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Die Wunderinsel im Tsad-See

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Die Wunderinsel im Tsad-See

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 49 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Warner meldet sich.

Über der Nordsee lagerten leichte Nebel, von denen auch die auf der Insel Walcheren gelegene Hafenstadt Vlissingen eine Mütze voll zu spüren bekam.

Es war eine Nacht zu Anfang des Monats August, aber die empfindliche Kühle erinnerte mehr an den Oktober, und der alte holländische Seeheld de Ruyter, der da in Bronze gegossen auf dem Nordseeboulevard in Vlissingen steht, mochte froh sein, daß er ein so wetterfestes Wams trug.

Wenn er sein hartes Kämpfergesicht unmutig und empört hätte verziehen können, würde er es bestimmt in dem Augenblick getan haben, als ich, rasch aus den Nebelschwaden auftauchend, hinter seiner massigen Gestalt Deckung suchte und schnell den Schalldämpfer über den Lauf der langen Coldpistole schob.

Ich hatte mich gegen zehn Uhr aus dem Hotel, wo ich sowie die mir zugeteilten drei Detektive weitere Befehle von London abwarten sollten, ohne meine Leibgarde davongeschlichen, denn ich brauchte Bewegung, und auch Freund Ghost, der sich nun dicht an meine Beine klemmte, war das Stillsitzen nicht gewöhnt. Daß diese Spaziergänge mit einem bedenklichen Risiko verknüpft waren, machte mir nichts aus. Gewisse Vorfälle hatten mich gewarnt. Es gab hier Leute, denen der Chef der Abteilung 2 B ein empfindlicher Dorn im Auge war.

… Da kamen sie auch schon wie die Katzen herangeschlichen, die drei „harmlosen“ Matrosen.

Zwei hielten sich an der rechten Seite der Promenade, einer an der linken.

Ihre Köpfe waren dauernd in Bewegung, – es mochte ihnen etwas unheimlich zumute sein, weil ihr Wild so urplötzlich verschwunden war.

Gewiß, – ich hätte die drei Kerle hier abfangen und der Polizei übergeben können. Wir durften jedoch unser Inkognito als erholungsbedürftige Badegäste (Vlissingen ist auch Seebad) nicht lüften. London wollte es so. Mit diesem „Inkognito“ war es nicht weit her, wie die drei Jan Maate einwandfrei bewiesen. Wer die Burschen mir auf die Fersen gehetzt hatte, erschien mir schleierhaft.

Sie blieben stehen und berieten. Der dritte hatte sich zu ihnen gesellt und war dicht an mir vorübergekommen. Der Nebel hüllte jedoch den tapferen Admiral de Ruyter so dicht ein, daß ich als sein Schützling nur bemerkt werden konnte, wenn man das Denkmal mit einem Scheinwerfer abgeleuchtet hätte. Trotzdem blieb die Lage kritisch, denn ein besonderer Pfiff aus der Ferne belehrte mich, daß die drei noch weitere Kollegen in der Nähe hatten.

Aus der Richtung, wohin ich normalerweise hätte verschwunden sein müssen, tauchten zwei andere Personen auf, und die fünf berieten aufs neue und drehten sich plötzlich wie auf Kommando dem Denkmal zu. Sie hatten meinen Trick durchschaut.

Ich wechselte meinen Platz, und die Bronzefigur war ein sicherer Kugelfänger, – so sicher, daß ich belustigt lächelte, als irgend etwas gegen den breiten Rücken de Ruyters klatschte … – ein Wurfmesser …

Ich wollte nicht abwarten, bis die Herrschaften mich etwa eingekreist hätten. Die Nordsee war mir gewogen und schickte gerade jetzt eine ganz dicke Nebelwolke über den Boulevard, ich sprang vom Sockel leise herab, Ghost folgte, ich hatte ihn kurz an der Leine, und ich tauchte schleunigst in den Nebel ein und stieß unversehens gegen eine Frau, die einen dünnen Gummihautmantel und ein ärmliches Kopftuch zu tragen schien, – genau erkannte ich dies nicht, – wie ein Phantom wich sie mir aus, und ich selbst kauerte nun etwas außer Atem hinter einer Hecke und spitzte die Ohren …

Ja – da war es wieder, dieses Bruchstück des Bajazzoliedes, auf einer Handharmonika künstlerisch gespielt.

Nur ein paar Takte …

Ich kannte sie, – schon bei meinen ersten Begegnungen mit den zweifelhaften Gentlemen hatte ich das Lied vernommen, und unweigerlich stand es mit diesen mißglückten Attentaten irgendwie in einer unklaren Verbindung.

Ich vernahm das Trappeln sehr eiliger Füße, dann wurde alles still. Von der See her tuteten Nebelhörner, aus einem nahen Hotel ertönte schmissige Musik, und nach ein paar Minuten wandte ich mich der Stadt zu und wagte mich in die engen, winkligen Gassen der architektonisch sehr interessanten Altstadt hinein, wo es abwechselnd nach Käse, Heringen und Alkohol roch, – wo in kleinen Kneipen das Matrosenvolk lärmte und schrille Weiberstimmen und mechanische Klaviere und noch höllischere kratzende Grammophone diesen Hexensabbat noch verstärkten und mich in die friedvollere Gegend des Friedhofs scheuchten. Vereinzelte Liebespärchen wandelten hier eng umschlungen dahin, – ich wich ihnen aus, ich traute niemandem mehr, und als nun gar ein angetrunkener Jan Maat alkoholselig auf mich zutaumelte, drückte ich mich in eine der Außennischen der Friedhofsmauer, um Rückendeckung zu haben.

In diesen Nischen waren Gedenktafeln für die verstorbenen Berühmtheiten der Stadt angebracht, und pietätvolle Hände hatten hier einen Rosenstrauch eingepflanzt, dessen rote Blüten zart und köstlich dufteten.

Im Augenblick hatte ich nichts für Rosen übrig, – der angekneipte Matrose begann zu singen, und im Nu hatte ich die lange Cold wieder in der Hand.

Das heißt: Er versuchte zu singen.

Immerhin war noch herauszuerkennen, daß es sich abermals um einen Teil des Bajazzoliedes aus der gleichnamigen italienischen Oper handelte.

Seltsam: Wieder das Bajazzolied!!

Es verfolgte mich nun bereits tagelang, und die Melodie fiel mir allmählich auf die Nerven.

Der Jan Maat sah reichlich zerlumpt aus. Es war ein alter, krummbeiniger, graubärtiger Knabe, der sicherlich nur noch auf einem Heringsdampfer Heuer fand, – – falls er überhaupt Matrose war. Vielleicht hatte er zur Zeit einen lohnenderen Beruf als echter Bravo … als gedungener Mörder.

Er mißfiel mir immer mehr, da jedoch weit und breit keiner seiner Kollegen zu sehen war, nahm ich ihn nicht recht ernst.

Er torkelte quer über den Weg und benutzte nun die Mauer als Stütze und näherte sich mir langsam. Die Laterne vor mir brannte hell genug. Ich belauerte jede seiner Bewegungen, besonders seine Hände, aber diesmal schien mein Mißtrauen übertrieben zu sein: Der Jan Maat pendelte um meine Nische herum, machte dann plötzlich kehrt und blieb mit schlenkernden Armen vor mir stehen.

„Hallo, Mister“, fragte er in einem verdächtig heiseren Baß und in miserabelstem Englisch, „haben Sie … ja … haben Sie vielleicht meine … meine Frau hier gesehen?“

„Ihre Frau, – nein …“

„Schade, Mister, – sehr schade“, grunzte er, hin und her schwankend. „Es weht heute wieder eine sehr steife Brise, Mister, und dabei kann man sich leicht erkälten, – Sie auch! Und meine … meine Frau hatte nur so ’nen dünnen Gummimantel an … – Sehr schade … – Gute Nacht, Mister!“

Der Matrose bog in den Weg nach dem Hafen ein.

Ich hatte nun allen Grund, selbst die sinnlosesten Äußerungen eines scheinbar nicht mehr recht nüchternen Menschen nicht unbeachtet zu lassen, und sowohl des Alten Bajazzolied wie seine törichte Frage nach seiner Frau und die Bemerkung über die steife Brise gaben mir zu denken.

Ich folgte ihm.

Hierbei stellte ich fest, daß zwischen mir und dem Jan Maat ein Herr müßig dahinschlenderte, der stark hinkte und dessen Stockzwinge regelmäßig mit hellem Klang auf das Pflaster schlug.

Am Hafen, dessen Kaianlagen gut beleuchtet waren, hatte sich an einer der Treppen eine größere Menge Menschen angesammelt, die stumm und ernst zwei Hafenpolizisten beobachtete, die soeben, wie ich dem Reden der Leute entnahm, eine weibliche Leiche aus dem trüben Hafenbassin gefischt hatten.

Die Frau lag oben auf den Steinquadern, das Gesicht war deutlich zu sehen, jedoch völlig entstellt …

Offenbar hatte eine Dampferschraube diese furchtbaren Verletzungen hervorgerufen.

Was mir sofort auffiel: Die Tote trug einen durchsichtigen Gummimantel, und unwillkürlich schaute ich mich nun nach dem alten Matrosen um, obwohl diese Tote kaum seine Frau sein konnte, da sie noch sehr schönes, volles blondes Haar hatte und auch ihre Gestalt trotz der ärmlichen Kleidung (der Mantel war zerrissen und Schuhe und Strümpfe sehr schadhaft) jugendliche Fülle und Straffheit der Linien zeigte.

Der alte Mann saß abseits auf einem leeren Faß und rauchte jetzt eine Tonpfeife, starrte vor sich hin und mußte trotzdem wohl gehört haben, wie der eine der Beamten sehr entsetzt ausrief:

„Die Frau ist ja soeben erst ermordet worden! Man hat sie erstochen und in den Hafen geworfen …“

Der Matrose nickte mehrmals, und als ich ihn nun ansprach, schaute er mich ganz seltsam stier an …

„Es ist doch nicht Ihre Frau?!“, sagte ich halblaut. „Es muß ein junges Wesen sein … Sie hat noch kein graues Haar…“

Der Alte lachte heiser. „Meine Frau?! Nein! Wer sollte die wohl erstechen, Mister?! Das ist sicherlich so eins der lockeren Vögelchen aus den Hasenschenken… – Na“, fügte er merkwürdig nüchtern hinzu, „hat meine Prophezeihung nicht gestimmt?! Es weht eine scharfe Messerbrise, und man tut gut, bei geschlossenen Fenstern zu schlafen … Dieser Nebelwind ist zu ungesund …“

Dann erhob er sich und torkelte von dannen. Er hatte ein häßliches Säufergesicht, und die grauen Haare fielen ihm tief in die Stirn.

Plötzlich stand der hinkende Herr neben mir. Es war ein schlicht gekleideter Mann mit einem grauen, gut gepflegten Vollbart und einer Brille und kurzsichtig zugekniffenen Augen.

„Was ist hier eigentlich geschehen?“, erkundigte er sich etwas ängstlich. „Dort scheint eine Tote herausgefischt worden zu sein …“

Ich erzählte ihm das wenige, das ich wußte.

„Das Gesicht ist also nicht mehr zu erkennen?“, fragte er erschrocken. „Nein, – Leichen kann ich nicht sehen … Da will ich doch besser ins Hotel zurückkehren.“

Er hinkte davon, und nachdem ich noch das Eintreffen des Arztes abgewartet hatte, der gleichfalls Mord feststellte, machte ich mich auf den Rückweg.

In meinem Hotelzimmer im ersten Stock fand ich auf dem Schreibtisch einen an mich adressierten, ganz frisch zugeklebten Brief vor, den mir jemand nur durch Einsteigen durch das offene Fenster überbracht haben konnte. Andernfalls hätte der Portier oder der Zimmerkellner etwas von dem Schreiben erwähnt. Ich entdeckte auch auf dem Fensterbrett Spuren von Sand.

Der Brief lautete:

Wenn Sie diese Nacht die Entführung einer Toten mit beobachten wollen, so behalten Sie die Leichenhalle neben dem Hafenpolizeiamt im Auge. Mischen Sie sich jedoch auf keinen Fall ein. Ihr Leben ist ohnedies bedroht, und Sie dürfen auch nie mehr bei offenem Fenster schlafen. – Der Warner.

Dieser Inhalt des Briefes mußte mich, ganz abgesehen von anderen Begleitumständen, äußerst stutzig machen. Auch der alte Matrose hatte von „geschlossenen Fenstern“ gesprochen, und unwillkürlich brachte ich sowohl den Jan Maat wie den hinkenden alten Herrn, der so überaus ängstlich getan hatte, miteinander in mir noch unklare Beziehung.

Der ungenannte „Warner“ behielt im übrigen recht.

Ich wurde Zeuge, wie vier Leute gegen zwei Uhr morgens, als der Nebel am dichtesten war, mit Nachschlüsseln in die Leichenhalle eindrangen und einen eingehüllten Körper in ein Boot trugen und davonruderten. Am nächsten Tage wurde in Vlissingen bekannt, daß die gestern abend geborgene Leiche einer fremden, ärmlich gekleideten jungen Frau aus der Halle gestohlen worden sei.

 

2. Kapitel.

Das Hochstaplerpaar Geschwister Delmont.

Die berüchtigten Themse-Nebel hatten sich nach dem Wettersturz in den ersten Tagen des Monats August in geradezu verschwenderischer Fülle Abend für Abend über die Riesenstadt London bis zum Meere hin ausgedehnt.

Genau in diesen Tagen wurde ich von Vlissingen nach London unter allen nur irgend erdenklichen Vorsichtsmaßregeln etwa wie ein Juwel hinübergeschmuggelt.

Ich war mir in meinem ganzen Leben noch niemals so wichtig und wertvoll vorgekommen wie damals.

Desto ärger mußte für mich die Enttäuschung sein, als die Unterredung im Polizeipalast von Scotland Yard mit all den hohen Tieren im Grunde ein äußerst behutsames Herumreden um die bewußte Sache blieb, die man nun … „vertrauensvoll in meine Hände legen wollte“, wie der Gentleman aus dem Ministerium sich so hübsch ausdrückte.

Mir wäre es lieber gewesen, diese hohen Tiere hätten ihre diplomatischen Fähigkeiten, mit vielen Worten gar nichts zu sagen, bei dieser Gelegenheit ausgeschaltet und mir klipp und klar darüber Aufschluß gegeben, was dort am Tsad-See eigentlich aufzuklären sei und weshalb die Fäden dieser mysteriösen Angelegenheit bis London und Vlissingen reichten und wieviele Detektive bisher bei den ergebnislosen Versuchen, diese Dinge aufzuhellen, spurlos verschwunden seien.

Stellte ich klare Fragen, dann gab es ein allgemeines Achselzucken und höflich-bedauerndes Lächeln …:

„Wir wissen gar nichts Genaues … Aber Sie, Mr. Abelsen, werden die Schwierigkeiten schon überwinden …“

Ich merkte, bei der dunklen Affäre stimmte irgend etwas nicht.

Ich hatte die Sache satt. „Gut, ich werde mein Bestes tun … Jedes weitere Wort wäre Zeitvergeudung. Ich werde hier in London mit meinen Nachforschungen beginnen. Hilfskräfte brauche ich vorläufig nicht. Mein Hund genügt mir.“

„Sir Morstan“, wandte ich mich an den Oberchef, „bitte geleiten Sie mich durch einen selten benutzten Seitenausgang auf die Straße … – Es war mir ein Vergnügen, meine Herren …“

Ich nahm meinen Koffer, meinen Hund, verneigte mich, die Gentlemen verneigten sich auch, und dann drückte der kleine, bissige, bierehrliche Oberchef mir die Hand und schob mich durch die schmale Eisentür in den Nebel hinaus.

„Hals- und Beinbruch, Abelsen!“, flüsterte er hastig. „Das Ganze ist eine halbe Schweinerei, sage ich Ihnen!!“

Ich lachte …

Aber die Tür klappte bereits zu, und Sir Morstans versteckte, dem Wortlaut nach etwas witzige Warnung fand meinerseits in diesem Lachen eine Antwort.

Der gute Morstan brauchte im übrigen um mich nicht besorgt zu sein. Ich wußte ja von Vlissingen her, daß da einige sehr geriebene Burschen sich die allergrößte Mühe gaben, baldigst an meinem Begräbnis als freudige Leidtragende teilzunehmen, sie hatten verschiedentlich auf die raffinierteste Art versucht, mir einen gesundheitsschädlichen Fremdkörper in Gestalt eines Messers oder einer Kugel in den Leib zu jagen, und nur meine eigene Gewitztheit und Schlagfertigkeit und nebenbei auch die Einmischung zweier stark angesäuselter Matrosen hatte mich an den betreffenden Abenden noch vor dem Erscheinen meiner Ehrengarde von drei Detektiven vor der mir zugedachten unsachgemäßen ärztlichen Gewaltkur bewahrt. Schließlich war denn auch den für mein kostbares Leben verantwortlichen beamteten Hütern die Sache zu bunt geworden, und sie hatten mich fast kniefällig gebeten, fernerhin im Hotel zu bleiben, bis wir unter noch zahlreicherem Schutze abgeholt und auf einem sicheren Dampfer verstaut werden würden. Dann waren wie erwähnt die „Eisberge“, der Wettersturz und der Nebel gekommen, und – – nun stand ich in demselben Nebel auf einem fremden Gehsteig einer mir fremden Straße und hörte das Tuten von Autos mit kläglich milchigen Scheinwerferbahnen und das Fluchen eines Verkehrspolizisten, und sah neben mir Schatten auftauchen und verschwinden wie Gespenster …

Und daß in diesem Riesenameisenhaufen arbeitender oder faullenzender oder andere begaunernder Menschen ein paar ganz gefährliche Ameisenlöwen, schon mehr Ameisentiger, mich sehnsüchtigst in Messerreichweite oder Schußweite zu bekommen trachteten, hätte mir jeder leidlich phantasievolle Hellseher voraussagen können, – ich jedenfalls war auf alles gefaßt, desgleichen Freund Ghost, desgleichen das nette schwarze Instrument, das ich in der rechten Manteltasche entsichert bei mir trug.

Die Nebelgespenster, die da unsicher an mir vorübertappten, beachteten mich nicht … Ich hatte mich in den Winkel der Mauernische der Pforte geklemmt und beobachtete, soweit man hier beobachten konnte …

Ich verließ mich auf meinen Instinkt und auf meinen Hund, der zweifelhafte Nebelgestalten sofort gewittert hätte.

In dieser Beziehung war Ghost ein prima-prima Charakterdeuter.

Und dann … kam sie …

Sie …

Ein Blumenmädchen, ärmlich, frierend, am Arm das Veilchenkörbchen …

Ein Autobus beleuchtete flüchtig die dürftige Gestalt …

Der bunte Schal um das blasse, verhärmte Köpfchen fiel ihr weit über den Rücken.

Sie schlurfte müde vorüber, zerrann wieder zu einem dunklen Fleck … zu einem Nichts wie all diese Nebelgestalten …

Ein leiser Aufschrei plötzlich …

Ein Knurren Ghosts …

Neben der zerfließenden Gestalt des Mädchens war ein Schatten erschienen, eine jener Nebelhyänen, die in den grauen Schwaden auf Raub ausgehen …

„Mein Geld, – – Hilfe!!“

… Das Mädchen sank wimmernd zusammen, und der brutale Wicht entfloh …

Das ist London …

Den Ärmsten stiehlt man mühsam das wenige, das sie mühsam erarbeiten oder erbetteln …

Den Reichen stiehlt man vielleicht Bruchteile ihrer Schätze, und eine Versicherungsgesellschaft hat den Schaden zu tragen. Die Reichen fürchten sich vor den Hyänen nicht … Sie gleiten in gepolsterten Autos vorüber und verstopfen ihre Ohren vor dem Notschrei der Ausgeplünderten.

Nicht alle …

Ich hatte das Mädchen auf die Füße gestellt, und plötzlich hielt eins der Autos dicht an der Bordschwelle, und der Chauffeur rief mir zu:

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Es war die tiefe Stimme eines gebildeten Mannes, und da das Mädchen sich matt und schwer auf meinen Arm stützte, bejahte ich die Frage des Fremden …: „Vielleicht bringen Sie diese Ärmste heim … Sie ist beraubt worden.“

„Sehr gern … Steigen Sie nur mit ein, Sir! Falls Sie Zeit haben …“

Das Auto kam mir wie gerufen. Ich hatte ohnedies auf eine leere Taxe gewartet.

Ich hob das Blumenkörbchen auf, half der dürftigen Gestalt in den Wagen, schob meinen Koffer hinein und zog Ghost neben mich. Er sträubte sich etwas.

„Wohin?“, fragte der bärtige Chauffeur, dem zweifellos die elegante Limousine gehörte.

„Wohin, Miß?“, wandte ich mich meiner leise weinenden Nachbarin zu.

„Grover-Street 102, Pimlico“, hauchte sie zurück.

Der Wagen rollte langsam davon.

Das Mädchen lag schlaff in der Polsterecke, mit geschlossenen Augen, – ihr Gummimantel war zerrissen, die Nebelhyäne hatte ihr die Börse mit Gewalt aus der Manteltasche geräubert.

„Haben Sie Schmerzen, Miß?“

Das Deckenlicht des Wagens brannte …

„Ja … der … Dieb stieß mich vor die Brust.“

Selbst das Flüstern wurde ihr schwer.

Ich schwieg also …

Ghost hatte mir den Kopf auf den Schenkel gelegt und starrte das Mädchen dauernd an.

Wir waren noch keine fünf Minuten unterwegs, als sich wieder etwas Neues ereignete. Ein anderes Auto fuhr dicht an uns vorüber, und eine Hand warf mir geschickt einen Zettel in den Schoß, auf dem in Druckschrift zu lesen war:

Vorsicht!! Das berüchtigte Schwindlerpaar Geschwister Delmont wieder an der Arbeit!!

Der Zettel war nur ein durchfeuchteter Zeitungspapierfetzen, – als ich ihn umdrehte, sah ich die Anzeige eines Modesalons.

In Vlissingen hatte ich einen ähnlichen Zeitungsfetzen vorgefunden, als ich im Hotel die Bekanntschaft einer reichen französischen Witwe gemacht hatte. Jener Zettel hatte morgens neben meiner Tasse im Frühstückszimmer gelegen, und als ich ihn Madame Demoulin gezeigt hatte, war sie noch am selben Tage nach Amsterdam weitergereist, weil Vlissingen ihr zu langweilig sei, – – sagte sie …

Meine drei Leibgardisten behaupteten, es sei die Schwindlerin Clarissa Delmont in Person gewesen, und gratulierten mir herzlichst, daß Miß Delmont noch keine Gelegenheit gefunden hätte, mir statt eines Stückchens Zucker eine Tablette Gift in den Tee zu tun. Ich wies die Gratulanten höflich zurück, denn ich habe Augen im Kopf und lasse es nicht zu, daß derartige schwerwiegende Verwechslungen zwischen Zucker und Gifttabletten unter meinen Blicken geschehen.

Immerhin, – das Blumenmädchen, der gefällige Autobesitzer und die Nebelhyäne, die eine Börse geraubt haben sollte, besaßen jetzt keineswegs mehr meine volle Sympathie, und Leute, die mit derartigen Tricks arbeiten, pflege ich mit noch besseren Tricks schachmatt zu setzen. Ich wußte nun ja, woran ich war, ich sollte nach Pimlico zu meiner eigenen Beerdigung geschafft werden, und da ich vorläufig noch weiterzuleben wünschte, beugte ich mich an einer Straßenkreuzung, wo wir neben anderen Autos warten mußten, weit vor und drückte dem Chauffeur ein gewisses Instrument in die Rippen …

„Sie bleiben hier halten, bis ein Schutzmann erscheint, Mr. Delmont … – – Hallo, Schutzmann!!“

Es gab einen kleinen Auflauf trotz des Nebels und trotz der empörten Erklärung des Autobesitzers, ich befände mich in einem äußerst bedauernswerten Irrtum.

Das Mädchen rührte sich nicht.

Als der lange, stramme Bobby meinen Ausweis gesehen hatte, salutierte er dienstbeflissen und verlangte, daß Mr. Delmont seine Papiere vorzeige. Dies geschah. Der Erfolg war verblüffend. Der Bobby salutierte vor dem Chauffeur noch diensteifriger, und das Endergebnis war, daß meine Gegenwart in der behaglichen Limousine nicht mehr gewünscht wurde, und ich schließlich mit Koffer und Ghost neben dem Schutzmann auf der Verkehrsinsel stand, wo ein starker Scheinwerfer aufgestellt war.

Meine Frage an den braven Bobby, wer der Herr gewesen sei, wurde mit einem verlegenen Grinsen beantwortet. „Das darf ich nicht sagen. Er hat es mir verboten … Und er hat mehr zu befehlen als Sie, Mr. Abelsen … Ich möchte nicht gern entlassen werden.“

Eine ungewisse Ahnung stieg in mir auf, daß ich hier gegen Kräfte kämpfte, die mir den Weg zum Tsad-See nicht nur mit vergifteten Dornen pflastern würden.

Ich jedenfalls traute dem Unbekannten, der mich schon in Vlissingen vor den Geschwistern Delmont gewarnt hatte, weit mehr als dem ahnungslosen Bobby, der nicht einmal mehr gewagt hatte, sich nach dem Namen des beraubten „Blumenmädchens“ zu erkundigen, denn der Chauffeur hatte sehr herrischen Tones erklärt, die Sache würde er in Ordnung bringen.

Ich mußte mich noch glücklich preisen, daß der Besitzer eines schnittigen Kleinwagens, der mit zu den Neugierigen gehört hatte, mich höflichst einlud, sein Auto zu benutzen. Mein begründetes Mißtrauen zerstreute er schnell durch die geflüsterte Bemerkung, ich solle mich an Vlissingen und die Teetasse erinnern.

Er war ein älterer Herr mit Brille, und ich hatte wirklich keinen Anlaß, sein Angebot auszuschlagen. Ich entsann mich jetzt, ihn tatsächlich im Hotel in Vlissingen mehrfach gesehen zu haben. Es war im übrigen derselbe Herr, den ich am Hafen in Vlissingen gesprochen und von dem ich irrtümlich vermutet hatte, er habe mir den „Warner“-Brief auf den Schreibtisch gelegt.

 

3. Kapitel.

Um das Leben der Geschwister Delmont.

Mochte nun auch jener „Warner“-Brief, der mich veranlaßt hatte, mich am Hafen vor der Leichenhalle auf die Lauer zu legen, nicht von ihm hergerührt haben, – daß der Mann hier abermals in einer immerhin etwas kritischen Stunde aufgetaucht war, konnte kein Zufall sein.

Ich hatte neben ihm Platz genommen, Ghost und mein Koffer waren hinter uns untergebracht worden, und während der alte Herr mit erstaunlichem Geschick sein Auto durch den Nebel lenkte, fragte ich ihn geradeheraus:

„Hatten Sie den Überfall auf das Blumenmädchen beobachtet?“

„Ja. Das Mädchen war Clarissa Delmont … Diese Hochstaplerinnen verstehen es, tadellos Maske zu machen.“

„Und der Besitzer der tadellosen Limousine, – wer war der Herr?“

Mein Nachbar zögerte mit der Antwort … „Wenn ich das wüßte oder irgendwie mit Bestimmtheit herausbringen könnte, Mr. Abelsen, wäre uns viel geholfen. Es ist zweifellos ein Mann von großem Einfluß und dabei auch ein äußerst vorsichtiger Mensch. Doch darüber reden wir später. Wir fahren jetzt dorthin, wo wir hoffentlich die Geschwister Delmont noch lebend antreffen, nach Pimlico, Grover-Street 102. Ich hörte, wie Sie dem Limousinenbesitzer dies zuriefen. Möglich, daß die Adresse nicht stimmt, aber es muß versucht werden … Der Herr im Ledermantel, der wie ein Chauffeur aussah, mag diesmal einen kleinen Fehler gemacht haben, es wäre sein erster übrigens … Ich bin schon sehr lange hinter ihm her, doch niemals gelang es mir, seine Persönlichkeit festzustellen.“

Er sagte dies alles mit einer so kühlen Selbstverständlichkeit, als handelte es sich um die alltäglichsten Dinge, und dabei ging es hier doch wahrhaftig um eine bitterernste Sache, denn für mich stand schon jetzt fest, daß der große Unbekannte, vor dem der brave Bobby so übermäßig Respekt gezeigt hatte, auch in Vlissingen seine fein behandschuhten Hände mit im Spiel gehabt haben dürfte. –

Pimlico ist keine sehr vornehme Gegend, und die Grover-Street war es schon gar nicht. Das miserable Pflaster und die armseligen Mietskasernen weckte in mir berechtigte Zweifel, ob hier Leute vom Schlage der weltberüchtigten Geschwister Delmont Quartier beziehen würden.

Das Auto hielt, und der alte Herr flüsterte mir zu: „Mr. Abelen, ich bin leider zu alt, um mich auf gefährliche Unternehmungen einlassen zu können. Mein lahmes Bein behindert mich außerdem zu sehr, ich wäre Ihnen nur ein Hemmschuh. Sehen Sie zu, was Sie allein ausrichten können. Es genügt, wenn Sie diesen Brief den Geschwistern irgendwie zustellen, deren Leben ich für bedroht halte. Der Unbekannte macht nicht viel Umstände, und jetzt, wo er sein Inkognito ernstlich gefährdet sieht, wird er noch rücksichtsloser vorgehen. Sie sind ihm nicht nur unbequem, sondern bedeuten für ihn auch eine große Gefahr. Das merkte ich schon in Vlissingen. Mein Name ist übrigens Reginald Tomsen, ich bin Privatgelehrter und interessiere mich für geheimnisvolle Verbrechen und für alles, was irgendwie damit zusammenhängt.“

„Sie sind der … Warner!“, erklärte ich jetzt mit aller Bestimmtheit. „Leugnen Sie nicht! Auch die Zeitungsfetzen stammen von Ihnen.“

„Ich leugne nichts, Mr. Abelsen.“ Er blinzelte mich durch seine Brille lächelnd an. „Ich führe ein recht unruhiges Dasein, aber ich brauche Ablenkung. Mein Sohn hilft mir zuweilen. Bickfort ist ein lieber, kluger und gewandter Junge, und es wäre nicht ganz ausgeschlossen, daß auch er heute unterwegs ist, obwohl ich seine allzugroße Selbständigkeit nicht liebe … – Nun gehen Sie aber … Ihren Ghost behalte ich hier …“

Bis Nr. 102 hatte ich noch etwa hundert Meter zurückzulegen. Mr. Tomsens Warner-Brief steckte in meiner Manteltasche. Der Nebel war hier genau so dicht wie in der City, und von dem Hause 102 sah ich nur eine altmodische Steintreppe hinter einem ganz schmalen Vorgärtchen und im ersten Stock ein erleuchtetes Fenster. Das Gebäude war schmal und sicherlich eins der ältesten der Straße, – als ich die Hand auf den Türdrücker legte, der gut geölt war, gab die Tür sofort geräuschlos nach und ich huschte in den Flur, schloß die Tür wieder und schaltete meine kleine Laterne ein …

Ich war mir längst bewußt geworden, daß Mr. Reginald Tomsen die Sachlage entschieden falsch beurteilte. Die unverschlossene Haustür gab mir recht, und hier drohte weit weniger den Geschwistern Delmont Gefahr als mir persönlich … Der große Unbekannte würde damit rechnen, daß ich Grover-Street 102 aufsuchte, und der gewisse Instinkt des Halbwilden sagte mir gleichfalls, daß hier für mich ein Hinterhalt vorbereitet sei.

Ich beleuchtete das Türschild der Erdgeschoßwohnung. Der Name lautete Parker, aber das wollte wenig besagen, da die Geschwister Delmont hier niemals unter ihrem richtigen und so berüchtigten Namen sich eingemietet haben würden.

Das helle Fenster im ersten Stock lockte mich. Die Vordertreppe zu benutzen, wäre mehr als leichtsinnig gewesen. Mir blieb nur der Weg über den Hof und irgendwie an der Rückseite des Hauses empor. Das Weitere würde sich dann schon finden.

Ich trug seit langem nur noch Schuhe mit Gummisohlen, und seit meine Lebensbahn diese jähe Schwenkung auf das kriminalistische Gebiet genommen hatte, war ich auch mit allerlei Fertigkeiten vertraut geworden, die man sonst nur bei fachmännisch ausgebildeten Leuten antrifft, seien es nun Detektive oder Gauner. – Die Hoftür war verschlossen, das Schloß jedoch hätte jeder Anfänger mit einem krummen Nagel geöffnet.

Der kleine Hofraum war nichts als ein grauer Nebelfleck. Ich tastete die Hauswände ab und suchte nach einer Regenrinne. Bei diesem behutsamem Umherirren stieß ich gegen einen Balken, – nein, es war kein Balken, es war eine Leiter, die an der Hauswand lehnte. Mir gab das zu denken. Leitern, die so einladend und bequem hingestellt sind, können auch bösartige Fallen sein.

Ich zauderte noch … Zu sehen oder zu erkennen war gar nichts, man mußte sich vollständig auf das Gehör verlassen.

Es mochte jetzt etwa ein Uhr morgens sein. Irgendwo krähte ein verschlafener Hahn, der sich arg in der Zeit geirrt hatte …

Irgendwo schrie ein Säugling, und eine müde Frauenstimme sang dem kleinen Schreihals ein Schlummerlied.

Von Großstadtlärm war hier nichts zu spüren.

Eine seltsame, geheimnisvolle Stimmung lag über alledem, fast etwas Träumerisch-Unwirkliches …

Aber der Warner-Brief in meiner Tasche und der Gedanke an das Geschick der Geschwister Delmont, die der alte Herr Tomsen vor dem großen Unbekannten schützen wollte, zerstörten nochmals jegliche Nebelphantasie.

Ich mußte mich zu irgend etwas entschließen.

Die Leiter erschien mir zu gefährlich, aber gleich rechts daneben fand ich eine Hofmauer und auch die gewünschte Regenrinne. Ich befühlte diese, – das Zinkrohr war neu und gut befestigt.

Gleich darauf hockte ich auf dem Fensterblech eines schmalen Fensterchens der ersten Etage, und da ich die obere Scheibe offen fand, kroch ich in ein etwas muffiges Badezimmer hinein, in dem eine verrostete Wanne stand – – uralt, unsauber und unappetitlich.

Ich schaltete meine Laterne nach flüchtigem Rundblick sofort wieder aus, ich konnte mir nicht recht denken, daß ein elegantes Hochstaplerpaar wie die Delmonts sich mit einem solchen Quartier begnügen würden, meine Kletterpartie würde wohl umsonst gewesen sein. Es blieb ja überhaupt sehr fraglich, ob die Delmonts hier in diesem Hause wohnten.

Trotzdem, – ich wollte zumindest feststellen, was die angelehnte Leiter zu bedeuten hatte, und als ich nun im Wohnungsflur stand und den Duft feiner Zigaretten roch, wie Clarissa Delmont sie im Hotel de Ruyter in Vlissingen bevorzugt hatte, als ich auch Stimmen vernahm und ein unterdrücktes Weinen, war ich meiner Sache vollständig sicher. Dazu hätte es gar nicht der herrischen Stimme bedurft, die ich durch die eine Zimmertür hörte. Es war die Stimme des Herrn im Ledermantel.

Ich stand hier als Lauscher in vollständiger Finsternis, und erst als meine Laterne kurz aufblitzte, wurde mir auch etwas anderes, das ich bisher nur mit jenem sechsten Sinn des Halbwilden gespürt hatte, zur Gewißheit: Drei Schritt vor mir lehnte ein schlanker, jüngerer Herr an der Türfüllung, winkte mir kurz zu und flüsterte ganz leise, aber vollkommen verständlich:

„Mr. Abelsen, ich bin Bickfort Tomsen … Vielleicht hat mein Vater mich erwähnt.“

Wenn schon der alte Herr Reginald Tomsen erstaunlich kaltblütig war, – dieser hübsche, junge Bickfort übertraf den Vater noch.

Ich knipste die Laterne wieder aus und trat näher an Bickfort heran. „Haben Sie die Leiter benutzt?“

„Ja … Schweigen Sie jetzt aber bitte …“

Die herrische, tiefe Stimme drinnen im Zimmer ließ sich von neuem hören:

„Alles Bitten ist umsonst, Clarissa … Ich habe euch beide in meiner Gewalt, und jeder Ungehorsam, – – nun, ihr wißt ja Bescheid … Es geschieht, was ich befehle. Ihr verlaßt sofort nach mir dieses Haus … Ihr bezieht die neue Wohnung, und – – eure Instruktionen kennt ihr …“

Drinnen wurde ein Stuhl gerückt …

Ich faßte Bickfort Tomsen bei der Hand und zog ihn in das Badezimmer. Die Tür lehnte ich nur an. Ich sah im Wohnungsflur einen breiten Lichtstreifen, der Mann im Ledermantel schloß die Zimmertür, ein dünner weißer Schein zuckte über den Flurläufer, der große Unbekannte mit seiner Autobrille und dem melierten Vollbart hatte sich gebückt, und dann glitt er weiter, eine Tür klappte leise, und alles wurde wieder still.

Nur aus dem Zimmer ertönte das laute Schluchzen der Hochstaplerin und die gedämpfte Stimme eines Mannes, der seine Schwester zu beruhigen suchte.

Ich eilte in den Flur, – auch ich bückte mich, und das, was ich da unter dem Läufer hervorzog und flüchtig und doch entsetzt betrachtete, war der beste Beweis für die vollkommene Gewissenlosigkeit des großen Unbekannten.

Die Höllenmaschine glich einem flachen Buche, dessen Oberdeckel etwas hochgeklappt war. Sie war aus gewöhnlichem Blech angefertigt, aber ihr Inhalt an Sprengstoff hätte genügt (Bickfort untersuchte sie später), das ganze Haus zum Einsturz zu bringen.

Ich entfernte die Zündvorrichtung, und dann schob ich den Warner-Brief unter der Tür ins Zimmer und eilte in das Badezimmer zurück.

Es war leer. Bickfort Tomsen hatte mich verlassen, – weshalb er so wenig rücksichtsvoll gewesen, sollte ich erst bei anderer Gelegenheit begreifen.

Unter diesen Umständen schien es mir doch angebracht, auch Hamilton Delmont, Clarissas Bruder, persönlich kennenzulernen.

Ich klopfte leise an die Zimmertür …

Niemand antwortete …

Ich öffnete … Der sehr bescheiden möblierte Raum war noch erleuchtet, das eine Fenster stand offen, am Fensterbrett sah ich die Eisenklammern einer Strickleiter, und als ich mich zum Fenster hinausbeugte, gewahrte ich zwei Gestalten, die mit einem Koffer im Nebel verschwanden.

Die Erklärung für diese eilige Flucht der Geschwister war bald gefunden: Auf dem Tische unter der Lampe lag der Umschlag des Warner-Briefes, – aufgerissen, – – nur der Umschlag … –

Mein Rückzug aus dem düsteren Hause mit Hilfe der Regenrinne war weiter kein Kunststück. Unten im Hofe war die Leiter entfernt worden, und als ich des alten Herrn Tomsens Auto erreicht hatte, fand ich ihn schlafend auf dem Führersitz, eine halb aufgerauchte Zigarre zwischen den Lippen.

„Hallo, – – Mr. Tomsen!!“

Er erwachte und blinzelte mich an. „Wie, – war ich etwa eingeschlafen?! – Ja, die Jahre, die Jahre!! Das Alter macht sich bemerkbar …“

Ich stieg ein. „Mr. Tomsen, wir müssen sofort zu jener Straßenkreuzung zurück, wo wir uns vorhin persönlich kennenlernten.“

Er öffnete die Augen etwas weiter. In seinem Gesicht zeigten sich Bestürzung und Angst. „Oh, – Sie denken an den Schutzmann, der …“

„Fahren Sie!! Fahren Sie, so schnell Sie können!!“

Unterwegs erzählte ich ihm von der Begegnung mit seinem Sohne und von der Höllenmaschine, die ich unter dem Mantel trug.

Er atmete hastiger. „Gott sei Dank, daß Sie so klug waren, scharf aufzupassen …! Gewiß, ich hatte in dem Brief den Geschwistern geraten, durch das Fenster zu entfliehen, denn die Methoden des Sultans sind mir nicht fremd, Leute aus dem Wege zu räumen. Immerhin hätte es für die übrigen Hausbewohner eine verheerende Katastrophe gegeben, wenn etwa der Vermieter der möblierten Wohnung sich zufällig heute früh nach seinen Mietern umgesehen haben würde …“ – Diese seine Aufregung um das Wohlbefinden anderer war mit seiner sonstigen stoischen Ruhe nur schwer in Einklang zu bringen. Der alte Herr mußte ein sehr mitfühlendes Herz besitzen, – seine eigene Person stellte er völlig zurück. Und das bedeutete alles in allem ein ganz ungewöhnliches Maß von Selbstlosigkeit, das machte mir den Mann nicht nur sympathisch, sondern erweckte auch ein reines, freundschaftliches Empfinden in mir, wobei ich vollkommen seinen echt englischen Spleen, in dieser Weise den „Warner“ zu spielen, übersah und sogar begreiflich fand. Diesem besonderen Typ von englischem Gentleman, der irgend eine ausgefallene Sache als Sport betrieb, war ich in den verschiedensten Formen bereits begegnet, und stets waren diese Leute mit einer erstaunlichen Hingabe einzig und allein auf dieses ihr Steckenpferd versessen und hatten auch stets auf ihrem Spezialgebiet Hervorragendes geleistet.

In jedem Falle hatte ich hier eine Bekanntschaft gemacht, die für mich äußerst wertvoll war, denn daß der alte Herr auch über mich und meine Tsad-See-Aufgabe verblüffend gut unterrichtet war, bewiesen mir schon die nächsten Stunden dieser denkwürdigen Nacht.

 

4. Kapitel.

Der große Unbekannte.

Tomsen hatte mir liebenswürdigst eine seiner Zigarren angeboten. Ich rauchte eine Weile tief in Gedanken versunken und bewunderte abermals seine Fähigkeiten als Autolenker.

Dann raffte ich mich zu der ersten Frage auf.

„Mr. Tomsen, – bitte, einmal ganz ehrlich: Sie kannten das Haus, in dem die Delmonts die möblierte Wohnung gemietet hatten?“

Er nickte. „Ja … – Sie besinnen sich auf Madame Demoulin, die Französin, die so plötzlich aus Vlissingen abreiste … Natürlich besinnen Sie sich auf sie. Es war Clarissa Delmont, ein reizendes Geschöpf, wie Sie zugeben müssen …“

„Dazu geistvoll, witzig und ganz „große Dame“, zwanglos, weitgereist, nur zuweilen sehr, sehr melancholisch.“

Er nickte wieder. „Sie verließ damals angeblich Vlissingen, und der Anlaß dazu war nicht nur der Zeitungsfetzen, den ich neben ihre Teetasse gelegt hatte und den Sie ihr mit so verwundertem Kopfschütteln zeigten. Der Hauptanlaß war mein Warner-Brief, der ihr eine halbe Stunde vorher übergeben wurde. Sie irren sich, lieber Mr. Abelsen, wenn Sie annehmen, daß diese Clarissa Sie etwa vergiften sollte. Nein, Sie sollten von ihr in Vlissingen nur in einen Hinterhalt gelockt werden, nachdem die verschiedenen anderen Anschläge auf Sie mißglückt waren. Überhaupt dürfte über diese Geschwister Delmont noch sehr viel zu reden sein, ich sehe in diesem Punkte noch nicht ganz klar.“

„Und weshalb nannten Sie vorhin den großen Unbekannten den „Sultan“, Mr. Tomsen?

Er schwieg eine Weile. „Auch diese Frage ist noch nicht spruchreif, Mr. Abelsen“, erklärte er schließlich etwas ausweichend. „Sie dürfen nicht vergessen, daß das ganze Problem „Tsad-See“ außerordentlich vielseitig ist …“

Ich fuhr förmlich herum. „Mr. Tomsen, Sie kennen also auch diese meine Aufgabe?!“

„Wenn ich diese Ihre Aufgabe nicht vorausgeahnt hätte“, sagte er mit seiner gewohnten Abgeklärtheit, „wäre ich nicht nach Vlissingen gekommen, um Sie zu schützen.“

Ehrlich gestanden, – der alte Herr machte mich immer verwirrter.

„Waren Sie einer der beiden Matrosen, die mir verschiedentlich zu Hilfe kamen?“

„Nein, das war mein Sohn Bickfort, lieber Mr. Abelsen. Ich betonte ja bereits, daß mir mein körperliches Gebrechen Fesseln anlegt, die mich auf einem engen Tätigkeitsfeld festhalten.“

„Und der andere Matrose?“

„Den kennen weder Bickfort noch ich. Wir vermuten lediglich, wer es sein könnte, und wir werden nachher einmal die Probe aufs Exempel machen … In diesem Tsad-See-Problem wimmeln eine ganze Menge sehr geheimnisvoller Mitspieler umher … – Was ich übrigens gern wissen möchte: Ist Ihnen in Vlissingen das Bajazzolied aufgefallen?“

„Gewiß …“

„Und der betrunkene Matrose am Hafen, als die Tote geborgen war, die man wohl soeben erst ins Wasser geworfen hatte?“

„Natürlich, auch dieser alte Jan Maat hatte meinen Verdacht erregt …“

„Mit Recht“ bestätigte Tomsen fast feierlich. „Denn dieser Mann ist wohl die undurchsichtigste Figur dieses blutigen Schachspiels. Es ist furchtbar, daß es menschliche Bestien gibt, die vor gar nichts zurückschrecken … – Halt, hier haben wir die Straßenkreuzung … Ich will nicht zu nahe heranfahren … Dort ist der Scheinwerfer … Steigen Sie aus und halten Sie sich im Hintergrund … Die Menschenansammlung dort gibt mir zu denken – – leider!“

Ich fragte einen der Neugierigen …

„Ja, Sir“, erzählte er weitschweifig, „London im Nebel ist ein übles Nest …“

Aus seiner langatmigen Schilderung entnahm ich, daß vor kaum fünf Minuten der hier postierte Schutzmann plötzlich tot umgesunken sei und daß man festgestellt habe, der Ärmste sei erschossen worden, wahrscheinlich von einem Auto aus.

Ich bestieg wieder unseren Wagen.

„Er ist tot, Mr. Tomsen.“

„Das habe ich gefürchtet. Noch niemand blieb am Leben, der auch nur ahnte, wer der Sultan sein könnte …“

Und Reginald Tomsen seufzte schmerzlich und lenkte den Wagen in eine stille Nebengasse, dann nach Norden durch die Vororte – immer weiter, – immer weiter, eine schier endlose Fahrt.

Wir schwiegen beide.

Wir beide hatten wohl dasselbe Schuldbewußtsein: Wir hätten den strammen Schutzmann retten können, wenn wir sofort an die ihm drohende Gefahr gedacht hätten.

„Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, lieber Abelsen“, meinte der alte Herr Tomsen nach endloser Pause. „Wir wären nie imstande gewesen, den Polizisten vor diesem Schicksal zu bewahren. Die Macht, die der Sultan hat, ist bisher größer als unsere Abwehrmittel, und wir beide sowie der noch unbekannte Dritte und auch die Geschwister Delmont haben im Grunde dem Schöpfer zu danken, daß wir bis jetzt lebend davongekommen sind.“ Er sprach ernst und traurig, und ich fühlte geradezu, wie nahe ihm der Tod der ärmlichen blonden Frau in Vlissingen gegangen sein mußte. Daß auch diese Fremde dem großen Unbekannten „unbequem“ gewesen, brauchte Reginald Tomsen mir nicht zu bestätigen.

Abermals herrschte zwischen uns ein geradezu banges, beklommenes Schweigen. Der Wagen flog nun eine Chaussee entlang, selbst die Vororte hatten wir bereits hinter uns. Meine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit all diesen dunklen Fragen, und je mehr ich mich abmühte, eine Antwort auf nur eine einzige zu finden, desto deutlicher erkannte ich, daß meine Anstrengungen völlig nutzlos waren.

Dann merkte ich, daß wir wieder in die Nähe der Themse gelangt sein mußten. Der Nebel war hier fast undurchdringlich, ich hörte das warnende Tuten von Schleppdampfern und das Aufheulen der Sirenen der Polizeiboote, die in solchen Nebelnächten doppelt schwere Arbeit haben, da dann die Strompiraten am rührigsten sind.

Plötzlich hielt der Wagen. Mr. Tomsen schaltete alle Lichter aus und bat mich, ihm zu helfen. Wir schoben das Auto noch eine Strecke weiter über eine kleine Brücke in ein Gebüsch, und inmitten dieser vor Nässe tropfenden Bäume flüsterte der alte Herr mir etwas zögernd zu:

„Ich muß Sie noch um eine Gefälligkeit bitten, lieber Abelsen. Vorhin in der Grover-Street in Pimlico haben Sie sich äußerst geschickt benommen. Dort erwarteten Sie gewisse Gefahren, die Sie glücklich umgangen oder beseitigt haben. Hier nun handelt es sich mehr um … gute Nerven.“

Er machte eine Pause.

„Sie sollen ein Erbbegräbnis, eine Grabkapelle betreten, das ist es“, fügte er ängstlich hinzu. „Wenn Sie jenseits der Straße die Mauer sich entlangtasten, werden Sie mehr nach dem Flusse zu auf eine eiserne Mauertür stoßen. Hier ist der Schlüssel zu dem Patentschloß, die Türgelenke sind gut geölt. Sobald Sie im Parke sind, schließen Sie hinter sich wieder ab und wenden sich nach rechts, wo vor einem Halbrund alter Tannen das Erbbegräbnis steht. Bitte – auch den Schlüssel habe ich, hier ist er … Bickfort ist recht geschickt im Anfertigen von Nachschlüsseln …“

„Und wem gehört der Park?“, fragte ich mit begreiflicher Spannung. „Einem sehr reichen Geschäftsmann aus der City, einem Mister Saul Hollins. Doch das tut nichts zur Sache … Sie sollen lediglich feststellen, lieber Abelsen, ob in der Gruft, wo schon eine ganze Anzahl Särge stehen, ein ganz neuer Sarg hinzugekommen ist … Nur das.“

„Und wer liegt in dem Sarge? Etwa die Tote vom Hafenkai in Vlissingen?“, fragte ich mehr im Tone einer halben Behauptung, denn urplötzlich war mir dieser eine Zusammenhang der geheimnisvollen Ereignisse klar geworden.

„Wer sollte in dem Sarge liegen …!“, verbesserte der alte Herr Tomsen düsteren Tones … „Wenn Ihre und meine Schlußfolgerungen zutreffen, müßte es jene Tote sein.“

Er holte ganz tief Atem, als müßte er erst Kraft zu den folgenden Äußerungen sammeln.

„Abelsen“, – noch nie hatte er so ernst gesprochen, „ich will Ihnen nicht zumuten, den Sarg zu öffnen. Ich könnte es nicht, das übersteigt meine Fähigkeit, meine Nerven zu meistern.“ Seine leise Stimme schwankte und bebte, und ein trockenes Schluchzen drang an mein Ohr und erschütterte mich aufs tiefste.

Ich fühlte, die Tote mußte dem alten Herrn sehr nahe gestanden haben.

„… Nein, – ich bitte Sie nicht darum, Abelsen … Aber falls Sie uns unumstößliche Gewißheit verschaffen wollen, falls Sie also die Kraft finden, die Tote sich anzusehen, dann …“

… Er vermochte nicht weiterzusprechen …

Er drückte mir nur schnell ein paar in Seidenpapier gehüllte Blumen in die Hand …

Ich schritt bereits in den Nebel hinein, und dasselbe trockene, qualvolle Schluchzen folgte mir eine geraume Strecke wie ein stummes Flehen, der Toten diese Blumen in den Sarg zu legen. –

Wie oft schon hatte ich seit dem Tage, als ich Sir Morstans Angebot angenommen und mich der Abteilung 2 B zur Verfügung gestellt hatte, meinen einstigen felsenfesten Glauben, daß nur im Abseits das wahrhaft Außergewöhnliche anzutreffen sei, schwer erschüttert gesehen. Schon meine erste Aufgabe, das Geheimnis des Leuchtturms von Hangerupp aufzuhellen, hatte mir übergenug Beweise geliefert, daß auch mitten in der Zivilisation sich Tragödien seltsamster Art abspielen, die meinen früheren Abseitsabenteuern durchaus gleichwertig waren.

Und hier nun?!

Hier tappe ich nun an einer feuchten, rissigen, offenbar uralten Parkmauer aus Feldsteinen entlang, während vom Flusse wie das Brüllen von Seekühen auf Kerguelenland – ferne Erinnerungen für mich! – das dröhnende, tiefe, langgereckte Signal der Schleppschiffe herüberschallt …

Hier stehe ich nun vor der rostigen eisernen Pforte, taste nach dem Schlüsselloch, stecke den Schlüssel lautlos in den engen Spalt und …

… Was war das eben?!

Im Nu bin ich angespannteste Aufmerksamkeit, im Nu sind alle meine Sinne, alle meine Muskeln auf eine gewisse Gefahr vorbereitet …

Ich horche … Das Gehör ist hier am zuverlässigsten …

Und der Geruchssinn, die Nase …

Die Augen versagen …

– Was war das eben?! Das klang doch, als ob Metall gegen Metall schlüge …

In nächster Nähe …

Blitzartig kommt mir eine längst verblaßte Erinnerung, die doch erst wenige Tage zurückliegt: Das Denkmal des Admiral de Ruyter auf dem Nordseeboulevard in Vlissingen, – – fünf finstere Gestalten, – – ein klirrendes Wurfmesser.

Doch nein, – das Geräusch war leiser …

Und bei genauem Überprüfen dessen, was ich gehört habe und was die Einbildungskraft hinzudichtete, gelange ich zu dem Ergebnis, daß vielleicht jemand an der anderen Seite der Eisenpforte einen Schlüssel herauszog und dabei gegen den Türdrücker stieß, als ich meinen Nachschlüssel in die kleine Schloßöffnung behutsam einführte.

Trotzdem bin ich durchaus nicht mehr so vollkommen von der Ungefährlichkeit dieses Unternehmens überzeugt wie bisher. Gewiß, der alte Herr Tomsen hat betont, hier käme es lediglich auf robuste Nerven an. Mir will das nicht mehr so ganz einleuchten. Auch Reginald Tomsen dürfte kaum wissen, ob dieser unheimliche große Unbekannte ihm nicht längst auf der Spur ist und ihn und seinen Sohn beobachten läßt.

Die Machtmittel dieses großen Unbekannten sollen unerschöpflich sein. Keiner kennt ihn. Nur eins ist gewiß – – leider gewiß, das unendlich beschämend für Englands sonst so tadelsfreies Beamtentum: Es muß eine hohe Persönlichkeit sein, vielleicht ein ganz einflußreicher Herr aus dem Ministerium! Wie sollte sonst der arme Schutzmann, der nun kalt und steif und stumm nichts mehr verraten kann, vor dem Ausweis dieses großen Unbekannten noch mehr Respekt gezeigt haben als vor meiner so weitgehenden Vollmacht?!

– Ich bin mehr als mißtrauisch geworden … Ich fühle mich auf dem Kriegspfad, und blitzschnell erwäge ich die Vorteile und Nachteile eines Versuchs, anderswo die Mauer zu überklettern.

Meine linke Hand hält noch den Schlüssel, der im Schlüsselloche der Pforte steckt …

Meine rechte Hand holte die treue Coldpistole hervor, und dann … springe ich zurück, ducke mich zusammen.

Die Pforte hat sich lautlos nach innen geöffnet …

Eine heisere Baßstimme, die mir nicht fremd, lädt mich ein, ohne Scheu näherzutreten …

Undeutlich gewahre ich in der Pforte eine Gestalt, die eine halsfreie Matrosenbluse trägt.

Meine Laterne blitzt auf …

Es ist der alte Matrose aus Vlissingen, der mich nach seiner Frau gefragt hat.

„Licht aus!“, zischt er mich befehlend an … „Mr. Abelsen, haben Sie noch nicht genügend Lehrgeld gezahlt?! Licht aus!! Kommen Sie!“

Der Mann ist ohne Falsch und Heimtücke, der Mann hatte am Kai in Vlissingen angesichts der Toten einen Ausdruck in den Augen, den ich nun erst voll erfasse.

Damals glaubte ich, der Blick sei stier von Trunkenheit. Damals ließ ich mich täuschen. Heute kommt mir die Offenbarung: Der Mann litt grausamste Seelenpein, erduldete unerhörtes Leid, – – und beherrschte sich, spielte weiter den erbärmlichen Säufer, leugnete es ab, die Tote zu kennen, und vielleicht war es seine Tochter gewesen, sein einziges Kind, das mit mir auf dem Nordseeboulevard kaum eine halbe Stunde vor ihrem Tode beinahe zusammengeprallt wäre … Gleich darauf war dann die Handharmonika erklungen, das Bajazzolied, und die fünf Wegelagerer waren davongestürmt.

Nein, dem alten Jan Maat mißtraute ich nicht.

Ich betrat den Park, er schloß die Pforte hinter uns ab, nahm mich bei der Hand und führte mich in den Nebel hinein.

„Mr. Abelsen“, sagte er dumpf, „woher haben Sie den Nachschlüssel zu der Pforte – woher?!“

Sein häßlich klingendes Londoner Hafenenglisch störte mich nicht. – Sollte ich ihn belügen? – Nein, – vielleicht antwortete er mir auf die Fragen, die ich an den alten Herrn Tomsen gerichtet hatte und die dieser geflissentlich überhört hatte.

„Von dem … Warner!“, erwiderte ich leise, und nicht ein Laut, nicht eine Bewegung verrieten des Matrosen Erstaunen.

„So, so, – von ihm …!“, meinte er nur. „Ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, wer der Warner ist … Er nennt sich Reginald Tomsen … Das ist mir bekannt. Doch der Reginald Tomsen, der hier in Betracht käme, ruht seit Jahren friedlich auf einem Kirchhof, und zu Häupten des Doppelhügels steht ein wunderschönes Marmordenkmal …“

Es gibt Augenblicke, in denen man sich nicht genug in der Gewalt hat.

„Das ist unmöglich!“, stieß ich hervor. „Reginald Tomsen würde mich nicht belügen … – Verzeihung, wie heißen Sie?“

„Richard Charmer, Sir … Ja, Richard … Charmer, ein Dutzendname, der Ihnen gar nichts sagt. Was Sie da aber über den alten Mr. Tomsen reden, das … das müßte nachgeprüft werden. Manch einer ließ sich beerdigen und spaziert noch heute mit anderem Gesicht in der Welt umher … Alles ist möglich, Mr. Abelsen, alles …!“

Vor uns tauchten aus dem Nebel die Umrisse eines kapellenartigen Bauwerkes auf.

Charmer ließ meine Hand los.

„Wir sind zur Stelle …“

… Durch bunte, verstaubte kleine Fenster schimmern farbige Lichtflecken …

„Von wem haben Sie die Blumen?“, fragte der Jan Maat unvermittelt.

„Von dem Warner …“

„Welch’ ein feiner Kopf!“, murmelte der Alte.

Dann öffnete er den einen Flügel der großen Tür des Erbbegräbnisses und schob einen Vorhang beiseite.

„Bitte …“

Seine Stimme klang noch rauher und heiserer …

 

5. Kapitel.

Eine geheimnisvolle Totenfeier.

Vor dem Altar der Kapelle stand ein offener, heller, reich geschnitzter Eichensarg.

In dem Sarge ruhte eine Tote … Das verunstaltete Gesicht war mit einem leichten Schleier bedeckt, aber das blonde Haar war das der ärmlichen Leiche vom Hafenkai in Vlissingen.

Hier war nichts ärmlich …

Fast zu prunkvoll war die Tote aufgebahrt, an den wachsbleichen, gefalteten Fingern blinkten kostbare Ringe, und rund um den schwarzen Katafalk lehnten Riesenkränze und Palmenwedel … Zwei Leuchter brannten auf dem Altar, zwei noch größere neben dem Sarge. Weihrauchduft drang mir entgegen, – ernst und etwas starr schaute der Priester mich an, der vor dem Altare, eine Bibel in den Händen, statuenhaft auf uns gewartet zu haben schien.

Der Matrose schob mich vorwärts. Meine Füße schienen gelähmt, auf diesen Anblick war ich nicht vorbereitet gewesen.

Leise schritt ich dorthin, wo ich in einem Gestühl drei Leidtragende bemerkte, zwei Männer in Schwarz und eine schwarzverschleierte Frau.

Wieder stutzte ich. Einer der Herren in den feierlichen Gehröcken war Bickfort Tomsen, dessen Vater beerdigt worden war und doch am Leben sein mußte. –

Der Jan Maat hatte die Kapellentür verschlossen und winkte mir. Ich betrat das Gestühl und stellte mich neben die Verschleierte, indem ich sie und den Priester, einen weißhaarigen Greis, durch Verneigen grüßte.

Bickfort Tomsen beachtete mich nicht. Der zweite Herr nahm gleichfalls keine Notiz von mir.

Richard Charmer stellte sich uns gegenüber neben den hohen Leuchter und blieb mit gefalteten Händen stehen.

Die Kerzen knisterten …

Der Geistliche begann … Seine brüchige Stimme blieb gedämpft und erweckte den Eindruck, als wohnte ich hier einer heimlichen Beisetzung unter ganz ungewöhnlichen Umständen bei.

„Lilian Harley, es war Gottes unerforschlicher Wille, daß deine blühende Jugend jäh dahinwelkte …“

Was er sprach, blieb unpersönlich … Trotzdem vibrierte tiefster Schmerz in seiner Stimme, und für mich unterlag es keinem Zweifel mehr, daß er strengstens angewiesen war, alle Einzelheiten fortzulassen, die einen sicheren Rückschluß auf die Person der Toten ermöglicht hätten, – denn der Name Lilian Harley konnte ein Phantasieprodukt sein …

Er segnete die Tote ein, sprach ein Schlußgebet und fügte diesem das Bibelwort mit erhobener Stimme hinzu:

Auge um Auge, Zahn um Zahn! – Wo die Gerechtigkeit versagt, werden dir andere Rächer entstehen, Lilian Harley!!

Bisher hatte sich Richard Charmer, der alte Maat in der heute so sauberen Matrosenkluft, nicht gerührt. Unverwandt hatte er der Toten ins Gesicht gestarrt, und genau so starr und versteinert ließ Bickfort Tomsen kein Auge von der Verblichenen.

Charmer schaute jetzt Bickfort an, und dieser trat leise aus dem Gestühl und stellte sich dem Matrosen gegenüber.

Über den Sarg hinweg reichten sie sich die Hände, und dann beugten sie sich weit vor und schienen fast Wange an Wange zu beten. Wer aber ihr Mienenspiel beobachten konnte wie ich, der gelangte zu einer anderen Überzeugung.

Ich erschrak über die haßverzerrten Züge, über die flammenden Augen, – aber blitzschnell verschwand dieser dämonische Ausdruck, und mit einem schmerzvollen Lächeln legten sie ihre Hände nun für Sekunden auf die unverhüllte Stirn der Toten.

Dann traten sie zurück.

Die Kerzen knisterten und flackerten, die verschleierte Frau weinte still vor sich hin, der Herr neben ihr, der ein blasses, etwas weichliches Gesicht hatte, betupfte sich die Augen, und ich hielt es an der Zeit, die Blumen in den Sarg zu legen. Ich wickelte sie aus dem nebelfeuchten Seidenpapier, und es waren die herrlichsten, taufrischesten Marschall Niel-Rosen, die ich feierlich auf die Steppdecke der Lilian Harley ausbreitete.

Charmer winkte und deutete auf den Sargdeckel. Wir legten den Deckel leise über den Sarg, und Bickfort Tomsen hielt dabei die Hände vor das Gesicht gepreßt.

Gleich darauf versank der Sarg in die Gruft. Der elektrisch betriebene Aufzug nahm uns mit hinab, und Charmer und ich rollten den kostbaren Sarg der Ermordeten zwischen zwei ältere Särge und deckten die Kränze darüber und ließen uns wieder emporgleiten.

Das Loch im Boden der Kapelle schloß sich, das Surren des Aufzuges verstummte, und mein suchender Blick fand den Raum leer.

Der Geistliche, der junge Tomsen und das unbekannte Paar hatten die kleine Halle verlassen.

Charmer schaltete jetzt den elektrischen Leuchter ein, löschte die Kerzen und trug die beiden Ebenholzkandelaber hinter den Altar. Ich lehnte am Gestühl und betrachtete geradezu traumverloren die alten Gemälde an den Wänden der Kapelle. Es waren zumeist Ahnenbilder in Rüstungen und seltsame Trachten früherer Zeiten.

Charmer näherte sich mir.

Blieb stehen …

„Mr. Abelsen, ich kenne Ihre amtliche Eigenschaft, ich weiß, daß Sie von der Unfehlbarkeit der irdischen Gerechtigkeit genau so wenig überzeugt sind wie alle Menschen, die in ihrem Leben mancherlei erfahren haben – – am eigenen Leibe! Trotzdem, – Sie sind jetzt Beamter, Sie haben sich verpflichtet, den Behörden zu dienen.“

Sein häßliches, gewöhnliches Londoner Hafenenglisch stand in schroffem Gegensatz zu seiner Ausdrucksweise.

Seine Stimme klang nicht mehr rauh und heiser, sondern eigentümlich hart und unbarmherzig.

„… Wenn ich den Mann, der auf Geheiß des großen Unbekannten für Geld Lilian Harley, die in Vlissingen meine Helfershelferin bei gutem Werke war, erstach und würgte und in den Hafen warf, Ihnen überantworten würde, damit die Justiz ihn strafe und richte, was glauben Sie, dürfte dann geschehen?! Denken Sie an den armen jungen Polizisten, der heute nacht niedergeknallt wurde. Was dürfte dann geschehen?! – Ich will es Ihnen sagen, Mr. Abelsen: Der Mörder würde sterben, jedoch nicht durch den Strang, denn der große Unbekannte setzt sich niemals der Gefahr aus, auch nur einem noch so verkommenen Burschen eine Handhabe zu bieten, sein Inkognito, das heißt das Geheimnis des Sultans, zu lüften. Wahrscheinlich würde der Mörder eines Tages in seiner Zelle vergiftet aufgefunden werden. – Wäre das eine Sühne für ein solches Verbrechen? – Nein!! Der Mörder mag ein elendes, bestochenes, bezahltes Subjekt sein, die Hauptschuld mag den Anstifter treffen, aber so, wie Lilian Harley dort in Vlissingen abgeschlachtet wurde, – – das verlangt Strafe, das verlangt: Auge um Auge, Zahn um Zahn! – Genau so, wie Lilian sich in Todesangst unter den würgenden Krallen des Mörders gewunden hat, genau dieselbe Todesangst verspürt jetzt – – der da oben!“

Seine Hand wies zur gewölbten Decke, in der dort, wo außen das Türmchen der Kapelle sich erhob, eine winzige Wendeltreppe mündete, neben der ich eine dunkle Falltür bemerkte, deren eine Seite hochgeklappt war. Über den Rand der anderen Seite ragten zwei Schuhspitzen hinaus, – es waren Spitzen von tadellosen blanken Lackschuhen, und über den Schuhen nach oben zu schien die Gestalt eines Mannes in gestreiften Beinkleidern in die Finsternis des Türmchens emporzuwachsen.

Charmer beobachtete mich. Ich spürte es.

Ich senkte den Kopf und hatte im Nu die Pistole schußfertig.

Niemals wollte ich es dulden, daß hier eine Art Lynchgericht verübt wurde. Gewiß, – auch ich hatte Menschen getötet, – – nie hatte ich mich zum Richter und Henker aufgeworfen, ich hatte in offenem Kampfe den Gegner unschädlich gemacht.

Was auch immer für Richard Charmers Absicht, den Mörder hier an Ort und Stelle zu richten, sprechen mochte: Mein innerstes Empfinden sträubte sich dagegen, dies zu dulden!

Der alte Jan Maat mit dem schlecht gekämmten grauen Scheitel blickte gleichgültig auf meine Waffe, deren Lauf noch den Schalldämpfer trug.

„Eine Enttäuschung, Abelsen!“, sagte er dumpf. „Sie wollen mir drohen …“ Er lachte ironisch. „Was wünschen Sie also, was befehlen Sie, der Sie sich noch immer an Ihre Pflicht gebunden fühlen? – Bitte …!“

„Holen Sie den Mann herab – sofort!!“

„Wie Sie wünschen …“

Trotzdem blieb er noch stehen, und sein Blick wurde immer nachdenklicher. –

„Abelsen, vielleicht wird einmal die Stunde kommen, wo Sie mich milder beurteilen. Glauben Sie mir, es gehört ein endloser Leidensweg dazu, so hart zu werden, wie ich es bin, und … so gerecht! Ich wünschte, Ihnen bliebe dieser Dornenweg erspart. Ich kenne Ihre Vergangenheit, – Sie müssen ein sehr anständiger, vornehmer Charakter sein, daß Sie noch immer … so viel Illusionen sich bewahrten …“

Dann stieg er die Wendeltreppe empor und verschwand droben in der Dunkelheit.

 

6. Kapitel.

Wer war der Henker?

Mochte Richard Charmer auch nur ein betagter schlichter Jan Maat mit einer gewissen Halbbildung sein, ich setzte doch das felsenfeste Vertrauen in ihn, daß er mich nicht etwa überlistete und das sogenannte Urteil dennoch vollstreckte.

Charmer war zweifellos der Handharmonikaspieler von Vlissingen her, und da er dort im Verein mit Lilian Harley mich ständig beobachtet und beschützt hatte, obwohl ich mich auch allein aus den verschiedenen kritischen Situationen herausgehauen hätte, war mein Vertrauen auf seine Redlichkeit wohlbegründet.

Ich begriff nun auch die Bedeutung der Bajazzomelodie in all ihrer Tragweite, – diese Takte aus dem „Bajazzo“ stellten einmal eine sehr ernste Mahnung an meine heimtückischen Gegner dar, mich unbehelligt zu lassen, zweitens waren sie ein Signal für dieselben mordbeflissenen Bravos: „Ich bin in der Nähe!!“ – Im Lateinischen gibt es für all dies einen kürzeren bekannten Spruch:

Cave te! Adsum!!
(Hüte dich! Ich bin gegenwärtig!!)

– Ich lehnte wieder am Gestühl und blickte nach oben, sah den Lichtschein von Charmers Taschenlampe, hörte Charmer hin und hertappen, erkannte, daß der Mann auf der noch geschlossenen Hälfte der Falltür gefesselt war und sich offenbar aus irgend einem Grunde nicht zu bewegen wagte, und wurde erst unruhig, als das Licht oben erlosch und jedes Geräusch verstummte.

Meine Unruhe wuchs … – Dann blitzte der Gedanke in mir auf, Charmer könnte sich über das Dach entfernt haben … Gleichzeitig übertrug ich dieselben Gedanken auf Freund Tomsen, seinen Sohn Bickfort und das mir unbekannte Paar, also auf den Mann mit den weichlichen Zügen und die schwarz verschleierte Frau, die so schmerzlich während der Rede des Geistlichen geweint hatte.

Wenn all diese Menschen, die doch nun seit geraumer Zeit mit mir schicksalhaft verbunden waren, etwa durch meine Weigerung, diesen Akt der Lynchjustiz zu gestatten, sich wieder von mir losgesagt hatten, dann würde ich sie in dem ungeheuren Ameisenhaufen, London genannt, niemals wiederfinden.

Wußte ich denn, ob die Namen Charmer und Tomsen überhaupt stimmten?!

Es war ja so eindeutig klar, daß Charmer und die Tomsens zumindest gelegentlich Hand in Hand arbeiteten, und daß ich mit voller Absicht hier in die Kapelle gebracht worden, damit ich Lilians Beisetzung beiwohne.

Andrerseits gab es, wenn man die Geschehnisse genauer unter die Lupe nahm, so viel Widersprüche, daß man am besten tat, sich nicht auf zweckloses Grübeln einzulassen.

Ich brauchte ja nur eine Einzelheit herauszugreifen, und ich stand vor einer unüberwindlichen Mauer: Charmer hatte allen Ernstes behauptet, der alte Tomsen sei tot, und Reginald Tomsen wieder hatte erklärt, er wüßte nicht, wer der zweite hilfsbereite Matrose von Vlissingen her sei, möchte es aber gern herausbringen.

Das alles waren lose Zusammenhänge, bunte Fäden, die nicht zueinander paßten, – das alles war sinnverwirrend, – – und deshalb schob ich es von mir.

Jedes zu seiner Zeit! Hier war nicht Ort und Stunde, das Gehirn zu bemühen, hier mußte gehandelt werden. Aber bevor ich nun überlegte und doch kraftvoll in die Kette der Ereignisse eingriff, zog flüchtig wie ein schwarzes Wetterleuchten eine Vermutung bestimmter Art durch meinen heißen Kopf: Für mich bestand kaum ein Zweifel mehr, daß das „Paar“, die Mitleidtragenden dieser erschütternden und aufwühlenden Beisetzung des ermordeten Mädchens, nur die Geschwister Delmont, die Hochstapler, gewesen sein könnten. – Also – ein neues Rätsel!! Wie kamen Charmer und die Tomsens dazu, gerade diese weltberüchtigten Edelgauner zu dieser ernsten Totenfeier mit hinzuzuziehen?!

– Droben im Türmchen blieb alles still … Charmer war geflüchtet, hatte jede Beziehung zu mir abgebrochen. Ich mußte handeln … Der Mörder stand noch immer regungslos mit seinen Lackschuhen, die von einem Sündengeld bezahlt sein mochten, auf der Falltür des Todes.

Ich hielt die Cold noch in der Hand, sie war entsichert. Ich nahm die Laterne in die Linke, und mein ernster Blick schweifte nochmals über den friedlichen Raum, über die bunten, kostbaren Fenster, über die Gemälde, über den Altar, und der schwere Duft von Weihrauch, Blumen und Wachskerzen steigerte nur noch meine eigentümliche Stimmung bis zu einem schwer zu beschreibenden Gefühl nachsichtigen Verstehens aller, aller menschlicher Schwächen und schlechten Taten.

In dieser Stimmung wandte ich mich der Treppe zu.

War es Schicksalsfügung, daß ich gerade jetzt einen Schritt zur Seite trat?! Sollte ich am Leben bleiben, damit mein Dasein abermals eine neue Wendung nähme?

Haarscharf war etwas an meinem Ohr vorübergepfiffen …

Hinter mir splitterte das Holz der geschnitzten Rückwand des Gestühls. Kein Schuß war gefallen … Nur jenes dumpfe, kurze Knacken hatte ich vom Turm her vernommen, das jede Luftpistole erzeugt.

War Charmer der Schütze?!

… Ich lag bereits auf der eisernen Wendeltreppe, deren kurze Windungen und deren Geländer mich schützten – notdürftig! Ich behielt droben den Turmzugang im Auge … Ich sah nichts …

Dann ein zweites hartes Knacken …

Weiß Gott, Charmer war ein Kunstschütze, die zweite Kugel hatte den Lichtschalter getroffen, und mit einem Schlage war es finster ringsum.

Mein linker Daumen fingerte an der Laterne, mein Körper zog sich zusammen, ich schnellte die Stufen empor mit Riesensätzen, die Lichtbahn meiner Leuchte schwankte hin und her, und als ich die Falltür dicht über mir hatte, ertönte ein häßliches Kreischen, als ob ein rostiger Riegel sich bewegte.

Wie ein schwerer plumper Sack sauste der Verurteilte herab, die bisher geschlossene Falltürhälfte war nach unten gekippt, ich packte zu, umfaßte den stürzenden Körper, aber meine Armmuskeln fanden nicht mehr Zeit, wie eine Zange den schweren Leib zu umkrallen. Charmers Opfer glitt in die Tiefe, ein Seil pendelte, ein Henkerstrick, und in blinder Wut über diesen heimtückischen Streich kletterte ich in das Türmchen hinein, fand einen offenen eisernen Fensterladen, zwängte mich hindurch und hörte das Geräusch rutschender Stiefel auf dem grün bemoosten Dach, erkannte auch eine durch den Nebel in ihren Umrissen verzerrte Gestalt und … drückte ab …

Dieser Schuß war lediglich eine Reflexbewegung, – eine dritte Kugel hatte mir die Schulter gestreift, und da hatte ich den Finger gekrümmt, obwohl die Gestalt unten am Dachrand bereits versank, hinabsprang …

Empört bis zu lodernder Wut rutschte ich sitzend das nebelfeuchte Dach hinab, – Ziegelstücke polterten, – ich sauste ins Leere, ich fiel auf die Hände, richtete mich wieder auf, – und da – ein kurzes, wohlbekanntes Geräusch wie der Schlag auf eine leere Konservenbüchse: Der vierte Schuß!

Glühend heiß strich es über meine Schläfe hin, etwas Warmes rann mir über die linke Wange, Übelkeit würgte mir in der Kehle, aber der Mann, der aus dem Abseits kam, riß sich zusammen und schnellte hinter den nächsten Baum, so daß die schweren, nassen Tannenzweige mir das Gesicht peitschten. Der letzte Schuß, das hatte ich schon am Knall gemerkt, war aus einer Pistole mit Schalldämpfer abgegeben worden, und zwar bestimmt aus einer kleinkalibrigen Waffe, während die ersten drei einer jener heimtückischen belgischen Preßluftpistolen entstammten, deren Durchschlagskraft vollauf genügt, einen Menschen umzulegen.

Weiter aber noch hatte ich das Mündungsfeuer des letzten Schusses gesehen, – Charmer steckte dort in der Riesentanne links von mir, und daß ich ihn nun zu fassen bekommen würde, war nur noch eine Frage der Zeit. Wer sollte es auch anders sein als der etwas geheimnisvolle Matrose? Etwa hier an den großen Unbekannten zu denken, war doch völlig müßige Hirnbelastung, Leute vom Schlage der Tomsens und Richard Charmers würden diese Beisetzungsfeier der mir genau so rätselhaften armen Lilian Harley niemals in dieser Form gewagt haben, wenn sie auch nur die geringsten Befürchtungen gehegt hätten, der große Unbekannte mit seinen angeblich unerschöpflichen Machtmitteln könnte ihnen allzu dicht auf den Fersen sein.

Ein ganz leichter Luftzug, der über den nahen Fluß daherkam, zerriß zuweilen die zähe Nebeldecke zu dünneren Schwaden und zeigte meinem spähenden Blick in halber Höhe der dritten Tanne ein mattes Blinken wie von der verhüllten Linse einer Laterne.

Trotzdem blieb es eine kitzliche Situation, mit Charmer war nicht zu spaßen, der Mann betrachtete mich nun als seinen Gegner, und die Nähe der Parkmauer und der Straße legten mir leider ebenfalls einen gewissen Zwang auf.

Ich wünschte keine Einmischung einer zufällig des Weges kommenden Polizeipatrouille.

Das warme Geriesel aus dem unbedeutenden Streifschuß hatte aufgehört. Auch meine durch den Sturz vom Dache der Kapelle durchgerüttelten Knochen fanden sehr rasch ihre alte Spannkraft wieder, außerdem hatten die letzten Stunden nebenher ein Gutes gehabt: Meine Empörung gegen den Henker Charmer war wie ausgetilgt, ich war wieder vollkommen Herr meiner wirklich recht robusten Nerven und betrachtete die Vorfälle und das Zukünftige mit nüchternem Verstande als einen Kampf zwischen angemaßter Lynchjustiz und dem an ehernen Normen gebundenen Gesetz. –

Man sollte in der Beurteilung verzwickter Ereignisse noch vorsichtiger sein – immer noch vorsichtiger trotz all der bunten Erfahrungen, die ohnedies zur Zurückhaltung mahnen.

Man erspart sich dadurch jähe Überraschungen der Art, wie ich sie hier erlebte.

Aus der dritten Tanne kam eine helle gedämpfte Stimme in hastigem, ängstlichem Flüstern:

„Es war ein Irrtum, ein Versehen, Mister Abelsen … Charmer und der Unbekannte sind auf und davon … Ich schoß, – – es war eine Verwechslung … Die Kugel galt „ ihm“ …“

Eine Frau, – keine fremde Frau, – die Stimme hatte ich am Frühstückstisch in Vlissingen und bei anderen Gelegenheiten dicht vor mir und neben mir gehabt. Es war Clarissa Delmont.

Wenige Minuten später stand sie vor mir … Ihr Trauerschleier war zerrissen, der Trauerhut war ihr in den Nacken gerutscht, der zarte Parfümduft, der sie umwehte, wurde durch den Harzgeruch verdrängt, auch meine Hände klebten vom Harz der Riesentannen, und mein Mantel war verschiedentlich an weichen Harzausschwitzungen haften geblieben.

Clarissa beugte sich vor. „Mein Gott, – – Sie bluten … Ich hätte Sie töten können …“

Sie war entsetzt, sie hatte impulsiv meine Hände ergriffen, sie zitterte, ihre Stimme schwankte, und dann fügte sie anklagend hinzu:

„Ich war wahnsinnig, daß ich mich von den anderen trennte und die Befehle des letzten Briefes des Warners mißachtete. Aber ich habe für alles dies eine sehr triftige Entschuldigung: Meinen abgrundtiefen Haß gegen unseren Quälgeist!“

Ich beruhigte sie. Ich dachte an andere Dinge. Die Seelennöte und Irrungen und Wirrungen dieser vornehmen, vielseitigen Hochstaplerin traten zurück vor den Forderungen des Augenblicks.

„Miß Delmont, bitte, warten Sie hier“, sagte ich halb befehlend. „Folgen Sie mir erst nach drei Minuten in die Kapelle, wo zur Zeit nicht alles für weibliche Augen bestimmt ist.“

Sie stutzte merklich. „Was ist geschehen, Mr. Abelsen? Ich weiß von nichts, ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß …“ – sie unterbrach sich, ihr Ton wurde plötzlich sehr energisch und zielbewußt. „Sie täuschen sich in mir … Es gibt nichts, was ich nicht ohne Wimpernzucken anschauen könnte – nichts! Ich bin durch eine Hölle und durch den Schmutz der Verworfenheit gewatet, und Sie werden mich niemals schwach finden, niemals! Nur der grauenvolle Gedanke, daß ich gerade Sie hätte auslöschen können, umnebelte mein abgehetztes Hirn bis zu einem Gefühl der Furcht … – Kommen Sie, – ich will sehen, – was es auch sei!“

„Ich warne Sie …!“, glaubte ich nochmals einer Nervenkrise vorbeugen zu können.

„Überflüssig!!“

Und schon schritt sie mir voran, öffnete den Türflügel der Kapelle, schlug den Vorhang zurück und nahm den Schleierfetzen von der Linse ihrer Taschenlampe.

Auch meine Laterne blitzte auf. Ich verriegelte die Tür von innen, – dann ein Blick über den kleinen friedlichen, feierlichen Raum …

Mitten in der Kapelle schien ein Mann mit hängendem Kopf auf der versenkbaren großen Steinplatte zu stehen …

Aber der Strick, der straff gespannt nach oben in die Turmluke lief, deutete einwandfrei auf eine schreckliche Tragödie hin, die sich vor kurzem abgespielt hatte.

Die Lackschuhe des gut gekleideten Gehenkten berührten nicht den Boden, etwa fünfzehn Zentimeter Zwischenraum waren zwischen ihnen und der Steinplatte, und das Gräßlichste bei alledem war, daß der Tote sich an dem Strang langsam drehte, – hin und her, – keine völlige Drehung, nein, – so etwa, als betrachte er seine Gestalt prüfend in einem hohen Stehspiegel voller geckenhafter Eitelkeit …

Clarissa atmete ein paarmal hastig pfeifend. Ihr schmales, feines, wirklich vornehmes Gesicht war totenblaß. Aber die Linien um die fest zusammengepreßten Lippen waren hart und trotzig.

„Setzen Sie sich in das Gestühl und wenden Sie den Kopf zur Seite“, flüsterte ich absichtlich schroff.

Jedes weiche Wort hätte das Grauenvolle des Bildes vor uns nur gesteigert.

„Ich werde mich setzen!“ Abermals ein tiefer Atemzug. „Ich kenne den da … Es ist der Mörder Lilian Harleys … aus Vlissingen, ein vertierter Bursche, dabei eitel wie eine Theaterdiva. Sein Verbrechername lautet „Kleiner Sultan“ … Er ist klein und schmächtig, aber er besitzt Riesenkräfte … – Er gehört mit zu unserer Zunft“, fügte sie unendlich bitter hinzu und schritt hoch aufgerichtet dicht an dem kleinen Sultan vorüber zum geschnitzten Gestühl und setzte sich nieder und lehnte sich steif zurück und beobachtete, wie ich die Kerzen der vier Leuchter entzündete, – denn einen zweiten Lichtschalter gab es nicht, und der elektrische Strom war durch den Schuß unterbrochen worden.

 

7. Kapitel.

Hamilton Delmont, der Spieler.

Ich hatte den Toten aus der Schlinge gelöst und seine Taschen durchsucht und ihn dann nach unten in die Gruft geschafft. Ich war auch in den Turm emporgestiegen und hatte das Fenster durch den eisernen Laden gesichert. Ich hatte noch mehr getan: Ich war ins Freie bis zu jener Stelle geschlichen, wo wir Reginalds Auto untergestellt hatten, und ich war mit meinem dort zurückgelassenen Freunde Ghost und meinem Koffer wieder in der Kapelle erschienen und hatte Clarissa achselzuckend erklärt:

„Man hatte uns beide sich selbst überlassen, Miß Delmont. Meinen Ghost kennen Sie ja …“

Und der Hund hatte das Mädchen freundlich angewedelt.

Ein gutes Zeichen …!

Nun lehnte ich vor Clarissa an einem Gestühl und hatte mir sinnend eine Zigarette angezündet. Clarissa dankte. Die Zigarette war keine Entweihung der Grabkammer, sie war nur eine – sagen wir – Friedenspfeife, denn ich wollte mit Clarissa in aller Eintracht das erörtern, was zu erörtern war.

Clarissa überraschte mich aufs neue. Sie war zweifellos eine sehr sensitive Natur, sie verfügte über jenes Maß von Hellseherei, das klugen, feinfühligen und schwergeprüften Menschen so oft eigen ist.

Sie begann ohne Aufforderung zu sprechen, sie hatte das Kinn leicht in die linke Hand und den Ellbogen auf das Knie gestützt. In dieser ihrer zusammengekauften Haltung lag nichts Demütiges oder Bedrücktes, nein, – diese Stellung verriet zusammen mit ihrer bedächtigen Sprache lediglich straffe, geistige Sammlung. – Dumme, unintelligente Hochstapler gibt es nicht. Der kleine Gauner und Taschendieb und Einbrecher mag mit einem Mindestmaß von althergebrachten Kniffen auskommen. Die Heroen der Zunft sind anders zu bewerten.

„Mr. Abelsen, zunächst die letzten Ereignisse. Als wir in Begleitung des Geistlichen und des jungen Tomsen die Kapelle verlassen hatten, entwich ich heimlich. Irgend eine innere Stimme sagte mir, daß unser Verderber, der große Unbekannte, doch irgendwie herausgefunden haben könnte, wo und welche Art Stelldichein für die Nacht vereinbart oder befohlen sei. Mein Haß gegen diesen Mann kennt keine Grenzen, obwohl ich seine Sklavin bin. Weshalb Sklavin, – das werden Sie nachher begreifen. Ich erkletterte die Tanne, und dann … irrte ich mich und feuerte auf Sie. Wichtig bei alledem ist nur, daß der alte Charmer dieses Todesurteil an dem kleinen Sultan nicht vollstreckt haben kann, daß Charmer längst verschwunden war, als ich das Geräusch der niederfallenden Lukenhälfte hörte, und daß Sie – geben Sie acht – den großen Unbekannten bestimmt verwundet haben, meiner Beobachtung nach am linken Arm.“

Clarissa ahnte wohl kaum, welche Bedeutung diese Erklärung für mich hatte. Wenn der Mann verletzt worden war, gab es ja eine Möglichkeit, ihn herauszufinden. Das blieb mir die Hauptsache.

„Hing sein linker Arm schlaff herab?“, fragte ich gespannt.

„Ja, – er taumelte kraftlos hin und her, Mr. Abelsen … Die Schußwunde muß durch den Oberarm gehen“ – sie sprach noch bedächtiger. „Das wäre immerhin ein Anhaltspunkt für Sie, und Sie als einziger von uns haben Zutritt zu Scotland Yard und können selbst im Ministerium die Leute überprüfen, die für uns in Betracht kämen …“

Ihre letzten Sätze bewiesen mir, daß auch sie den großen Unbekannten im Kreise einflußreichster Persönlichkeiten vermutete. – Ich schwieg dazu. Ich wollte ihr nicht zu oft ins Wort fallen, mochte sie ihr Garn allein weiterspinnen.

Und sie tat es. Ohne jeden Übergang, nur mit oft sehr bitterem Tone, enthüllte sie mir ihr und ihres Bruders gewiß nicht alltägliches Geschick.

Die sanfte Begleitung zu ihren klar überlegten und doch von Temperament durchwehten Sätzen gaben die leise knisternden Kerzen und das Tropfen und Plätschern der Nebelbächlein, die vom Dache der Kapelle draußen auf den Kiesboden aufschlugen.

„… Vor anderthalb Jahren waren wir noch reich, wenn auch Waisen. Mein Bruder Hamilton geriet dann offenbar einer Falschspielerbande in die erbarmungslosen Krallen, und obwohl diese Leute einem der vornehmsten Klubs angehörten, wurde der charakterschwache Hamilton in kurzem völlig ausgeplündert. Es war eine grauenvolle Stunde für mich, als er mir beichtete, daß wir bettelarm seien. Mein Bruder ist kein schlechter Mensch, nein, – nur völlig haltlos und arbeitsscheu und ein Spieler, besessen vom Spielteufel, besessen von dem Wunsch, in der Gesellschaft zu repräsentieren … Der äußere Schein war ihm alles, – Armut dünkte ihm wie ein Todesurteil … So war er. – Er hatte noch Schulden, unser Haus, unsere Möbel, mein Schmuck wurde gepfändet oder veräußert, – – wir standen vor dem Nichts, wir verschwanden aus den Augen derer, die sich unsere Freunde genannt hatten und die uns plötzlich mieden, wir verkrochen uns in zwei Dachkammern im übelsten Viertel, ich suchte Arbeit, fand keine, als ich eines Abends abgehetzt von der Stellensuche heimkehrte, hatte Hamilton den Gashahn in der Küche geöffnet und war bereits halb bewußtlos, – er war damals zu feige, die Armut zu ertragen, damals … Und in jener Nacht, Mr. Abelsen, die diesem Selbstmordversuch folgte, ereignete sich das zunächst so märchenhaft-unwirklich Erscheinende … Ein Mann im Ledermantel, Lederkappe, Autobrille und Vollbart besuchte uns, ein Fremder, ein Namenloser. Nach wenigen, scheinbar mitfühlenden Sätzen legte er hundert Pfund auf den Tisch und einen Zettel …“

Plötzlich schaute sie mich jetzt an. „Mister Abelsen, auch ich habe abenteuerliche Romane mit phantastischen Verwicklungen gelesen. Ich hielt ihren Inhalt für unglaubwürdig, überspannt. Aber das wirkliche Leben, das sich hinter den glanzvollen Kulissen des Reichtums und des wohlversorgten Daseins abspielt, kennt doch diese phantastischen Schicksale. Die große, stumpfe, satte Masse nimmt nur keine Notiz davon. – Solch ein Schicksalsweg ward der unsrige. Auf dem mit Maschine geschriebenen Zettel stand, daß wir in Norwood im Südwesten Londons in einer sauberen Straße ein kleines, möbliertes Eigenheim vorfinden würden. – Der Zettel log nicht. Und doch log er. Ein Teufel in Menschengestalt hatte uns eingefangen, nahm uns die Sorgen ab – – scheinbar!! Einen Monat später traf ein Brief ein, ohne Unterschrift … Dem Briefe lagen wieder hundert Pfund bei. Er lautete etwa: „Sie beide können mir dann und dann einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie im Sheffield-Palast am Empfang des Botschafters teilnehmen … Die Eintrittskarten gehen Ihnen noch zu. Der Baronett Roger von Sheffield hat von mir unrechtmäßig eine Anzahl Juwelen als Pfand im Besitz, und …“ – Clarissa hatte sich mit einem Ruck erhoben …

Ganz dicht beugte sie sich zu mir hin. Ihre Augen flackerten vor Erregung …

„Noch nie … noch nie sind zwei Menschen, die bis dahin niemals ein Verbrechen begingen, so raffiniert vom schmalen Pfade der Ehrlichkeit weggelockt worden! Ersparen sie mir Einzelheiten … Diese Erinnerungen schnüren mir die Kehle zu … – Nur ein … Satan konnte einen solchen Plan entwerfen, – – und wir Leichtgläubigen, die wir unserem Wohltäter danken wollten, fielen darauf hinein… – Spät nachts holte er die Juwelen ab … ließ wieder einen Brief zurück, diesmal mit tausend Pfund Inhalt – – sonst keine Zeile! Am nächsten Morgen lasen wir in den Zeitungen von dem frechen Diebstahl der Sheffield-Familienkleinodien … Ich wurde ohnmächtig vor Schreck, Hamilton tobte vor Wut, – aber aus Wut wurde Angst, denn der Baronett hatte dreitausend Pfund Belohnung ausgesetzt … – Wir wagten uns nicht aus dem Hause, die Furcht folterte uns wochenlang … Doch unser Verderber verstand uns zu schützen, außerdem war er ein glänzender Seelenkenner … Einen Monat darauf atmeten wir freier … Und noch einen Monat später erreichte uns ein neuer Brief mit Geld und genauesten Instruktionen für eine Fahrt nach Nizza. Die Instruktionen sollten wir auswendig lernen. Ja – – auswendig lernen!!“ Sie lachte schrill … „Denn all seine Briefe, Mr. Abelsen, zerfielen bereits nach Stunden in farblose Flocken … Das Papier war chemisch präpariert. Und jener Brief zeigte uns den Dämon in seiner wahren Gestalt: „Wenn Sie nicht gehorchen, erhält die Polizei die Beweise für Ihre Tätigkeit im Sheffield-Palast“, lautete der Schlußsatz. Wir waren also gefangen, wir hingen in der Schlinge, wir waren machtlos … – So machte der große Unbekannte aus uns Sklaven, – – und schützte uns … – – Damals“, – sie fiel wieder auf den Sitz zurück, – „damals beraubten wir die Gattin eines Amerikaners im Schlafwagen während der Fahrt nach Nizza … – Wie gesagt, – der große Unbekannte ist ein feiner Seelenkenner, er hatte uns moralisch zermürbt, er drohte und beschirmte gleichzeitig. – Wir?! Wir waren ihm gegenüber genau so wehrlos wie ein paar zarte, verwöhnte, gut genährte Kaninchen gegenüber dem mordgierigen Fuchs …“

Ihre Schultern bebten, ihr Gesicht war farblos, aber in den leidenschaftlichen Augen brannte und glühte das Feuer ungestillter Rachsucht.

„… Gewiß, – sehr bald schöpfte man doch gegen uns Verdacht, nachdem wieder ein paar Monate verstrichen und ein paar neue „Befehle“ geglückt waren. Der Name Delmont wurde berüchtigt … Nie, nie war uns etwas zu beweisen. Noch nie habe ich so geistvoll durchdachte Instruktionen gelesen wie die seinen. In Frankreich verhaftete man uns … Wir mußten wieder freigelassen werden. In Holland geschah dasselbe … – So verging über ein Jahr. Unzählige Male hatten wir versucht, diesem Ungeheuer zu entschlüpfen oder doch seine Persönlichkeit festzustellen. Unzählige Male sahen wir ihn, sprachen wir ihn … Er belächelte unsere plumpen Bemühungen, ihm zu entrinnen oder ihn mit ins Verderben zu ziehen. – Es gab Stunden, in denen unser Haß gegen ihn uns förmlich zerfraß. Aus diesem Haß heraus erwuchsen uns Fähigkeiten, die uns bisher fremd geblieben, – jetzt wollten wir uns nicht mehr erwischen lassen, jetzt sorgten wir selbst für unsere Sicherheit und schärften nebenbei unser Hirn an Vergeltungsentwürfen, und all das nur in dem einen Gedanken, mit dem einen Ziel: Rache!! – Aber eine Rache, die uns auch unbedingt gelingen sollte, die fehlerlos in der Vorbereitung sein sollte!“ – Sie schwieg … Urplötzlich stahl sich ein seltsames Lächeln um ihre Lippen. „Um dieselbe Zeit“, fuhr sie fort, „als wir bereits einen hohen Grad moralischer Verkommenheit und geistiger Vollkommenheit erreicht hatten, trat die andere Macht in unser Leben ein … Die andere, – noch geheimnisvoller als der große Unbekannte … Vielleicht noch klüger als er, aber – – wahrhaft vornehm, wahrhaft ein Helfer und Berater …“

„Wer?“, fragte ich atemlos. „Reginald Tomsen etwa?!“

Clarissa Delmont schüttelte etwas verständnislos den Kopf. „Reginald Tomsen?! – Wer ist das?! – – Nein, – es war der Matrose Richard Charmer …“

Ich blickte sie ungläubig an. „Charmer?! – Und wie äußerte sich diese neue … Macht?!“ – Mir erschien es geradezu widersinnig, daß der alte Jan Maat, der auch heute so waschechte, teerbefleckte Pfoten gehabt hatte, eine „Macht“ vorstellen sollte …

Meine Frage blieb unbeantwortet. Freund Ghost, der sich bequem zu meinen Füßen niedergetan und den kraftstrotzenden Hundeleib wohlig ausgestreckt hatte, hob ruckartig den häßlichen, aber so überaus intelligenten Kopf und sprang dann empor und duckte sich hinten zusammen, während sein Hals sich mit gesträubtem Nackenhaar schier endlos gegen die Tür hin dehnte und seinem gefährlichen Gebiß ein grollender, ganz dumpfer Ton entschlüpfte.

Clarissa horchte gleichfalls …

„Stimmen draußen!!“, hauchte sie ohne Anzeichen von Furcht. Aber ihre Augen hingen trotzdem in banger Frage auf meinem Gesicht.

Ghost knurrte lauter …

In diesem kritischen Moment flatterte von oben aus der Turmluke wie eine weiße Friedenstaube ein Zettel herab und sank hin und her schwebend auf den Altarteppich. Mit einem Sprung war ich dort, hob das Papier empor, überflog die wenigen Zeilen und hielt den Zettel an eine der Kerzen …

Gegen die starke, eisenbeschlagene und bronzeverzierte Tür der Kapelle donnerten Fäuste, Stiefel, Pistolenkolben …

„Öffnen! Hier Kriminalpolizei!!“

Clarissa Delmont griff nach meinem Arm …

„Das ist seine Rache, Mr. Abelsen …!!“

„Nein, – das ist ein Reinfall“, flüsterte ich mit grimmer Genugtuung und trat in die letzte der drei Sitzreihen des Gestühls, betrachtete die geschnitzte Rückwand, deren kostbare, uralte Holzreliefs leider vielfach beschädigt waren, fand in dem großen Wappenschild den weit vorspringenden Löwenkopf und tat genau das, was der Zettel, der keine Unterschrift getragen hatte, mir befahl.

Dann schritt ich zur Tür, schloß sie auf, schob die Riegel zurück und öffnete … Die blendende Helle eines Handscheinwerfers überflutete meine Gestalt mit greller Lichtfülle, gleichzeitig drang ein brummiger Baß an mein Ohr:

„Verdammt, Abelsen, – – wie kommen Sie denn hierher?! Sind wir etwa durch den Telefonanruf vor einer Stunde genarrt worden?!“

Ich trat zurück. Fünf Kriminalbeamte drängten sich an mir vorüber ins Innere der Kapelle, nur Sir Morstan blieb neben mir.

„Wen suchen Sie hier, wenn ich fragen darf, Sir Morstan?“

„Das Schwindlerpaar Delmont und noch ein paar Galgenvögel“, stieß der Oberchef wütend hervor. „Ich dachte mir sofort, daß die telefonische Denunziation Unsinn sei! Was sollten die Delmonts hier?! Aber – was treiben Sie hier, Abelsen …?!“

Ein nadelscharfer Blick streifte mich.

„Ich?! – Ich habe einen Mann verfolgt … Ich verlor seine Spur hier in der Nähe, und als ich die Kapellenfenster erleuchtet sah, kam ich … zu spät. Der Mann war schon von anderen aufgeknüpft worden, und seine Henker hatten die Liebenswürdigkeit, mir ein Klümpchen Silvesterblei zu bescheren, daher der Streifschuß … Im übrigen liegt der Gehenkte unten in der Gruft. Er lebte noch schwach, als ich ihn losknotete … Er gestand mir, er habe in Vlissingen mit zu meinen Gegnern gehört. Das wäre alles, Sir Morstan.“

„Holt den Toten herauf!“, befahl der Oberchef seinen Leuten.

Als er die Leiche betrachtete, spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte. „Ah – der kleine Sultan!! Schau an … Ein einstmals sehr bekannter Artist, Messerwerfer und Kunstschütze, dann ein Jahr bei uns in der Polizeitruppe, jedoch wegen Unregelmäßigkeiten im Dienst entlassen, und von Stunde an wie vom Erdboden weggewischt … – Hm, – – regelrecht gehenkt, Genickbruch“, fügte er nach kurzer Untersuchung hinzu. „Und der soll noch ein Teilgeständnis abgelegt haben, Abelsen?! Das können Sie der Katze erzählen, mein Lieber!“

„Ja, auf Grund meiner sehr weitgehenden Vollmacht erzähle ich das sogar dem gefährlichsten Kater mit vergifteten Krallen, Sir Morstan.“

Und als ich diese bissige Bemerkung Auge in Auge mit einem der klügsten Köpfe von Scotland Yard trockensten Tones vorbrachte, war bereits in mir jene vollkommene Wandlung eingeleitet worden, die später zu einem mich selbst überraschenden Abschluß gelangen sollte. Damals nahm ich mir vor, das Geheimnis des großen Unbekannten und seiner teuflischen Persönlichkeit zu lüften, – damals vollzog sich der erste trennende Schnitt zwischen mir und den hohen Herren, die mich zum Tsad-See schicken wollten und zwar recht bald, damit London von meiner Gegenwart befreit würde.

Der tragische, moralische Niedergang eines Mädchens von Clarissa Delmonts Charakteranlagen gab hierbei mit den Ausschlag – mit den Ausschlag, war jedoch nicht die Hauptursache. – Die stille, starre, kalte Hauptursache ruhte dort unten in dem neuen Eichensarge unter der Unmenge blütenfrischer Kränze und hieß Lilian Harley …

Um Lilian Harleys brutal gemordete, hoffnungsfrohe Jugend rankten sich für mich wie duftende, geheimnisvolle, fremdartige Lianen die Geschicke anderer Menschen, engstens verknüpft mit ihrem Leben und Sterben: Reginald Tomsen, der seit Jahren begraben sein sollte, Bickfort Tomsen, der dem dritten im Bunde, Richard Charmer, über dem offenen Sarg die Hände hingestreckt hatte, und schließlich die Geschwister Delmont, die vielleicht nur Nebenfiguren dieses verdeckten Schachspieles bedeuteten …

 

 

Meine Arbeit …

 

1. Kapitel.

Zwei Namen im Adreßbuch.

Sir Morstan, der in der Polizeitruppe von der Pike gedient und erst später zur Kriminalpolizei versetzt worden war, wo er überraschend schnell Karriere gemacht hatte, besaß meine vollste Achtung. Er war eine ehrliche, rauhe Haut, und von ihm auch nur anzunehmen, daß er mit dem „Sultan“ in Verbindung stünde, wäre eine Beleidigung gewesen.

Ich hatte ihm die Vorgänge hier in der Kapelle nachher noch eingehender geschildert, jedoch stets in meinem Sinne. Natürlich schenkte er mir in dem einen Punkte keinen Glauben, daß der Gehenkte noch ein Teilgeständnis abgelegt hätte. In meiner amtlichen Stellung konnte er dieserhalb nicht an mich heran, meine Vollmachten glichen einen Blankoscheck, und daß er etwas verschnupft war, blieb mir gleichgültig.

Daß auch seinen Fähigkeiten eine Grenze gesetzt war, ersah ich daraus, daß er den neuen Sarg gar nicht beachtete.

Nun trat er wieder auf mich zu und begann von neuem über die telefonische Denunziation zu sprechen. „Ich habe die Meldung an das Ministerium weitergegeben, Abelsen, bevor wir mit dem Überfallkommando aufbrachen, und der Herr vom Nachtdienst befahl, es sollte sofort eine neue Besprechung mit Ihnen stattfinden.“

„Dann scheint der Herr bei Gott ein Hellseher zu sein. Wie konnte er wissen, daß Sie mich so bald in London wieder antreffen würden, – was doch etwa so viel bedeutet wie der Gewinn des großen Loses.“ Mein spöttischer Ton mißfiel ihm. Er war überhaupt miserabler Laune. Er tat meine Bemerkung mit einem Achselzucken ab. Das war entschieden das bequemste.

Seine fünf Detektive, die bisher die Kapelle mit rührender Sorgfalt durchsucht hatten, meldeten, daß von den Delmonts nichts zu finden sei. Einer war auch oben im Turm gewesen. Auch er hatte nichts entdeckt, obwohl doch der rettende Zettel vorhin von oben herabgeflattert war. – Wer hatte ihn herabgeworfen? Etwa der Warner?! – Doch nein, bisher hatten alle Warner-Mitteilungen offenkundig seine Unterschrift getragen. Charmer also?! – Vorläufig blieb die Frage offen. Mir lag auch anderes am Herzen. Ich mußte Sir Morstan mit seiner Garde unbedingt loswerden. Die Zusammenhänge, die zu dieser Razzia geführt hatten, waren mir nun ja klar. Der große Unbekannte hatte auch die „Besprechung“ befohlen, natürlich in einer Weise, daß seine Person wieder im Hintergrund blieb wie stets. – Ein schlauer, gefährlicher Fuchs …!

„Wir können also aufbrechen“, meinte Sir Morstan mürrisch. „Die Leiche liegt im Polizeiauto, und …“

„Einverstanden! Warten Sie draußen auf mich. Ich möchte hier einmal allein suchen“, sagte ich sehr bestimmt. „Sie wissen: Der Stärkste ist am mächtigsten allein. – Ich glaube, das ist von Schiller, aus dem Tell.“

Unter den buschigen Augenbrauen Morstans traf mich erneut ein äußerst mißtrauischer Blick. „Wie Sie wünschen … Wiedersehen …“

Die Kapellentür fiel ins Schloß, ich schob sofort leise den Riegel vor und löschte die Kerzen aus und befand mich im Dunkeln. Ich wußte genau, daß Morstan für mich draußen ein Ehrengeleite zurückgelassen hatte.

Ich tastete mich bis zu dem Gestühl, fand den Löwenkopf, das ganze geschnitzte Wappen in der Rückwand schwang nach außen, schwang wieder zurück, und ich schaltete meine Laterne ein. Ich stand hier in einem engen Raum zwischen den hier doppelten Mauern der Kapelle, deren würdiges Alter derartige Verstecke entschuldbar und begreiflich machten. Zu Zeiten der Königin Elisabeth waren die Köpfe ungezählter Adliger durch das Schwert des Scharfrichters vom Rumpfe geflogen.

Auf den Stufen einer leiterähnlichen Treppe saß Clarissa Delmont. Ihr schönes, zartes Gesicht war eine einzige große Frage nach ihrer Sicherheit.

„Was fanden Sie dort oben, Miß Delmont?“

„Leeren Bodenraum …“

Sie war etwas verzagt …

„Keine Tür zum Türmchen?“

„Wenigstens keine sichtbare“, flüsterte sie müde.

„Kind“, sagte ich mit aller Herzlichkeit, „es muß hier noch Türen geben. Ein Fuchs baut stets mehrere Löcher.“ Ich hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Sie sind bedrückt und verängstigt, weil der große Unbekannte seinen Schutz Ihnen und Ihrem Bruder Hamilton entzogen hat. Ihnen graut vor dem Zuchthaus … Das alles ist Torheit, Clarissa. Vertrauen Sie mir. Bisher ließ ich mich als Marionette an Fäden ziehen, jetzt habe ich so viel Fäden in Händen, daß ich andere tanzen lassen kann.“

Sie lächelte schmerzlich, doch mit einiger Hoffnung.

Ich wandte mich nach links und musterte das Gestein der Außenwand, – Feldsteine, alter Mörtel, Spinnengewebe und Pilze und Flechten.

Die Mauer schien festgefügt, aber die alten Baumeister der Elisabeth-Epoche Englands waren aus Not erfinderisch geworden. Wenn man für jede Geheimtür, die in uralten Bauwerken bis heute unentdeckt geblieben, ein Pfund erhielte, könnte man Rentner spielen und sich eine elegante Jacht und ein Auto halten.

Es dauerte keine Minute, dann hatte ich zwei tiefe Fugen und darin zwei Zapfen aus Bronze gefunden.

Ich hätte sie nicht gefunden, aber der, der hier in der Staubschicht seine Spuren zurückgelassen hatte, war mit dem Ölfläschchen zum Schmieren der Zapfen zu verschwenderisch umgegangen.

Als ich das Quadrat von Feldsteinen etwas nach innen zog und durch die Spalte draußen umhertastete, fühlte ich einen knorrigen Efeubaum.

„Clarissa, nehmen Sie Ghost ganz kurz an die Leine, ich trage den Koffer … Warten Sie noch.“

Ich horchte. Ich hörte auch Stimmen. Der Nebel war gerade jetzt dick wie eine hellgraue Schlafdecke.

„Vorwärts – – leise!!“

Der Chef der Abteilung 2 B und die Hochstaplerin krochen ins Freie, krochen nach rechts in die Büsche, und dann hatten wir die hohe Parkmauer vor uns.

Wunderliche Wege führt uns das Geschick.

Aus nächster Nähe vernahm ich das Tuten der Schlepper, – die Themse konnte keine fünfzig Meter entfernt sein.

Ich tappte an der Mauer lang. Es würde doch jeglichem Brauch eines Parkbesitzers widersprochen haben, wenn er nicht ein Bootshaus und einen Kanal zum Flusse besäße.

Da war das Bootshaus.

Aber hinter uns schrillte jetzt eine Pfeife … Polizeirüden blafften, und Sir Morstan suchte zweifellos sein Sorgenkind Abelsen. Die Türriegel der Kapelle hatte ich vorher zurückgeschoben, und Morstans Laune beim Anblick des leeren Erbbegräbnisses würde kaum rosiger geworden sein.

„Clarissa!!“

„Hier …!“

„Nehmen Sie auch den Koffer … Ich brauche beide Hände …“

In dem alten Bootsschuppen lag ein altes Benzinboot vorsintflutlicher Bauart.

Das Wasser platschte, ich ruderte, und Clarissa füllte den Benzintank.

Wieder schrillten Polizeipfeifen.

„Kind, – die Leute alarmieren die Flußpolizei … Schadet nichts!“

Als ich in offenem Wasser den ratternden Motor in Gang gebracht hatte, flüsterte die zitternde Clarissa: „Wenn wir hier glücklich entwischen, Mr. Abelsen, – – Hamilton und ich haben im Süden ein Häuschen mit Wasserfront gemietet, – das gehörte mit zu unseren Plänen gegen den Quälgeist.“

Wenn!!

Die Signale wurden beantwortet, und mit einem Male hörte ich Motorengeräusch.

Ich stoppte …

Es waren Minuten einer Nervenprobe, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb. Ich und Clarissa in einem Boot!! Und dazu die heimlichen, unheimlichen Intrigen des mächtigen Herrn!

Aber der Nebel war hier zäh wie Brei, und selbst die Windstöße zerstreuten diese dicken Vorhänge nicht.

Clarissa, Ghosts Kopf im Schoße, saß neben mir. Ich vernahm ihr stoßweises Atmen …

Armes Mädel …

… Es war jetzt die Zeit der Ebbe, und die Themse hatte eine starke Strömung.

Wir trieben ins Ungewisse hinaus …

Das Schrillen der Signalpfeifen erstarb, verstummte.

Vor uns glänzten matt drei helle Monde im Nebel: Elektrische Bogenlampen!

Clarissa regte sich. Mit einem Schlage war sie wie ausgewechselt. „Wir sind am linken Ufer. Das dort ist der Kai von Tennisons Fabrik … Riechen Sie den Teer … Noch eine Viertelstunde, und wir sind in Sicherheit, sind in Fulham …“

Unser Motor knatterte und puffte, zuweilen streiften wir die Uferböschung, dann sprang Clarissa auf.

„Am Ziel! Daheim!! In unserem zweiten Heim, das nicht einmal „er“ kennt …“

Ziellos und ohne Insassen schaukelte der Benzinstänker flußabwärts. In einem behaglichen kleinen Eßzimmer dampfte der Teekessel, und Clarissa und ich und Ghost stärkten uns. – Clarissa war eine frohe, geschäftige Hausfrau. Ihr Vertrauen zu mir rührte mich. Wir fühlten uns wie neugeboren, wir scherzten über Nichtigkeiten, bis der Ernst der Lage wieder sein Recht forderte.

„Clarissa, Sie fragen mich, was ich beabsichtige? Die beiden Herren Tomsen und Charmer haben uns sozusagen abgeschüttelt. Ich will die Tomsens finden. Dann habe ich auch Hamilton … Besitzen Sie ein Adreßbuch, Kind?“

Sie holte es herbei. – Der Name Tomsen füllte achtzehn Spalten. Unter „Reginald“ fand ich nichts, der alte Herr war ja tot, behauptete Richard Charmer. Aber unter Bickfort stieß ich auf das Ersehnte:

Dr. Bickfort Tomsen, Chemiker, New-Norwood, Bellgoor Street, Tomsen-House.

Clarissa machte aus ihrem Erstaunen kein Hehl. „Tomsen wohnt also ganz in unserer Nähe, das heißt, in der Nähe unseres Heims, das uns der große Unbekannte anwies und das wir noch immer innehaben. – Sonderbar!“

Sie füllte mir sehr nachdenklich die feine Teetasse und tat etwas Whisky hinzu. In dem seidenen dunklen Hauskleid, das fast raffiniert gearbeitet war, sah sie noch reizvoller aus. – Ich blätterte weiter in dem dicken Band und suchte den Namen Charmer. Gewiß, Charmers gab es eine ganze Menge, darunter auch drei Richards. Der Beruf des einen war mit „Kapitän“ angegeben.

Clarissa rief zuversichtlich: „Das ist er, Mister Abelsen!“

„Hm, – dahinter steht jedoch noch „außer Diensten“ und „Gutsbesitzer, Seymour-Castle, London-Barnes“. Machte Charmer auf Sie den Eindruck eines Schloßherrn? Kennen Sie Seymour-Castle?“

„Sie lachte leise. „Aber gewiß! Ob wir es kennen, – Sie auch!“

„Wie?! Liegt die Kapelle etwa im Park von Seymour-Castle?!“

„Gewiß. Das ist es ja eben. In dem Brief, den Sie uns auf Befehl des Warners unter der Tür hindurch in das Zimmer des Hauses in Pimlico schoben, stand ja gerade, daß wir umgehend in bestimmter Kleidung nach der Kapelle von Seymour-Castle fahren sollten. Begreifen Sie denn nicht, – wir sollten an Lilian Harleys Beisetzung teilnehmen, – das war sozusagen die Sühne, die uns Charmer auferlegt hatte.“

„Gestatten Sie … Ich muß nachdenken, Kind. Die Dinge liegen zu verwickelt …“ – Ich rauchte eine Weile völlig regungslos und hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen.

Ich vergegenwärtigte mir die gesamten Ereignisse mit allen Einzelheiten und besonders die Äußerungen Charmers und Reginald Tomsens, die sie über sich selbst und übereinander getan hatten.

Dann glaubte ich eine Lösung der Widersprüche gefunden zu haben, wenn auch nur eine Teillösung.

„Clarissa, ich möchte mich auf keine bestimmte Ansicht festlegen“, erklärte ich mit heimlichem Gähnen. „Zunächst brauchen wir Schlaf … Ein müder, abgespannter Körper und ein ausgepumptes Hirn erreichen nichts. Weisen Sie mir ein Zimmer an … Ein Sofa genügt mir.“

Clarissa war ein kluges Mädchen. „Der Diwan dort ist bequem … Mein Schlafzimmer liegt dort nebenan. – Ja, es ist das richtigste … – Gute Nacht, Olaf.“ – Zwanglos gab sie mir die Hand … Zum ersten Male hatte sie mich Olaf genannt. Ich freute mich darüber, denn wenn ein Mädchen meine vollste Sympathie gefunden hatte, war sie es.

Während ich noch ihre schmale, warme Hand umfaßt hielt, fragte ich, ihr gerade in die Augen sehend:

„Clarissa, wer war diese Lilian Harley?“

Ich glaubte bestimmt, sie würde mir Auskunft geben können. Aber sie schüttelte sehr ernst den Kopf.

„Ich weiß es wirklich nicht, Olaf … Ich hatte sie nicht einmal in Vlissingen bemerkt, und Hamilton auch nicht.“

Dann war ich mit Freund Ghost, meinem Koffer und meinen Gedanken allein. Ich saß im Sessel, und um mich her tanzten wie Masken mit verhüllten Gesichtern die Gestalten all der rätselhaften Persönlichkeiten, die nun mit in das Problem „Tsad-See“ hineingezogen waren. Ghost schlief und winselte zuweilen im Traum. Glücklicher, beneidenswerter Ghost …!! – – Aber ebenso schnell wies ich diese Anwandlung von Neid von mir. Andere Empfindungen stiegen in mir empor: Kampfesfreude, heitere Zuversicht! Ich würde auch diese Aufgabe bewältigen! Nur der, der lächelnden Mundes den Schicksalsbecher schüttelt und die Würfel rollen läßt, wird gewinnen! – Ich erhob mich und reckte mich, ließ die Armmuskeln spielen und ballte die Fäuste …

Und lachte lautlos …

Freund Sultan, du großer Unbekannter, jetzt gehe ich an die Arbeit! Charmer hat dich nicht aufgestöbert, die Tomsens fanden dich nicht, die Delmonts versagten, – – ich finde dich!! Und dann – – wehe dir!! Lilian Harley starb, ihr Mörder wurde durch dich gehenkt, damit er schwiege, der wahre Mörder bist du allein! Hüte dich, großer Unbekannter! Du trägst ein Kainszeichen, an dem ich dich erkennen werde: Meinen Kugelschuß im linken Arm!

 

2. Kapitel.

Ein Briefmarkennarr.

„Seine Gnaden bedauern, Sie nicht empfangen zu können“, sagte der alte, würdige Hausmeister in der vornehmen Diele des Sheffield- Palais am nächsten Mittag zu mir. „Seine Gnaden sind erst heute früh aus Berlin vom Kongreß des Internationalen Briefmarkensammlerbundes zurückgekehrt und haben mit dem Einordnen der neuen Marken noch tagelang zu tun.“

Also ein Sammlernarr! – Das hatte ich mir gedacht. Danach sah es schon hier in der Vorhalle aus.

„Überreichen Sie dem Baronett diesen Brief“, erklärte ich sehr dienstlich. „Dann wird er mich vorlassen.“ – Der Brief enthielt meine Vollmacht, die vom Staatssekretär unterzeichnet war.

Der Hausmeister zauderte. „Sir, sind Sie von der Polizei? Auf Ihrer Besuchskarte steht Benson, Kaufmann.“

„Gehen Sie, beeilen Sie sich!“ Und der alte Mann verduftete schleunigst.

Durch die großen bunten Fenster der Halle fiel das Sonnenlicht in farbigen Streifen auf prachtvolle Teppiche, Altvlämische Möbel, uralte Gemälde, exotische Waffen, Ahnenbilder und ein paar greuliche Götzenbilder sowie Glaskästen mit allerlei Ehrendiplomen und Orden und Münzen strahlten förmlich vor Sauberkeit und Staubfreiheit. Alles hier trug unverkennbar den Stempel einer fast spießbürgerlichen Ordnungsliebe und eines gediegenen, ererbten Reichtums.

„Seine Gnaden lassen bitten …“

Lautlos war der Hausmeister wieder aufgetaucht. Seine dürre Gestalt in der schwarzen Livree mit dem Asketengesicht, dessen gesunde Farben geradezu auffielen, war trotz der grauen, dünnen Haare straff und geschmeidig.

Er führte mich die Treppe empor in Seiner Gnaden sonnendurchflutetes Arbeitszimmer.

Die Herren Wettermacher hatten die bewußten Eisberge im Atlantik, die sie sich als faule Ausrede aus den Fingern gesogen hatten, wieder ableugnen müssen. Auf eine Nebelnacht war ein glutheißer, sonniger Tag gefolgt.

Der Baronett Roger Sheffield saß hinter einem riesigen Schreibtisch, der mit Briefmarkenbänden bedeckt war, und deutete mürrisch auf einen Sessel ihm gegenüber. „Ich begreife nicht, was die Abteilung 2 B von mir will … – Bitte, reden Sie!“

Das war kein angenehmer Herr. Ich schätzte ihn auf vierzig, er hatte ein kantiges, bartloses Gesicht mit kleinen, zwinkernden Augen und trug einen schwarzen Rock und schwarze Schleife. An seinem Zeigefinger prunkte ein großer, alter Wappenring. Seine Stimme war schwach, aber wohlklingend, und seine steife Haltung verriet einen gewissen Hochmut.

„Baronett, es handelt sich um Ihre Familienjuwelen, die Ihnen vor etwa zwei Jahren gestohlen wurden und …“

Seine mittelgroße, gedrungene Gestalt richtete sich noch höher auf. „Und der Lappalie wegen belästigen Sie mich?! – – Unerhört!! In der Tat! Vielleicht kramen Sie noch Geschichten von vor hundert Jahren aus!! – Mein Herr, ich pfeife auf die Juwelen!!“

War das ein Grobian!! – Er kam an den Unrechten.

„Baronett“, sagte ich kühl, „ich habe heute ermittelt, daß der Kapitän Ihrer Privatjacht „Kohinoor“ ein gewisser Richard Charmer ist, der früher einen Amerikadampfer führte. Dieser Charmer hat vor anderthalb Jahren etwa von dem Finanzmann Hollins das Schloß Seymour in Barnes an der Themse gekauft. Niemand weiß, woher er sich die Geldmittel dazu beschafft hatte, 120 000 Pfund Sterling, und etwa genau so viel Hehlerwert hatten die Sheffield-Kleinodien.“

Des Baronetts müde Augen schlossen sich zu noch kleineren Schlitzen. „Was geht mich das an? Charmer ist kein Dieb.“ Er beugte sich über einen Karton mit aufgeklebten Marken und gähnte rücksichtslos. „Wollen Sie mich noch weiter langweilen, Mr. Abelsen?! Fragen Sie doch Charmer, woher er das Geld hat … Was zum Kuckuck schert mich das?!“ Er nahm ein Vergrößerungsglas und betrachtete eine der Marken. „Diese Mauritius ist weiß Gott wichtiger als …“

„Verzeihung, – wichtiger als ein Mord an einem unschuldigen Mädchen?!“, warf ich erhobenen Tones ein. „Baronett, so kommen wir nicht weiter … Ich habe festgestellt, daß Ihre Jacht „Kohinoor“ vor fünf Tagen im Hafen von Vlissingen ankerte, und daß damals in Vlissingen Matrosen die Ermordete raubten und zweifellos auf Ihre Jacht brachten …“

Er blickte mich überrascht an. „Ich war in Berlin“, sagte er achselzuckend. „Kapitän Charmer gestattet solche Dinge nicht. Was soll das alles?! Bin ich ein Leichenräuber?!“

„Baronett, ich gestatte mir darauf hinzuweisen, daß Seymour-Castle einst Ihnen gehörte, Ihrer Familie. Sie besitzen noch drei Stammgüter. Ihr voller Name lautet Roger Baronett Sheffield-Seymour …“

„Na, – – und?!“ Er gähnte noch herzhafter.

„Weshalb verkauften Sie Seymour-Castle an den Finanzier Saul Hollins?! Hatten Sie damals vor zwei Jahren nicht hohe Spielverluste im Nobel-Klub gehabt?! Man … man erzählte es mir …“ – Wie mühsam mir diese Feststellungen geworden, ahnte Sheffield nicht.

Der Baronett, dessen volles Haar in der Mitte leicht gescheitelt und an den Schläfen von weißen Fäden durchzogen war, nickte gleichgültig. „Spielverluste? Hm – es mag stimmen … Aber wer Millionen besitzt, Mr. Abelsen, braucht deshalb nicht Seymour-Castle zu verkaufen, – nein, wirklich nicht! Diese Mauritius hier hat einen Katalogwert von fünfzigtausend Pfund, und meine Markensammlung ist mit zwei Millionen versichert. Ich kann Ihnen Stücke zeigen, die einzig in ihrer Art sind, und …“

Dieser Briefmarkennarr hätte mir hier wohl einen endlosen Vortrag gehalten. Zum Glück klopfte es, und der Hausmeister trat ein.

„Euer Gnaden, der Kriminaldirektor Sir Morstan bittet sofort um eine ganz dringende Unterredung.“

Sheffield ballte die Faust und brach den Stiel des Vergrößerungsglases glatt ab. „Ist denn heute ganz Scotland Yard auf mich versessen?!“, polterte er hervor. „Lassen Sie den Herrn ein, Thomas … Wahrscheinlich spukt ihm ebenfalls unser Juwelenschatz im Kopf herum!“

Sir Morstans Auftauchen hier behagte auch mir sehr wenig. Waren etwa Clarissa und ich doch erkannt und beobachtet worden?

Der kleine, etwas dicke, aber äußerst bewegliche Morstan nahm Platz, nachdem er mir nur kurz zugenickt hatte. Sein Bullenbeißergesicht war verschlossener denn je.

„Sie wünschen?“, fragte Sheffield grob.

„Von Ihnen nichts“, erwiderte Morstan noch gröber. „Aber ich habe Befehl erhalten, Mister Abelsen baldigst ins Ministerium zurückzugeleiten, nachdem er es in der verflossenen Nacht vorgezogen hat, eine wichtige Besprechung zu versäumen.“

Sheffield lachte bissig. „Nehmen Sie ihn in Gottes Namen mit, ich bin froh, wenn ich ihn los bin. – Wie konnten Sie sich auch erfrechen, Mr. Abelsen, einer Besprechung fernzubleiben?! Natürlich eine Weibergeschichte!! Überall, wo Beamte nachlässig werden, steckt ein Unterrock dahinter!“

Morstan musterte mich nicht eben freundlich und doch etwas lauernd. „Baronett, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen …! Natürlich mußte Abelsen mit einer jungen Dame im Nebel spazieren fahren, und im Motorboot blieb ein Stück Trauerschleier zurück, genau wie in einer alten Tanne. – Wir dürfen uns dann also empfehlen, Baronett?“

„Je eher, je besser …“, brummte der eifrige Sammler, aber seltsamerweise fügte er sofort sehr liebenswürdig hinzu: „Nein, bleiben Sie noch … Es ist Brauch in unserem Hause, daß kein Gast unser Haus verläßt, ohne den uralten Chianti aus unseren Weinkellern geprobt zu haben. Einen Augenblick …“ – Er erhob sich mit jugendlicher Beweglichkeit und eilte hinaus.

Morstan wandte sich finster mir zu. „Abelsen, das sind ja nette Geschichten!! Der Staatssekretär platzt vor Wut … Ich habe einen Anschnauzer bekommen, der …“

Ich fragte kalt: „Ist wieder eine telefonische Denunziation erfolgt?! Sehr wahrscheinlich! Die schwarzen Schleierfetzen und die Tanne beweisen es. Der Mann besitzt eine Unternehmungslust, die selbst durch eine Kugel nicht gedämpft wird. – Sagen Sie, Morstan, fehlt heute einer der Herren des Ministeriums beim Dienst? Ich meine, einer von der Hauptabteilung?“

Der Oberchef verriet lediglich durch seinen Blick, daß er merklich stutzig geworden war. „Ich verstehe Sie zwar nicht ganz, Abelsen, aber … Lord Pellore liegt mit Grippe zu Bett.“ Morstan sprach sehr vorsichtig und leise. „Glauben Sie, daß Pellore irgendwie …“

„Ich glaube gar nichts …“, unterbrach ich ihn. Vielleicht hatte ich schon zu viel preisgegeben … „Pellore ist mir völlig gleichgültig, und …, – – hallo, was war das?! Das klang doch wie ein Schuß …“

Morstan lief zur Tür, die in den Flur mündete. „Es war ein Schuß …“

Dann blieb er stehen, und auch ich prallte zurück.

Aus dem Nebenzimmer, in das gleichfalls eine schwere, gediegene Eichentür führte, ertönte ein wilder Aufschrei, dann stürzten Möbelstücke um, eine heisere Stimme brüllte: „Jetzt haben wir dich …!!“, und in dieser Stimme lag ein so satanischer Haß, daß Morstan mich sekundenlang völlig entgeistert anstierte.

Ich flog auf die Tür zu. Sie war versperrt. Ich warf mich mit der Schulter dagegen, sie hielt stand, ich packte einen der schweren Stühle und suchte die Füllung einzuschlagen. Das Holz splitterte, ich griff hindurch, tastete auf der anderen Seite nach dem Schlüssel und dem Riegel, und der Türflügel sprang auf. Vor mir lag eine langgestreckte Bibliothek mit riesigen Bücherschränken, – zwei Tische waren umgefallen, Bücher und Zeitschriften bedeckten den Teppich, und über dem bunten Durcheinander der bedruckten Blätter schimmerte es im Lichte der Sonne blutrot von frischer, noch blanker Nässe. – Es war Blut, und diese Blutspur ließ sich bis zum Fenster verfolgen, das auf den Hintergarten des Parkes hinausging. Das Fenster war offen, ich beugte mich hinab, ich sah an der Hauswand eine Feuerleiter, ich sah rechts eine enge Seitenstraße und eine kleine Pforte der Parkmauer, – soeben schob ein Mann mit einer blauen Mütze und einer Bluse ein Motorrad in die Gasse, schulterte einen dicken, gerollten Teppich, schwang sich auf den Sitz und knatterte davon, – der Teppich hing ihm um den Nacken, und die Enden standen weit ab. Der Mann blickte flüchtig zu mir nach oben, sein rotbärtiges Gesicht mit der schiefen Nickelbrille zeigte mir ein diabolisches Grinsen, dann war er außer Sichtweite.

Morstan rief mich. „Abelsen, hier liegt der Hausmeister …“

Auf dem Treppenpodest richtete sich die dürre Gestalt mit unserer Hilfe mühsam auf. Thomas hatte einen Hieb über den Hinterkopf erhalten, aber die Sache war nicht weiter gefährlich.

Die übrige Dienerschaft stürzte herbei, und in all diesem unnötigen Lärm und in diesem augenblicklichen Wirrwarr schlüpfte ich unbeobachtet die Haupttreppe hinab, entwischte aus dem Palais und fuhr in einer Taxe nach Fulham hinaus, getrieben von einer verzehrenden Angst um Clarissas Sicherheit, gleichzeitig in dem Bewußtsein, daß ich durch diese Flucht vor Sir Morstan, der doch nur wieder auf Befehl von höherer Stelle, also auf Veranlassung des großen Unbekannten handelte, nunmehr hinter mir alle Brücken abgebrochen hatte, die mich noch mit den gesetzmäßigen Hütern der Gerechtigkeit verbunden hatten.

Ich war wieder Freiwild geworden. Zweimal hatte ich mir zugegangene Befehle mißachtet, – in der verflossenen Nacht hatte ich die Razzia auf Clarissa hintertrieben, jetzt am sonnigen Tage war ich wie ein Dieb entschlüpft!

Und doch empfand ich deshalb nicht die geringsten Gewissensbisse, – nein, dieses raffinierte Spionagesystem, mit dem der große Unbekannte mich umgeben hatte, bewies mir, daß meine Erfolge in Hangerupp bei Erledigung meiner ersten Aufgabe diesem raffinierten Scheusal übel auf die Nerven gefallen waren, und daß vielleicht mein neuer Afrika-Auftrag mich nur, falls die Attentate auf mich mißglückten, in tropische Gegenden fernab von London locken sollten –, vielleicht! – Der Mann im Ledermantel, der Quälgeist und Verderber der Delmonts, fürchtete mich. Im Grunde konnte ich darauf stolz sein. Mein Gegner, der in seiner so schlau im Hintergrunde gehaltenen Person so unbegrenzte Machtmittel vereinigte, wollte gerade mich austilgen. Der Warner und der schmierige Jan Maat Charmer, der nebenher Schloßbesitzer war, blieben für ihn Verfolger minderer Art. Mich wollte er auslöschen, in mir sah er vielleicht den gleichwertigen Feind. Ja – ich konnte mir darauf etwas einbilden!! Und nun, da ich ihn nun noch durch meine Kugel gezeichnet hatte, würde er seine Anstrengungen verdoppeln. Ich richtete mich danach. Jedes Auto, jeder Motorradler, der hinter meiner Taxe sichtbar wurde, ward mir Gegenstand des Argwohns.

Die ersten Häuser von Fulham tauchten auf.

In mir flammte jene Kampfesfreude, die alle Sinne schärft und lächelnden Mundes der Gefahr entgegenschaut.

Nun bog der Seitenweg zu der kleinen Halbinsel ab, wo die Delmonts ihr Quartier eingerichtet hatten, – nur ein Landweg, schmal, von Weiden und Erlen umwuchert.

„Halten Sie!!“

Ich zahlte, die Taxe wendete, fuhr zurück, und ich sprang über den nassen Graben des Weges und schlich zur Hauptstraße zurück. Da war in weiter Entfernung stets eine Limousine zu sehen gewesen, vielleicht unverdächtig, – – nein, doch nicht unverdächtig …!

Sie sauste heran, am Steuer hinter der Windscheibe saß „er“!!

Ich jubelte heimlich … – Der Wagen stoppte halb, mein Taxenchauffeur hielt, eine Banknote flog ihm zu, hastige Fragen und Antworten, dann nahte die Limousine dem schmalen Privatwege, und aus dem Gebüsch schoß ein Mann hervor, der alles auf eine Karte setzte …

Ich stand auf dem Trittbrett, die Coldpistole drohte …

„Biegen Sie links ab – – sofort!!“

Durch die Gläser der Autobrille starrten mich ein paar glitzernde Augen an.

Ich hatte ihn!!

Er wußte, ich würde abdrücken … Und er gehorchte … Die Limousine hielt vor der Gartenpforte.

„Aussteigen!!“

Ein helles Lachen antwortete mir … Eine Hand zog die Autobrille zur Seite, und ich stierte fassungslos in das Gesicht einer zart gepuderten Dame. Der falsche Bart war herabgeglitten –: „Mein Herr, ich nehme an, Sie gehören zur Polizei und befinden sich in einem für Sie sehr beschämenden Irrtum …“ Eine zu süße Stimme zwitscherte mir das belustigt zu. „Ich bin die Filmschauspielerin Vivian Varran, und es bereitet mir Vergnügen, verkleidet Ausflüge zu machen. – Ist das strafbar?!“

Nun, – ich hatte die erste Enttäuschung längst überwunden. An derartige Zufälle, daß eine Diva von Vivian Varrans Berühmtheit ausgerechnet den Mann im Lederdreß kopierte, mochte ein anderer glauben. Gewiß, ich erkannte jetzt, daß es nicht die Limousine des „Sultans“ war, es war eine andere Fabrikmarke, – das besagte gar nichts!

„Steigen Sie aus!! Schleunigst!! Hier liegt kein beklagenswerter Irrtum vor, sondern ein für Sie recht beklagenswertes Abgefaßtwerden!“, erklärte ich grob.

Ihr berückendes Lächeln erstarb. In ihren Augen flackerte Angst … – Also doch!! Eine der Spioninnen des großen Unbekannten hatte ich erwischt.

„Ins Haus!! Bitte!!“

Ich läutete … – Würde ich Clarissa und meinen Ghost noch vorfinden?! Peinvolle Sekunden der Ungewißheit, – dann hörte ich Ghost leise blaffen, die Tür ging auf, und eine totenblasse Clarissa, die sich matt gegen die Tür lehnte, stierte mich verängstigt an.

„Endlich, Olaf …!!“ Die Stimme gehorchte ihr kaum.

Der Fluß war so nah. Der Fluß war bei diesem prächtigen Sommerwetter sehr belebt, und vom Strome her ertönte leise und doch deutlich das Lied des Bajazzo, gespielt auf einer Handharmonika.

Durch die Bäume des Gartens gewahrte ich einen geteerten Nachen, in dem Richard Charmer saß, auf den Knien die Ziehharmonika. In dem Boote lag ein Motorrad … mit schwarzer Lenkstange. Charmer legte das Instrument weg, griff zu den Rudern, und das häßliche Boot entschwand hinter einigen Frachtschiffen.

„Olaf, – – Sie wird ohnmächtig!!“, rief Clarissa hastig.

Ich fing Vivian Varran auf … Ich trug sie ins Haus.

Das Todeslied des Bajazzo hatte ihre Nerven völlig streiken lassen. Unsere Bemühungen, sie ins Leben zurückzurufen, hatten nur halben Erfolg … –

 

3. Kapitel.

War er es?!

„Clarissa, was ist hier geschehen?!“

Das Mädchen lehnte sich verstört in einen Sessel.

„Wenn ich das wüßte, Olaf! Ich saß oben in meinem Zimmer am Fenster und las. Dann kam Charmer auf einem Motorrad herbeigerast.

„Hatte er einen gerollten Teppich um den Nacken?“

Sie blickte mich verständnislos an. „Teppich?! Nein!“

„Trug er eine Bluse und eine Mütze wie ein …“

„Nein doch! Er trug seine übliche Kleidung. Weshalb fragen Sie so unmögliche Dinge, Olaf?! Er rief mir nur von unten zu, das Haus nicht zu verlassen … Es war wie immer, wenn die andere geheime Macht eingriff, eben Charmer, wie ich nun weiß … Er befahl, er sagte kein Wort zu viel, schob sein Rad in den Gemüsegarten, verschwand, und …“

„Clarissa, Clarissa, Sie lügen!! Weshalb sind Sie so verängstigt, so verstört?!“

„Warten Sie doch ab … Ich – – hörte etwas, Olaf … Einen grauenvollen Schrei – aus dem Gemüsegarten … Einen Schrei, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ, selbst Ghost heulte kläglich … Es muß sich dort irgend etwas Furchtbares abgespielt haben.“

„Nicht für Charmer! Charmer ruderte im Boot davon … – Clarissa, warten Sie hier … Halten Sie sich zur Flucht bereit. Wir müssen nachher schleunigst Ihr kleines Motorboot benutzen … Meine amtliche Stellung hilft uns nichts mehr, man wird meine Vollmachten widerrufen und mich genau so hetzen wie Sie! – Warten Sie …“

Das kleine Grundstück lag auf einer dünn bewaldeten Halbinsel ganz einsam. Für Leute, die unbeobachtet und unbeachtet bleiben wollten, konnte es kein geeigneteres Heim geben. Der Gemüsegarten dehnte sich bis zum Flusse aus, wo ein weißer Holzzaun das Anwesen von dem Treidelweg der Themse und den üppigen Erlen- und Weidenbüschen trennte.

Als ich die von Hamilton Delmont, dem „Hochstapler“, sehr sauber beschnittenen Buchsbaumhecken, die den Hofraum abgrenzten, hinter mir hatte, erblickte ich als erstes eine große, künstliche, dicht bepflanzte Steingrotte mit einem bescheidenen Springbrunnen davor.

Ghost, dessen feine Nase eifrigst auf dem Kiesweg umhersuchte, ließ plötzlich ein kurzes Blaffen hören, dessen besondere Tonart mich sofort zur Vorsicht mahnte. Ich entsicherte die Cold, und da der Hund nun sehr ungestüm vorwärtsdrängte, ließ ich mich von ihm völlig leiten und stand jetzt vor dem Grotteneingang. – Diese aus Feldsteinen, großen Schlackestücken und Bruchziegeln errichtete Höhle, von deren Eingangsbogen blühende Ranken herabhingen, bot einen recht hübschen Anblick dar.

Ghost machte halt und knurrte.

Wer Ghost sah, sagte: Fleischerköter! – Wer Ghost besser kannte, sagte: Intelligentes Tier! – Ich sagte nur immer „Freund Ghost.“

In der Grotte herrschte Halbdunkel, und selbst als meine Augen sich an dieses mangelhafte Licht gewöhnt hatten, hielt ich die Steinhöhle bis auf eine eiserne Gartenbank für leer. – Freund Ghost beschnüffelte wieder den Boden. Ich sah da frische Spuren, auch die eines Rades mit breiten Reifen, und dann – ein Zufall – schaute ich in die Höhe.

Ich fuhr leicht zurück, und meine Laterne blitzte auf. – Unter der gewölbten, vielfach gezackten Decke hing ein Mensch, dessen Füße und Hände mit Stricken an ein paar Eisenhaken festgebunden waren, die zum Unterbringen von Gartengeräten bestimmt waren, – es lagen dort zwei Harken, ein Spaten und eine Sense.

Ghost knurrte noch dumpfer.

Ich spürte plötzlich einen brenzlichen Geruch, und hastig trat ich näher, da mir urplötzlich eine Erkenntnis aufgegangen war, die mir einen Eisesschauer über den Rücken trieb.

Der abgerissene, schmierige Strolch, der da oben hing, war vor Todesangst ohnmächtig geworden …

Wer die fürchterlichen Vorbereitungen sah, die irgend jemand hier für eine ungeheuerliche Hinrichtung getroffen hatte, konnte nur an eine jener Schreckenskammern erinnert werden, die jedes Panoptikum gegen besonderes Eintrittsgeld starknervigen Besuchern zeigt.

Ich begriff vollkommen, daß der schmierige Stromer vor Angst die Besinnung verloren hatte. Der, der ihn zum Tode verurteilt hatte, mußte ein Scheusal von sadistischer Erfindungsgabe gewesen sein.

Um die Stricke, die die Hände an den Eisenhaken festhielten, war eine Lunte in vielfachen Windungen geschlungen, und diese Lunte brannte. Der Strick war bereits halb verkohlt.

Das Teuflische jedoch war folgendes: Sobald der Mann, nachdem die Handfesseln verkohlt waren, mit dem Oberkörper nach unten gesaust wäre, hätte die Schneide der blanken Sense ihm unfehlbar den Kopf vom Rumpfe getrennt.

Unweit der Grotte stand eine Trittleiter. Ich lief hin, holte sie herbei, und als ich nun die glimmende Lunte wegriß, machte ich an dem Strick der Handgelenke eine ganz merkwürdige Feststellung, die mir die Absichten des grauenvollen Henkers in ganz anderem Lichte zeigte: In den Strick war weicher, aber haltbarer Eisendraht in drei Strähnen mit eingeflochten, und die brennende Lunte hätte diese Drähte niemals zerstört, der Stromer wäre also auf alle Fälle mit der Todesangst davongekommen. – Die Industrie stellt derartige Stricke und dickere Bindfäden für besondere Zwecke her. Auch hier lag ein besonderer Zweck vor. Es war nicht ausgeschlossen, daß man den Zerlumpten zu einem Geständnis hatte zwingen wollen, und der, der dies beabsichtigt hatte, konnte nur der immer rätselhaftere Charmer gewesen sein.

Ich befreite den Bewußtlosen aus seiner entsetzlichen Lage, ich legte ihn draußen neben dem Springbrunnen in das Gras, und hier erst fiel mir auf, daß er an der linken Hand einen teuren Wildlederhandschuh trug. Als ich ihm nun das Gesicht recht kräftig wusch, ebenso die rechte Hand, als ich mit der Linken ein Gleiches tun wollte, machte ich die überraschende Feststellung, daß der Mann tadellos gepflegte Zähne und tadellose Fingernägel und – – links einen künstlichen Arm hatte.

Ich kniete eine Weile regungslos neben ihm. Ich mußte meine Gedanken erst sammeln. Mein Hirn rebellierte. Dieses Problem „Tsad-See“ wurde denn doch zu viel für die Arbeitsleistung eines einzelnen Kopfes.

Dann zog ich dem Einarmigen rasch die Jacke aus.

Unter dem schmutzigen Hemd fand ich ein zweites: Ein sauberes seidenes Unterhemd! Und der künstliche Arm, der mit Riemen an einem kurzen Oberarmstumpf befestigt war, stellte ein wahres Kunstwerk dar.

Ich untersuchte ihn, – ich suchte … Ich suchte nach einem Schußloch in dem künstlichen Glied und fand nichts. Das wollte nichts bedeuten, denn Clarissas Beobachtung, daß der große Unbekannte den linken Arm hatte schlenkern lassen, konnte auch auf die Prothese zurückzuführen sein.

Plötzlich hinter mir Schritte … Ich drehte mich um.

„Clarissa, Sie sollten doch …“

Clarissa Delmont rief schon: „Mein Gott, – das ist ja Lord Edgar Pellore!“

Pellore?! Pellore?! – Was hatte doch Morstan im Sheffield-Palais über diesen hohen Ministerialbeamten gesagt?! …: „An Grippe erkrankt!!“ – Das war eine besondere Art von Grippe, an der dieser Herr litt!!

Mein bissiges Lächeln veranlaßte Clarissa zu einer scheuen Erklärung. „Olaf, Pellore ist Vivian Varrans eifrigster Verehrer … Aber der Ruf der Diva ist makellos, und …“

„Hier gibt es überhaupt nur makellose Charaktere!!“ Mein Ton war noch bissiger geworden. „Da – der Lord kommt zu sich … – Guten Tag, Mylord … Mein Name ist Abelsen, Chef von 2 B, wie Sie wissen. Ich hatte bisher nur ein einziges Mal das Vergnügen, Sie flüchtig kennenzulernen – bei der großen Besprechung im Scotland Yard. Sie waren es, wie ich mich nun entsinne, der mir riet, sofort nach Afrika abzureisen.“

Pellore, ein jüngerer Mann mit energischen Zügen, erhob sich und zog seinen zerlumpten Rock über.

„Das stimmt, Mr. Abelsen …“, sagte er kühl. „Haben Sie mich aus der scheußlichen Lage befreit?, – dann danke ich Ihnen. Kapitän Charmer ließ leider nicht mit sich reden, und seine Fragen beantwortete ich genau so wenig, wie ich Ihnen antworten werde.“

„Er wollte Sie nur zu einem Geständnis zwingen, Mylord“, erklärte ich schnell. „Die Sense und die Zündschnur waren ein etwas brutaler Bluff, denn Ihre Handfesseln enthielten Drähte.“

Pellore blickte mich scharf an, dann lächelte er unmerklich. „Entschuldigen Sie, Mr. Abelsen, – diese Dinge langweilen mich … Ich pflege gern verkleidet die Arbeit von Scotland Yard zu kontrollieren. – Auf Wiedersehen …“

Hochmütig wandte er sich ab.

„Einen Augenblick, Mylord“, rief ich leise, „Auch Miß Vivian Varran kontrollierte heute.“

Er war herumgefahren.

„Vivian?! – Wie meinen Sie das?!“

„Wie ich es sage … Sie liegt bewußtlos dort im Hause, nachdem sie im Lederdreß als bärtiger Herrenfahrer mir gefolgt war …“

Pellore biß sich in die Unterlippe …

„Wahnwitz!“, murmelte er …

Aber er lief bereits auf das Haus zu, und wir erreichten ihn erst vor der Haustür, wo er wie versteinert stehen geblieben war.

Auch wir sahen, daß Vivian Varran am Steuer ihrer Limousine saß und daß der Wagen anruckte und davonsauste.

„Vivian, bleiben Sie!“, brüllte Pellore zwecklos hinterdrein, und in seiner Stimme klang ein so erschütternder Unterton mit, daß ich erstaunt aufhorchte.

Er starrte dem Wagen nach, er, der zerlumpte Strolch.

Er, vielleicht der große Unbekannte.

„Wahnwitz!“, murmelte er wieder … „Armes Kind, – – was helfen da alle Ermahnungen!“

Dann drehte er sich jäh um.

„Mr. Abelsen“, sagte er hart, „in dieser Stunde, wo auch mir vielleicht eine letzte Hoffnung vernichtet wird, will ich Ihnen einen wertvollen Wink geben: Wenn ein Mensch auf Erden existiert, der diese Tsad-See-Affäre überschaut, dann ist es Vivian Varran!! – Schweigen Sie darüber! Es ist ein Wink … – – Leben Sie wohl, – – auf Wiedersehen – hoffentlich in einer günstigeren Minute!“

Er streckte mir die Hand hin …

Ich hielt sie fest. Auge in Auge mit ihm fragte ich: „Mylord, waren Sie in der verflossenen Nacht im Seymour-Park?“

Sein Blick war offen und ohne Falsch.

„Abelsen, ich wünschte, ich wäre dort gewesen! Mein Ehrenwort, – – ich war nicht dort!“

Er verneigte sich tief vor Clarissa und schritt gesenkten Kopfes davon – wie ein Mensch, der eine schwere, schwere Bürde trägt.

Dann wandte er sich doch noch einmal zurück.

„Abelsen – einen guten Rat: Fliehen Sie!! Über den Fluß! Drüben liegt ein halb verfaultes Wrack vor einem Seitenkanal … Die Planken sind so morsch wie Pappe … Denken Sie daran, – und beeilen Sie sich!! Miß Delmonts Motorboot ist ein Stahlboot … Riskieren Sie alles! Ich kann nichts für Sie tun, ich will grippekrank bleiben …!“ Er lächelte halb schmerzlich, halb spöttisch … –

Die Büsche entzogen uns die zerlumpte Gestalt …

Clarissa umklammerte meinen Arm. „Olaf, – er war es – er!!“ Sie zitterte …

Ob er es war?!“, meinte ich nachdenklich …

… Irgendwo vom Flusse her erklang das Bajazzolied … Ich spähte hinüber …

Von links nahten drei Polizeiboote mit wehenden Flaggen …

 

4. Kapitel.

Pellores Vorbereitungen.

Der sonnenklare, warme Nachmittag hatte alles, was irgendwie dem Wassersport huldigte, mobil gemacht. Nach diesen kalten Nebeltagen sehnten sich die Londoner nach der frischen, reinen Luft der Themse jenseits der Grenzen der rauchgeschwängerten Dockanlagen, und der dicht besetzte Vergnügungsdampfer, dessen Bordkapelle – wirklich ein Zufall! – gerade aus italienischen Opern Teilstücke spielte, darunter unser Bajazzolied, schob sich zusammen mit einer kleinen Flotte von Klubbooten schützend zwischen uns und unser stählernes Fahrzeug, dessen seltsame Form dem Kenner verriet, daß es aus Marinebeständen billig erworben sein mochte.

Clarissa, die neben mir am Steuer kauerte, flüsterte hoffnungsfroh: „Unser Boot läuft achtzehn Knoten. Hamilton hat es stets tadellos in Ordnung gehalten …“

Hinter uns her zog ein hoher Schwalch quirlenden Wassers, den der aufgeregte Ghost wütend anbellte. Er stand mit den Vorderbeinen auf der halbrunden Bank am Steuer und machte sich weiter keine Sorgen um die Zukunft. Vielleicht betrachtete er diese wilde Flucht als ein ganz lustiges Spiel.

Wir fuhren mit voller Kraft westwärts, um den Dampfer auch fernerhin als Schutzschild gegen die drei jetzt unsichtbaren Barkassen benutzen zu können.

Dann schrille Sirenensignale, – der Dampfer stoppte, die Flotte der Klubboote zerstreute sich, und links hinter uns begann eine sehr lärmende Kinderklapper ihre drohende Tätigkeit.

Es ging um die Freiheit, – mehr noch, – es ging um das Leben.

Die Geschoßgarbe des Maschinengewehrs fegte zwitschernd wie ein Schwalbenschwarm über unsere Köpfe hinweg und ließ das trübe Flußwasser vor uns in langen Streifen aufspritzen und schäumen. – Ich riß das Steuer herum … „Clarissa, – – hinknien!!“

Sie gehorchte, sie wollte Ghost mit hinabziehen, aber Ghost bellte jetzt die zwitschernden, bleiernen Schwalben an. Ich hielt auf den Bug des Dampfers zu … Eine zweite Kinderklapper stimmte in das taktmäßige Rattern ein, und die Geschoßgarbe verlegte mir auch diesen Weg.

Ich mußte durch! Mein Hirn fieberte, meine Gedanken glichen einem stechlustigen Bienenschwarm und peinigten mich, aber meine Nerven und Muskeln blieben die eines Automaten, der, einmal in Gang gebracht, gleichgültig seine gewohnte Leistung abhaspelt.

Die drei Barkassen waren noch hundertfünfzig Meter entfernt. Die eine hatte einen geteerten Kahn im Schlepptau, in dem ein Motorrad lag. – Sollte die Polizei Charmer erwischt haben?! – Das ging mir nur so durch den Kopf wie ein flüchtiges Wetterleuchten. Nicht auf Charmers Geschick kam es hier an, nur auf das zweier Menschen, denen Lord Pellore einen merkwürdigen Rat erteilt hatte: Das morsche Frachtboot drüben! – Clarissa kannte es. „Ein uraltes Frachtschiff, ein Kohlenkahn, ohne Zwischenwände, halb voll Wasser“, hatte sie vorhin erklärt. „Es versperrt den Zugang zu Pellores Jachthafen. Das Sommerhaus drüben und der große Garten gehören ihm.“ – – War Pellore zu trauen?! Lief sein Rat nicht darauf hinaus, mit dem Stahlboot, das fast Torpedoform hatte, den morschen Kahn zu rammen und … vielleicht hindurchzusausen wie durch Pappe?! Durfte ich einen solchen Rat befolgen, den jeder als Aberwitz angesprochen hätte?!

Mein Hirn kochte … Ich war Automat, – ich war Mensch und Maschine, – – und um mich her sausten nun die pfeifenden Kugeln der verderblichen Spritzen, klatschten gegen die Stahlwände, – – und dann ein Aufheulen, kurz, kläglich, – mein entsetzter Blick sieht Freund Ghost taumeln, über Bord gleiten, und ein allerletztes Mal gewahre ich den Fleck neben seinem hochgestellten Ohr …

Ghost versinkt … Ghost ist tot … Ghost stirbt als erster.

Mein Herz fühlt einen brennenden Schmerz, – – und doch – – auch nur wie ein Wetterleuchten … Mein Gesicht, fühle ich, muß zur Maske erstarrt sein …

Da ist der Dampfer, da sind Menschen an der Reling, geputzte Menschen …

Sie brüllen, schreien, schütteln die Fäuste …

Menschen, die einer Menschenjagd zuschauen, die zweifellos Clarissa und mich für übelste Verbrecher halten.

Einer wirft einen Bootshaken und flucht …

Ein zweiter schleudert einen kleinen Anker mit Leine nach uns …

Wir sind vorüber, – – dort vor uns liegt der morsche Frachtkahn, ein langes, schmutziges Wrack …

Darf ich Pellore trauen?!

Und aus der Seele des Mannes, der starr und stier ein Automat geworden, meldet sich das feine Stimmchen jenes Instinktes, der mehr wert ist als die vielgepriesene Menschenkenntnis …

Es gibt keinen anderen Weg für uns …

Auch der Dampfer beteiligt sich an der Hetze, auch die Privatjachten sind aufmerksam geworden, sogar drei Schleppdampfer ändern den Kurs …

Das feine Stimmchen aus dem Unterbewußtsein rät mir, zu gehorchen.

Wenn Pellore hier etwa als „großer Unbekannter“ damit rechnet, daß Clarissa und ich uns an dem großen leeren Wrack die Knochen zerschellen sollen, – – der starre Automat am Steuer des stählernen Marinebootes hat Augen im Schädel, sieht jede Einzelheit des Hindernisses, hört wieder die zwitschernden Schwälbchen, sieht den Halbkreis der Meute, sieht die vornehmen Sportler von den Jachten mit Pistolen drohen …

„Clarissa, – – festhalten!!“

Clarissa weint, weint um Ghost, den sie lieb gehabt hat …

Unser Torpedo jagt auf die Mitte des elenden Kahnes zu … Unser Torpedo birgt zwei Opfer eines Satans, den noch keiner je ohne Verkleidung gesehen, – und die, die ihn sahen und zufällig seinen Namen erfuhren, starben wie jener arme stramme Polizist auf der Verkehrsinsel inmitten der City. – Starben so auch jene armen Teufel von Beamten, die man auf die Spur der Bewohner des Tsad-See-Hauses gesetzt hatte?!

… „Clarissa – – festhalten!!“

All diese Häscher da auf Jachten, Dampfern, Barkassen müssen glauben, wir suchten absichtlich den Tod …

All diese Menschen, durchschauert von dem Gefühl, hier sofort eine gräßliche Katastrophe miterleben zu müssen, werden den Atem anhalten und … sich heimlich freuen, ein solches Schauspiel mitzumachen …

Unser Boot mit dem gewölbten Stahldeck und der scharfen Nase saust auf das Hindernis zu …

Noch zwanzig Meter …

Ich ducke mich … Was sind zwanzig Meter?! – Nichts …

Dann ein Stoß, – ich höre das matte Splittern morschen Holzes, – Holzstücke fliegen mir in den Nacken, – – ein zweiter Stoß, – unser Torpedo flitzt in den Kanal, – ich wage kaum zu glauben, daß alles bereits vorüber, und doch, – – ein Blick ringsum, ein Blick nach rückwärts: Wie durch Pappe sind wir durch die Bordwände hindurchgestoßen, und dort vor uns nun ein Bootshaus, ein Steg, daneben ein leeres Kleinauto, Zweisitzer, so recht einladend hingestellt.

„Clarissa, – – aussteigen …!!“

Die Schraube schlägt rückwärts … Wir schrammen am Steg vorüber, wir springen auf die Treppe, ich trage den Koffer, wir laufen zu dem Auto hinüber, und jetzt vermute ich: Lord Pellore ist einer von denen, die zweifellos den großen Unbekannten suchen! Alles, was er tat, war zu unserem Besten, alles war genau vorbereitet … –

Der schnittige Wagen ruckt an, fährt durch einen dicht bewachsenen Garten, findet eine offene Zauntür, biegt in den Weg ein …

… Am Wege sitzt ein zerlumpter Stromer, dessen linke Hand in einem feinen Wildlederhandschuh steckt …

Der Stromer winkt und ruft …

Wir sind schon vorüber …

Ich glaube verstanden zu haben: „Nicht Tsad-See-Insel – – Vorsicht!!“

Aber ich muß mich wohl verhört haben …

Ich lehne mich hinaus …

Lord Pellore verschwindet gerade in seinem Garten …

„Olaf!!“

Clarissa deutet auf ein Bündel zwischen uns.

„Olaf, – Mäntel, Mützen und Autobrillen. – Pellore hat selbst daran gedacht! Wir tun gut, die Sachen zu benutzen.“

Sie wickelt das Bündel auf.

Und ein Briefbogen, arg zerknittert, löst uns einen Teil der Fragen und Rätsel um Edgar Pellore …

„Mylord! Ihre Bemühungen im Interesse Vivian Varrans werden erfolglos bleiben. Zwei Leute, die entkommen sollen, befinden sich in dem Häuschen Ihrem Landsitz gegenüber. Warnen Sie sie und handeln Sie genau nach den Anweisungen, die ich Ihnen untenstehend erteile. Schleppen Sie den wracken Frachtkahn noch näher vor Ihren Jachthafen und stellen Sie ein Auto bereit. Ein Stahlboot wird unbeschädigt dieses morsche Hindernis durchbohren.

Der Warner.“

Clarissa Delmont muß es mir zweimal vorlesen.

Dann flattern einzelne Schnitzel über die Chaussee, die Häusermassen der Innenstadt tauchen auf, und Clarissa, in Mantel, Autobrille und Mütze schmiegt sich an mich und flüstert: „Olaf, der Warner ist ein wundervoller Freund! Hamilton befindet sich zweifellos bei ihm, vielleicht auch Richard Charmer …“

Und nach kurzer Pause – mit Tränen kämpfend:

„Nur der arme, arme Ghost fehlt uns … – Sind Sie sehr traurig, Olaf?“

Die Hochstaplerin Clarissa Delmont findet hier Herzenstöne, die mich aufs tiefste rühren …

Mein Blick hängt auf den Türmen der Stadt, in der ein Mensch brutal, rücksichtslos, gewissenlos ein Ziel im Auge hat: Geld – – Geld, immer wieder Geld!

Geld ist der Götze dieses Ungeheuers. Ein raffinierter Schurke läßt andere für sich arbeiten, andere, seine Sklaven …!

Ob auch Vivian Varran zu den Ärmsten gehört, die dieses Scheusal in den Krallen hat?!

„Nach rechts, Olaf!“, sagt Clarissa, die mir hier den Weg weist.

Wir bleiben am Rande der Innenstadt, wir vermeiden die Hauptverkehrswege, und infolge dieser vorsichtigen Seitenpfade, auf denen wir uns gen Norwood, gen Süden hindurchschlängeln, verstreicht eine geraume Zeit, bis Clarissa vorwärts deutet: „Das ist Norwood!! Dort wohnen wir, dort wohnt Bickfort Tomsen und der längst begrabene Reginald Tomsen, der immer noch lebt …“ Der Klang ihrer Stimme hat etwas Geheimnisvolles angenommen, – wir fühlen beide mit aller Deutlichkeit, wie dunkel die Rätsel sind, die uns umwittern.

Eine leere, einsame Straßenkreuzung folgt, an der eine grellbunte Anschlagsäule steht. Ich halte, – wir müssen den Wagen hier verlassen, mögen Autodiebe getrost einen guten Fang tun, Lord Edgar Pellore ist reich, der Verlust wird ihn nicht weiter schmerzen. Ich entferne das Nummernschild, werfe es in den schlammigen Graben … Clarissa beschaut die Anschlagsäule …

„Olaf, – – bitte!!“

Eigentümlich erregt ruft sie es …

„Was gibt es?!“

„Sehen Sie, – – die Ankündigung eines Films … Erkennen Sie Vivian Varran? Was sagen Sie zu dem Titel?!“

Ein riesengroßes Plakat soll die Vorortbewohner locken …:

Die Wunderinsel im Bahr-es-Salam.

Alles Blut steigt mir zu Kopfe. – Für den, der Afrika weniger gut kennt als ich, mag der Name Bahr-es-Salam nicht viel besagen.

Mir ist er eine Offenbarung.

Clarissa hängt sich in meinen Arm. „Nicht wahr, Olaf, es ist doch seltsam, daß der Filmtitel von einer Wunderinsel spricht!“

Wir gehen weiter … – „Noch seltsamer, Kind, ist das, was Sie nicht wissen“, erwidere ich gedankenvoll … – Und ich denke an die Besprechung mit all den hohen Herren in Scotland Yard.

Die ungewisse Ahnung, daß hier der große Unbekannte einen Bluff ohne gleichen inszeniert hat, wird beinahe zur Gewißheit.

 

5. Kapitel.

Das Tsad-See-Haus.

Zwischen den Ortschaften Norwood und Norbury liegt, eingekeilt in ältere und neuere Straßenzüge und umgeben von alten Birken, Buchen und Eichen, ganz versteckt ein kleiner See, in dessen Mitte eine noch winzigere Insel sich erhebt, gekrönt von einem seltsamen Bauwerk, das einstmals den stolzen Namen Norwood-Castle trug. Von dem ursprünglichen Stammsitz der gewalttätigen Grafen von Norwood ist nicht mehr viel erhalten geblieben. Auf den alten Fundamenten hat man eine moderne Villa mit vielen Ecktürmchen, Erkern und Dachreitern errichtet, und dieses wenig einladende, wenn auch romantische Heim hatte der junge Chemiker Bickfort Tomsen vor etwa zwei Jahren kurz nach dem Tode seines Vaters erworben und hauste nun hier in dieser poetischen Weltabgeschiedenheit zusammen mit einer greisen, aber noch sehr rüstigen Dienerin.

Da keine Brücke zu der Insel hinüberführte, mußte jeder, der Tomsen oder die alte Marie Ann besuchen wollte, an einem Glockenzug läuten, der am Seeufer neben der einzigen Straße stand, die bis zu diesem verborgenen Gewässer hinablief … Der Waldstreifen um den See gehörte gleichfalls Tomsen und war stark eingezäunt und auch sonst noch wirksam gegen fremde Eindringlinge geschützt.

An einem sonnigen, heißen Spätnachmittag etwa um sechs Uhr nachmittags schritten Clarissa und ich und ein Ortseingesessener, der den Führer spielte, die schmale, schlechte Straße zum See hinab, und der redselige Norwooder Eckensteher, der die fünf Schillinge gern verdiente, erzählte uns alles über Tomsen-House, was er irgend aus den Winkeln seines Gedächtnisses hervorholen konnte. Er lobte Doktor Tomsen über den grünen Klee, aber die alte Marie Ann sei ein scheußlicher Drache.

„Wie heißt der See eigentlich?“, fragte ich zerstreut, denn unsere Flucht im Motorboot war nicht gerade gefahrlos gewesen, und es hatte dabei Augenblicke gegeben, in denen wir uns wahrhaftig Tarnkappen gewünscht hätten. Der große Unbekannte hatte eben abermals bewiesen, daß er sehr, zu sehr auf dem Posten war.

„Tsad-See“, sagte der Norwooder grinsend.

„Wie – – Tsad-See?!“

„Ja, Sir, – seit kurzem heißt er so. Bisher hieß er natürlich Norwood-See, aber Doktor Tomsen war längere Zeit in Afrika, und dort soll es auch einen kleinen See gleichen Namens in der Sahara geben …“

„Das stimmt nicht ganz, mein Lieber. Dieser kleine See in Afrika ist der größte des schwarzen Erdteils und liegt am Südrande der Sahara und besitzt rund fünfzehntausend Quadratkilometer Flächeninhalt. – So, ich danke Ihnen … Ich läute selbst …“

Von dem hohen Pfahl lief ein dicker Draht (außer der noch höher angebrachten Starkstromleitung) zur Insel hinüber, und nach einiger Zeit paddelte ein Boot heran, in dem hinten eine alte Frau stand, die eine Nickelbrille trug, eine rote Nase und viele Runzeln hatte und sehr sauber gekleidet war. – Meine Fragen und höflichen Begrüßungsworte beantwortete sie nur durch eine Handbewegung und Fingerzeichen. Sie war taubstumm, aber im übrigen lächelte sie freundlich und nahm uns mit hinüber.

In einem sonnigen Zimmer begrüßten wir den alten Tomsen, der hier Zeitungen gelesen hatte. Er war die Liebenswürdigkeit selbst und geleitete dann Clarissa sofort in eins der Fremdenzimmer, indem er in seiner munteren, witzigen Art bemerkte, junge Damen solle man von aller Politik fernhalten, – und er habe mit mir leider über Politik zu reden. Während ich in seinem Arbeitszimmer allein war, betrachtete ich mir die wertvollen Möbel und den Wandschmuck mit jener Sorgfalt, die sich nebenher abmüht, aus der ständigen Umgebung eines Menschen einen Rückschluß auf dessen Charakter zu ziehen. – Eins fiel mir sofort auf: Ein Gemälde an der Wand sowie zwei andere Bilder waren durch schwarzen Seidentüll geschmackvoll verhängt! – Als ich diesen Trauervorhang eines auf dem Schreibtisch stehenden Kabinettbildes lüftete, erlebte ich eine nur geringe Überraschung. Ich war auf das, was ich finden würde, vorbereitet. Zweifellos war es ein Bild der ermordeten Lilian Harley.

Tomsen trat wieder ein. „Nehmen Sie Platz“, meinte er jetzt ungewöhnlich ernst. „Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Abelsen. Genau dasselbe hat mir auch bereits Richard Charmer vorgehalten: Reginald Tomsen sei tot und beerdigt! – Das trifft mit gewissen Einschränkungen zu. Es gibt noch einen zweiten Reginald Tomsen, einen Verwandten Bickforts, und der bin ich. Daß ich Bick als meinen Sohn betrachte, bringen die Umstände mit sich. – Sie zweifeln? – Bitte, mein Bart ist echt, mein Haar ist echt, ich bin nicht zurechtgeschminkt. Überzeugen Sie sich.“

„Das möchte ich allerdings tun“, erklärte ich mit einem Versuch, meine ganze Enttäuschung zu verbergen. Sie war wirklich nur gering. Mein immerhin leidlich geschulter Verstand und so manche anderen Eigenschaften, die ich aus dem Abseits herübergerettet hatte in dieses neue Leben, hatte mir bereits eine andere Lösung einer äußerst wichtigen Frage vermittelt.

Reginald Tomsen war „echt“. Er lächelte nachsichtig, als ich an ihm mit aller Behutsamkeit die Probe machte. Er war ein Mann von mindestens sechzig Jahren.

Nicht sehr höflich schob er mir die Zigarrenkiste hin und reichte mir Feuer. Trotzdem war in seinem Benehmen ein ganz geringes Etwas, das meinen Verdacht nur noch verstärkte. Ich ließ mir nichts anmerken, änderte lediglich meine Taktik und war auf alles vorbereitet und ließ ihn fragen. Einen Olaf Abelsen, dem im Abseits so verschiedenartiges Menschenmaterial durch die Finger gegangen war, kann man nicht so leicht bluffen. Das ist keine Selbstbeweihräucherung, das ist lediglich gesundes, wohlbegründetes Selbstvertrauen. Ich wartete ab, – mochte Tomsen zuerst das vorbringen, was ihm auf dem Herzen lag, – richtiger ausgedrückt: was er fragen mußte.

Das immer bestimmtere Gefühl, mit Tomsen wohl kaum im Frieden, im Guten, auseinanderzukommen, schärfte meine Sinne bis zu jener verschwommenen Grenze, wo der Instinkt des Halbwilden, auf den ich immer wieder hinweisen muß, in die Erscheinung tritt.

Zwei scheinbar behaglich rauchende Männer, – wer uns so gesehen hätte, würde nie etwas Arges vermutet haben.

Mein Respekt vor der verbrecherischen Intelligenz des großen Unbekannten war dennoch nicht übertrieben. Gewiß, ich erkannte ohne weiteres an, daß der Mann im Ledermantel, der nun unfehlbar eine Wunde im linken Oberarm hatte, mit verblüffendem Geschick seine Karten zu mischen verstand und seine Persönlichkeit im Dunkeln zu halten wußte. – Abwarten … Er war mir sicher …!

Tomsen hüstelte. Ihm war es peinlich, daß ich nicht mit dem politischen Gespräch begann.

„Wer Charmer ist, wissen Sie doch“, sagte er recht plump. – Ungeschickter hätte er sich kaum benehmen können.

„Kapitän der Motorjacht des Baronetts Sheffield, Mr. Tomsen. – Auch Ihnen dürfte das bekannt sein.“

„Hm … Sheffield … – Haben Sie die Mittagszeitungen gelesen?“

„Nein, dazu hatte ich keine Zeit …“

„Bitte …“ Er reichte mir ein druckfrisches Blatt und füllte dann die Gläser mit Whiskysoda.

Baronett Roger Sheffield offenbar ermordet und die Mauritiusmarke gestohlen.

Die Überschrift überraschte mich nur wegen der Mauritiusmarke, die ja einen phantastischen Wert hatte. Der Inhalt bot mir nichts Neues. Sheffield sollte von einem Einbrecher getötet, in einen Teppich gerollt und auf einem Motorrad entführt worden sein – tot natürlich. Der Einbrecher hatte die Uniform eines Angestellten eines Teppichreinigungsinstituts getragen.

Ich lächelte insgeheim.

„Was halten Sie davon?“, meinte Tomsen sichtlich gespannt. „Sie waren doch im Hause, als der Raubmord geschah.“

Ich konnte Tomsen unmöglich sagen, daß ich den Baronett ehrlich bewunderte.

Ich hob die Schultern. „Ein Raubmord eben … Die Mauritius war fünfzigtausend Pfund wert, glaube ich …“

Der alte Herr Tomsen trank mir zu. „Ihr Wohl, lieber Abelsen … – Auch Bick wird aus der Sache nicht recht klug.“

„Ich bin Antialkoholiker“, entschuldigte ich mich. – Hier Whisky mit Soda trinken?! Ach nein!! Und daß Bick aus der Sache nicht „klug“ wurde, war ein aufgelegter Schwindel. „Man macht dieses Briefmarkennarren wegen zu viel Umstände“, fügte ich hinzu.

Ich wußte nun: Der große Unbekannte, der „Sultan“, kannte wohl den „Warner“, nicht aber den Henker. – Ja, – Henker! In meinen geheimsten Ideengängen hatte ich Charmer längst so getauft. Es unterlag ja keinem Zweifel, daß er den Mörder des Mädchens vom Hafendamm in Vlissingen bestimmt aufgeknüpft hätte, wenn ich nicht mit aller Energie dagegen gewesen wäre. Inzwischen war nun meine innere Umstellung bedeutend weiter fortgeschritten. Der letzte Anstoß, diese Sinnesänderung zu vollenden, sollte sehr bald erfolgen.

Der alte Herr Tomsen rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Daß ich das Getränk ablehnte, mißfiel ihm. In seiner Verlegenheit sagte er allzu höhnisch: „Sie haben recht – ein Briefmarkennarr! Dazu ein Mann, der nur Schrullen hatte und fast kindisch war … Er trank nur Milch, er züchtete Kaninchen und trieb allerlei Unfug und war geistig völlig stumpf, ein halber Idiot!!“

„Freundchen, hast du eine Ahnung!!“, dachte ich im stillen. – Im übrigen nickte ich Beifall … „Ja, und ein Grobian! Die Welt hat nichts an ihm verloren!“

Tomsen blickte mich lauernd an. Ich wußte, er traute mir noch immer nicht, und er sollte mir die faustdickste Lüge glauben. – Ich sprach gleichzeitig weiter: „Seine Beziehungen zu Charmer sind mir vollkommen unklar. Wir, Clarissa Delmont und ich, mußten hier bei Ihnen Schutz suchen, Hamilton Delmont dürfte gleichfalls hier sein … Bevor wir flüchteten, sah ich Charmer in einem Boot auf dem Flusse. In dem Boot lag ein Motorrad, aber es hatte eine schwarze Lenkstange, während der Mauritius-Räuber eins mit einer vernickelten benutzte, die Maschine war auch größer und stärker, sonst …“

„Sonst?!“, munterte mich Tomsen mit gierigen Augen zum Weitersprechen auf.

„Sonst hätte ich wahrhaftig angenommen, Charmer sei ein Lump und ein ganz undankbarer Wicht.“

– – Jetzt, wo ich in aller Ruhe diese meine Erinnerungen an das Tsad-See-Problem in Norwood, Albemarle-Street 17, als braver Hausbesitzer namens Arthur Elsen niederschreibe, kommt mir erst so recht zum Bewußtsein, welche ungeheuerliche Nervenprobe jene Unterredung mit Tomsen bedeutete. Jetzt entsinne ich mich, daß ich trotz äußerlich zur Schau getragener Abgeklärtheit innerlich fieberte. –

Meine letzte Äußerung entlockte Tomsen einen tiefen Atemzug der Erleichterung. „Ja, dieser Charmer …!!“, sagte er grübelnd. „An Bord des „Kohinoor“ ist er selten anzutreffen, wo er sonst wohnt, weiß niemand …“

Ich sprang auf. Ich schauspielerte. „Ich werde es erfahren, Mr. Tomsen! Charmer hat den kleinen Sultan, diesen weggejagten Detektiv, auf die Falltür gestellt und ihm die Schlinge um den Hals gelegt – – empörend!!“ Ich schritt scheinbar erregt hin und her. – Das Zimmer hatte zwei Türen, vor denen innen Friesvorhänge hingen … „Können wir auch nicht belauscht werden, Mister Tomsen? Dem großen Unbekannten traue ich alles zu …!“

Ich schlug den einen Vorhang zurück und riß die Tür auf und schloß sie wieder. Daß ich dabei den Riegel vorschob, konnte Tomsen nicht sehen. Ich tat genau dasselbe bei der anderen Tür.

So, nun hatte ich ihn!!

Die Komödie war aus.

Tomsen wurde aschfahl, als ich ihm die Cold vor die Stirn hielt.

„Keinen Laut!! Sie sehen den Schalldämpfer!! Legen Sie sich auf den Teppich, Gesicht nach unten, Arme rückwärts hochgestreckt!“

Tomsens Augen irrlichterten vor wahnsinniger Angst. Er gehorchte.

Als ich ihn mit Gardinenschnüren gefesselt hatte, warf ich ihn in den Sessel zurück. Seine Stirn tropfte von Schweißperlen, sein Unterkiefer hing herab.

„Ihr Auftraggeber hat sich einen miserablen Doppelgänger Reginald Tomsen ausgewählt“, sagte ich zu dem Jammerlappen. „Möglich, daß Sie ein entfernter Verwandter der Tomsens sind, – der „Warner“ sind Sie niemals, und auch die Köchin Marie Ann ist nur ein Ersatzstück. Wenn Sie jetzt lügen, lernen Sie mich von meiner unbarmherzigsten Seite kennen!! – Geben Sie zu, daß der Mann im Ledermantel Sie angeworben hat?“

Tomsen schluckte … Seine blassen Lippen zitterten.

„Und … und wenn … Sie mich … töten“, stotterte er heiser, „von mir erfahren Sie nichts! Ich muß ja doch sterben … Der Sultan läßt keinen am Leben, der versagt hat …“

Er weinte fast. Eine entsetzliche Furcht ließ alle Muskeln seines Gesichts zucken.

Er begann mir leid zu tun. – – Später zeigte sich, daß er ein verkommener Onkel Bickfort Tomsens war, ein Oheim dritten Grades. Er hieß wirklich Reginald Tomsen und hatte sechs Jahre Zuchthaus hinter sich.

 

6. Kapitel.

Der tote Charmer.

Der arme Teufel tat mir wirklich leid. Ich hatte vollstes Verständnis für seine Angst. Trotzdem mußte ich bestimmte Dinge aus ihm herauspressen. Mit Gewalt war hier nichts getan. Ein Mensch, der ohnedies den Tod vor Augen sieht, fürchtet keine Folter. Im Gegenteil, vielleicht hoffte er durch unverbrüchliches Schweigen Gnade vor seines Auftraggebers Augen zu finden.

Zunächst besichtigte ich das Zimmer ganz genau. Es war ja immerhin möglich, daß hier ein Mikrofon aufgestellt war, und daß unser Gespräch abgehört wurde. – Ich fand nichts, setzte mich dicht neben Tomsen und sagte gedämpft: „Hören Sie genau zu … Ich werde Sie vor dem Unbekannten schützen – mein Wort darauf! Wieviel Leute sind hier auf dem Inselchen und im Hause?“

Seine stieren Blicke hingen zweifelnd an meinem Gesicht. Seine Angst war noch zu groß.

„Ich … wage es nicht“, stammelte er.

„Unsinn!! Bisher hat der Schurke, der den Sultan spielt, mich nicht erwischt. Er wird mich nie fangen, Sie auch nicht …! – Reden Sie, Mann, – aber schnell! Also wieviel Kerle stecken hier in dem Hause?“

In seine Blicke trat ein Schimmer von Zuversicht. „Jetzt nur eine Frau und ich, – – und Sie und Clarissa Delmont … Vor einer halben Stunde war die Kriminalpolizei hier, Sir Morstan fand das Haus leer … Sie haben alles durchsucht, es waren fünfzehn Leute, und dann entfernten sie sich … und ließen meine Frau und mich zurück …“

Ich mußte mich zusammennehmen, um meine Verblüffung zu verbergen. – – Geheime Mächte! Es stimmte schon …! Da war als Kopf des Ganzen der Mann im Ledermantel, da war der echte Reginald Tomsen, sein Sohn Bickfort, ferner Charmer und ich! – Der Hexenkreis erweiterte sich. Dachte ich an Einzelheiten, drohte mir der Kopf zu springen! Wo war da Anfang und Ende?! Nur nicht grübeln – nur nicht!! Es war ein Teufelsspiel, und man tat gut, mit aller Nüchternheit die Ereignisse zu bewerten.

„Was haben Sie mit Clarissa gemacht?“, forschte ich etwas beklommen.

Er schaute zu Boden. „Ihr einen Schlaftrunk im Tee gereicht …“

„Aha! Genau wie mein Whiskyglas!!“ Grimme Wut quoll in mir hoch … verebbte wieder …

Ich nahm mein gefülltes Glas. „Es ist besser, Sie schlafen gleichfalls! Trinken Sie!! Ich kann keinen Zeugen gebrauchen.“

Tomsens Widerstandskraft war gebrochen.

„Ich will auch nichts mehr sagen oder hören“, winselte er. „Mir ist alles gleichgültig – alles!“

Drei Minuten später schlief er ganz fest.

Ich beobachtete ihn, – dann wandte ich mich zur Tür, die in den Flur führte, schob den Riegel zurück, öffnete, – – ich habe wirklich recht widerstandsfähige Nerven, aber alles hat seine Grenze, – ich prallte zurück.

Vor mir stand der echte Reginald Tomsen, der „Warner“, etwas blaß, etwas gebeugt.

„Das Weib in der Küche ist gleichfalls unschädlich, lieber Abelsen“, meinte er melancholisch, nachdem er seines Doppelgängers zusammengesunkene Gestalt flüchtig gemustert hatte.

Ich trat zur Seite, er drückte mir die Hand und fügte matt hinzu: „Wir waren auf das Erscheinen der Polizei vorbereitet. Unser Heim hier besitzt den großen Vorzug, daß unfreiwillige Gäste sich selbst bei Nacht und Nebel recht laut anmelden, mögen sie auch irgendwoher durch den bewaldeten Uferstreifen kommen und herüberschwimmen. Unser Tsad-See ist mit Alarmeinrichtungen gespickt wie mit Stellnetzen, – – vielleicht fängt sich einmal der große Hecht darin, der vorläufig noch in einem Ledermantel mit Autobrille und falschem Bart auf Beute ausgeht …“ – Und all das sprach er in demselben müden, apathischen Tone wie ein Mensch, dem das Leben nichts mehr zu bieten hat, und sein dunkler Anzug, der schwarze Binder und der traurige Blick der umschatteten Augen paßten nur zu gut zu diesem monotonen Organ, dem jegliche Frische genommen schien.

Mit Reginald Tomsen war eine fast erschreckende Veränderung vor sich gegangen. Die Ursache kannte ich, aber sie lag ja bereits tagelang zurück, und Tomsen hätte den ersten Schmerz über den Verlust Lilian Harleys längst überwunden haben müssen. In diesem einen Punkte begriff ich ihn nicht. Oder sollte die Bestattungsfeier in der Kapelle von Seymour-Castle ihn so erschüttert haben?!

Er schloß die Tür, deutete auf eine Klubecke, und wir nahmen in den weichen Polstern Platz. Wenn der „Warner“ mir wie bisher als ein Mann von zäher Entschlossenheit und vorbildlicher Selbstbeherrschung entgegengetreten wäre, würde mir das, was ich ihm notwendig zu sagen hatte, leichter über die Lippen gekommen sein.

Still und bedrückt saß er da, ein lebendes Rätsel in vielem, – nur seine Hände glitten ruhelos umher, – es waren die schmalen Hände eines geistig Schaffenden.

„Fragen Sie getrost, Abelsen“, sagte er unvermittelt. „Ich weiß, was Sie fragen wollen …“

Ich atmete erleichtert auf. Ich hatte bei ihm auf Widerstand zu stoßen gefürchtet, aber dieser Mann war seelisch zermürbt, zerbrochen.

„Bickfort Tomsen“, sagte ich mit aller Zartheit, „Sie sind der Warner, Ihr Vater ist tot, Sie tragen eine vorzügliche Maske …“

Er nickte nur.

„Bickfort“, meinte ich noch wärmeren Tones, „stand Ihrem Herzen Lilian Harley so nahe, daß Sie über ihren Verlust nicht hinwegkommen? Sind Sie deshalb so verändert?“

Er hob den gesenkten Kopf, entfernte den Bart, die Brille und die Perücke, goß aus einem Fläschchen eine Flüssigkeit in sein Taschentuch und rieb damit sein Gesicht ab.

Ich hatte nun denselben jungen, so außerordentlich sympathischen Bickfort vor mir, wie ich ihn zuerst im Flur des Hauses in Pimlico und dann bei Lilians Beisetzung gesehen hatte. Seine regelmäßigen Züge, die schmale, gerade Nase, der feingeschwungene Mund und die feste Kinnpartie stempelten ihn zum Typ des vornehmen, tatkräftigen und beherrschten Engländers.

„Weshalb ich so verändert bin?“, wiederholte er meine Frage mit aller Bedächtigkeit. „Lilians Tod werde ich ja nie, nie verwinden, Abelsen … Was mich so mutlos macht, ist die Erkenntnis, daß wir gegen den großen Unbekannten niemals etwas ausrichten werden und daß seine Persönlichkeit sich nicht feststellen läßt, jetzt noch weniger denn je, nachdem man Sie als Sheffields Mörder oder doch als einen Verbündeten des Mörders verdächtigt und Ihnen auch den Diebstahl der Mauritius-Marke vorwirft und Ihnen nicht nur alle Vollmachten entzogen, sondern Sie sogar gleich mir … steckbrieflich verfolgt.“

„Unmöglich!“, stieß ich hervor. „Das wäre ja …“

Er unterbrach mich sanft. „Es ist die Wahrheit. Ihre Flucht mit Clarissa war Sir Morstan, der hier die Razzia leitet, bereits bekannt, und ich hörte Morstan zu dem armen Wicht dort“, – er zeigte auf seinen schlafenden Verwandten – „sagen, daß das Ministerium alles daransetzen würde, Sie zu fangen …“

Diese Eröffnungen raubten mir für Minuten die Sprache.

Bickfort lächelte mich trübe an. Seine Hand legte sich leicht auf meine Schulter. „Erkennen Sie jetzt, welche Macht der Mensch besitzt! Vielleicht druckt man jetzt schon die Anschläge für die Plakatsäulen mit Ihrem Bilde, mit meinem Bilde, und mit den Bildern der Geschwister Delmont … Vielleicht bringen die Abendzeitungen bereits unsere Steckbriefe. Vielleicht ist auch Kapitän Charmer einer dieser Vielgesuchten, – wahrscheinlich sogar, obwohl Richard Charmer …“ – kurze Pause – „gar nicht mehr lebt …“

„Er ist tot?! – Weiß Gott, Bickfort, Sie verstehen es, das Unwirkliche kaltblütig zu Tatsachen umzustoßen!“ Dieser Ausruf meinerseits war stark übertrieben. Aber ich wünschte, das Heft in den Händen zu behalten, und auf meine Art den Sieg zu erringen.

„Kapitän Charmer“, erklärte Bickfort zögernd, „wurde vor Monaten während eines Orkans von der Brücke der Jacht „Kohinoor“ in die tobende See von einer ungeheuren Woge hinweggespült. Ein Dampfer soll ihn dann aufgefischt haben, aber das ist ein Märchen … Selbst Baronett Sheffield, allerdings ein sehr vertrottelter Mensch, glaubt an diese Zeitungsente, die niemand außer mir nachkontrolliert hat. Das Ergebnis war, daß der Dampfer „Triton“, der damals unweit der Jacht „Kohinoor“ den Orkan miterlebt hat, für mich unauffindbar blieb. Es gibt ja ungezählte Dampfer dieses Namens. Der Reporter, der sich diese Geschichte aus den Fingern gesogen hatte, beschwor mich bei allen Heiligen, ihn nicht zu verraten … Er würde sonst seine Stelle verlieren … – Charmer ist tot. Wer jetzt als Charmer auftritt, weiß ich nicht, Abelsen. Das ist ja das Unglaubliche bei diesem Einfall, daß ich auch Charmers Persönlichkeit nie ermitteln konnte, während er mich als „Warner“ längst kennt und … Stillschweigen bewahrt. Einige Zeit hatte ich den Baronett im Verdacht, – ich mußte diese Vermutung fallen lassen, Sheffield ist viel zu sehr Sammlernarr und auch viel zu … unintelligent. Dann dachte ich an Lord Pellore, und ihn habe ich noch immer im Auge und suche hinter seine Heimlichkeiten zu kommen. Obwohl auch er schon der Figur nach niemals Charmer spielen könnte. Am einleuchtendsten erscheint mir wohl die Annahme, daß Charmer einen Bruder besitzt, – doch auch dies ist wie gesagt eine durch nichts gestützte Annahme, und so, wie die Dinge jetzt liegen, werden wir die Wahrheit nie erfahren … Leute, die steckbrieflich verfolgt werden, besitzen nicht mehr die nötige Bewegungsfreiheit, sorgfältige Nachforschungen anzustellen. Wir können froh sein, wenn wir ins Ausland gelangen und dort irgendwo unter anderem Namen in Ruhe leben dürfen. An Geld fehlt es uns nicht, Abelsen, ich bin reich, ich habe große Summen in Holland und Frankreich zur Verfügung … Wir werden nicht Not leiden, Olaf, – – das Schicksal hat …“

Ich kenne Charmer“, sagte ich mit erhobener Stimme und mit allem Nachdruck, um diese Art Zukunftsgedanken bei Bickfort Tomsen sofort auszuschalten. Ich war eigentlich enttäuscht über ihn. Ich hätte von ihm als dem so überaus rührigen und klugen Warner weit mehr Zähigkeit erhofft.

Bickfort griff ungestüm nach meinen Händen. „Olaf, ist das Tatsache? Sie kennen ihn?! Wer ist es?!“

„Das mag vorläufig mein Geheimnis bleiben, bester Bick … Es genügt: Ich kenne ihn! Und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich auch den großen Unbekannten finden werde. Ich habe einen Plan, der gelingen muß, obwohl er etwas umständlich erscheinen mag. – Wollen Sie noch immer die Flinte ins Korn werfen und im Auslande als friedlicher Rentner leben?!“

Sein stilles, vornehmes Gesicht war mir zugekehrt. Sekundenlang behielt er denselben Ausdruck bei, dann huschte ein eigenartiges Lächeln um seinen Mund, das ich später noch so und so oft gesehen. Gewiß, diesem Lächeln haftete noch immer ein Schimmer von Melancholie an, aber das belustigte Augenzwinkern gab doch den Ausschlag.

„Ich habe nie die Absicht gehabt, die Jagd auf den Sultan einzustellen. Ich wollte nur – verzeihen Sie mir, Olaf – Sie selbst auf die Probe stellen, ob Sie aus tiefinnerstem Gerechtigkeitsgefühl gewillt sind, allen Schwierigkeiten zu trotzen, denn im Grunde sind Sie ja am allerwenigsten von diesem Schurken benachteiligt worden. Was bedeutet es, daß er Ihnen nach dem Leben trachtet? Töten will er jeden, der ihm gefährlich werden kann. Mir aber …“ – und seine Finger umspannten die meinen mit eisernem Druck – „mir aber hat er etwas für immer geraubt, das unersetzlich ist …! Denken Sie an Lilian Harley!! Als Charmer und ich uns über den Sarg hinweg die Hände reichten, haben wir geschworen, Lilians wahren Mörder zu richten. Und dabei wußte ich nicht einmal, wer Charmer ist – und weiß es auch jetzt noch nicht. Charmer benachrichtigte mich von der Stunde der Beisetzung Lilians, Charmer befahl, daß die Geschwister Delmont dabei sein sollten … – Nein, Olaf, der Schurke entgeht uns nicht … Lächelnden Mundes will ich zuschauen, wie Richard Charmer auch ihn richtet … Denn das haben Sie nun wohl klar erkannt: Wenn wir drei nicht eingreifen, wird dieser Mensch niemals die Strafe erleiden, die ihm gebührt – niemals! Dazu steht er zu hoch auf der Stufenleiter der obersten Zehntausend.“

„… Vielleicht auch nicht“, meinte ich bedeutungsvoll. „So, und nun führen Sie mich zu Hamilton Delmont und zu Clarissa … Das Geheimnis Ihres Hauses kenne ich. Es steht auf den Grundmauern des ehemaligen Norwood-Schlosses, und das besagt alles …“

Bickfort nickte. „Ohne diese Fundamente, Freund Olaf, wären wir jetzt in Händen der Polizei. Gut, – – kommen Sie … Und staunen Sie über nichts.“

 

7. Kapitel.

Mord im Nobel-Klub.

Tiefe Dunkelheit hatte sich über die Millionenstadt herabgesenkt. Gegen Abend war von Süden her schwarzes Gewölk heraufgezogen, die Luft war schwer und schwül, und jeden Augenblick konnte ein Regenguß herniederprasseln.

Nördlich von Norwood lagen ein paar Lehmgruben und eine verlassene Ziegelei, deren hohe Esse ein trauriges Wahrzeichen eines einst hier blühenden Industriezweiges bildete. Viele Jahre hatten die Lehmgruben nicht nur fetten, feinkörnigen Lehm, sondern auch graublauen feinsten Ton für Töpferwaren gespendet, dann stießen die Spaten und Hacken der Arbeiter auf Urgestein, auf dunklen Fels, und da die Gruben kein Material mehr hergaben, mußten die Ziegelei und die ihr angegliederte Töpferei geschlossen werden. Die Gesellschaft, der das nutzlose Terrain gehörte, hatte die Warnungen einiger Fachleute, die das Vorhandensein von Felsboden in tieferen Schichten vorausgesagt hatten, nicht beachtet, obwohl in der Umgegend hier und dort verwitterte Felsmassen zu Tage traten, und Doktor Bickfort Tomsen erwarb das Gelände für eine lächerlich geringe Summe und hatte sich in den Kontorsräumen der Ziegelei ein Laboratorium eingerichtet und die Gruben, um Unfälle zu verhüten, mit hohen Stacheldrahtzäunen umfrieden lassen. Sein eigentliches Heim, sein Inselhaus, lag nur etwa dreihundert Meter entfernt.

Es mochte halb zehn Uhr abends sein, als in der mittleren der drei Gruben, wo auch die Ziegelei sich erhob, aus dem dichten Buschwerk zwei Gestalten sich herausschälten und eine Weile horchend stehen blieben. Die Finsternis war so groß, daß die Leute kaum zu erkennen gewesen wären, selbst wenn ein Spion in nächster Nähe gelauert hätte.

„Ihr Mißtrauen ist übertrieben, Olaf“, flüsterte Bick mir zu. „Nicht einmal Landstreicher wagen sich hierher. Die wassergefüllten Lehmlöcher sind zu gefährlich, und man weiß, daß ich bis spät in die Nacht hinein hier arbeite.“ Er deutete auf ein paar Milchglasfenster des Kontorgebäudes und lachte leise.

Aus dem Gestrüpp erschienen noch zwei Gestalten, und unter Bicks Führung erreichten wir durch das Gittertor des Zaunes den nächsten Feldweg, wo wir uns trennten. Clarissa und ich nahmen eine Taxe und fuhren bis zum Waterloo-Bahnhof …

Zeitungshändler riefen gerade die neuesten Extrablätter über den Fall Sheffield aus und machten gute Geschäfte. Die Schlagzeilen und Titel wirkten auch äußerst verlockend:

Geheimnisvolle Vorgänge in Dr. Tomsens Inselhaus. – Zwei Vigilanten der Polizei gefesselt aufgefunden. Die Verbrecher trotz engster Umzingelung der Insel schwimmend entkommen. Der Abenteurer Abelsen, der Dieb der Mauritius-Marke, schießt auf Kriminalbeamte. Hohe Belohnung ausgesetzt.

Kein Wunder, daß die noch druckfeuchten Blätter reißend abgingen. Kein Wunder, daß Clarissa und ich, zwei sehr bescheiden gekleidete Leutchen, heimlich des öfteren schmunzelten. Schon die Schlagzeilen besagten alles und nichts. Die beiden „Vigilanten“ waren „Onkel“ Reginald und die unechte Marie Ann, – die echte Marie Ann war schon am Morgen von Bick reich entlohnt in ihre Heimat entlassen worden. Und was die Flucht an Land und meine Schüsse betraf, – eins war genau so großer Bluff wie das andere. Wir hatten ja damit rechnen müssen, daß Sir Morstan das Inselhaus erneut besuchen würde, als die beiden Vigilanten sich nicht meldeten.

Nun bestieg ich mit Clarissa abermals eine Taxe. Wir fuhren zur Wohnung Lord Pellores.

Kaum drei Minuten brauchten wir zu warten. Dann öffnete sich die große Gartenpforte des alten Pellore-Palastes, in dem der Lord zusammen mit seinem Freunde und Sekretär Dr. Manfred Willow hauste, und eine Limousine glitt auf die Straße. Am Steuer saß ein älterer Chauffeur in dunkelgrüner Livree, und im Innern lehnte ein zweiter Mann, – sicherlich Pellore selbst.

Unsere Taxe folgte der Limousine.

„Olaf, wenn Ihre Schlußfolgerungen nur zutreffen“, sagte sie etwas schüchtern.

Ich war mir meiner Sache ziemlich gewiß. Ich hatte inzwischen Pellores Hilfsbereitschaft vom Vormittag her sorgfältig nachgeprüft. Pellore mußte merken, daß das Netz sich um ihn enger und enger schloß, nachdem wir aus Tomsen-House, wo er uns alle zu erwischen hoffte, entschlüpft waren. Er ist ein feiner Rechner, zweifellos. Aber Fehler macht jeder.

Unsere Taxe hielt jetzt weit hinter der Limousine.

„Das muß Vivians Haus sein“, flüsterte Clarissa hastig … Da – hören Sie, Olaf, – die Limousine gibt Hupensignale …“

„Ruhe!!“ mahnte ich.

Aus dem Hause der Diva schlüpfte eine Frauengestalt und verschwand in Pellores Wagen, der sofort anruckte.

Die Fahrt ging gen Westen bis zur Kumassi-Street, und hier inmitten eines alten Gartens lag das feudale Haus des vornehmsten Londoner Klubs, – daher Nobel-Klub.

Wieder hielten wir hinter der Limousine, die vor der Einfahrt halt gemacht hatte. Nur Vivian Varran stieg aus und betrat den Klubgarten … Lord Pellores Wagen wendete und parkte inmitten der breiten Straße abseits der anderen Autos.

„Was bedeutet das“, flüsterte Clarissa erstaunt.

„Wenn ich das wüßte, Kind! – Ich werde aussteigen … Pellore erkennt mich in dem Aufzuge sicher nicht.“ – Freund Bick hatte sowohl Clarissa wie mich tadellos herausstaffiert.

Mit krummem Rücken schlurfte ich davon, machte nachher kehrt und musterte Pellores Wagen, besonders den Chauffeur.

Alles Blut schoß mir zu Kopfe …

Nochmals schaute ich hin …

Es war kein Irrtum: Am Steuer saß jetzt der Mann im Ledermantel, mit Autobrille, Lederkappe: Er!!

Ich zwang meine rebellierenden Nerven zur Ruhe.

In der Limousine lehnte noch immer ein zweiter Mann in der Polsterecke. War es dieser unbekannte Doktor Manfred Willow, von dem niemand bisher viel Aufhebens gemacht hatte? Immerhin, er und Pellore waren intime Freunde, und man konnte daraus gewisse neue Schlußfolgerungen ziehen.

Was sollte ich tun?! Ich sah mich hier vor eine so schwerwiegende Entscheidung gestellt, daß meine Gedanken ziellos durcheinanderfluteten … Dieser Zustand währte nur Sekunden. Mit Gewalt war hier nichts zu erreichen. An den Anschlagsäulen klebten bereits die Steckbriefe, wir waren Freiwild, der große Unbekannte hatte wieder unheimlich prompt gearbeitet, – nur mit List und Geduld konnten wir den Mann entlarven und die Wahrheit enthüllen, die so schändlich umgefälscht worden war.

Meine nächste Aufgabe blieb trotz alledem die, die Persönlichkeit dieses Menschen völlig einwandfrei festzunageln und dies womöglich bei einer Gelegenheit, die ihn auf frischer Tat erwischte.

Über die Schwierigkeiten dieser Aufgabe war ich mir keine Minute im Unklaren. Mit diesen Schwierigkeiten hatte ich bereits beim Entwerfen meines Angriffsplanes gerechnet. Nun jedoch wurde ich mir erst so recht bewußt, mit welch verblüffenden Tricks mein Gegner zu arbeiten verstand. Während der Fahrt hier zum Nobel-Klub hatte der Chauffeur gewechselt. Wann war dies geschehen? Ich überlegte … Es konnte nur auf der Strecke vom Pellore-Palais bis zu Vivian Varrans Wohnung geschehen sein. Ich hielt es für ausgeschlossen, daß der Mann im Lederdreß, der Sultan, in Gegenwart Vivians den Platz am Steuer eingenommen haben könnte. Er hatte zweifellos zuerst im Innern der Limousine gesessen, und – – was mußte ich daraus folgern, ganz notwendig folgern? Nur eins: Lord Edgar Pellore und dieser Doktor Willow waren nicht nur allerengste Verbündete, sondern machten sogar gemeinsame Sache, was dieses schändliche Treiben betraf, spielten vielleicht sogar abwechselnd den „großen Unbekannten“. Ich spähte umher … Wo waren Bickfort Tomsen und Hamilton Delmont, die doch unauffällig in unserer Nähe hatten bleiben sollen?! – Autotaxen, Privatwagen glitten vorüber. Es begann sanft zu tröpfeln, ein feiner Staubregen rieselte vom pechschwarzen Himmel, in der Ferne grollte ein Gewitter …

Nochmals blickte ich in die Runde … Mit Ausnahme eines Motorlieferwagens, eines Dreirades mit grellbuntem Kasten mit dem leuchtenden Namen einer Konditorei, war nichts Auffälliges in der Nähe. Der livrierte Motorradler pumpte gerade den einen Vorderreifen auf.

Ich wandte den Kopf unschlüssig nach rechts zum Garteneingang des Klubs …

Aus dem mäßig erleuchteten alten Garten des Klubs kam die Gestalt einer verschleierten Frau in dunklem Seidenmantel gleichsam hervorgeschossen … Sie lief nicht, sie stürmte vorwärts, – – dann taumelte sie in Pellores Limousine hinein, die Tür knallte zu, der Wagen ruckte an, und vom erleuchteten Klubgebäude schrie eine schrille Stimme …:

„Polizei!! Mord!! – – Polizei!!“

Andere Stimmen fielen ein … Herren mit leuchtenden Frackbrüsten eilten zur Straße.

Pellores Wagen sauste schon um die Ecke.

Im selben Moment stand der Motorradler neben mir.

„Abelsen, – – hinein in den Konditorkasten! Torten sind nicht darin!!“ Ein grimmer Humor leuchtete auch in den stahlharten Augen des Fremden. Er packte mich, – über mir klappte der Deckel zu, und ich kauerte auf weichen Kissen, während ich nach vorn durch einen breiten Sehschlitz alles überschauen konnte. Der Mann raste mit seinem Lieferdreirad in einem höllischen Tempo davon.

Ich kannte den Mann. Später wurde er in den immer wieder erneuerten Steckbriefen nur „der Henker“ genannt.

 

8. Kapitel.

Der Henker.

Pellores Limousine sauste durch Chelsea-Kensington und erreichte hinter Willersdom die offene Chaussee und freies Gelände. Bisher hatte mein Mann im Sattel des starken Motorrades den Flüchtlingen offenbar Vorsprung gelassen, jetzt rückte er näher.

Mein Sehschlitz genügte vollkommen – selbst zu einem sicheren Schuß. Ich hatte die lange Cold längst schußfertig, und Lord Pellore mochte sich hüten, – seine Hinterreifen würden sehr bald schlapp werden und ohne Luft sein.

Ja, – wir rückten auf, – noch hundert Meter, noch achtzig …

Dann … flog vor uns aus der Limousine ein Körper auf die Straße, überschlug sich und blieb liegen.

Mein Gefährte stoppte.

Auch ich war im Nu aus dem Motorkasten heraus, wir beugten uns über die Männergestalt, und meine Laterne beleuchtete einen verstümmelten Wachskopf.

Mein Mann fluchte leise. „Weiter!!“ – – Er warf die Puppe in den Straßengraben. Das Rad kam in Fahrt, – Pellore hatte derweil nur allzuviel Vorsprung gewonnen. Aber mein Freund Henker fuhr wie der Teufel, nahm die Kurven mit glänzender Geschicklichkeit und holte abermals auf …

Endlich, endlich war es so weit.

Ich zielte, drückte ab …

Ich feuerte viermal, – die Limousine, die nun mit schlappen Reifen lief, versagte allmählich. – und hinter ein paar vereinzelten Landhäusern rutschte sie in einer Kurve seitwärts, schmetterte hinten gegen einen Baum und glitt in den Chausseegraben.

Noch im Fahren schnellte ich aus dem Kasten hervor und rannte auf das Wrack zu.

„Hände hoch!!“

… Dort saß der Mann im Lederdreß …

„Hände hoch!!“

Mein Gefährte war schon neben mir.

Dann ein Blick in den Wagen …

Er war leer …

Dann ein erstauntes Aufhorchen …

Eine Frau weinte und schluchzte … Genau so kläglich und verzweifelt hatte damals Clarissa Delmont in dem Zimmer in Pimlico geweint in jener denkwürdigen Nacht vor Lilian Harleys Beisetzung.

Mein Gefährte mit dem struppigen Schnurrbart schaute mich unsicher an. Er begriff die Zusammenhänge nicht, aber ich überblickte sie, wenigstens zum Teil.

„Miß Varran, entfernen Sie Autobrille und Bart“, sagte ich höflich, denn diese Ärmste grob anzupacken wäre brutal gewesen.

Die Filmdiva, die angeblich das Geheimnis der Wunderinsel im Tsad-See kennen sollte, gehorchte …

„Wo ist „er“ geblieben?“, fragte ich tröstend. „Weinen Sie doch nicht … Sie sind doch in Sicherheit …“

Sie starrte mich groß an. Ein gequältes Lachen folgte. „Ich – in Sicherheit?! Nirgends bin ich vor ihm sicher … Er sprang aus dem Wagen, als Sie beide die Wachspuppe besichtigten … Er trug meinen Mantel und Hut, und …“

Ich wollte keine Zeit verlieren, – nicht eine Sekunde …

„Miß Varran, klettern Sie hier in den Lieferkasten. Hinter uns befindet sich eine Tankstelle. Ich möchte telephonieren.“ Und zu meinem Gefährten: „Fahren Sie zurück, Freund Ham …“

Während Freund Ham seinen Benzinvorrat ergänzte, rief ich zunächst den Nobel-Klub an … Es meldete sich der Klubdiener.

„Hier Detektivinspektor Rallay…“ (Der Name war glatt erfunden). „Was ist bei Ihnen passiert? Ich hörte, daß…“

„Mordversuch“, stammelte der Diener. „Sir Morstan und zehn Beamte sind im Hause …“

„Mordversuch? An wem?“

„An Lord Edgar Pellore …“

Ich hätte den Hörer beinahe fallen lassen.

„Pellore? Stimmt das?!“

„Ja – – zwei Brustschüsse … Aber der Arzt hat Hoffnung …“

Ich riß mich zusammen. Ruhe – – nur Ruhe!! Selbstbeherrschung!!

„Wer war der Täter?“

„Es … es war … die Filmdiva Vivian Varran …“

„Und – wie geschah der Mordversuch?“, fragte ich heiser.

„Mylord saßen im Lesezimmer … Miß Varran ließ ihn in die Vorhalle bitten und … feuerte … und entfloh …“

Ich holte ganz tief Atem.

„Danke!“

Ich hängte ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn.

Also so hatte der Sultan gearbeitet.

Eine ungeheure Wut preßte mir plötzlich die Kehle zusammen.

Aber der Gedanke, daß ich den großen Unbekannten nun überführen könnte, entlockte mir ein schrilles, drohendes Auflachen.

Ich nahm den Hörer ab und verlangte das Pellore-Palais. Es meldete sich der vollkommen verstörte Hausmeister.

„Hier Detektivinspektor Rallay … Könnte ich Doktor Willow sprechen?“

„Bedauere … Doktor Willow ist vorhin zum Nobel-Klub gefahren … Es ist ein entsetzliches Unglück passiert, Mr. Rallay … Sie wissen wohl Bescheid.“

„Natürlich weiß ich … – Wann fuhr Doktor Willow zum Klub?“

„Vor ein paar Minuten … Ich mußte erst eine Taxe holen, da der Diener Mylords wieder einmal mit Mylords Auto eine Schwarzfahrt unternommen hat und der zweite Wagen nicht in Ordnung ist. Der Hutter, Edward Hutter hatte stets Weibergeschichten vor, und es könnte nichts schaden, wenn die Polizei sich den Burschen einmal recht genau ansehen würde, Herr Inspektor …“

„Danke … Das genügt mir.“

Ein arg enttäuschter Abelsen verließ die Telephonzelle. Aber auch ein Abelsen, der eine neue Spur entdeckt hatte.

Ich trat an unser Konditorgefährt heran und fragte die matte, bleiche Vivian: „Sind Sie schon häufiger im Auto des großen Unbekannten gefahren?“

„Einige Male …“

„Ist es dasselbe Auto, das nun als Wrack im Straßengraben liegt?“

„Nein. Bestimmt nicht. Es ist Lord Pellores Wagen.“

„Der Sultan zwang Sie, dieses Spiel mitzumachen, Miß Varran. Er betrat in Ihrem Hut und Mantel den Klub. Ahnten Sie, was er vorhatte?“

„Nein … – Und was wollte er dort?“, forschte sie ängstlich.

„Oh – nichts Besonderes, – darüber reden wir nachher. – Kennen Sie den Diener Hutter? Was halten Sie von ihm?“

„Ich kerne ihn – zu gut“, erklärte sie leise. „Ein schrecklicher Mensch mit einem Mephistogesicht und einer Stimme, die unglaublich brutal klingen kann …“

„Und Doktor Willow?“

„Der liebenswürdigste Gentleman, – nur etwas beschränkt, etwas einseitig und verschroben.“

Freund Ham, der mit hochgeklapptem Mantelkragen und tief ins Gesicht gezogener Mütze dabeistand, nahm mich jetzt beiseite. „Abelsen“, sagte er gedämpft, „ich vermute, Sie wissen nun, wer „Charmer“ ist, sonst hätten Sie mich nicht mit Ham angesprochen und derart den Namen Charmer abgekürzt.“ Seine Worte kamen ihm sehr langsam über die Lippen, sehr bedächtig, sehr wohlüberlegt. Später hatte ich noch oft Gelegenheit, diesen Mann zu bewundern, der sich durch nichts, aber auch durch gar nichts aus der Ruhe bringen ließ und der über eine solche Fülle geistreicher Einfälle verfügte, daß Bickfort und ich es recht schwer hatten, hierin mit ihm gleichen Schritt zu halten.

„Sie sind Baronett Roger Sheffield“, erklärte ich ebenso leise. „Ich bewundere Sie … Die Art und Weise, wie Sie mir in Ihrem Palais, als Sir Morstan mich zu der sogenannten neuen Besprechung mitnehmen wollte, eine Fluchtmöglichkeit verschafften, macht Ihrer Erfindungsgabe alle Ehre. Sie selbst schlugen Ihren Hausmeister Thomas mit dessen Einverständnis nieder, seine Verletzung war ja ganz unerheblich, Sie waren der Motorradler mit dem gerollten Teppich, und die Mauritius-Marke, die fünfzigtausend Pfund wert ist, dürften Sie bei sich tragen …“

Sheffield wirkte als Persönlichkeit wie ein Nervenberuhigungsmittel. Dieser vollendete Komödiant, der so virtuos den Briefmarkensammler und vertrottelten Sonderling aller Welt vorgetäuscht hatte, nahm auch meinen Bericht über den Inhalt der Telephongespräche mit derselben Kaltblütigkeit hin und fragte zum Schluß: „Dann wäre also der Diener Edward Hutter unser Feind. Das mag schon sein, Hutter konnte Pellore belauschen, Telefonanrufe abhören und Akten einsehen. – – Und jetzt, – was nun?“, fügte er in seiner abgehackten Art hinzu.

„Jetzt fahren wir denselben Weg zurück, Freund Ham, und suchen die Stelle, wo der Sultan aus dem Wagen gesprungen ist.“

„Weshalb das?!“

„Das werden Sie sehen. Die Stelle wird leicht zu finden sein. Sie muß etwa fünfhundert Meter vor dem Platze liegen, wo Sie die Wachspuppe in den Graben schleuderten und wo diese sich noch jetzt befinden dürfte. Der Chausseegraben war dort recht tief.“

Sheffield schaute zu Vivian Varran hinüber, die sich auf den Rand des Konditorradkastens gesetzt hatte.

„Hm, – – und die Diva, Olaf?“

„Sie meinen, weil sie nun unter Mordverdacht steht? – Ja, das Mädchen gehört nun eben mit zu uns. Ihnen ist doch klar, daß der große Unbekannte den Lord töten wollte, weil er ihn fürchtete, weil er das Geheimnis seiner Persönlichkeit durch Pellore bedroht sah. Die Art der Ausführung dieses Mordversuchs könnte man, wenn man die Wachspuppe und alles andere in Betracht zieht, beinahe genial nennen …“

„Eine geniale Schufterei“, sagte Sheffield eisig.

Er schritt zu dem Motordreirad, und wir fuhren denselben Weg zurück.

 

9. Kapitel.

Der begriffsstutzige Dr. Willow.

… An einem Chausseebaum lehnte neben einem Auto mit geschlossenem Verdeck ein alter Herr mit einem Rübezahlvollbart und einem Künstlerkalabreser und rauchte eine Zigarre.

Unser Dreirad hielt. – „Bick, Sie hier …?!“, rief ich ehrlich erstaunt.

Bickfort Tomsen warf die Zigarre auf die nasse Chaussee. „Wir waren immer hinter Ihnen. Hier ist „er“ abgesprungen. Als „er“ die Wachspuppe hinauswarf, wußte ich, daß er Vivian Varran ihrem Schicksal überlassen wollte. – Guten Abend, Miß, ich bin der Warner, ich habe auch Ihnen einige beunruhigende Briefe geschrieben, – es tut mir leid, Sie sind auch nur eins der Opfer des Sultans. Frauen sind seine Spezialität, das wissen Sie ja von Afrika her, als Ihre Filmgesellschaft dort am Tsad-See den sensationellen Bildstreifen drehte … – Vom Spurenlesen, lieber Olaf, verstehe ich nicht viel, aber ich werde es noch lernen. Um keine Fährten zu verwischen, habe ich lediglich den Grabenrand abgeleuchtet und die Eindrücke festgestellt, die unser vornehmer Sultan ausgerechnet in einem Maulwurfshügel zurückließ. – Hamilton, reichen Sie mir die Laterne heraus, und Sie, Clarissa, haben derweil wohl das Zentimetermaß nach meinen Angaben angefertigt, Olaf wird es brauchen können, glaube ich – zum Ausmessen der Stiefelgröße.“

Freund Ham blieb neben mir, offenbar um für sich an meinem Tun etwas zu profitieren, Ich lieferte ihm kurze, leise Erläuterungen. Er notierte die Maße der Stiefeleindrücke, die in dem feuchten Maulwurfshügel vortrefflich scharf ausgeprägt waren. Dann ging es über den Graben hinweg in ein Stoppelfeld, weiter auf einen Bahndamm, und drüben fand ich in einem Gebüsch an einer Seitenstraße Autospuren. Ich zeigte dem Baronett die Eindrücke, wo der Wagen zweifellos recht lange Zeit gestanden hatte. Die Autospur führte von der Straße in das Wäldchen und wieder zurück bis zur Chaussee. Hier verlor sie sich.

Wir kehrten zu unseren Freunden zurück, denen meine Feststellungen über das dort drüben im Gebüsch versteckte Auto offenbar wenig bedeuteten. Sogar Sheffield zuckte nur die Achseln. „Nun gut. Was nützt uns das?! Die Fußspuren bleiben die Hauptsache.“

Auch der etwas redselige, junge Bickfort, der freilich nie unnötig ein Wort verschwendete, verstand nicht, worauf ich hinauswollte.

„Die Chaussee hier hat keine besonderen Merkmale“, sagte ich zu dem kleinen Kreise, der mich erwartungsvoll umgab. „Der Sultan hatte nun diesen Mordanschlag auf Pellore doch bis ins einzelne vorbereitet, das beweist schon das versteckte Auto, mit dem er nachher nach London flüchten wollte und auch geflüchtet ist. Bei diesem feinen Regen war eine Orientierung noch mehr erschwert. Das heißt, unser Mann mußte genau den Punkt auf der Chaussee kennen, wo er die Wachspuppe herauswerfen müßte, um auf kürzestem Wege zu seinem Auto zu gelangen. Ich behaupte, er hat dort, wo die Wachspuppe im Graben liegt, entweder ein unauffälliges Zeichen angebracht oder sich die Stelle sonstwie merken können. – Fahren wir weiter …“

Vivian war zu Clarissa und Hamilton in den Wagen gestiegen, den Bickfort steuerte. Sehr bald hielten wir wieder. Das Gelände hier hat wirklich keinerlei besondere Merkmale. Im Graben lag noch die Wachspuppe, jenseits des Grabens standen einige alte Buchen. – Wir alle waren ausgestiegen. Als einziger Baum, der noch Blätter trug, ragte zwischen den Buchen eine Eiche empor. An ihrem Stamm war eine Gedenktafel für einen von Wilderern erschossenen Förster befestigt, und der Rand dieser verwitterten Tafel leuchtete in matt-grünlichgelbem Licht: Leuchtfarbe! Ich fuhr mit dem Finger über den Rand hin: Auch meine Fingerspitze leuchtete!! – Dabei war dieses schwache, grüngelb schimmernde Viereck so wenig auffallend, daß niemand es beachtet hätte.

„Ein feiner Kopf!“, sagte der Baronett anerkennend. „Schade, daß der Kopf nicht mehr lange so niederträchtige Pläne ausspinnen kann!“

Sheffield hielt sich von den übrigen etwas abgesondert und wollte sein Inkognito zweifellos noch gewahrt wissen.

Wir berieten kurz. Ich schlug vor, daß ich mich sofort nach Eintreffen in London telephonisch mit Doktor Willow verständigte und ihn aufsuchte.

Die anderen sollten vorläufig aus dem Spiel bleiben …

Gegen zwei Uhr morgens rief ich den Pellore-Palast an, und Manfred Willow meldete sich … Ich nannte mich diesmal vorsichtshalber am Apparat Inspektor Murray, denn einen Beamten dieses Namens gab es tatsächlich in Scotland Yard.

Willow erklärte, sein armer Freund Pellore liege in einer Privatklinik … Die Ärzte würden ihn wohl durchbekommen. – Auf meine Frage nach dem Diener Hutter erwiderte Willow, der unverschämte Schürzenjäger sei noch immer nicht zurückgekehrt.

Dies hatte ich übrigens mit aller Bestimmtheit vermutet.

Willow sagte dann noch, er sei zwar todmüde, aber wenn es durchaus sein müßte, würde er mich an der Parkpforte erwarten.

„Also in zehn Minuten, Mr. Willow …“, – und ich hängte ab.

Zehn Minuten waren Bluff, – ich hatte von dem Automaten, von dem aus ich gesprochen, keine drei Minuten bis zum Willow-Palais.

Ich überkletterte das Gitter des Vorgartens und schlich bis zum Portal, dessen Freitreppe mir genügend Deckung bot. Plötzlich bewegte sich etwas neben mir, ein zarter Parfümduft umwehte mich kaum merklich, und Clarissas Hand tastete nach meinem Arm. „Olaf, ich brachte es einfach nicht fertig, Sie hier alleinzulassen … Sind Sie mir sehr böse?!“

Ich drückte ihr nur stumm die Hand. Ich hatte die Nacht nicht vergessen, wo sie in der Kapelle von Seymour-Castle mir ebenfalls auf eigene Gefahr Gesellschaft geleistet hatte, noch weniger die Stunden am Teetisch, im Uferhäuschen in Fulham an der Themse.

Ich fühlte: Clarissa gehörte zu mir! Sie hatte für das, was sie auf fremden Befehl begangen, genügend gebüßt. Die Hochstaplerin Clarissa Delmont war entsühnt.

Dann vernahmen wir auch schon das vorsichtige Öffnen einer schweren Tür, und lautlos glitt ein Mann die Stufen hinab und durch den Vorgarten zur Gitterpforte. Doktor Willow hatte in der Vorhalle kein Licht eingeschaltet. Ich war ihm dafür dankbar.

Genau so lautlos wie er huschten Clarissa und ich in das Palais, dessen Räumlichkeiten mir Baronett Sheffield genau beschrieben hatte.

Wir verbargen uns im Schlafzimmer, und ein halb in die Wand eingebauter Kleiderschrank, dessen Tür nicht knarrte, bot mit seiner Raumverschwendung einen sicheren Schlupfwinkel. Vorläufig brauchten wir ihn noch nicht, – ich wollte erst einmal die Entwicklung der Dinge abwarten.

Clarissa war überaus ängstlich. „Olaf, – – was beabsichtigen Sie eigentlich?“, hauchte sie mit zuckenden Lippen. „Ich habe das Gefühl, als ob uns hier Unheil droht …“

„Ich will Edward Hutter finden“, erklärte ich leise und horchte nach der Treppe hin.

Die zehn Minuten, nach deren Ablauf Oberinspektor Murray hier hatte eintreffen wollen, waren längst verstrichen.

Eine Uhr schlug mit tiefem Gongton nebenan im Herrenzimmer ein Viertel – einen Schlag.

Clarissa lehnte sich schwer auf meinen Arm. Aber ihre anfängliche Furcht war gewichen, und als nach weiteren fünf Minuten im Herrenzimmer die Tür aufging und Stimmen ertönten, zuckte sie nicht einmal zusammen.

„Nehmen Sie Platz, Sir Morstan“, sagte ein weiches, angenehmes Organ … „Ihre Bemerkung, daß Oberinspektor Murray in Paris weilt, darf ich wohl nur als Scherz auffassen. – Bitte – – Zigarre gefällig …“

„Gern“, knurrte der bierehrliche, aber stets brummige Oberchef. „Tut mir leid, – Murray ist in Paris …“

„Nicht möglich! Wer rief mich denn an? Sie etwa? Natürlich waren Sie es … Wie sollten Sie sonst zu dieser Stunde mich aufsuchen … – – Bitte, hier ist Feuer …“

„Danke. – Ich habe Sie nicht angerufen, aber ich wurde angerufen … Und wissen Sie, von wem? Von einem Menschen, dem ich einst blindlings vertraute: Von Abelsen!“

„Sie … scherzen, – Verzeihung, – – ich bin etwas begriffsstutzig … – Von Abelsen? Und der bestellte Sie hierher?“

„Ja. Zu einer diskreten Besprechung mit Ihnen über den Diener Hutter, – Abelsen behauptete am Apparat, Hutter sei der große Unbekannte, den auch ich zu gern erwischen möchte …“

„Ah – – Hutter!! Schau einer an! Ein Witz für ein Skandalblättchen!!“ Willow lachte herzlich. „Ich bitte Sie, Sir Morstan, Sie nehmen das doch nicht ernst?! Hutter?! Diesen Weibernarr, diesen ewigen Schürzenjäger?!“

Morstan räusperte sich ärgerlich. „Ein Narr? – Doktor Willow, das ist ein ganz gefährlicher Bursche, und Abelsen wird schon recht haben, denn – bitte, fallen Sie nicht um vor Staunen: Dieser Hutter hatte die Frechheit, vor vierzig Minuten, nein, es ist doch länger her, aus dem Vorort Kingsbury uns anzurufen und zu melden, er habe auf der Chaussee eine schwere Panne gehabt und zwar durch Schüsse in die hinteren Reifen, und wenn wir die jetzt steckbrieflich Verfolgten fangen wollten, sollten die Wege polizeilich gesperrt werden … Dies geschah auch, aber die Mühe war umsonst, nur ein Autowrack und eine Wachspuppe wurden gefunden.“

… Clarissa krallte ihre Finger in meinen Arm.

Ich verstand: Ein Glück, daß wir so weite Umwege gemacht hatten!!

Doktor Willow sagte merklich verlegen: „Sir Morstan, ich bin kriminalistisch so gar nicht vorgebildet, und ehrlich gestanden sprechen Sie für mich in Rätseln …“

… Für mich sprach er nicht in Rätseln. Ich wußte genau, wer als „Abelsen“ und vorher als Hutter angerufen hatte. Hätte es sich hier nicht um so bitterernste Dinge gehandelt, würde ich über die Frechheit und Schlauheit des „großen Unbekannten“ genau so herzlich gelacht haben wie der etwas engstirnige Willow.

Jegliche Spur dieser Art Heiterkeit verging mir …

Morstan hatte schroff verlangt, Hutters Zimmer zu sehen, und Willow antwortete, er wolle nur den Schlüssel aus seinem Schlafzimmer holen, – „… Einen Duplikatschlüssel, Sir Morstan, denn Hutter hat seine Tür durch ein Kunstschloß gesichert …“

 

10. Kapitel.

Der Spuk im Schrank.

Ich hatte die Schranktür offen gelassen, ich hatte auch probiert, ob sie knarrte oder die Bodenbretter uns durch Geräusche verraten könnten.

Ich zog Clarissa zum Schranke hin, schob sie hinein, folgte ihr und schloß die Tür, indem ich einen eingeschraubten Haken als Griff benutzte. –

Der Schrank war mit Anzügen, die auf Bügeln an einer Messingstange hingen, völlig ausgefüllt.

Als ich etwas nach links rückte, um Clarissa mehr Platz zu gewähren, stieß ich an einen harten Gegenstand. Ich wagte mich nicht mehr zu rühren, damit dieses lange Etwas, das da an der Rückwand baumelte, nicht etwa gegen die Bretter stieße und uns verriete.

Willow, das hörte ich, hatte eine Schieblade des Waschtisches aufgezogen. Schlüssel klirrten … Dann wurde es wieder still. Willow war in sein Arbeitszimmer zu Morstan zurückgekehrt.

Ich war mir über die Natur des Gegenstandes, der neben mir hing, noch immer nicht klar. Als ich jetzt die linke Hand bewegte, berührte ich etwas Eisiges, Kaltes, – – eine andere Hand.

Ich preßte die Lippen zusammen, um nicht aufzuschreien und kalter Schweiß trat mir auf die Stirn …

All das wäre ja zu ertragen gewesen, wenn ich nur nicht Clarissa neben mir gehabt hätte.

Wer das stille Grauen kennenlernen will, male sich meine Lage aus!

Zum Glück hatte ich mich vollkommen in der Gewalt, obwohl mein Hirn fieberte.

Ich mußte rasch handeln …

Um keinen Preis durfte Clarissa auch nur ahnen, in welcher Gesellschaft wir uns hier im Schranke befanden.

Ich schob die Schranktür ein wenig auf.

Stille …

Morstan und Willow hatten sich entfernt …

Aber das Licht brannte noch im Schlafzimmer, und ich flüsterte Clarissa zu, als erste den Schrank zu verlassen.

Sie schlüpfte hinaus, und ich folgte ihr, indem ich die Anzüge möglichst gegen das unheimliche Etwas drückte.

Dann schloß ich die Tür und bat Clarissa, den Pellore-Palast sofort zu verlassen und draußen auf mich zu warten … „Es muß sein, Clarissa!! Die Arbeit, die ich hier noch vorhabe, ist nichts für Sie! Seien Sie vorsichtig, Morstan wird Beamte mitgebracht haben!“

Sie blickte mich mißtrauisch-forschend an … „Olaf, – keine Arbeit ist für mich zu hart oder zu … häßlich! Ich bleibe! Wir sind hier am sichersten. Bedenken Sie: Das Palais ist zweifellos umzingelt!“

„Nun gut, Clarissa … Gehen Sie in den Flur vor die Tür des Herrenzimmers und horchen Sie, ob die beiden zurückkehren. Ich will uns eine Rückzugsmöglichkeit sichern … Ich möchte mich durch den Park entfernen und ein Beweisstück mitnehmen, das dem Sultan noch sehr viel Kopfzerbrechen und quälende Gedanken bereiten wird, – Schnell, – – beziehen Sie Ihren Posten … Nur nicht viel fragen …“

Clarissa sah wohl selbst ein, daß Sir Morstan und Doktor Willow nicht zu lange in Hutters Dienerzimmer verweilen würden. Selbst wenn Morstan den Raum ganz sorgfältig durchsuchte, blieb mir wenig Zeit für meine genau erwogenen Absichten. Clarissa huschte durch den Vorhang ins Nebenzimmer, fand die in den Flur führende Tür nur angelehnt, öffnete sie und ging hinaus.

Ich machte mich an meine scheußliche Arbeit.

Sehr bald erkannte ich, daß meinem Plan keine ernsthaften Bedenken entgegenstanden.

Oben auf dem Schrank fand ich einen eleganten Lederkoffer, dessen Größe gerade genügte.

Nerven?! – Ja, – es gehörten Nerven dazu, den Spuk in den Koffer zu zwängen, aus dem ich einige blutige Wäschestücke erst entfernen wollte. Nachher beließ ich sie, wo sie waren.

Dann öffnete ich das eine Fenster, nachdem ich das Licht im Zimmer ausgeschaltet und die Vorhänge und die Jalousie hochgezogen hatte. Ich lehnte mich weit hinaus, – es regnete noch immer, und infolge dieses jetzt fast nebelartigen Regens gewahrte ich erst recht spät die beiden Eisenhaken einer Strickleiter, die am Fenstersims Halt gefunden hatten, – noch später den Mann, der direkt unter mir mit zurückgebeugtem Kopf mich anstarrte.

„Ham, – – Sie hier …?!“

Der kleine, untersetzte Baronett brummte ungemütlich: „Nennen Sie mich nicht Ham, ich heiße Roger mit Vornamen. Natürlich sind wir hier, nachdem diese verflixte Clarissa wieder ausgekniffen ist. Wir wären auch ohne Clarissa zur Stelle. Bick hat zwei Löcher in die Jalousie gebohrt und Sie beobachtet … – Geben Sie mir den Koffer mit der netten Wachspuppe … Ich seile ihn an … Her damit!“

Er verschwand nach unten. An seiner Stelle tauchte der junge Warner auf. „Olaf, wie wäre es, wenn ich hier einen meiner Briefe zurückließe? Steht nebenan eine Schreibmaschine? Roger brachte mich auf die Idee …“

Ich überlegte. „Gut … Ich diktiere … Aber „Warner“ als Unterschrift fällt diesmal aus …“

Wir gingen ins Nebenzimmer, ich flüsterte Clarissa durch die Türspalte zu, daß sie nicht zu erschrecken brauche, wenn hier getippt würde … – Sie lächelte etwas verzerrt, „Keine Sorge, Olaf!“

Die Schreibmaschine Doktor Willows begann sanft zu klappern. Ich hatte mir den Brieftext genau zurechtgelegt:

„Mr. Willow! Der, der mich im Kleiderschrank verborgen hatte, befand sich in einem Irrtum. Ich habe ein so zähes Leben wie ein gewitzter Kater. Vertuschen Sie meine Abwesenheit, – ich schreibe Ihnen noch Näheres. –

Edward Hutter.“

„So, Bick, – nun flink den Umschlag … Adressieren Sie nur: „Doktor Manfred Willow! Es genügt.“

Der junge Warner lächelte fast grausam.

„Weiß Gott, Olaf, – es genügt!! Ich möchte nicht in der Haut des Sultans stecken!“

Der Brief war fertig. Ich legte ihn so auf den Schreibtisch, daß er nicht sofort auffallen konnte.

„Bick, Sie und Clarissa mögen nun nach unten auf die Terrasse klettern. Ich brauche euch beide nicht mehr. Und – kein Wort zu Clarissa! Vergessen Sie nicht, daß sie herzkrank ist.“

Dann war ich allein in diesem weichlichen, trotz aller Eleganz so raffiniert schlau zurechtgestutzten Herrenzimmer, das so gar nicht Willows wahrem Charakter entsprach. Unzählige Photos von „Künstlerinnen“, dazu Sportbilder, ferner Kopien wenig bekleideter Frauen, von Künstlerhand gemalt, bedeckten die Wände. Marmorfiguren der Venus und anderer leichtfertiger Göttinnen vervollständigen diesen Harem „edler“ Weiblichkeit.

Ich vernahm Stimmen, schlüpfte ins Nebenzimmer, und Morstan und Willow traten ein.

Morstan sagte gerade: „Ihr Fund der Flasche mit Leuchtfarbe in Hutters Zimmer ist sehr wertvoll. Die eine Polizeipatrouille, die die Wachspuppe fand, entdeckte an einer Gedenktafel ein paar hundert Meter weiter frische Leuchtfarbe … Wenn ich nur wüßte, was dieser seltsame Mister Hutter damit beabsichtigte, den Rand der Tafel damit zu bepinseln …“

Willow gähnte diskret.

„Wenn Sie es nicht wissen, Sir Morstan?! Ich harmloses Gemüse weiß es bestimmt nicht! – So, – nehmen Sie noch eine Zigarre für unterwegs mit … Haben Sie eigentlich Beamte unten postiert?“

„Nein.“ Morstan lachte hart. „Daß ich Abelsen hier nicht erwischen würde, konnte ich mir an den fünf Fingern abzählen. Gute Nacht, Mr. Willow … Ihr Onkel Staatssekretär wird mich nun wieder anschnauzen, weil ich nichts als eine Flasche Leuchtfarbe erbeutet habe. Nun, ich habe ein dickes Fell!! Gott befohlen!“

„Gott befohlen!!“, kicherte Willow amüsiert und geleitete seinen Gast hinaus.

Ich blieb hinter den türkischen Vorhängen stehen.

Ich hatte genau gesehen, daß Willow den Brief bemerkt hatte. Er war jedoch genügend Herr seiner selbst, weiter den Unbefangenen zu spielen.

Sehr eilig kehrte er zurück, warf die Zimmertür zu und stürzte zum Schreibtisch, riß den Umschlag auf und las … Sein Gesicht veränderte sich in abschreckender Weise, lief grau an, alle Muskeln zuckten, und dann taumelte er vorwärts …

Ich verließ meinen Platz und stellte mich hinter die Vorhänge des offenen Fensters, im linken Arm einen leichten Mantel Willows und ein Paar beschmutzte Lackschuhe …

 

11. Kapitel.

Hutter überbringt ein Nachthemd.

Manfred Willow war ein gut gewachsener Mann von etwa dreißig Jahren mit einem glatten, schmalen, etwas nichtssagenden Gesicht, dessen Gesamteindruck – der eines mäßig begabten Schwächlings – noch durch das hellblonde, gescheitelte und beiderseits tief in Stirn in halbrunder Welle gekämmte Haar verstärkt wurde.

Aber dieser selbe Mann hatte während der wenigen Schritte ins Schlafzimmer seine stark erschütterte Fassung bereits wiedergewonnen und untersuchte nun den Kleiderschrank, der offenstand, mit einer geradezu erstaunlichen Gleichgültigkeit.

… Erstaunlich für einen Uneingeweihten …

Mich überraschte nichts mehr. Ich schwang mich zum Fenster hinaus, die Strickleiter war entfernt worden, ein Doppelstrick lief vom unteren Ende in die Tiefe, und ich rutschte bequem hinab, zog den Strick ein und folgte dem Baronett, der mich hier erwartet hatte. Schweigend eilten wir durch den nassen Garten zu einer Seitenpforte, bestiegen das Auto mit dem Klappverdeck, dessen Gepäckhalter den schrecklichen Koffer trug, und Freund Bick gab Gas …

Clarissa, die neben mir saß, schmiegte sich vertraulich und freudig an meine Schulter. „Olaf, – noch eine solche Nacht, und nochmals solche Angst um Sie, und mein Herz verstummt für immer! Sie dürfen nicht mehr so unendlich viel wagen, Olaf! Ihr Leben muß Ihnen doch mehr wert sein als die Jagd nach … nach diesem Scheusal!“

„Wo sind Hamilton und Miß Vivian?“, fragte ich ablenkend.

„Sie bewachen die Lehmgruben, Olaf …“ – Und dann, ich hatte es befürchtet: „Olaf, mein lieber Freund, sagen Sie mir die Wahrheit, nachdem Bickfort und der Baronett mich mit Redensarten abzuspeisen versucht haben: Was enthält der lange schwere Lederkoffer?“

Es fiel mir so schwer, sie zu belügen.

„Eine zweite Wachsfigur, eine Gliederpuppe, Clarissa!!“

„Das ist nicht wahr!“, hauchte sie. „Glauben Sie denn, es wäre meiner Gesundheit zuträglicher, mich im Ungewissen zu lassen?!“

Vielleicht ahnte sie das Entsetzliche …

„Eine Leiche“, erklärte ich leise.

„Also doch!“ meinte sie nur. Sie zuckte nicht einmal zusammen. Nur ihr Kopf sank müde gegen den meinen. So legten wir den Rest der Fahrt zurück, bis das Auto neben der Zaunpforte der Ziegelei hielt und Hamilton Delmont aus dem Regen auftauchte und meldete, daß alles sicher sei. –

Bickfort Tomsen hatte das Inselhaus in Norwood erst erworben, nachdem er für seine Tätigkeit als Warner ein Heim nötig hatte, das besondere Vorzüge besaß. Bei der Besichtigung der kleinen Insel und der Reste des Norwood-Schlosses war ihm sofort aufgefallen, daß die Insel zum Teil aus verwittertem Fels bestand, und da die Villa mit den Ecken und Türmchen auf den Fundamenten der uralten Burg sich erhob, hoffte er, in diesen Fundamenten bisher unbekannte Keller zu finden. Er kaufte den Uferstreifen, und als Besitzer des Hauses entdeckte er sehr bald weit mehr, als er erwartet hatte. Der Zugang zu den ehemaligen Burgverließen lag sehr versteckt, aus den Verließen führte eine zweite Geheimtür in eine schmale Felsenhöhle, die sich bis zur mittleren Lehmgrube hinzog. Hier war der Zugang genau so gut verborgen, und daß die einstigen Grafen von Norwood die Höhle vielfach benutzt hatten, beweisen allerlei Gegenstände, die Bick dort gefunden hatte, der nun seinerseits die trockene Grotte heimlich mit allen Dingen versah, die ein Flüchtling brauchen konnte. Zwei Einbuchtungen der Höhle waren seit langem von ihm möbliert, wohnlich hergerichtet und reich verproviantiert worden. Der eine dieser Räume wurde Clarissas und Vivian Varrans Schlafgemach, während wir Männer den anderen für uns belegten.

Auf dem Tische brannte eine Karbidlampe, und um den Tisch saßen rauchend und an ihren Teetassen nippend vier sehr ernste Herren.

Der Baronett, der älteste von uns, schaute mich durch die Rauchwolken seiner Zigarre fragend an.

„Olaf, Sie bestehen also darauf, daß wir uns erst einmal gründlich ausschlafen?“

„Ja. Ich bin zu abgespannt, jetzt schon Freund Bick die Anklageschrift in die Maschine zu diktieren.“

Bick erhob sich. „Wolldecken und Kissen sind genügend vorhanden. Richten wir unsere Lagerstätten her.“

„Einen Augenblick“, wehrte ich doch noch ab. „Sie haben hier Telefonanschluß, Bick …?“

„Ja … Einen heimlichen. Dort steht der Apparat.“

„Geben Sie es mir … Pellore liegt im Privatsanatorium Professor Grubbys. Blättern Sie mal nach, – wie ist die Nummer?“

Bick nannte sie mir, ich rief an, und die Nachtschwester meldete sich.

„Hier Kriminalinspektor Morstan … Ja … Morstan. – Wie geht es Lord Pellore? – Gut, – das freut mich. Wollen Sie bitte Professor Grubby von mir ausrichten, daß zweifellos der Versuch gemacht werden wird, Pellore doch noch zu ermorden … – Oh – erschrecken Sie nicht zu sehr, Schwester … Sorgen Sie also dafür, daß Pellore keine Geschenke oder dergleichen ausgehändigt erhält, sei es, was es sei … – – Wie, was sagen Sie da … Sein Diener Hutter hat soeben ein seidenes Nachthemd und einen Schlafanzug abgegeben? – Schwester, öffnen Sie das Paket auf keinen Fall … Ich lasse es sofort abholen. Sprechen Sie zu keinem Menschen darüber… Legen Sie das Paket in eine unbenutzte Kammer. – Ich danke Ihnen – – im Namen der Gerechtigkeit.“

Ich legte den Hörer weg, und wir vier Männer schauten uns unsicher an. – „Wer fährt zur Klinik?“, fragte der Baronett finster. „Es ist ein Wagnis … Die Schwester kann womöglich doch den Arzt vom Nachtdienst benachrichtigen, und …“

Ich fahre!!“ Am Eingang der Seitengrotte stand Vivian Varran, etwas blaß, aber mit einem entschlossenen Zug um den Mund. „Ja, ich fahre! Erlauben Sie mir bitte dies wenige für den Mann zu tun, der mich seit langem zart umworben hat und den ich nicht erhören durfte, weil … der Andere mich in den Klauen hatte … Der Andere, – er, – ein Nichts, nie zu fassen, ein Phantom, trotzdem mein grausamer Gebieter, nie mein Geliebter, nur … mein menschgewordenes Entsetzen, mein Vampir, – – eine ständige Todesdrohung seit einer Nacht, in der er auf einem Maskenfeste mich in den Wintergarten lockte und …“ – sie preßte beide Hände vor das Gesicht und flüsterte nur noch – „… und mir offenbarte, wer er sei: Der Sultan!! Derselbe Sultan, der dort am Tsad-See, als wir den Afrikafilm drehten, die Schreckensszenen herbeiführte, jene ungeheuerlichen Grausamkeiten, die …, – doch das erzähle ich Ihnen später … – Mr. Bickfort, geleiten Sie mich zum Schuppen, wo Ihr Auto steht … Meine Anwandlung von Schwäche ist bereits vorüber … Ich werde selbst steuern, ich hole das Paket, denn – – mein Haß wird mich schützen …! Wo eine Gelegenheit gegeben ist, Beweismaterial gegen ihn zusammenzutragen, wo ich außerdem Pellore schützen kann, wage ich alles. Mr. Bickfort, – – Perücken, Schminken haben Sie ja reichlich hier. In wenigen Minuten bin ich fertig, – nur schnell, schnell … Ich will handeln, – – ich könnte ja doch nicht schlafen …“

 

12. Kapitel.

Die Anklageschrift.

Euer Lordschaft!

1. Euer Lordschaft gestatten, daß zuerst Richard Charmer, der Henker, mit richtigem Namen Baronett Roger Sheffield-Seymour, Ihnen eröffnet, auf welche Art und Weise er dazu kam, den Henker mit dem auch auf den Anschlägen erwähnten Bajazzolied zu spielen. –

Der Baronett erklärt auf Ehre und Gewissen: Mein Kapitän Charmer, auf See tödlich verunglückt, besaß eine Pflegetochter namens Lilian Harley, an der er mit zärtlicher Liebe hing und dem auch sie sehr zugetan war. – Seit langem gingen nun hier in London Gerüchte um von einem Unbekannten, der sich an besonders liebreizende Frauen und Mädchen heranmachte, und sie zwang, für ihn sowohl Diebstähle zu begehen als auch Gelegenheiten zu großangelegten Betrügereien auszuspionieren. Ferner benutzte er diese Ärmsten, die er in ständiger Todesfurcht zu halten wußte, als Geheimagentinnen in der Weise, daß er durch sie bei den Gesandten fremder Mächte und auch in den Ministerien Englands Photographien von Geheimverträgen anfertigen ließ. – Der Polizei war dieser Mann als einer der gefährlichsten modernen Verbrecher ebenfalls längst ein leider nie zu fassendes Sorgenkind, – alle Bemühungen, Bestimmtes zu erfahren oder seine Persönlichkeit festzustellen, scheiterten daran, daß der „Sultan“ jederzeit über jeden Schritt der Behörden aufs genaueste unterrichtet war. Seine Beziehungen zu höchsten Beamten der Polizei und Ihres Ministeriums, Eure Lordschaft, waren die allerengsten, wie nunmehr erwiesen ist. – Vor vielen Monaten, als Richard Charmer soeben als vermißt gemeldet war, erzählte mir seine Pflegetochter Lilian, daß sie seit einigen Tagen beobachtet und verfolgt würde. Gleichzeitig erfuhr ich, daß Lord Pellore und sein Freund und Sekretär Doktor Willow im Nobel-Klub andauernd am Spieltisch sehr hohe Summen gewannen, daß eines Nachts Mr. Hamilton Delmont, auch ein Klubmitglied, völlig ruiniert das Klubhaus verlassen habe und daß Lilian Harley, die ich wie mein eigenes Kind liebte, zufällig einen gewissen Doktor Bickfort Tomsen kennengelernt und sich mit ihm einige Male getroffen hatte. Ich warnte Lilian eindringlichst vor diesem Tomsen, der, obwohl ebenfalls Klubmitglied und mir flüchtig bekannt, durch Kleinigkeiten meinen Verdacht erregt hatte. Von dem Tage an, als ich zunächst fälschlich meinen jetzigen Freund Bickfort für den Sultan hielt, hatte ich, der etwas menschenscheue Sonderling, ein neues Lebensziel, – von dem Tage an wurde ich nebenher der armselige Matrose Richard Charmer und suchte den „Sultan“ zu entlarven. Ich ließ Lilian in aller Heimlichkeit die Wohnung wechseln, ich war nachts viel unterwegs und fand sehr bald Freude an diesem geheimnisvollen Doppelleben. Hierbei ermittelte ich nun, daß auch Doktor Bickfort Tomsen, der das Inselhaus in Norwood gekauft hatte, dieselbe Neigung besaß und häufig verkleidet ausging und sich dann Reginald Tomsen nannte. Eines Abends, als ich Lilian besucht hatte, und wir eifrig musiziert hatten, stieß ich unweit Lilians neuer Wohnung auf den „alten“ Tomsen, der mir rasch einen Brief zusteckte, dann in sein Auto sprang und eiligst davonfuhr. Der Brief, den ich sofort las, war nur mit der „Warner“ unterzeichnet und enthielt die Mitteilung, daß Lilians neues Heim bedroht sei. Ich kehrte sofort um, und damals trat mir, der ich vorsichtshalber wieder „Charmer“ war, der große Unbekannte zum ersten Male persönlich entgegen. Er glich einem gut gekleideten Chauffeur oder Herrenfahrer im Ledermantel, – eine Maske, die er im übrigen selten wechselte, da diese Tracht allzu häufig benutzt wird.

Euer Lordschaft, alle Einzelheiten sind in dem Bericht enthalten, den unser Freund Abelsen in übersichtlicher Form dieser Anklageschrift beigefügt hat. Es genügt, daß ich hier erkläre, daß der Sultan, von mir überrascht, mich niederschießen wollte. Ein Fausthieb schlug ihm die Pistole aus der Hand, er entkam, und ich hörte nur noch das ferne Geräusch eines schnell enteilenden Autos. Alles weitere geht aus Abelsens Bericht hervor. Jedenfalls hat er erst heute Nacht die Persönlichkeit des großen Verbrechers mit aller Bestimmtheit identifiziert. – Baronett Roger Sheffield-Seymour.

2. Ich, Doktor Bickfort Tomsen, erkläre auf Ehre und Gewissen: Die Gründe, die mich veranlaßten, meine Rolle als Warner zu übernehmen, sind ähnlicher Art wie die des Baronetts. Meine Zufallsbekanntschaft mit Lilian Harley, die ich auf den ersten Blick innig liebte, war die Hauptursache, dem Sultan auch meinerseits nachzustellen. Ich war ein heiterer, lebensfroher Mensch, und es lag in meiner Natur, daß ich Gewaltmaßnahmen scheute. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, den Sultan verschiedentlich niederzuschießen, denn als erster von uns war ich ihm wiederholt dicht auf den Fersen. – Auch ich will mich kurz fassen. Ich ermittelte, daß er, der Überschlaue, nach dem mißglückten Gasattentat auf Lilian Harley sich stark für die Pläne der Great-Filmkompagnie, deren Star Vivian Varran war, interessierte. Die Great-Gesellschaft wollte einen Afrikafilm am Tsad-See drehen, und ich entschloß mich, London zu verlassen und ebenfalls den Tsad-See zu besuchen, da gewisse Anzeichen dafür sprachen, daß der Sultan dorthin Beziehungen unterhielt. Auf der ungeheuren Wasserfläche des Tsad-See gibt es zahlreiche Inselgruppen, eine der Inseln hatte ein Engländer gekauft, der sich Smith nannte. Es war dort ein größeres Haus errichtet worden, und der Verwalter, den Smith eingesetzt hatte, gestattete den Filmleuten merkwürdigerweise, die Insel mit in die Filmhandlung hineinzuziehen. Ich selbst hielt mich, als Eingeborener verkleidet, stets im Hintergrunde. Als der Spielhandlung gemäß eine Szene gedreht wurde, bei der zwei Leute auf einem Floß die Insel ansteuern sollten, geschah das Entsetzliche: Die beiden männlichen Hauptdarsteller auf dem Floß wurden mit scharfen, nicht wie vorgesehen mit blinden Schüssen empfangen, und wurden erschossen. Die Sache wurde dann sehr geschickt vertuscht und der Tod der beiden als Unfall durch Ertrinken dargestellt. Ich stellte in der nächsten Nacht fest, daß das Haus des Mr. Smith von Europäerinnen bewohnt wurde, und ich gehe in der Annahme wohl kaum fehl, daß diese landschaftlich bezaubernde Wunderinsel von dem Sultan als Zufluchtsstätte für seine weiblichen Opfer bestimmt war – ich betone, war –, die allen Grund hatten, aus England zu verschwinden, weil ihr Treiben die Polizei aufmerksam gemacht hatte. Nach außen hin galt das afrikanische Inselhaus, was Ihnen, Mylord, bekannt sein dürfte, als eine Art Sanatorium. – Meine Abwesenheit von London währte vier Monate und war nur insofern erfolgreich gewesen, als ich nunmehr ermittelte, daß die beiden erschossenen berühmten Filmdarsteller ihr Leben sehr hoch zugunsten eines gewissen Mister Smith versichert hatten. Die Versicherungssummen waren leider bereits ausgezahlt worden. Dann las ich in den Zeitungen, daß die wundervolle Insel im Tsad-See irgendwie samt dem Hause vernichtet worden war und daß die Bewohner verschwunden seien. Man nahm ein Erdbeben und eine dadurch verursachte Feuersbrunst an. Ich behaupte, der Sultan ist damals ebenfalls in Afrika gewesen und hat die Insel durch gewaltige Massen von Dynamit und durch einen Zeitzünder, der erst nach Wochen wirkte, absichtlich vernichtet, – ihm lag nur etwas an den Versicherungsgeldern, die insgesamt 80 000 Pfund betrugen. – Erst viele Wochen nach meiner Rückkehr, als ich Vivian Varran bereits beobachtete, belauschte ich den Sultan bei einem Maskenfest, wo er im Wintergarten die Filmdiva aufs brutalste dazu zwang, sein Werkzeug zu werden. Ich war unbewaffnet, und als ich Polizei herbeiholen wollte, entschlüpfte er. – – Näheres finden Euer Lordschaft in unseres Freundes Abelsen Bericht. – Doktor Bickfort Tomsen.“

 

13. Kapitel.

Der Afrikafilm.

3. Ich, Olaf Karl Abelsen, erkläre auf Ehre und Gewissen: Mein beigefügter genauer Bericht enthält alles, was über meine Bekanntschaft mit Sheffield und Tomsen zu sagen wäre. – Nachdem ich als Chef der Abteilung 2 B in Hangerupp das Leuchtturm-Geheimnis aufgeklärt hatte, packte den Sultan – dies sind unumstößliche Schlußfolgerungen – die Angst, ich könnte ihm gefährlich werden. Sein Bestreben war daher, nicht nur mich, sondern auch den Warner und den Henker zu töten, oder doch zumindest so bloßzustellen, daß wir zu Zuchthaus verurteilt würden.

Ich klage hiermit, von meinen Freunden zum Ankläger und Richter bestimmt, den großen Unbekannten einer Reihe von Verbrechen an. – – Mein Auftrag für Afrika, Euer Lordschaft, lautete dahin, die Vernichtung der dortigen Tsad-See-Insel und den Verbleib der Bewohner jenes „Sanatoriums“ aufzuklären, nachdem Ihre Detektive, Mylord, entweder versagt hatten oder spurlos verschwunden waren. Bei jener großen Besprechung in Scotland Yard, an der auch Lord Pellore als Sachberater und sein Freund und Sekretär teilnahmen, wurde mir eine angeblich anonym eingesandte Photographie vorgelegt, die zwei nicht erkennbare Männer auf einem Floß vor der Tsad-See-Insel zeigte. Der anonyme Einsender hatte dazu geschrieben, dies seien wahrscheinlich die Vernichter der Insel, ihnen solle man nachspüren. Dieses unscharfe Bild entstammt, wie Tomsen, der den Film „Die Wunderinsel im Bahr-es-Salam“ wiederholt sich angesehen hat, dem ursprünglichen Filmstreifen. Die Filmleute hatten nachher aus leicht begreiflichen Gründen die Handlung etwas geändert und dieses Bild herausgeschnitten. – – Wie ich nun mit aller Bestimmtheit weiß, ist Doktor Manfred Willow einer der Direktoren der Great-Gesellschaft und Absender des Bildes. Er war Besitzer der Wunderinsel, er ist ein Mensch von skrupelloser Geldgier, er ist – – der Sultan. Seine Freundschaft mit Pellore verschaffte ihm jede Kenntnis über die polizeilichen Maßnahmen. Seine teuflische Schlauheit gab es ihm ein, mir den Afrika-Auftrag zuzuschanzen. Ein Komödiant von seiner Vielseitigkeit streute allen Sand in die Augen. Ich klage ihn also folgender Verbrechen an: Der Vernichtung der Insel und der Ermordung deren Bewohner, ferner des Falschspiels im Nobel-Klub, weiter der Verleitung dritter Personen zu Diebstählen und Betrügereien unter Zwang, ebenso der verschiedensten Mordversuche auf mich und andere, schließlich der Ermordung Lilian Harleys in Vlissingen und der des „Kleinen Sultans“ in der Kapelle von Seymour-Castle, und zu allerletzt des Mordversuchs an Lord Pellore in der Klubvorhalle, des wollenden Mordes an einer weiteren Person und eines weiteren Versuchs, Pellore durch ein chemisch präpariertes Nachthemd in der Klinik zu töten.

Meine Beweise für die Identität Doktor Willows mit dem Sultan sind folgende: Eigene Beobachtungen in seinen Räumen im Pellore-Palast, Schuheindrücke, ein Paar beschmutzte Lackstiefel, ein Mantel, der Flecken von Leuchtfarbe zeigt, und das … Zeugnis des Dieners Edward Hutter. –

Wir werden Euer Lordschaft heute abend den schlagendsten Beweis für Willows Verbrechen liefern. Wir bitten, nicht etwa die Polizei zu benachrichtigen. Wir würden dies sofort merken und würden dann zu unserem Bedauern andere Maßnahmen ergreifen. Wenn Euer Lordschaft meinen beigefügten langen Bericht unvoreingenommen prüfen, werden Sie sich der Überzeugung kaum verschließen können, daß wir in allen Punkten recht und nicht ein Wort zu viel gesagt haben. – Ich bin mit vorzüglichster Hochachtung Euer Lordschaft ergebenster Olaf Karl Abelsen.“

Meinen so ausführlichen Bericht hier wiederzugeben, erübrigt sich.

Den Brief an den Minister gab Bickfort unter „Sehr dringend“ als Eilbrief auf, dann schliefen wir ein paar Stunden, und da sich nachmittags abermals die hochwillkommenen „Eisberge“ im Atlantik eingefunden hatten, mithin dickster Nebel herrschte, verließen Clarissa und ich gegen halb sechs unseren Schlupfwinkel, um in sicherer Verkleidung in der City festzustellen, wie Seine Lordschaft auf den Brief, die Anklage gegen Doktor Willow, reagiert haben mochte. Ich konnte mir nicht recht denken, daß der Minister gegenüber diesen klaren Belastungsmomenten irgendwelche Schritte gegen uns unternehmen könnte.

Clarissa war heute sehr matt und still, und als ich den Rohrpostbrief an Willow aufgab, sah sie müde zu, wie in dem Waterloo-Postamt gerade eine neue Bekanntmachung angeheftet wurde.

Plötzlich zog sie mich hastig vor das von Neugierigen eindrängte große Plakat.

Diebstahl im Ministerium des Auswärtigen.

Die Ankündigung besagte, daß heute vormittag aus den Ministerien ein wichtiges Dokument entwendet worden sei, dessen Inhalt, falls er bekannt würde, England ungeheuren Schaden zufügen müßte. Das Publikum wurde aufgefordert, bei der Wiederherbeischaffung zu helfen. Es waren 50 000 Pfund Belohnung ausgesetzt worden.

Ich wußte sofort, wer hier einzig und allein der Täter sein könnte.

Es ging zur City, zum Pellore-Palais. Der Nebel begünstigte unser Vorhaben. Bicks tadellose Nachschlüssel verschafften uns lautlos Zutritt zu dem Palast, und als wir – Hamilton Delmont war im Auto geblieben – geräuschlos das Schlafzimmer Willows betraten, vernahmen wir sofort Stimmen.

Sir Morstans knurriger Baß sagte gerade: „Seine Lordschaft hat mir einen diskreten Auftrag erteilt, den ich notgedrungen übernehmen mußte, obwohl mein ganzes Empfinden sich dagegen sträubt. Ich habe den Palast beobachtet, ich glaube …“

Willow lachte höhnisch. „Reden wir nicht lange um die Sache herum. Die Lage ist klar: Ich bin im Besitz des neuen Geheimvertrages, der England vernichten wird. Ich bin bereit, das Dokument herauszugeben, wenn folgende Bedingungen Ihrerseits erfüllt werden, Sir Morstan. Erstens: Man läßt mich ungeschoren. Die Verdächtigungen meiner Feinde sind läppisch. Man verhaftet diese Leute und sperrt sie auf Lebenszeit ein. – Das wäre alles.“

Morstan sagte heiser vor Grimm: „Und Sie sind der größte Schurke, der je gelebt hat! Nur im Interesse Englands habe ich Befehl, auf Ihre Bedingungen einzugehen. Ein namenloses Unheil würde über unser Volk hereinbrechen, falls das Dokument gewissen Großmächten bekannt würde, alle Welt würde uns den Krieg erklären, und …“

„Das weiß ich!“, meldete sich Willows jetzt so herrische, brutale Stimme. „Übrigens will ich Sie davor warnen, mich etwa … niederzuschießen, – ich sehe die Waffe in Ihrem Ärmel, Sir Morstan. Das Dokument befindet sich in Händen eines meiner Vertrauten, und, – – nun, Sie verstehen wohl!“

Morstan hustete wütend … Ich sah durch die Vorhänge sein Gesicht … Er hätte Willow niedergeknallt. Seine Augen verrieten es.

Der Sultan lächelte ihn zynisch an. „Welche Garantien bieten Sie mir, daß meine Bedingungen erfüllt werden?“

Der kleine stämmige Morstan holte zögernd aus der Tasche einige Papiere hervor. Seine Stimme erstickte fast vor ohnmächtigem Grimm. „Hier ist die Anklageschrift der drei Herren, hier ist Abelsens Bericht, hier ist eine vom Ministerium unterzeichnete Urkunde, daß man auf Ihre Bedingungen eingeht … Bitte!“

Willow grinste anmaßend. „Sehr verständig von Seiner Lordschaft … Das Vaterland über alles!!“

Er warf die Anklageschrift und den Bericht ins Kaminfeuer, die Urkunde steckte er zu sich … „Sir Morstan, sobald meine Gegner verhaftet sind, erhalten Sie das Dokument. Ich betrachte unsere Unterredung für beendet. Sie gestatten, daß ich Sie hinausbegleite … Es ist außer mir niemand hier im Palais, und auch ich werde sofort anderswo Quartier suchen, – – ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch …“

Morstan erhob sich. „Was Sie sind, sagte ich Ihnen schon!“, meinte er finster. „Wenn ich an Sie herankönnte, würde ich Sie mit diesen meinen Händen erwürgen. – Lebt Hutter?“, fügte er unvermittelt hinzu.

Willow nahm lächelnd eine frische Zigarette. „Wenn er nach den beiden Kugelschüssen noch lebt, hat er eine Katzennatur … Jetzt, hoffe ich, lebt er bestimmt nicht mehr!“

Morstan wandte sich schweigend ab und schritt hinaus, Willow folgte ihm, einen Foxtrott pfeifend, und kehrte nach wenigen Minuten zurück. Erst als er die Tür zugeworfen hatte, bemerkte er den Mann, der ihn mit einem gut gezielten Fausthieb niederstreckte. – –

Kurz nach Mitternacht flammten in der Grabkapelle von Seymour-Castle die Kerzen der vier Leuchter auf. Bickfort ging leise hin und her, und als die letzte Kerze brannte, nahm er neben uns beiden Platz, neben dem Richter und dem Henker. Im geschnitzten Gestühl saßen Hamilton, Clarissa und Vivian Varran. Vor uns stand der bleiche, gefesselte Manfred Willow.

Baronett Sheffield begann kalt, ohne Pathos. „Willow, wir drei beabsichtigen nicht, hier eine phantastische Komödie aufzuführen. – Wo ist das gestohlene Dokument? Daß Sie es einem Vertrauten übergeben haben, ist Lüge. Sie haben stets nur Helfer gehabt, die Sie nicht kannten. Sie trauten niemandem. Sie haben den Geheimvertrag, von dem Englands Schicksal abhängt, natürlich so gut versteckt, daß niemand ihn finden kann.“

Willow schwieg … Kalter Schweiß rann ihm über das fahle Gesicht.

Die unbarmherzige Stimme Sheffields sprach weiter.

„Hier über der Gruft, in der Lilian Harley ruht, wollen wir, da die Gerechtigkeit Sie schonen will, Ihnen das Urteil sprechen. Sie haben unmenschliche Taten vollbracht, – keine Todesart ist für Sie zu grausam. Der Strick wäre für Sie zu milde … – In Afrika haben Sie Ihr Tsad-See-Haus durch Dynamit vernichtet. Das Tsad-See-Haus hier in London in Norwood kennen Sie, es gehört Bickfort Tomsen. Von der kleinen Felseninsel zieht sich eine Felsenhöhle zu den Lehmgruben hin. Wir haben den dortigen Ausgang durch Sprengungen verschüttet. Wir werden Sie in die Grotte bringen, und das Wasser des Sees wird das Urteil vollstrecken. – – Abelsen, – nein, Olaf, Richter Olaf, stecke dem Verurteilten einen Knebel in den Mund … Wir wollen nach Tomsen-House aufbrechen. – Die Gerichtssitzung ist geschlossen. – Lilian Harley, du bist gerächt worden, er, dein Mörder, stirbt noch in dieser Nacht!“

Manfred Willow sank mir mit einem heiseren Aufschrei in die Arme. – –

Gegen zwei Uhr morgens wurden die Bewohner von West-Norwood durch ein paar starke Explosionen aus den Betten gescheucht. Feuerwehr und Polizei fanden das Tomsen-House nur noch als Ruine vor, in der Insel klaffte eine tiefe Spalte, der See war verschwunden, zappelnde Fische schnellten auf dem trockenen Seegrund hin und her, und als am Morgen Taucher in die Grotte eindrangen, fanden sie die Leiche des ertrunkenen Doktor Willow, des Neffen des bekannten Staatssekretärs, die dann feierlich bestattet wurde.

Das Ministerium gab über die Vorgänge einen kurzen Bericht für die Presse heraus, aus dem hervorging, daß es sich um einen Racheakt derselben Leute gegen Willow handelte, die bereits steckbrieflich verfolgt würden.

Als abends in der City die Extranummern der Zeitungen über das unerhörte Verbrechen des Warners, des Richters und des Henkers ausgerufen wurden, saßen in einem reizend gelegenen Landhaus unweit der Ostküste Englands eine Anzahl Personen um den Teetisch und unterhielten sich über die großen Vorzüge dieses Schlupfwinkels, den Bickfort rechtzeitig unter anderem Namen erworben und als Erholungsheim angemeldet hatte.

Wundervolle Herbsttage folgten, aber selbst Seeluft und Sonne konnten den körperlichen Verfall der armen Clarissa nicht aufhalten.

An demselben Tage, an dem der wiedergenesene Lord Pellore heimlich bei uns eintraf, erlosch diese berückende Lebenskerze für immer. Clarissa starb in meinen Armen, sie entschlief sanft und schmerzlos. Zwei Tage darauf erstrahlte die Kapelle von Seymour-Castle nochmals im Kerzenschein … Neben Lilian Harleys Sarg wurde ein anderer beigesetzt.

Und wieder Tage später waren wir drei allein in dem einsamen Landhause: Lord Pellore mit seiner jungen Gattin Vivian und Hamilton Delmont hatten England für immer verlassen, um im sonnigen Süden in Frieden, Glück und Sicherheit zu leben.

Wir drei genügten uns, wir hatten eine seelische Umformung durchgemacht, die unserem Dasein neue Ziele gab. Wir hatten geliebt und gelitten und der Gerechtigkeit gedient. Der Dank für unsere Selbstlosigkeit hing in dem Flur unseres Erholungsheimes als großes Plakat: Unser Steckbrief mit unseren Bildern, mit den Bildern Hamiltons und Clarissas und dem Vivian Varrans!

Freilich, wir sahen jetzt etwas anders aus als auf diesem Anschlag. Niemand hätte uns wiedererkannt. Und als Monate später Freund Bick uns nach einer Reise nach London mitteilte, daß er in London-Norwood in der Albemarle-Street drei passende Häuser gefunden hätte, als er außerdem geheimnisvolle Andeutungen machte, daß es in London für uns Arbeit gäbe, Arbeit, wie wir sie jetzt verrichten wollten, siedelten wir einzeln unter harmlosen Namen als neue Hausbesitzer noch Ost-Norwood über …

Und dann kam ein Tag, an dem Freund Bick uns, die wir auf der Straße fremd aneinander vorübergingen, eine seltsame Geschichte erzählte …

Drei ernste Männer beschlossen, das Geheimnis der „Erstarrten Tränen“ zu enthüllen, koste es, was es wolle … Um uns her schienen die geliebten Toten zu schweben, und wenn auch unsere Trauer durch die allgütige Zeit, die so vieles heilt, gelindert war: Wir vergaßen diese Vergangenheit nie, die uns arm und hart gemacht hatte.

 

Nächster Band:

Erstarrte Tränen.

 

 

Anmerkung:

  1. Sowohl hier als auch im vorhergehenden Band Die Frau vom Leuchtturm wird der Begriff „Die Cold“ verwendet anstatt - wie es richtig wäre - „Der Colt“, sie auch Wikipedia, Samuel Colt. Da es durchweg so verwendet wird, wird kein Druckfehler, sondern Absicht angenommen (warum auch immer) und diese Schreibweise so belassen.