtete, begriff man vollkommen, daß sie einst ihre Berge ähnlich wie die Tiroler gegen fremde Machtgelüste verteidigt hatten und daß selbst Großbritannien vor diesen stämmigen Kerlen Respekt hatte …

Nur eins paßte nicht zu diesem freien Volke: die Rani, die Despotin! Man verstand nicht recht, daß ein Menschenschlag wie diese Gwali sich von einem Weibe derart tyrannisieren[4] ließen, denn von den Grausamkeiten und brutalen Strafen der Fürstin Raßmalar hatte mir Harald, der allbelesene, inzwischen mancherlei erzählt … –

Jedenfalls, es gab hier vorläufig genug zu sehen, was die Gedanken von der drohenden Zukunft wohltätig ablenkte …

Da war die Rani … Neben ihr der Panther, der ihr auf den Wink zu gehorchen schien …

Sie las jetzt … Und – schon an dem bunten Umschlag erkannte ich, daß es ein englischer Kriminalroman sein mußte … Dazu rauchte sie Zigaretten … –

Ich hatte nun auch Zeit, die Örtlichkeit in unserem Rücken zu mustern … Drehte Kopf und Oberleib …

Und – da geschah etwas, das später von Bedeutung werden sollte … – Bei dieser halben Drehung streckte ich aus Unachtsamkeit den linken Fuß etwas vor, verspürte sofort etwas wie einen Schlag gegen die Schuhspitze …

Eine der Brillenschlangen hatte zugeschnappt … Und ich hatte unwillkürlich im selben Moment den Fuß wieder zurückgerissen …

War … blaß geworden …

Starrte auf die Spitze des staubigen, abgeschabten braunen Halbstiefels …

Sah dort dicht über der vorstehenden Sohle ein Blutfleckchen – nein, ein blutiges Stückchen … Gaumenfleisch, das durch etwas Weißes, Dünnes an die Sohle geheftet schien …

Harald raunte mir zu:

„Bravo – ein guter Anfang …! Du hast der Kobra einen Giftzahn ausgerissen …“

Jeder weiß, daß die Giftzähne einer Schlange nach hinten hakenförmig gebogen sind. Man kann dies schon sehr gut bei unserer einheimischen Kreuzotter beobachten, deren Giftzähne bis zu sechs Millimeter lang werden. Die einer Kobra werden etwa anderthalb Zentimeter lang und liegen, wenn das Tier seine Nahrung verschlingt, umgeklappt nach innen am Gaumen an.

Jedenfalls: die eine der Kobras war auf diese Weise um einen Giftzahn gekommen, ohne mir etwas anzutun … Mein Stiefel würde an dem Schlangengift nicht krepieren …

Ich wollte über diesen Zwischenfall noch eine Bemerkung machen, aber Harald flüsterte:

„Still – –! Streife den Zahn mit dem anderen Fuße ab!“

Ich tat es …

Und dann erst wandte ich mich abermals um und sah nun dicht hinter uns ein Zelt mit geschlossenen Vorhängen … Sonst nichts …

Das Tal lag bereits halb im Schatten. Es mochte sieben Uhr abends sein …

Und – bald würde nun die Nacht kommen …

Der Kampf gegen den Schlaf, gegen die halbe Betäubung, in die ich jetzt schon hin und wieder unter dem Einfluß der Kopfschmerzen versank …

Sieben Uhr abends …

Und urplötzlich überkam mich da die blasse Angst um mein Leben …

Sterben – – ja, – eines Tages mußte auch ich dem unerbittlichen Sensenmann zum Opfer fallen … Eines Tages würden sich auch meine Augen für immer schließen …

Aber – so sterben – – so …!! Durch elende Kobras, von denen wir noch vorgestern im alten Tempel ein paar erschlagen hatten …!! So jämmerlich hier verrecken, nur weil der müde Leib den Geist bezwang und den Schlaf nicht bannen konnte …!!

Ich stierte auf die Reptile …

Ruhelos wanden sie sich hin und her …

Ein Gähnen verzerrte meinen Mund – ein halber Krampf …

Müde – so müde war ich …

Schlafen – – schlafen dürfen …

Und – – ein Blick nach Harald hin … Ein Lauschen – ungläubiges Staunen: wahrhaftig – er schlief!! Er verließ sich darauf, daß ich achtgeben würde …

So war es denn nun Pflicht, mich um jeden Preis munter zu halten …

Mit aller Energie verscheuchte ich jede Neigung, auch nur ein einziges Mal die Augen zu schließen …

Die Zeit verrann …

Die Rani erhob sich … schlenderte mit dem Panther an der dünnen Kette zu den Zelten ihrer Leute …

Kehrte zurück …

Der Graubart brachte ihr die Abendmahlzeit. Sie aß … Nicht einen Blick schenkte sie uns mehr …

Sie zog sich dann in ihr Zelt zurück …

Die Dämmerung kam … Über dem westlichen Talrand schillerte der Himmel in wunderbaren Farben …

Und die Schatten hier im Schlangentale wurden tiefer.

Die Dromedare hatten sich niedergetan … käuten wieder, rieben mahlend die Unterkiefer …

Drüben zündeten die Gwali ein Feuer an … Es mochten etwa zwölf Leute sein …

Die Nacht war da …

Und bei mir das Unvermögen, noch länger munter zu bleiben … Übelkeit spürte ich … Übelkeit würgte mir in der Kehle – ein Zeichen allerhöchster Abspannung …

Da stieß ich Harald denn mit dem Ellenbogen an …

Er erwachte sofort …

Bei ihm gibt es keine Sekunden der Schlaftrunkenheit …

„Ah – es wird Zeit!“ flüsterte er … „Kein Wächter – kein Feuer hier bei uns … In zehn Minuten steigt der Mond über den Bergen empor …“

Unklar erfaßte ich dieses rätselvolle „… es wird Zeit …“

„Wozu wird es Zeit?“ fragte ich erneut gähnend …

Er schwieg …

Aber – – er streckte den einen Fuß vor …

Sofort schnellte die nächste Kobra vorwärts …

Harst zog den Fuß blitzschnell zurück …

„Dazu!!“ raunte er, und in seiner leisen Stimme war ein Unterton, als ob eine eherne Klinge durch die Luft pfeife …

 

3. Kapitel.

Der Gefangene der Rani.

Der Mond lugt über die Talränder … Sein blasser Schein kriecht am Boden vorwärts …

Ich bin nicht mehr müde … Ich weiß jetzt, was in der nächsten Stunde für uns auf dem Spiele steht …

Seltsam ist’s, wie die Aussicht auf eine abenteuerliche Rettung dem Geist zum Siege über den Körper verhilft …

Der Mondschein kriecht …

Erreicht die Kobras …

Nun – beginnt das Spiel …

Harald schiebt den rechten Fuß vor, läßt die eine Kobra, die am weitesten links, zuschnappen …

Stellt fest, bis zu welchem Punkt die Kobra mit dem Maule reicht …

Und schiebt den Fuß wieder vor – bis zu diesem Punkt – ganz wenig über ihn hinaus …

Das Reptil schnellt vorwärts, beißt in die Stiefelspitze …

Harst – ein Ruck …

Die beiden Giftzähne stecken im Leder der Vorderkappe …

Harald entfernt sie mit der Sohle des anderen Stiefels … –

Und das Spiel geht weiter …

Kobra Nummer zwei kommt an die Reihe …

Im Mondlicht sehen wir, daß diesmal nur ein Zahn im Sohlenrande steckt …

Also – nochmals …

Aber die Kobra ist ängstlich geworden. Der Verlust der einen ihrer beiden Giftwaffen hat sie gewarnt …

Harst muß sie reizen …

Wagt sich mit dem Fuß weiter vor …

Ein Spiel ums Leben …

Denn – falls die Brillenschlange in die nicht durch Leder geschützten Teile des Beines beißt, ist die Partie verloren …

Harald gewinnt …

Die Kobra schnappt – und verliert den zweiten Zahn … –

Vorläufig bin ich nur Zuschauer …

Einer, dem es bei alledem wiederholt eiskalt über den Rücken läuft, dem kalter Schweiß auf der Stirn steht …

Kobra Nummer drei … Hier gelingt’s wieder auf Anhieb …

Und jetzt soll ich das Spiel fortsetzen …

Denn Harst erreicht die beiden anderen Reptile nicht mehr … Eines von diesen hat nur noch einen Giftzahn …

Ich bin nur Nachahmer der Taktik des Freundes. Leider ein weit weniger gewandter … Mein verd… Bäuchlein behindert mich …

Viermal gelingt’s vorbei …

Dann endlich: meine erste Kobra ist erledigt, hat auch den zweiten Giftzahn eingebüßt …

Bei der anderen geht es rascher … Das heißt: sie schnappt zu – – und hätte beinahe meine Achillesferse erwischt, – die Stelle, wo die Wickelgamasche sich über den Halbschuh schmiegt …

Beinahe …

Sie trifft den Lederschnürsenkel – die Schleife oben …

Die Zähne hängen in dem Lederstreifen …

Ich bin blaß geworden …

„Beinahe, mein Alter …!!“ – und Harst atmet[5] tief auf …

Unsere giftigen Wächter sind jetzt nicht mehr wert als harmlose Blindschleichen …

Harald flüstert:

„Nun der Pfahl …! Unsere Hände berühren die Erde … Hilf mir, den Pfahl zu lockern … Wühle die Erde auf …“

Es geht …

Die Gwali drüben sind in den Zelten verschwunden … Nur ein einzelner Wächter sitzt bei den Dromedaren am lohenden Feuer … der Tiger und Panther wegen …

Wir wühlen …

Drehen die gefesselten Unterarme, schieben die Schleifen der Riemen am Pfahle tiefer …

Er lockert sich … Wir strecken getrost die Beine lang … Die Kobras liegen still … Arme Kreaturen!

Dann heben wir ihn heraus – langsam – allmählich …

Haben mehr Bewegungsfreiheit …

Noch ein paar Minuten …

Harst knotet die Riemen auf …

Auch ich werde die Fesseln los …

Wir schieben den Pfahl wieder in das Loch und sitzen still, als ob sich nichts geändert hätte …

„Der Mond wird sehr bald den Schatten der Zeltspitze über uns werfen …“ flüstert Harst … „Dann kann ich den Wächter erledigen …“

Wir beobachten den Schatten … Er kriecht endlos langsam …

Dann – – schiebt sich Harald auf allen Vieren davon.

In das Zelt hinein … Will durch die Zeltrückwand weiter am Talwandrande zu den Zelten der Gwali …

Ich sitze still … Lausche, beobachte … Drehe den Kopf …

Und – höre plötzlich das Fauchen des zahmen Panthers …

Es verstummt wieder …

Ein grollendes Knurren folgt …

Eine Frauenstimme weist das Tier zur Ruhe. Die Fürstin!

Ich atme auf … Ich merke, daß die Rani es für völlig ausgeschlossen hält, daß wir uns befreien könnten … Sie fühlt sich allzu sicher. Sie hätte sich auf den feineren Instinkt des Panthers verlassen sollen … Dann wäre alles anders gekommen … Dann moderten unsere Knochen irgendwo in den Gwala-Bergen … Dann … wären wir tot und Raßmalar lebte …

Nun – anders ist’s mir lieber … –

Der Panther verhielt sich still …

Ein schwärzlicher Schatten glitt drüben an den Felswänden entlang: Harst …!

Die Dromedare dienten ihm als weitere Deckung …

Dann tauchte er hinter dem Wächter auf …

Der Gwali sank plötzlich hintenüber … Zwei Gestalten verschmolzen in eins … Schienen zu kriechen – –, und doch zog Harald nur den bewußtlosen Inder hinter sich her …

Abermals sah ich ihn …

Drei Dromedare sattelte er …

Wie gut, daß wir im Kamelsattel genau so sicher waren wie auf dem Rücken eines Pferdes …

Minuten nur, und er führte die Tiere im Bogen mir zu … hinter das leere Zelt …

Winkte dann …

Ich eilte näher … Er warf mir die Zügel in die Hand, schlüpfte in das Zelt, kam … mit einem gefesselten Inder zum Vorschein …

Das Zelt war nicht leer gewesen … Zum Fragen hatte ich keine Zeit …

Harst hob den Mann in den Sattel des einen Tieres, nachdem er seine Lederriemen zerschnitten … Der Ärmste hatte kaum die Kraft, sich im Sattel zu halten …

Wir nahmen ihn in die Mitte …

Im Schritt ging es dem Talausgang zu …

Im Schritt in ein Nebental …

Hinter uns her das jäh zu wildem Heulen erwachende Jaulen des Panthers …

„Galopp …!!“ rief Harald …

Die Dromedare waren ausgeruht … Und nur ein einziges Mal in der Thar-Wüste hatten wir so vorzügliche Tiere unter uns gehabt … Ihr langer Trab war wie der Renngalopp eines trainierten Vollbluts …

Der Gefangene der Rani erholte sich rasch … Ich sah, daß er im Kamelsattel noch mehr zu Hause war als wir …

Dann tat er auch den Mund auf …

„Ich danke Ihnen, meine Herren …“ – tadelloses Englisch, eine angenehme Stimme …

Und hinzufügend:

„Ich werde die Führung übernehmen … Ich bin hier zu Hause – noch mehr: mir gehören die Gwala-Berge!!“

Er jagte jetzt voran …

Ein merkwürdiger Ausspruch, den der Mann soeben getan hatte: mir gehören die Gwala-Berge!

Seltsam …

Und doch war etwas in dem Ton seiner Stimme gewesen, das herrisch und selbstbewußt klang – ohne jede Wichtigtuerei …

Wir rasten weiter …

Zwei – drei Stunden mochten verflossen sein …

Der Morgen zog herauf … Das Mondlicht verblaßte … Der kalte Wind wurde noch frischer …

Im Osten am Himmel ein heller Schein … Immer höher erstrahlend … Die Sonne rückte über den Dunst des Horizontes … Wir waren gerade auf einem Hochplateau … In der Ferne unendliche grüne Flächen: Dschungel!

Aber noch etwas erblickten wir … Noch etwas …

Gerade unter uns …

In einem palmenumrauschten weiten Tale …: die Hauptstadt von Gwala, das fast sagenhafte Gwalanda – sagenhaft wie einst Lhasa, die verbotene Stadt im Himalaya …

Neben uns sagte der Gefangene der Rani:

„Gwalanda …!!“

Sonnengold, erstes Sonnengold ließ die schlanken Minaretts der Tempel aufleuchten … Heller Marmor erstrahlte … Und mitten in dieser Märchenstadt auf der flachen Spitze einer offenbar künstlichen Pyramide aus weißem Marmor eine trutzige Burg …

Das Fürstenschloß von Gwalanda ist so und so oft photographiert worden … Reisende Kaufleute hatten heimlich Momentkameras in das Bergland hineingeschmuggelt … Aber nur zu früh nahm man ihnen regelmäßig wieder die Apparate ab … Zertrümmerte die Platten …

Der englische Reisende Darbing hat noch 1924 dasselbe Pech gehabt … –

Und – wieder sagte unser Führer:

„Gwalanda!!“ Und reckte den Arm empor zum Gruße …

„Gwalanda …!!“ – jetzt wie ein Jubelschrei …

Einen Irren glaubte ich vor mir zu haben … Einen Menschen, der hier vor uns seine krankhaften Heimatgefühle preisgab …

Denn – ein Blick in sein Gesicht zeigte mir junge, verklärte Züge … Ein Gesicht, von Leiden gebleicht, mit den Falten des Dulders … Umwuchert von dunklem Bartgelock, gekleidet in Lumpen – stinkend von Schweiß.

Und doch ein Gleißen in den Augen, übermächtig für einen gesunden Verstand … – meiner Ansicht nach …

„Hinab!!“ rief der Mann … „Hinab …!! Wir werden …“

Harsts Stimme fährt dazwischen …

„Die … Verfolger …!“

 

4. Kapitel.

Sidar Lampsa Bakur.

Dort aus der Talmündung brechen sie hervor – zwölf Gwali, hinter ihnen Schafhirten aus den Bergen … Zu Pferde … Zu Dromedar … eine Schar – lang auseinandergezogen … mindestens fünfzig Leute … vor ihnen die Rani – den Panther an langer Leine …

Unser Führer preßt die Lippen zusammen … Seine geballten Fäuste drohen hinüber …

Dann – wie ein Schrei:

„Ein Wettlauf um das Fürstentum Gwala …!! – Meine Herren, jetzt gilt’s … Fängt uns jenes Weib, so werden wir von Kugeln durchsiebt werden! Vorwärts …!“

Und die Jagd beginnt …

Ein Rennen über das steinige Plateau …

Ein Rasen – ohne Rücksicht auf die Tiere und die eigenen Knochen …

Ein Wettlauf ums Leben …

Hinter uns her jetzt der Panther – – frei von jeder Fessel …

Der Panther nimmt Riesensätze … Selbst den Kameltrab überwindend … Eine Bestie, die blindlings gehorcht … Blindlings …

Ich als schlechtester Reiter der letzte von uns dreien …

Ich schaue mich immer wieder um …

Dann bleibt Harald zurück …

Ruft mir zu:

„Überlaß ihn nur mir …!“

Und er – waffenlos wie ich … Er nur auf eins angewiesen: seine eisernen Muskeln, seine Gewandtheit und Ruhe …!

Eine enge Schlucht nimmt uns auf … Der Führer wirft einen Blick nach rückwärts … Im Nu zügelt er sein Tier, reißt es herum … jagt an mir vorüber – an Harald vorüber – auf die schwarze Bestie zu, die nur noch fünfzig Meter entfernt …

Harst und ich halten, wenden die Köpfe …

Der Unbekannte stößt einen eigentümlichen Schrei aus – langgezogen, in einer Art Triller endigend …

Der Panther stutzt merklich. Seine Sprünge werden kürzer …

Abermals ruft der Führer etwas – in der Gwali-Sprache … Und der Panther heult auf, rast vorwärts …

Das Dromedar des Unbekannten kniet jetzt … Die Bestie ist bei ihm, richtet sich an dem Manne empor, stützt die Vorderpranken auf dessen linken Schenkel … – und – – ich sehe es genau – – leckt dem Führer die Hand …

Harald sagt da mehr wie zu sich selbst: „Das ist der sicherste Beweis!“

Ich hätte vieles zu fragen …

Doch wir flüchten weiter … Der Führer wieder voran … Neben ihm der Panther, stets gleichen Schritt mit dem Reittier haltend …

Kein Zweifel: die Bestie sieht auch diesen Gwali als ihren Herrn an, scheint an ihm noch treuer zu hängen als an der Rani.

Weiter … Die Schlucht hinab … Vorüber an ein paar Steinhütten – an Kindern und Weibern und Männern …

Schüsse knallen plötzlich … Die Leute feuern auf uns … hinterrücks …

Weiter … Hinein in ein großes Tal … Vor uns Weideflächen, Palmen, Gebüsch, ein langgestrecktes Dorf …

Die Bewohner bemerken uns … Schon von ferne sehen wir, wie sie sich zusammenrotten …

Der Führer biegt nach links ab … Und – – sein Tier hinkt plötzlich … stolpert … Er reißt es vorn hoch … Minutenlang müht es sich, trotz der Schußverletzungen neben uns zu bleiben … Stolpert abermals … Sinkt auf der Hinterhand zusammen … kommt nicht mehr hoch …

Zwanzig Meter vor uns an der Talwand ein schmaler Pfad, der die steile Anhöhe in Zickzacklinie emporläuft … Der Führer springt aus dem Sattel des wunden Dromedars …

„Dort hinauf, meine Herren …“

Eilt zu Fuß voran … Der Panther dicht neben ihm …

Und ruft wiederum …

„Geben Sie Ihre Tiere frei, meine Herren … Oben sind wir vorläufig in Sicherheit …“

Wir gleichfalls aus dem Sattel … Der Pfad ist oft so schmal, daß man nicht in die Tiefe hinabschauen darf, um nicht schwindlig zu werden …

Der schwere Rucksack hindert mich … Schweiß rinnt mir in die Augen. Die Sonne hat den kühlen Wind der Berge längst besiegt … Die Felsen hauchen Feuer aus … Um uns her klatschen Kugeln gegen das Gestein … Ein Schlag gegen meinen Rucksack – ein blecherner Ton: ein Geschoß hat den Aluminiumkessel durchschlagen …

Die Verfolger schießen in blinder Wut – noch aus dem Sattel …

Ich sehe, wie die Rani sich ein Gewehr reichen läßt …

Die Sonne blendet sie … Vielleicht unsere Rettung …

Das andauernde Peng, Peng der Schüsse ist die Begleitmusik unseres Anstiegs …

Der Führer, ohne Last auf dem Rücken, ist bereits verschwunden – mit ihm der Panther …

Endlich – – endlich eine Terrasse, hineingewölbt in das Gestein … Die Rückwand noch vierzig Meter hoch – mindestens … An dieser Rückwand gleißt heller Marmor … Ein zierliches phantastisches Schlößchen erhebt sich hier … Ein paar Palmen, grüne Büsche … Eine Freitreppe läuft zu der Flügeltür empor … Sie schillert grünlich – Kupferpatina …

Der eine Türflügel offen … der Führer tritt heraus – drei Doppelbüchsen in der einen Hand, in der anderen eine längliche Pappschachtel mit Patronen …

Der Panther ist hinter ihm wie ein treuer Hund …

Wortlos gibt er uns die Waffen … Es sind amerikanische Browningbüchsen, Repetiergewehre …

Und verschwindet wieder in dem kleinen Marmorschloß …

Wir werfen uns am Rande der Terrasse nieder … Der Zickzackpfad ist in allen seinen Windungen zu überschauen … Eine Schlange von Männern steigt empor …

Harst atmet bereits ruhiger … Häuft Steine als Brustwehr auf … sagt ganz kalt:

„Hier kommt keine Katze gegen unseren Willen nach oben …!“

Zielt … feuert …

Und der Kopf der Menschenschlange, ein bärtiger Gwali mit waffenstarrendem Gürtel, taumelt mit zerschossenem Knie nach hinten … Ein anderer fängt ihn auf …

Die Menschenschlange gerät ins Stocken.

Noch zwei Schüsse – – und die Masse der Verfolger wendet sich, macht kehrt …

Unten – achtzig Meter unter uns im Tale – die Rani inmitten eines Kreises von Weibern und Kindern …

Harald hakt den Rucksack los, entnimmt ihm sein Fernglas …

Schaut hindurch und gibt es mir …

Ich drehe die Stellschraube, bis ich das Gesicht der Rani dicht vor mir habe …

Ein Gesicht, das einer aschgrauen Fratze gleicht …

Regungslos steht die Fürstin Raßmalar, die Zähne in die Unterlippe gepreßt … ein Bild ohnmächtiger Wut …

Aber in diesem leidenschaftlichen Frauenantlitz ist noch ein anderer Ausdruck …: Angst – unverkennbare Angst!

Ich lasse das Glas sinken …

„Harald, wer ist der Führer?“

Er schaut mich an …

„Der Führer, mein Alter, – und jetzt wird Dir manches klar werden – der Führer ist der Vorgänger der Rani von Gwala, Fürst Sidar Lampsa Bakur … angeblich vor drei Jahren an der Cholera verstorben … Seine älteste Schwester Raßmalar wurde bestimmungsgemäß seine Nachfolgerin …“

Er schaut mich an …

Und – ich starre ihm in die Augen …

Mir verschlägt diese Mitteilung die Rede … Ich bin derart verblüfft, daß ich minutenlang schweige …

Harald nimmt mir das Glas ab …

Meint: „Der Panther erkannte den früheren Herrn, den die Rani im Tale der Schlangen von zwölf Vertrauten gefangen halten ließ …“

Ich nicke nur automatenhaft … So ganz begreife ich noch immer nicht …

„Und jetzt, mein Alter, dürfte Sidar Lampsa Bakur sich hier in seinem Jagdschloß etwas fürstlicher herrichten, die Lumpen ablegen und sich seinem Volke in geeigneterer Aufmachung zeigen … Dann erst wird man den Totgeglaubten wiedererkennen. Er war sehr beliebt – ganz im Gegensatz zu der Rani … Ich fürchte, die Fürstin Raßmalar wird nicht mehr lange leben … Diese Gwali werden kaum Mitleid kennen … Das sie auch nicht verdient …“

In meinem Hirn wird es lichter …

Harst schaut zu der Volksmenge hinab … beobachtet …

Ich denke an den Fakir, an die namenlose junge Inderin …

Und da jählings ein neuer Lichtblitz: das Gesicht der Rani kam mir so bekannt vor!! Nun weiß ich, wem sie gleicht: der Toten, die wir auf dem Felsen der Lagune begraben haben!

„Harald – die beiden sind Schwestern …“ entfährt es mir …

„Das wußte ich schon, als wir die Entenjägerin kennen lernten … Das Mädchen hieß Barmalar, wenn Du willst: Prinzessin Barmalar …!“

„Und – Mitschuldige der Rani?!“

„Ja – Mitwisserin … genau wie der Yogi, der der Großvater mütterlicherseits ist … oder war … Man weiß ja nicht, ob er noch lebt …“

Die Schleier des Geheimnisses sinken …

Alles wird licht … klar …

Und wie einfach erscheinen nun all die Rätsel …

Wie begreiflich ist es nun, daß die arme hübsche Prinzessin Barmalar in dem Hofe der Tempelruine erklärte, daß sie … büßen müßte …

Büßen – das an ihrem Bruder begangene Verbrechen, den Volkesbetrug …! Fraglos hatte man vor drei Jahren einen Fremden als den toten Fürsten bestattet … Machthunger hatte Raßmalar zu dem unerhörten Verbrechen verleitet …!

Da – hinter uns Schritte …

Und ein feines zärtliches Schnurren – nach Katzenart: der Panther!

Neben uns steht jetzt nicht mehr der zerlumpte Führer …

Der Bart ist verschwunden – bis auf einen kurzen schwarzen Schnurrbart … Sidar Lampsa Bakur trägt ein reichgesticktes Gewand aus hellem weichen Leder – goldgestickte Sandalen, einen schneeweißen Turban, an dem vorn, in einer Brillantagraffe acht Schwungfedern eines Bergadlers strahlenförmig befestigt sind …

Unten im Tale erst ein einzelner Schrei … Dann ein Brüllen …

Es schwillt an – klingt zu uns empor …

Wir haben uns erhoben …

Grüßen Seine Hoheit, den Fürsten von Gwala …

„Meine Herren …“ – und er streckt uns beide Hände entgegen – „ich danke Ihnen …! Sie haben mir die Freiheit verschafft … Ich bin Fürst Bakur von Gwala …“

 

5. Kapitel.

Volksgericht …

Der Panther reibt sich liebkosend an seinen Beinen – schnurrt …

Unten im Tale lebt das Brüllen immer wieder auf …

„Ich danke Ihnen …“ wiederholt der Fürst … „Sie sind meine Brüder … Alles, was ich besitze, gehört Ihnen …“

Diese etwas feierliche Szene wird durch das Erscheinen von drei uralten Gwali unterbrochen, die sich uns vom Schlosse her langsam nähern …

Es sind Diener des Fürstenhauses der Lampsa, eines Geschlechtes, das seine Abstammung bis auf den Gott Indra zurückführt … Es sind die Hüter dieses Lieblingsschlosses des totgeglaubten Radjah von Gwala …

Sie tragen goldene Platten, auf denen altindische hohe Trinkbecher stehen …

Der Fürst trinkt uns zu …

„Mr. Harst, – das Wohl meiner Brüder Harst und Schraut …!“

Gegorene Kamelmilch ist’s, mit Honig vermischt … angenehm kühl und erfrischend …

Wir stellen die goldenen Becher auf die goldenen Platten zurück …

Der Radjah befiehlt einem der drei Alten:

„Geh’ hinab und erkläre den Leuten, daß ich lebe …“

Dabei deutet er in das Tal …

Wir sehen, daß Raßmalar auf einem Dromedar davonsprengt …

Wir sehen eine Reiterschar, die dicht hinter ihr …

Sie wird eingekreist …

Man zerrt sie aus dem Sattel …

Mit bloßem Auge erkennt man, daß die Volkeswut mit der Betrügerin nicht gerade sanft umgeht.

Aus dem großen Dorfe sind noch mehr Menschen hinzugekommen …

Alles winkt nach oben … Das Geschrei schwillt von neuem an … –

Der alte Diener läuft den Pfad hinab …

Langt unten an … Man umringt ihn …

Man schleppt Raßmalar dicht vor ihn …

Bewegung zittert durch die Menschenmassen … Knäuel bilden sich … Man hat der Rani zwölf Helfershelfer niedergerungen, gefesselt …

Ein ungeheurer Tumult …

Schüsse … Schreie …

Wir starren hinab …

Um Raßmalar jetzt ein freier Kreis …

Weiber raffen Steine empor …

Männer schleudern Felsbrocken …

Man – – steinigt die Betrügerin …

Sie sinkt zu Boden …

Steine häufen sich über sie …

Wieder ein paar Schüsse …

Raßmalar ist gerichtet …

Dann stürmt die Menschenschlange die Talwand hinan …

Wir beide treten zurück …

Werden Zeugen einer Szene, wie sie kein Filmoperateur „stellen“ kann.

Die Dorfbewohner, Hirten, Bauern sind nicht mehr das ruhige, gemessene, stolze Bergvolk …

Die Freude hat sie verwandelt … Männer, Weiber, Kinder werfen sich vor dem Radjah auf der Terrasse nieder, berühren mit der Stirn den Boden, springen empor …

Ein jubelndes Rufen dringt zum sonnigen Äther empor …

Bis der Fürst zu sprechen beginnt …

Wir verstehen nichts … Wir sehen nur seine Handbewegungen, entnehmen aus dem verschiedenen Klang seiner Stimme, daß er seine Gefangenschaft schildert …

Harald wendet sich um und winkt einem der alten Diener … Legt auf die goldene Platte den altertümlichen Brillantring mit den eingravierten Schriftzeichen …

Ich begreife auch dies nun: der Ring ist ein Zeichen der Fürstenwürde von Gwala …

Ich sehe, wie der alte Diener gleichsam verzaubert auf das Kleinod blickt …

Wie er vortritt, wie der Fürst gleichfalls ungläubig den Ring betrachtet …

Dann nimmt er ihn von der goldenen Platte, steckt ihn an den Zeigefinger der rechten Hand …

Der Edelstein gleißt im Sonnenschein …

Die Menge brüllt … wirft sich nieder …

Der Radjah zieht uns neben sich …

Spricht abermals …

Wir sind jetzt Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit … Von uns redet der Fürst …

Für das Empfinden eines Europäers ist all das ein wenig theatralisch …

Und packt doch …

Wir spüren die freudige Erregung dieser Stunde … Wir fühlen mit, was in diesen schlichten Menschen vorgeht, die einer Despotin harte Hand jahrelang über sich wußten und nun den geliebten Herrn wiedergefunden haben … – –

Ich komme zum Ende …

Mittags traf in dem Tale eine Abteilung der Leibwache des Fürsten in Stärke von fünfhundert Mann ein – prächtige Gestalten, modern bewaffnet, tadellos beritten …

Mit ihnen die Würdenträger von Gwala und an die tausend andere Reiter …

Der Radjah sollte in feierlichem Zuge zur Hauptstadt geleitet werden.

Inzwischen hatten wir jedoch dem Fürsten von den Vorgängen auf dem Felsen der Lagune berichtet.

Der Radjah wieder hatte uns erklärt, daß seine Schwester Barmalar ihn wahrscheinlich gleichfalls zunächst für tot gehalten habe, da die ehrgeizige Raßmalar das Verbrechen, seine Gefangennahme, sehr schlau ins Werk gesetzt hätte …

„Die volle Wahrheit werden wir nur von meinem Großvater erfahren … Wir müssen sofort zur Lagune …“

Er nahm nur fünfzig Mann seiner Leibwache mit …

Abends gegen sieben Uhr erreichten wir den Fluß und den seeartigen Seitenarm.

Auf einem Baumfloß setzten wir drei nach dem Felsen über …

Vorsichtig zogen wir den Yogi aus dem Schacht empor, nachdem wir das Seil gründlich desinfiziert hatten.

Wir brauchten den Leib des Fakirs nicht mehr aus den Decken zu schälen. Verwesungsdünste stiegen uns entgegen … Der Alte war tot … Und niemals ist die Frage daher gelöst worden, inwieweit Barmalar und der Yogi an dem Verbrechen der Rani beteiligt waren. – Der Fürst hat die beiden trotzdem in der Hauptstadt Gwalanda feierlich bestatten lassen. Raßmalars Leiche blieb in jenem Tale unter dem Steinhaufen – an jener Stelle, wo das Volk über sie Gericht gehalten. –

Wir beide haben dann zwei wundervolle Wochen in Gwalanda verbracht … mit unserem Bruder Sidar Lampsa Bakur …

Jagten Bergziegen, Tiger, Panther … Lebten in Wahrheit wie die Fürsten …

Bis dann auch für uns die Trennungsstunde schlug …

Zum Abschied schenkte der Radjah jedem von uns eine zierliche Nachbildung seines Jagdschlosses in Gold … etwa dreißig Zentimeter hoch …

Erst im Hotel d’Angleterre in Bombay fand Harald dann heraus, daß sich das Dach des goldenen Schlößchens abheben ließ und daß im Innern in feinster Seide verpackt je acht Diamanten lagen, von denen jeder eine Rarität darstellte …

Selbst wenn unser Beruf uns fortan nichts mehr an Honorar abgeworfen hätte: daß wir niemals mehr Not leiden werden, dafür hat unser Bruder Bakur gesorgt!

 

Nächster Band:

Der Fakir ohne Arme.

 

 

Verlagswerbung:

Gelbsternbücher

 

Band


















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Die Lahore-Vase.
Der hüpfende Teufel.
Der Tempel der Liebe.
Das Haus am Mühlengraben.
Der Mutter Name.
Komm an mein Herz.
Eine Geldheirat.
Die Brettldiva.
Rittergut Tressin.
Ich liebe Dich.
Das Gift des Vergessens.
Im Schatten der Schuld.
Um Leben und Tod.
Der Universal-Erbe.
Die Stimme des Blutes.
Das Haus des Hasses.
Der grüne Schlüssel.
Der Mann im Sessel.
Der Fall Ahrweiler.
Die blaue Königin.

Preis pro Band: 1M., ab Band 17: 50 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Gace“.
  2. In der Vorlage steht: „Batzands“.
  3. In der Vorlage steht: „stehe“.
  4. In der Vorlage steht: „thyrannisieren“.
  5. In der Vorlage steht: „atmete“.