Zurück zur Insel Christophoro …
Zurück zur Georg Hartwig, den der Luftstoß der ungeheuren Explosion bewußtlos niedergeworfen hatte … mit blutender Stirnwunde … –
Nicht allzu lange währte des stämmigen Steuermannes Ohnmacht … Dazu war Hartwig eine viel zu robuste Natur. Wenn bei dem ein Unfall nicht gerade den Lebensnerv verletzte, kam er stets wie eine Katze schnell wieder auf die Beine …
So auch jetzt …
Er schlug die Augen auf …
Sein noch etwas wirrer Blick stach in tiefste Finsternis hinein …
Dann besann er sich … Und diese Erinnerung an Fators, des Geheimnisvollen, unseliges Vorhaben trieb ihn hoch …
Er sprang auf … Trat dabei mit dem einen Fuß auf die erloschene, halb zertrümmerte Karbidlaterne …
Die Explosion – – und Fator …!! Was war aus Fator geworden, der den Frevel, wie er es nannte, dieses Hineinpfuschen in den ewigen Kreislauf der Natur durch das Elexier des Lebens freiwillig hatte büßen wollen, in dem er sich … in Atome zerreißen ließ …! –
Hartwig tastete sich in der schmalen Grotte, die jetzt den Goldschatz unter einer Schutzwand von Steinen und Geröll barg, taumelnd vorwärts …
Mit jedem Schritt wurde er wieder mehr und mehr Herr über seine Glieder … Sein Geist war klar und frisch.
So gelangte er denn bald in die Nähe jenes Ostausganges der Höhle, den die Verbrecher Jimminez und Lomatz durch einen mächtigen Felskeil verrammelt hatten, und den Fator und er selbst durch die ungeheure Kraft von acht Büchsen eines modernen Sprengstoffes wieder hatten freilegen wollen …
Gelangte nun auch um die letzte Biegung der Grotte …
Und – – stand wie angewurzelt …
Schaute geradeaus … schaute hinein in das rosige Abendrot, das durch ein viele Meter breites Loch nun von oben in die Höhle flutete …
Schaute noch mehr, ein zweites durch die Explosion geschaffenes, eingedrücktes, ebenso großes Loch im Steinboden der Grotte …
Und dort unten … ebenfalls eine matte, zarte Beleuchtung von leicht gelblichem Schimmer … –
Nur einen winzigen Teil dieser offenbar riesigen Grotte konnte Hartwich von hier aus überblicken …
Erkannte den matt glänzenden Schimmer eines unterirdischen Sees, an dessen einem ihm sichtbaren Ufer helle Gebäude in der Ferne sich erhoben – nein, keine Gebäude, Paläste aus weißem Marmor wohl …! –
Hartwich fuhr sich mit der Hand über die Augen …
Träumte er? War er etwa noch bewußtlos …?!
Er war ein nüchterner, praktischer Wirklichkeismensch … kein Fantast! Selbst seine Träume waren stets seiner Charakterveranlagung angepaßt gewesen.
Er öffnete die Augen wieder …
Blickte abermals hinab in die gelbe Tiefe – auf den unterirdischen See, das Ufer mit seinen Landungsbrücken, an denen merkwürdig geformte Boote lagen – und weiterhin auf die stolzen Marmorpaläste, die ihm vorkamen wie ein berauschendes Bild aus orientalischen Märchen …
Und wieder wollten da Zweifel in ihm aufsteigen, ob all das auch Wirklichkeit …
Er wandte den Blick nach oben – zur oberen Öffnung der Schatzgrotte …
Ja – der versperrte Eingang war nicht nur freigelegt durch die Explosion, sondern um ein vielfaches vergrößert worden …
Und da draußen im Abendrot strichen Möven und andere Seevögel in graziösem Fluge und mit heiserem Schrei durch die Luft …
Dort draußen sah er den Beweis, daß alles hier Wirklichkeit, daß auch der See dort, die Marmorpaläste nicht als blendende Fata Morgana wieder in Nichts zerrinnern würden.
Und unwillkürlich dachte er da Tage – viele Tage zurück …
An die Abenteuer auf dem gestrandeten Dreimaster, an die hohle Dorgas-Klippe mit ihren seltsamen Geheimnissen …
Und murmelte jetzt selbstvergessen:
„Wahrlich – wer um den Azorenschatz kämpft, der muß sich das Staunen abgewöhnen! Habe ich nicht bereits so Ungeheuerliches erlebt, daß mir dieser unterirdische Seen wahrlich nicht mehr merkwürdig erscheinen sollte …!“
Dann – ein jäher Gedankensprung …
Er schrak fast zusammen … Seine Gefährten hatte er über alledem völlig vergessen …!
Wo war Fator? Lebte er noch? War nichts mehr von Fator übriggeblieben, nicht einmal ein paar blutige Fetzen?
Sein Blick prüfte da die Felswände ringsum, suchte nach irgendwelchen traurigen blutigen Spuren … nach Kleiderfetzen – irgend etwas von Fator, der sich freiwillig den Tod hatte geben wollen, weil er den Gedanken nicht ertrug, ewig leben zu müssen – durch eigene Schuld!
Nichts fand Steuermann Hartwig … Auch nicht das geringste Blutfleckchen …
Er begriff das nicht. Es war völlig ausgeschlossen, daß Fator etwa im letzten Moment noch furchtsam vor diesem völligen Ausgelöschtwerden zurückgebebt sein sollte, und daß er sich etwa in Sicherheit gebracht hatte.
Dies letztere wäre ja nur möglich gewesen, wenn er in die tieferen Teile der Grotte geflüchtet wäre …
Und da hatte Hartwich nichts von Fator bemerkt – – nichts! – Mithin blieb nur einer Erklärung übrig. Fator war tatsächlich durch die ungeheure Kraft der Sprengstoffe derart zerstäubt worden, daß er sich gleichsam wie Gas vollkommen verflüchtigt hatte und sein selbstgewolltes Ende sich überhaupt nicht nachweisen ließ. –
Hartwig stellte diese zwecklosen Bemühungen ein und wandte sich wieder der großen neuen Öffnung im Höhlenboden zu, durch die man einen weiten Teilen der darunter befindlichen anderen Grotte überschauen konnte.
Um besser sehen zu können, legte er sich jetzt flach auf den Bauch und schob Brust und Kopf über den zackigen Felsrand des Loches hinaus …
Unter ihm lag der weite See …
Unter ihm strahlte das geheimnisvolle, leicht gelbliche Licht, das diesen endlosen Hohlraum des Erdinneren in matte, angenehme Dämmerung hüllte …
Nach Osten zu konnte er auch jetzt wieder das Seeufer und die hellen, hohen, fantastischen Bauten deutlich erkennen.
Abermals kam dem Steuermann da ein flüchtiger Gedanke an eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung …
Doch er wußte nur zu gut, daß eine solche Fata Morgana nur bei Sonnenlicht auf der Oberfläche entstehen konnte.
Nein – die mächtigen Paläste da drüben waren kein Trugbild! Und bei näherem Hinstarren glaubt er sogar weiter im Hintergrunde eine bergige Landschaft und das Häusermeer einer Stadt zu erkennen – einer unterirdischen Stadt!
Dann – ging es wie ein leichtes Zucken durch Hartwichs stämmigen Körper …
Sein Leib reckte sich in angestrengtestem Schauen noch mehr über den bröckligen Rand der Öffnung hinaus …
Mit angehaltenem Atem stierte er auf das ferne Seeufer …
Glaubt wieder für Sekunden, daß ein Trugbild ihn narre …
War … unvorsichtig …!
Hatte die Hände auf brüchiges lockeres Gestein gestützt …
Diese Hände verloren den Halt …
Fuhren ins Leere …
Ein Teil des Felsens polterte herab …
Und Georg Hartwich sauste kopfüber in die Tiefe …
Fünfzehn Meter tief – – in den stillen, matt glänzenden See …
Ein leiser Schrei hatte sich noch seinen Lippen entrungen …
Das Wasser schäumte auf …
Felsbrocken klatschten hinein – dicht neben den versinkenden, halb bewußtlosen Steuermann …
* * *
Als Edgar Lomatz die an Deck der Sphinx befindlichen drei Feinde durch ein einfaches Steuermanöver in die haushohe Brandung der Insel Christophoro hinabgeschleudert hatte, als die drei dem Tode Geweihten dicht nebeneinander in den brodelnden Hexenkessel der tobenden, an den Klippen zerschellenden Riesenwogen gefallen waren, da hatte Alfonso Jimminez als vorzüglicher Schwimmer sich rasch wieder an die Wasseroberfläche emporgearbeitet …
Schöpft Atem … Und – berührte ein dickes Tau, das hier neben ihm im Wasser schwamm …
Packte zu, fand so einen Halt und konnte mit der Linken den Kabylenführer, der seinerseits die rotblonde Frau an den vollen Haarsträhnen festhielt und mit nach oben gezogen hatte, am ledernen Gürtel ergreifen …
Da kam auch schon die nächste Woge angerollt …
Ein gläserner, halb durchsichtiger Berg – so rückte sie näher und näher, zerschellte am Klippenkranz, flutete über die drei Todgeweihten hinweg, hätte sie unfehlbar an der inneren Riffreihe zerschmettert, wenn nicht Alfonso Jimminez’ Bärenstärke das Tau so fest gepackt hätte, daß selbst die Macht dieses Angriffs der mörderischen Wasser den dreien nichts anhaben konnte …
Sie … tauchten wieder auf …
Und der Geheimagent brüllte Abd el Sarfa jetzt zu:
„Nehmen Sie die Frauen in die Linke …! Mit der Rechten umklammern Sie das Tau …! Es ist ein Ankertau der gescheiterten ‚Mauretania’ … Es hält … Und lassen Sie sich durch die Strömung dem Lande zutreiben …!“
Der Kabyle umfaßte die Rotblonde, preßte sie an sich …
Sie war bewußtlos …
Ihr Kopf ruhte an seiner Brust … Ihr vollerblühter Leib schmiegte sich an den seinen …
Und – – wie eine unendliche Fülle von Kraft strömt es da aus dem Frauenkörper in den des braunen Marokkaners über …
So brandete denn auch die nächsten Riesenwoge über die drei hinweg, konnte die armseligen Menschlein nicht mit gieriger Faust gegen die Riffe werfen …
Brüllte laut wie in ohnmächtiger Wut, flutete zurück …
Und bevor die dritte kam, eine noch gewaltigere Schwester der zweiten, hatten Jimminez, der Kabyle und die Rotblonde die gefährlichen Riffe bereits hinter sich, gelangten an den felsigen Strand der Insel Christophoro, die seit Stunden sowohl das Wrack des Goldschiffes, des U-Bootes, als auch den Milliardenschatz barg. –
Und – dies war’s, was Edgar Lomatz aus der Höhe vom Deck der Sphinx aus beobachtet hatte, diese unerwartete Rettung seiner Leute!
Dies entlockte ihm den häßlichen Fluch, erfüllte seine verderbte Seele mit neuen Rachegelüsten … –
Kaum hatte Abd el Sarfa dann das berückende Weib, diese rätselhafte Einsiedlerin der Nachbarinsel Mala Gura, beim scheidenden Lichte der sinkenden, feurigen Sonne in den weichen Sand unter einen dichten Busch gebettet, kaum hatte Jimminez nach kurzer Untersuchung der Bewußtlosen erklärt, daß sie sehr bald wieder zu sich kommen würde …
Da – – trat hinter demselben Busche lautlos ein hagerer, hochgewachsener Mann hervor mit seltsamen tiefliegenden todestraurigen Schwärmeraugen …
Sein Antlitz, bleich und merkwürdig unbestimmbar, was das Alter des Mannes betraf, zeigte einen Ausdruck, vor dem jetzt selbst Jimminez wortlos zurückwich …
Wie Verklärung lag’s über den bleichen Zügen …
Indem er nun Abd el Sarfa durch eine schlichte Handbewegung abseits wies, kniete er neben der rotblonden Frau nieder …
Beugte sich ganz tief über sie …
Starrte ihr in das reglose Gesicht …
Flüsterte aus dem wilden Auffuhr seiner Seele heraus – kaum hörbar:
„Also deshalb – deshalb mußte ich leben bleiben! Deshalb! Um – mein Kind zu finden, meine rotblonde Melanie, meine Mela …! Nach … nach sechzehn Jahren!!“
Dann – – nahm er die Frau empor, trug sie von dannen, ohne den Kabylen und Jimminez auch nur eines Blickes zu würdigen …
Verschwand mit der teuren Last in den Büschen.
Und hinter ihm drein raunte der Riese Jimminez scheu und voll abergläubischer Ehrfurcht:
„Es war … Fator, der Geheimnisvolle, der Unverwundbare! Lomatz’ Kugeln taten ihm nichts an! Er ist … der einzige Mensch, den ich fürchte …!“
Er bekreuzigte sich, schien ein Gebet zu murmeln.
Des Marokkaners schwarze, scharfe Augen waren über die Brandung hingeglitten, waren zum rötlichen Himmel emporgewandert.
Sahen … die Sphinx …
Und – – Gaupenbergs Wunderboot kam im Gleitfluge herab … war nur noch hundert Meter schräg über den beiden Männern …
Zu spät des Kabylen Warnungsruf …
Schon knatterte von oben herab das Maschinengewehr …
Schon schlugen die Geschosse klatschend und klingend gegen Felsen, in den Sand …
„Hinwerfen … tot stellen!!“ rief da der Geheimagent …
Und – – taumelte zur Seite, als wäre er getroffen, taumelte halb inter einen Stein.
Abd el Sarfa begriff.
Sah nur in dieser gefährlichen List gleichfalls einen geringen Hoffnungsschimmer, dem Tode zu entgehen.
Tat desgleichen – sank mit halbem Sprung in den Sand, warf die Arme hoch, wälzte sich hin und her und lag still.
Weiter spie jedoch die Kugelspritze oben von Deck der Sphinx ihre pfeifenden Kugeln aus …
Eine davon durchschlug Jimminez’ linkes Bein …
Trotzdem rührte er sich nicht, biß die Zähne zusammen … –
Dann glaubte Lomatz die beiden endgültig erledigt.
Wollte nun auch den anderen vernichten, der da mit der rotblonden Frau im Arme soeben die Lichtung in der Mitte der Insel erreicht hatte …
Wollte die Frau … für sich erobern, dachte mit gierigem Grinsen an die wundervollen Reize dieses Weibes, das vor kaum einer Stunde hier an Deck der Sphinx ihm gegenübergestanden und ihn so hoheitsvoll verächtlich ‚Mörder – – Mör – der …!!’ genannt hatte …
Blut- und Sinnenrausch umnebelten sein Hirn …
Den Blutrausch hatte er soeben befriedigt, hatte feig und erbarmungslos aus sicherer Höhe seine beiden Todfeinde niedergeknallt.
Nun – – sollte auch das Weib ihm gehören! Und gleichzeitig war’s ihm, daß er in dem Manne, der die Rotblonde wie sein eigen davontrug, jenen Fator erkannte, dessen rätselhafte Eigenschaften ihn heute so entsetzt und geradezu gelähmt hatten …
Tiefer ging die Sphinx herab …
Schwebt über der Lichtung mit ruhenden Propellern …
Lomatz’ schrille Stimme dann:
„Wenn Sie nicht wollen, daß ich das Weib in Ihren Armen erschieße, so gehorchen Sie …! Hier – ich lasse Ihnen ein Tau hinab. Binden Sie die Frau daran fest – – sofort! Ich hisse sie dann hoch! Gehorchen Sie!“
Sechs Meter schräg über Fator lag die Sphinx wie ein Fesselballon in der windstillen Abendluft …
Fator hatte den Kopf gehoben …
Schaute den Verbrecher an, der sich weit über die Reling beugte … –
‚Sein Kind preisgeben, diesem Schurken es überlassen …?! Niemals!!’ – So schoß es dem hageren Manne durch den Kopf …
Sein Gesicht blieb wie vordem, blieb verklärt …
Seine Stimme klang gleichgültig, als er zu Lomatz emporrief:
„Die Frau ist mir fremd! Werfen Sie das Tau herab! Aber – eins sage ich ihnen, Lomatz, so genau ich weiß, daß Sie einst ein grauenvolles Ende finden werden, so gewiß ist es auch, daß diese Frau hier Ihnen zum Verhängnis werden wird!“
Lomatz lachte widerlich …
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein! Mit Ihnen will ich nichts zu schaffen haben! Die Frau – – ist mein!“
Und er bückte sich, knotete das Tau, an dem vorhin schon die Rotblonde auf der Nachbarinsel Mala Gura die Sphinx erklettert hatte, noch fester um den Eisenhaken des Decks und – – schleuderte das andere Ende hinab … –
Fator hatte sein Kind sanft in den weichen feinen Seesand gelegt …
Ein leiser Seufzer war da bereits über die Lippen des jungen Weibes gedrungen – ein Zeichen des zurückkehrenden Bewußtseins …
Dann packte Fator das im Sande schleifende Tau …
Und wie das Dröhnen des warnenden Donners war seine Stimme jetzt …
„Edgar Lomatz, denk’ an die Minuten, die du deine Waffe umsonst gegen mich abfeuertest! – Lomatz, ich komme …!!“
Und gewandt und rasch schwang er sich empor …
So rasch, daß Lomatz über diese jäne Wendung der Dinge jede Geistesgegenwart verlor …
Vielleicht hatte die Stimme Fators, diese hallende, drohende Stimme, ihm gleichsam jeden Mut zur Abwehr geraubt …
Vielleicht war’s auch die Erinnerung an Fators Unverwundbarkeit, die ihn tatenlos weiter an der Reling festhielt …
Nur eins geschah in ihm, auch die Gier nach dem Weibe, der Sinnenrausch schwand!
Und was so von Lomatz’ erbärmlichen Seelenregungen übrigblieb, war nur wieder dasselbe lähmende Entsetzen wie vorhin – wie in jenen Minuten, als er Fator hatte morden wollen …!
Dann sprang Fator auch bereits über die Reling auf die Deckplanken …
Seine großen, tiefen Schwärmeraugen sprühten den Elenden vernichtend an …
Seine Rechte fuhr in die Jackentasche …
Die Mündung der Pistole warnte Lomatz …
„Lassen Sie die Sphinx niedergehen, landen!“ befahl Fator
Lomatz wandte sich der Turmluke zu …
Fator blieb hinter ihm.
Und das Luftboot ging nieder …
Lag still im weichen Sandbett …
Neben dem muschel- und tangbewachsenen Wrack des Goldschiffes …
Neben der rotblonden Frau, die jetzt aufrecht im Sande saß … –
Abd el Sarfa betrat da die Lichtung … Unverletzt … Hatte soeben Jimminez’ Bein verbunden, hatte von fern die Vorgänge beobachtet.
So fand Fator einen willkommenen treuen Helfer.
Treue – denn der Kabylenführer, einst selbst begierig auf den Milliardenschatz, hatte Fator und Hartwich Frieden und Freundschaft gelobt aus Dank für die Rettung aus dem Tauwerk des gescheiterten, dem Untergang geweihten Schoners. –
Mit kurzen Worten verständigten die Männer sich. Lomatz wurde gefesselt und in eine der Kammern der Sphinx gelegt.
Dann sollte Abd el Sarfa den Geheimagenten holen, der gleichfalls als Feind behandelt und in sicherem Gewahrsam untergebracht werden mußte.
Der Kabyle schritt davon, und Fator wandte sich nun erst seinem Kinde wieder zu, seinem totgeglaubten Kinde, dem Ebenbilder ihrer Mutter, die Doktor Dagobert Falz schon in reifen Jahren gefreit und mit der er in glücklichster Ehe gelebt hatte, bis all die dunklen Ereignisse ihn als Einsamen, Verbitterten in die Ruine Sellenheim getrieben hatten. –
Er sah es der Frau dort, die sein eigen Fleisch und Blut war, sehr wohl an, daß sie auch nicht im entferntesten ahnte, wer ihr hier gegentrat.
Er blieb vor ihr stehen, und weich und gütig war seine Stimme, als er fragte:
„Wer sind Sie? Wie kommen Sie auf die Sphinx? Woher kamen Sie …?“
Und die Tochter entgegnete dem Vater, sinnend, nachdenklich:
„Würde ein anderer danach forschen, wer ich bin, so würde ich die Antwort verweigern … Aber seltsam, seltsam, noch nie habe ich Sie gesehen, und doch … doch ist mir’s, als hätte ich nur zu einem Manne Vertrauen – zu Ihnen!“
Fators Augen schimmerten feucht …
Die Frau sah es nicht …
Fuhr leise fort:
„Ich bin Isabella, die Adoptivtochter des Präsidenten Don José Armaro der Republik Patalonia, der diese drei Robigas-Inseln gehören … Mein Adoptivvater hat mich … verbannt – verstoßen … Seit acht Monaten wohnte ich dort auf der Nachbarinsel Mala Gura … – Ganz allein – und doch nicht allein!“
Fators Gesicht verriet ein grenzenloses Staunen …
„Nicht allein? – Und – wer leistete Ihnen Gesellschaft?“
„Wer …?!“ – Sie blickte in den endlosen rosigen Himmel empor … träumerisch, selbstvergessen …
„Wer – da fragen Sie mich zu viel … Zuweilen landete ein merkwürdiges Fahrzeug in der Nordbucht unweit meiner Steinhütte … Merkwürdige Menschen stiegen aus, die ich dann heimlich beobachtete … Sie holten die Eier aus den Nestern der Seevögel und fuhren dann wieder davon – anscheinend hier nach Christophoro …“
„Europäer?“ fragte Fator atemlos …
„Nein – Indianer, möchte ich sagen … Schlanke, kupferfarbene Männer waren’s …“
Fator schüttelte den Kopf …
„Ob Sie nicht geträumt haben …!“ meinte er …
Und dann – dann konnte er doch nicht länger mit dem zurückhalten, was in ihm brandete an unendlichem Glück des Wiederfindens …
Er faßte in die Tasche …
Zitternde Finger entnahmen dem ledernen Etui ein Lichtbild …
Schweigend reichte er es seinem Kinde …
„Deine … Deine Mutter, Mela!“ rief er halb erstickt …
Und Melanie Falz starrte die Photografie an: ihr Ebenbild!
Begriff alles …
Sprang empor …
„Vater – – Vater, auch mein Herz sagt es mir: Vater …!!“
Und lag an seiner Brust …
Weinend, schluchzend …
Geborgen …
Endlich geborgen …
Die Schußwunde, die den Geheimagenten Jimminez vorläufig des freien Gebrauchs seiner Glieder beraubt hatte, saß dicht über dem linken Knie und hatte auch den Schenkelknochen geschrammt.
Nachdem der Kabyle den Patalonianer notdürftig verbunden hatte und dann nach der Mitte der Insel geeilt war, weil die Sphinx in niederem Fluge sich dorthin gewandt hatte, war Jimminez trotz großer Schmerzen kriechend bis zu einem buschreichen Sandhügel gelangt, um von hier nach der Sphinx Ausschau zu halten. Er ahnte, daß Lomatz, nachdem dieser ihn und den Kabylen beseitigt zu haben glaubte, nun auch gegen Fator und Hartwich irgendetwas unternehmen würde. Er wußte auch, daß er auf Abd el Sarfas tatkräftige Hilfe nicht rechnen dürfe, denn der Kabyle hatte ihm soeben offen erklärt, wie sehr er durch Dankbarkeit dem Steuermann und dem Geheimnisvollen verpflichtet sei. –
Alfonso Jimminez wurde so von dem Hügel aus Zeuge all der Vorgänge, die jetzt der erschütternden Wiedersehensszene zwischen Vater und Tochter folgten.
Er beobachtete, wie der Kabyle sich nun der Stelle wieder näherte, wo der Kugelregen aus dem Maschinengewehr den Sand zerstoben hatte …
Er ahnte, daß Abd el Sarfa ihn holen wolle – als Gefangenen, – genau so wie Lomatz ebenfalls schon irgendwo in der Sphinx sicher untergebracht worden war.
Seine Pläne, alle die Ränke und Intrigen, die er des Goldes wegen so fein erdacht und so brutal durchgeführt hatte, sah er nun wieder in sich zusammenstürzen wie ein eitles, schwaches Kartenhäuschen.
Er war ein gewissenloser Verbrecher, ein Schurke großen Stils …
Aber er war ein Mensch von persönlichem Mute, von ungeheurer Willensstärke …
Abgehärtet dazu, gewöhnt an Strapazen durch sein früheres Leben …
Kein feiger Schwächling wie Lomatz!
Und so war denn auch jetzt sein ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, den Männern nicht in die Hände zu fallen, von denen er keine Schonung zu erwarten hatte und die ihn für immer ausschalten würden aus diesem gewaltigen Ringen um den Azorenschatz.
Sein Hirn arbeitete blitzschnell …
Er, der die Mulattenrepublik Patalonia, deren Geheimagent er war, um die Goldmilliarden hatte betrügen wollen, er wußte sich jetzt keinen anderen Rat, als diesen Staat, den er im Grunde verachtete, mit in den Kampf um den Schatz hineinzuziehen …
Und abermals verbiß er die wütenden Schmerzen, schleppte sich auf den noch heißen, von der Sonne tagsüber erhitzten Felsen bis zum Wasser hinab und fand hier eine Stelle unter einem unterhöhlten Stein, wo er sich, nur den Kopf über Wasser haltend, niederkauern konnte …
Hörte jetzt den Kabylen rufen …
Hörte auch Schritte in der Nähe …
Sein Herz schlug rascher …
Dadurch, daß er sich vor Abd el Sarfa verborgen hatte, war er offenkundig dessen Gegner geworden. Der Kabyle würde seine Bemühungen, den Flüchtling aufzuspüren, kaum sobald aufgeben …! Aber – Jimminez hoffte auf die Dunkelheit, die jetzt nach Sonnenuntergang rasch hereinbrechen mußte. Hoffte darauf, daß der steinige Boden kaum verraten würde, wohin er sich gewandt hatte.
Immer wieder vernahm er Geräusche von Schritten in nächster Nähe …
Dann Fator Stimme:
„Wir müssen ihn finden …! Müssen! Holen Sie zwei Laternen von der Sphinx, Abd el Sarfa! Er kann nur irgendwo in den Büschenen stecken …“
Inzwischen war es finster geworden.
Von Osten kam dunkles Gewölk mit dem jäh wieder erwachten Winde heraufgezogen …
Die Sterne, die bereits in mattem Flimmern das Firmament belebt hatten, verschwanden wieder.
Jimminez’ Gedanken umkreisten die Sphinx …
Er kannte das Wunderboot, seine modernen, allermodernsten Einrichtungen …
Die Schmerzen in der Schußwunde schwanden. Vielleicht durch die Nässe, durch das kühlere Wasser.
Als der Geheimagent dann eine Bucht erreichte, die hier von Norden flach und steinig tief in das Land einschnitt, verließ er das schützende Elemente und versuchte, einen Ast als Stütze benutzend, die Sphinx zu erreichen, fand auch den Zugang zu der von Dornengestrüpp umsäumten Lichtung und sah dort drüben die beiden dunklen spindelförmigen Schatten des Luftbootes und des wracken Goldschiffes von dem helleren Sandboden sich abheben …
Und – an der Bordwand des U-Bootes lehnte eine Gestalt, die blonde Frau, die … Exzellenza, die Tochter des Präsidenten Armaro, die Alfonso Jimminez auf der Nachbarinsel zu seiner Überraschung nach zwei Jahren als Einsiedlerin wiedergesehen hatte.
Er überlegte …
Er sagte sich mit Recht, daß die schöne Isabella Armaro nur auf Befehl ihres Vaters nach Mala Gura gebracht worden sein konnte, daß sie also bei dem Despoten von Patalonia, dessen angenommenes Kind sie nur war, in Ungnade gefallen sein müsse und daß er sich ihr daher nicht anvertrauen dürfe. Nein – er mußte sie ebenfalls als Feind betrachten, mußte ohne sie handeln …
Und so bewegte er sich denn mit äußerster Vorsicht am Rande des Gestrüpps vorwärts, erreichte die Sphinx, fand die eiserne Außenleiter herabgeklappt und klomm an Deck – mühsam – momentan ein halber Krüppel …
Der Führerstand unterhalb des Mittelturmes war erleuchtet. Jimminez wagte sich trotzdem hinein … Und merkte bald, daß seine Berechnung richtig gewesen. Fator und der Kabyle suchten ihn noch drüben am Strande!
Sein Blick schweifte über die Tischchen der Kabine und besonders über die Schaltbretter hin …
Eine bedauernder Blick …
Denn Jimminez wagte es nicht, die Sphinx aufsteigen zu lassen … Zu gefährlich war’s, mit der geheimnisvollen Kraft der am Heck des Bootes angebrachten Sphinxröhre zu spielen …!
Aber anderes tat er. Da waren die genau bezeichneten Hebel, die den Antennenmast des Bootes aus dem Deck herauswachsen ließen und die gleichzeitig die Drähte spannten …
Da war auch der Tisch mit den Funkapparaten …
Damit wußte der Geheimagent Bescheid. Hatte er doch als Kapitän eines Kaperschiffes während des Weltkrieges oft genug Funksprüche abgefangen, die ihm wichtige Nachrichten gaben.
Ohne Zeugen kurbelte er nun den Röhrenmast empor …
Ohne Zögern stülpte er den Hörer über, setzte sich an das Tischchen, schaltete den Sender ein …
Und … funkte den geheimen Anruf für die Funkstation der Hauptstadt von Patalonia ins Weite, bis diese Station sich meldete …
Telegraphierte in Morsechiffren:
Hier Alfonso Jimminez. – Für seine Existenz den Herrn Präsidenten der Republik. – Streng geheim: Goldschatz lagert auf Insel Christophoro. Sofort Kriegsschiff hierher senden, das nachts Matrosen ausbooten soll. – Bin verwundet und telegraphiere hier von der Sphinx aus. Werde mich den Gegnern gefangen geben, damit ich ihre weiteren Schritte überwachen kann. – Besser noch, wenn die Privatjacht seiner Exzellenz als schnellstes Schiff sofort Kurs hieher nimmt. Gegner sind zahlreich. Doch zwanzig bewaffnete Matrosen genügen.
Tief aufatmend schaltete er dann den Sender wieder aus …
Und – stutzte …
Im letzten Moment noch hatte er die Morsezeichen eines Notsignals vernommen …
Schaltete wieder ein …
Ein Zufall war’s, daß er genau dieselbe Welle für seine Depesche benutzt hatte, auf der von fern her, von der Ostküste der Azoreninsel San Miguel ein drahtloser Notruf zweier vom Feuer Eingeschlossener durch die elektrischen Wellen bis hierher getragen wurde …
Einer jener Zufälle, die den Menschen so oft das Walten einer höheren Macht ahnen lassen …
Jimminez hörte die Morsezeichen, konnte sie ohne weiteres übertragen …
In fünf Sprachen kam nacheinander derselben Notruf:
Das Observatorium am Monte Rossa auf San Miguel steht in Brand. Bin hier in der Turmkuppel mit der Fürstin Mafalda Sarratow vom Feuer eingeschlossen. Erbitten Hilfe und telephonische Weitergabe dieses Notrufs an den Züchter Sennor Rovenna, den nächsten Nachbar des Obervatoriums. – Graf Vitor Gaupenberg
Dies hörte Jimminez – immer wieder – in fünf Sprachen!
Ein brutales Grinsen lag auf seinem wulstigen Mestizengesicht …
Mafalda vom Feuer bedroht! Mafalda, die ihn schamlos betrogen, ausgenutzt hatte – – ihn – – ihn!! Die jetzt um Gaupenbergs Liebe kämpfte, die sich in den blonden Erfinder der Sphinx vergafft hatte!
Oh – er gönnte ihr schon eine solche Hochzeitsnacht in den Flammen!! Alles gönnte er ihr …! Mochte sie ersticken – verbrennen! Sie hatte ein solches Schicksal reichlich verdient!
Und hohnlachend legte er den Kopfhörer weg, schaltete den Apparat aus, ließ den Mast wieder verschwinden.
Nichts spürte er mehr von den Schmerzen im zerschossenen Bein …
Eine ungeheure Freude erfüllte ihn …
Mafalda und Gaupenberg in Todesnot!! Und nach spätestens vierundzwanzig Stunden konnte die Jacht des Präsidenten Armaro hier Matrosen ausbooten, konnte dann den Hauptschlag gegen die wenigen noch lebenden Gegner führen, die Goldkisten an Bord nehmen …!
Und er, Alfonso Jimminez, würde dann wieder frei sein, würde zunächst den elenden Lomatz hängen lassen und dann … dann die Besatzung der Jacht für sich gewinnen und … das Gold durch eine Meuterei sich aneignen …!
So klar und einfach schienen ihm diese neuen Pläne, daß er nun in aller Ruhe die Sphinx wieder verließ …
Melanie, Fators Tochter, lehnte noch immer an der Bordwand des U-Bootes und schaute nach dem Strande hinüber, wo jetzt der grelle Lichtschein zweier Laternen immer heller aufblinkte. Fator und der Kabyle hatten das Suchen vorläufig aufgegeben und kehrten zurück.
Wie in zärtliche, glückliche Träume eingesponnen blickte Mela Falz den Männern entgegen …
Und wie eine rasche Folge aufregender Kinobilder zog da nochmals all das an ihrem geistigen Auge vorüber, was sie seit jenem Tag erlebt hatte, als sie, eine kaum zur Jungfrau Herangereifte, zu jener Kartenlegerin im Norden Berlins gegangen war – mehr aus Neugier, aus halbem Übermut, weil auch ihre Freundinnen das schlaue Weib besucht und sich die Zukunft hatten voraussagen lassen …
Und da – jäh wieder die nicht minder abenteuerliche Gegenwart …
Geräusche, Schritte! Jimminez stand vor ihr!
Das noch feuchte Haar hing ihm wirr in die Stirn.
Der riesige Mischling verbeugte sich mit übertriebenem Respekt …
„Exzellenza,“ sagt er unterwürfig, „ich gebe mich Ihnen gefangen, bitte nur, daß Sie ein gutes Wort für mich einlegen, Exzellenza …“
Melanie, die jetzt an Stelle eines Frauenrockes eine Decke umgegürtet hatte und eine blaue Männerjacke trug, wich etwas zurück …
Der zum Sturm angewachsene Ostwind fegte über das Eiland hin, umheulte das von Granaten zerfetzte Wrack des U-Bootes und riß dem Geheimagenten förmlich die Worte vom Munde … –
Melanie kannte Alfonso Jimminez. Er war der Vertraute ihres Adoptivvaters, der den Agenten schon oft zu gefährlichen Missionen benutzt hatte und ihn doch für einen Schurken hielt …
Sie war vorsichtig … Ihre Hand versank in der Jackentasche, und faßte den Revolver, den sie sich vom Fator hatte geben lassen – für alle Fälle.
Bevor sie Jimminez noch antworten konnte, waren die beiden Männer schon heran.
Laternenlicht umspielte Jimminez herkulische Gestalt.
Doktor Falz trat rasch näher …
Erkannte den Geheimagenten, rief Abd el Sarfa zu:
„Binden Sie ihn! Schnell! – Ich bin sehr beunruhigt, weil Hartwig noch immer sich nicht eingefunden hat. Es muß ihm etwas zugestoßen sein …“
Jimminez hielt freiwillig die Hände hin, ließ sich fesseln.
Auch der Kabyle fragte nicht, wie er bis hierher gelangt sei. Kein überflüssiges Wort wurde gewechselt.
Man brachte Jimminez rasch an Bord der Sphinx …
Das elektrische Licht im Führerstand brannte noch.
Hier nun blieben Doktor Falz’ scharfe Augen mißtrauisch auf den kleinen Wasserlachen haften, die aus des Agenten triefenden Kleidern sich am Boden angesammelt hatten.
Fator-Falz rief:
„Halt, Abd el Sarfa … Ich möchte den Mann noch einiges fragen …“
Und Jimminez durchdringend musternd:
„Sie waren hier im Führerstand?“
„Ja …“
Auch der Agent sah nun, daß die Wasserlachen ihn verraten hatten …
„Was taten Sie hier?“
Jimminez hatte blitzschnell überlegt.
„Ich wollte mit der Sphinx entfliehen … Es gelang mir jedoch nicht, die Hebel richtig zu bedienen … Da habe ich dann ein Funktelegramm absenden wollen – nach Berlin, an meinen Vorgesetzten, den Gesandten von Patalonia …“
„Sie lügen!“
„Ich lüge nicht, Herr Fator …! Ich hatte den Antennenmast hochgewunden, habe aber auf die Depesche verzichten müssen, da auf derselben Welle gerade wurde, dauernd gefunkt …“
„Sie lügen …!“
Aber Jimminez hatte längst darauf verzichtet, Mafaldas und Gaupenbergs Todesnot weiterhin als ein Geheimnis zu bewahren. Er wußte, wenn er den Notruf Gaupenbergs Fator mitteilte, würde dieser ihm Glauben schenken, daß er nicht etwa anderswohin depeschiert hätte …!
Und so erwiderte er denn jetzt:
„Bitte – stellen Sie sich auf Welle 1600 ein, Herr Fator … Vielleicht funkt Grab Gaupenberg noch immer denselben Notruf in die Nacht hinaus …“
„Notruf? Wohin? – So sprechen Sie doch!“
„Etwas viel verlangt von mir, Herr Fator! Gaupenberg ist mein Feind wie Sie! Trotzdem, er und die Fürstin befinden sich in Lebensgefahr. Beide sind in der Kuppel des Turmes eines mir bisher unbekannten Observatoriums am Monte Rossa auf San Miguel von den Flammen des brennenden Gebäudes eingeschlossen …“
Doktor Falz hatte schon an dem Tischchen Platz genommen, bediente die Apparate.
Und – hörte auf Welle 1600 die Morsezeichen, übertrug sie …
Sprang wieder auf …
„Ah – Sie haben also doch die Wahrheit gesagt!“ rief er Jimminez zu. „Das macht vieles gut!“
Und zu dem Kabylen:
„Rasch – schließen Sie ihn in eine Kammer ein! Ich eile zur Höhle … Ich muß sehen, was aus Freund Hartwig geworden …“
Wandte sich dann noch flüsternd an Melanie:
„Du, mein liebes Kind, kannst mich begleiten … Da, nimm die zweite Laterne … Vorsicht!!“ –
In wenigen Minuten hatten Vater und Tochter den durch die Explosion wieder freigelegten Eingang der Grotte erreicht und stiegen über die Geröllmassen abwärts, sahen nun auch die neu entstandene Öffnung im Höhlenboden und am Rande dieses Loches … Steuermann Hartwichs blaue Seemannsmütze …
Doktor Falz beugte sich weit vor …
Starrte in die Riesenhöhle hinab …
Und streckte den Arm aus …
„Kind – eine Zauberwelt dort unter uns! Kind – ein See, von seltsamen Barken belebt! Hartwig kann nur dort unten weilen … Seine Mütze war vorhin bestimmt nicht hier. Hoffentlich ist er nicht abgestürzt …“
Mela Falz lehnte sich schwer an ihren Vater …
Wie ein Schwindel überkam es sie …
„Mein Gott – –, die Barken …!! Und die Insassen …!! Vater, Vater, das sind dieselben, die zuweilen nach Mala Gura kamen …!“
Er stützte sie …
Und zärtlich, voll unendlicher Liebe sagte er:
„Das, was du erlebt hast, mein Kind, erschreckt dich jetzt …! Aber glaube mir, die Welt birgt noch andere Geheimnisse als dieses hier! – Hartwich zu suchen, dazu haben wir jetzt keine Zeit. Jede Minute ist kostbar …! Zurück zur Sphinx – und dann nach San Miguel! Vielleicht retten wir Gaupenberg und die Fürstin noch!“ –
Die Sphinx stieg empor …
Der Orkan packte sie, wollte sie nach Westen abtreiben, doch die ungeheure Kraft der beiden Propeller überwand die Macht des Sturmes …
Und in rasendem Fluge wie ein windschneller Vogel schoß das Luftboot gen Osten …
Stunde um Stunde …
Der Kabyle schlief in Gaupenbergs Kabine …
Im Führerstand aber saßen Vater und Kind eng beieinander vor den Schalttischen und beobachteten den Kompaß, den Spiegel des Sehrohres und die verschiedenen Zeiger …
Melanie hielt den Vater umschlungen und erzählte – – ihr wildes, abenteuerliches Leben …
… Im Norden Berlins, dort, wo die düsteren Mietskasernen mit zwei bis drei sogenannten Gartenhäusern Armut, Strebsamkeit, Laster, Faulheit, Fleiß und Verbrechen eng nebeneinander beherbergten, dort hauste auch die alte halbblinde ehemalige Tänzerin Adelina Sawatti, eine geborene Italienerin …
Zu dieser Sawatti, deren Alter ebenso unbestimmbar war wie die Echtheit der zahllosen Ringe, die ihre zumeist wenig sauberen Finger schmückten, kamen jeden Tag, zu jeder Stunde verschleierte Damen, schöne junge Mädchen, einfachere Frauen und nur ganz selten auch Männer und Herren, die dann noch scheuer als die wißbegierige Jugend die drei schmutzigen übelduftenden Treppen des ersten Gartenhauses emporhasteten und froh waren, wenn ihnen die Aufwärterin der Sawatti auf ihr Läuten recht bald öffnete.
Adelina Sawatti war jetzt Kartenlegerin.
Sie, deren dunkle Lebenspfade bergauf und bergab gegangen waren, wie wohl selten ein Weib des Daseins trübseliges Hasardspiel kennen lernt, hatte aus diesen Lebenstrümmern etwas mit in das Alter hinübergenommen, das der vielseitigen und geschäftstüchtigen Frau zur neuen Einnahmequelle wurde: eine seltene Menschenkenntnis, Redegewandtheit und … Gewissenlosigkeit.
An einem dunklen Oktoberabend eines längst entschwundenen Jahres eilte ein junges Mädchen, halb noch ein Backfisch, die düstere Borsigstraße entlang und bog dann zaudernd in die weit offene Haustür von Nummer 32 ein.
Hier, wo im Flur die Gaslampe erst heute mit einem neuen Glühstrumpf versehen worden war, fiel die saubere, fast elegante Erscheinung des jungen Mädchens einem Herrn auf, der soeben vom Hofe her den Flur durchquerte.
Er blieb und blickte dem flinken, hübschen Persönchen wohlgefällig nach.
Dann machte er kurz entschlossen kehrt, folgte dem rotblonden, pikanten Mädel ohne sonderliche Eile und stellte leicht fest, daß sie die Kartenlegerin Sawatti besuchte.
Kaum hatte sich die Flurtür hinter ihr wieder geschlossen, als auch er an dem altmodischen Porzellangriff der Türglocke zog, worauf drinnen im Wohnungsflur eine schrille Glocke ruckartig anschlug.
Ein dickes schlampiges Weib, die einen widerlichen Fuselduft um sich verbreitete, öffnete die Tür, ließ aber die Sperrkette vorgelegt und musterte den Herrn mißtrauisch aus kleinen, wässrigen Augen.
„Ich war schon einmal hier – vor ein paar Minuten,“ flüsterte der elegant gekleidete, etwas dunkelhäutige Mann in gebrochenem Deutsch.
Frau Menke, die Aufwärterin der Sawatti, erkannte ihn jetzt wieder.
„Ah, richtig … stimmt!“ nickte sie. „Haben Sie wat verjessen?“
„Nein …“
Der Herr schob ihr durch die Tür ein Goldstück in die fettgepolsterte Hand.
„Nein … ich muß nur Fräulein Sawatti dringend nochmals sprechen …“
Die Sperrkette fiel, und die Menke führte den Herrn in das Schlafzimmer der ehemaligen Tänzerin, einen nach Parfüm duftenden, theatralisch herausgeputzten Raum, in dem eine rosa Ampel über einem breiten französischen Bett brannte und die zum Teil recht schamlosen Bilder an den Wänden nur matt beleuchtete. –
Der Fremde war noch jung, schlank und bartlos. Sein Gesicht verriet deutlich den Ausländer. Es war schmal, die Backenknochen sprangen vor, und die etwas große Nase paßte wenig zu den unschönen wulstigen Lippen. – Ein Kenner von Völkerrassen hätte diesem Fremden sofort den Mischling von Europäer, Indianer und Neger angesehen.
Während der Herr wartend am Ofen lehnte und nachdenklich eine Zigarette rauchte, war die Aufwärterin in das zweite Zimmer der Wohnung geschlurft, wo die Sawatti gerade einer Dame Karten legte.
Die Menke winkte ihrer Herrin, und im Flur flüsterte sie ihr dann hastig zu, daß der ‚Jraf’ von vorhin die Sawatti sofort sprechen wolle … sofort!
Und wenige Minuten später stand die frühere Tänzerin, jetzt eine Greisin mit weißer Perücke, dazu geschminkt und gepudert und mit allerlei Schmuck behängt, in ihrem schwarzen knisternden Seidenkleide, das eine gewisse Vornehmheit vortäuschen sollte, demselben Fremden gegenüber, der sich vorhin von ihr ebenfalls die Zukunft hatte voraussagen lassen.
Der Herr reichte der alten Schwindlerin einen Fünfzigmarkschein …
„Ich bin da soeben einem jungen Mädchen begegnet,“ begann er leise, „daß nun in Ihrem Wartezimmer sitzt. Ich bitte Sie, mir ein ungestörtes Beisammensein mit dem Mädchen zu vermitteln – hier in Ihrer Wohnung …“
Die Sawatti lächelte …
Und dieses Lächeln enthüllte die ganze unendliche Gemeinheit dieser Vogelscheuche, deren jugendlich herausgeputztes Gesicht zu dem schneeweißen Haar an die Frauengestalten aus der Rokokozeit, an Maskenfeste, Mummenschanz erinnerte … –
Das rotblonde, fesche Mädel im Wartezimmer wurde jetzt von der ‚berühmten’ Wahrsagerin in das Sprechzimmer gerufen …
Die Sawatti bat sie Platz zu nehmen, mischte die Karten, breitete sie unter allerlei besonderen Gebräuchen auf dem Tische aus und rief dann wie freudig erstaunt:
„Schönes Kind – – schönes Kind, ein großes Glück wartet Ihrer … Hier liegt die Treffzehn neben der Drei … Und das heißt, daß ich Ihnen erst nach drei Tagen bestimmte Auskunft geben kann … Verabsäumen Sie es ja nicht, nach drei Tagen, also Freitag, wieder zu mir zu kommen … – Wann paßt es Ihnen am besten?“
Und Melanie Falz, völlig verwirrt, stotterte:
„Vormittags … um elf … Die Eltern dürfen ja nicht wissen, daß ich hier zu Ihnen gehe. Der Papa würde mich auslachen, und die Mama würde schelten …“
„Ganz recht, liebes Kind, ganz recht,“ nickte die Sawatti eifrig. „Niemand darf erfahren, daß Sie bei mir gewesen und daß Ihrer solch großes Glück wartet, sonst wird der Zauber gebrochen … – So, mein Kind, – auf Wiedersehen … – Nein, nein, es kostet nichts … Freitag können Sie mir eine ganze Kleinigkeit mitbringen – ein paar Blumen, kein Geld – kein Geld! Auf Wiedersehen …“ –
Und als Mela Falz Freitag um elf pünktlich bei der Sawatti sich einfand, wurde sie von der dicken Menke sofort ins Schlafzimmer geführt, wo sie zu ihrer Überraschung plötzlich einem eleganten jungen Manne gegenüberstand, der mit tadelloser Verbeugung nun lächelnd erklärte:
„Mir scheint, mein Fräulein, das Wartezimmer ist bereits zu sehr besetzt … Auch mich hat man hierher gewiesen … – Bitte, dort ist noch ein Sessel … Warten wir also hier gemeinsam … Sie gestatten auch, daß ich mich vorstelle: Juan Armaro, Gesandtschaftssekretär …“
Mela Falz ahnte nichts Böses, glaubte, hier läge wirklich ein bloßer Zufall vor, der sie mit dem Herrn zusammengeführt hätte, gewann rasch ihre gesellschaftliche Sicherheit wieder und begann mit Juan Armaro eine zwanglose Unterhaltung, bei der sie ebenso viel Schlagfertigkeit wie Gewandtheit verriet.
Juan Armaro war entzückt, war begeistert …
Dieser junge Wüstling, dessen Vater als Präsident der Republik Patalonia einen ungeheuren Reichtum erworben hatte, ging sehr bald aus der vorsichtigen Zurückhaltung heraus, da gerade diese halbreife knospende Fülle des Mädchens seine Sinne entflammte.
Als Mela Falz merkte, daß Juan Armaros Zudringlichkeiten ein ganz bestimmtes Ziel hatten, als er sie nun sogar an sich zu reißen und zu küssen versuchte, stieß sie ihn kraftvoll beiseite und eilte zur Tür …
Verschlossen …!!
Von außen verschlossen.!!
Armaro packte sie schon, hob sie empor …
Melas schriller Angstschrei wurde durch die Klänge eines Klaviers übertönen, das die Tänzerin und Kupplerin im Nebenzimmer mit harten Fingern bearbeitete.
Und – Mela wehrte sich verzweifelt gegen den Unhold …
Kratzte – biß … schlug um sich …
Juan Armaros Gier wischte auch den letzten Rest von Kultur hinweg …
Der brutale Mischling kam bei ihm zum Durchbruch …
Und gereizt durch den Widerstand seines Opfers, geängstigt auch durch ihre gellenden Schreie, warf er sich über sie und preßte ihr die Kehle zusammen …
Wie ein Wahnsinniger handelte er …
Fühlte das Blut aus den zahllosen Kratzwunden seines Gesichts herabrinnen …
Sah seine blutenden Hände …
Aus Gier wurde Mordrausch – der Mordrausch seiner Ahnen, die noch in den Urwäldern Südamerikas mit Giftpfeilen den Gegner gelähmt hatten … –
Als die herbeieilende Sawatti ihm von seinem Opfer wegriß, lag Mela Falz wie eine Tote auf dem zerwühlten Bett …
Eine Furie stand jetzt dem Wüstling gegenüber: die Sängerin!
Angst vor den Folgen dieses in ihrer Wohnung verübten Verbrechens ließ sie den Patalonianer mit wilden Schmähungen überschütten …
Armaro erwachte …
Er erkannte, was er angerichtet hatte …
Gewiß, das Mädchen war nur bewußtlos, würde bald wieder bei Kräften sein …
Aber dann – dann würde es den Eltern mitteilen, was hier geschehen …
Gefängnis drohte ihm und der Sawatti, die ihn nicht schonen würde …
Und aus diesen Gedanken heraus wuchs ein schändlicher Plan, den er nun fliegenden Atems der Kupplerin unterbreitete …
Geld tat das übrige. Auch die Menke wurde bestochen – schwieg … –
Und abends bei strömendem Regen wurde die durch Morphium betäubte Mela dann in Armaros Auto geschafft, das sie nach Hamburg brachte, wo die Jacht des Präsidenten gerade vor Anker lag, um Juan mit in die Heimat zu nehmen. – –
So – – verschwand Melanie Falz damals aus Berlin … spurlos …! Und keine Polizei, keine Detektive, die der Vater mit Geld reicht versah, entdeckten auch nur die geringste Fährte der Verschollenen.
Indessen hatten sich an Bord der eleganten Jacht ‚Patalonia’ noch andere Vorfälle abgespielt, die den Präsidenten selbst zu energischem Eingreifen zwangen.
Die ‚Patalonia’ war sofort in See gegangen.
Juans Gier war zunächst abgekühlt. Sorgsam hütete er das geraubte Mädchen in einer der Kabinen, wo es durch zwei vertraute Diener mit bewacht wurde. Die Besatzung, mit Ausnahme des Kapitäns, ahnte nicht, daß eine junge Deutsche an Bord war.
Nachdem des Wüstling Kratzwunden jedoch auf See schnell geheilt waren, nachdem er bei wiederholten heftigen Szenen das ungezügelte, kraftvolle Temperament von einer ihm nachteiligen Seite kennengelernt hatte, erwachten in ihm andere Instinkte: Rachsucht und Haß!
Was er im Schlafzimmer der Sawatti nicht erreicht hatte, das wollte er nun hier mit roher Gewalt durchsetzen. Mela sollte seine Geliebte werden!
Eines Tages ließ er überreichlich Spirituosen an die Mannschaft verteilen. Abends waren fast alle an Bord betrunken. Die Matrosen im Vorschiff vollführten einen Lärm, der jeden Schrei übertönen mußte.
Und so betrat Juan denn Melas Kabine …
Selbst durch Sekt halb berauscht …
Als sie ihn so vor sich sah, wußte sie, daß es jetzt einen letzten Kampf um ihre Ehre geben würde …
Sie … war darauf vorbereitet.
In diesen endlosen Tagen unendlichen Leides war sie zum reifen Weibe geworden. Das Kindliche in ihrem feinen Gesicht hatte sich verloren.
Und – längst hatte sie heimlich ein spitzes Tischmesser beiseite gebracht, das sie stets bei sich trug.
Totenblaß erwartete sie Armaros Angriff …
Wortlos stürzte er sich auf das zitternde Mädchen …
Und sie … wartete das weitere nicht ab …
Halb von Sinnen … stieß sie zu …
Armaro, das Messer noch in der Brust, taumelte zurück, sank zu Boden …
An ihm vorüber stürzte Mela an Deck … und … sprang in die zum Glück wenig bewegte See …
Der Steuermann aber, der von der Brücke als einer der wenigen Nüchternen Melas Todessprung beobachtet hatte, rettete sie, fischte sie noch glücklich auf.
Die Jacht hatte gewendet. Man nahm beide wieder an Bord, und der Kapitän, dem die junge Deutsche nun angesichts der halben Besatzung die Schändlichkeiten Armaros mitteilte, versprach, Mela fernerhin in seine Obhut zu nehmen, schickte aber sofort ein Chiffretelegramm drahtlos an den Präsidenten von Patalonia und bat um Verhaltungsmaßregeln. –
Juan Armaro lag schwer verwundet in seiner Kabine, rang mit dem Tode. Als sein Vater drei Tage darauf dicht vor der südamerikanischen Küste mit einer Barkasse an Bord kam, fand er seinen Sohn nur noch als Leiche vor.
Um diese Vorfälle, die seinem Ansehen bei der überdies nur durch rohe Gewalt niedergehaltenen Mulattenbevölkerung des Räuberstaates nur zu sehr geschadet hätten, zu vertuschen, wurde Mela nachts an einem einsamen Orte der Küste ausgebootet. Die Besatzung der Jacht aber konnte nichts ausplaudern, weil die ‚Patalonia’ in derselben Nacht durch eine rätselhafte Explosion in die Luft flog. –
So vernichtete José Armaro, der Präsident, auch die letzten Zeugen der Schandtaten seines Sohnes. Ein einziger blieb am Leben: der Kapitän Diego Tosca!
Und dieser war’s, der das unter den ersten Anzeichen eines schweren Nervenfiebers leidende junge Mädchen auf einem Maultierkarren ganz allein ins Innere des Landes schaffte – zu einer entlegenen kleinen Hazienda des Präsidenten, die, mitten in Urwald eingebettet, jede Flucht unmöglich machte.
Hier kämpfte Mela Falz wochenlang mit dem Gespenst des Todes, das Tag und Nacht drohend an ihrem Lager stand. Hier erwachte sie kurz vor Weihnachten aus tiefer Bewußtlosigkeit – nicht mehr als Melanie Falz! Nein, während des Nervenfiebers war ihr jede Erinnerung an das Geschehene, an ihr Elternhaus, ihren Namen abhanden gekommen …
Sie … erwachte als Isabella Armaro, Adoptivtochter des Präsidenten von Patalonia, der gerade seine Hazienda besucht hatte, als die Gefangene der Genesung entgegenging und durch ihre Fragen verriet, daß ihr Hirn tot war für die Vergangenheit.
Don José Armaro, der Gewalthaber der Republik, war alles andere nur kein sentimentaler Schwächling. Wäre er nicht Präsident des Mulattenstaates gewesen, so hätte man ihn mit Recht als genialen Schwerverbrecher bezeichnen können. In der Politik aber verschiebt sich die Bewertung derartig kraftvoller brutaler Persönlichkeiten. Armaro galt selbst in Europa als trefflicher Staatsmann. Daß er seine politischen Gegner zu Dutzenden erschießen ließ, daß er Staatsgelder dazu verwandte, sich eine ihm bedingungslos ergebene Leibgarde zu schaffen, war so wenig für Südamerika etwas Neues, daß niemand davon viel Aufsehens machte.
Und doch mußte dieser Gewaltmensch, der mit seinem schlohweißen gescheitelten Kopfhaar, dem weißen Knebelbart und dem jungen frischen Gesicht, den durchdringenden Augen und dem stets kühl beherrschten Sichgeben eine ebenso imponierende wie sympathische Persönlichkeit war, durch sein Gewissen dazu getrieben worden sein, Mela an Kindesstatt anzunehmen. Er war Witwer, Juan sein einziges Kind gewesen. Und so mochte in seinem Herzen wirklich eine weichere Regung diesen seltsamen Entschluß veranlaßt haben, die unschuldige Mörderin seines Sohnes für immer an sich zu fesseln und an ihr gutzumachen, was sich kaum mehr gutmachen ließ.
Unschwer wurde die Öffentlichkeit des Mulattenstaates davon unterrichtet, daß
… Seine Exzellenz der Präsident ein elternloses Findlingskind unbekannter Herkunft adoptiert habe …
Zwei Jahre blieb die nunmehrige Isabella Armaro noch auf der Hazienda, umgeben von Glanz und Luxus, umgeben von Dienern und Lehrer, die Don José Armaro ebenso vorsichtig wie klug ausgewählt hatte.
Dann wurde Isabella in die Gesellschaft der Hauptstadt Taxata eingeführt. Der Präsident gab ein Souper von dreihundert Gedecken in seinem Palast, und bei dieser Gelegenheit lernten die ersten Kreise Taxatas endlich das Adoptivkind des Gewalthabers persönlich kennen.
Jahre gingen hin …
Viele Jahre, die der Tochter des Präsidenten nur einen innerlichen Gewinn brachten. Die dichten Nebel, die ihr die Vergangenheit verhüllten, lichteten sich allmählich.
In verschwommenen Bildern stiegen in Isabellas Erinnerung immer häufiger Szenen aus ihrer Kindheit auf …
Verschwommen tauchten vor ihrem geistigen Auge zwei Gestalten, ihre Eltern, auf …
Und doch, so sehr sie sich auch anstrengte, ihren wahren Namen konnte sie nicht herbeizwingen!
Am deutlichsten sah sie, wenn sie mit geschlossenen Augen auf der Terrasse des Palastes im Liegestuhl ruhte und zu ihren Füssen sich das entzückende tropische Panorama der Bucht von Taxata ausbreitete, jene erschütternde Szenen vor sich, als der Wüstling Juan sie in seine Arme hatten ziehen wollen …
Und gerade dieser Erinnerungen waren es, die in Isabellas Seele einen tiefen Abscheu vor dem anderen Geschlecht frühzeitig hervorgerufen hatten.
Sie verachtete die Männer …
Nie in all den Jahren regte sich Liebessehnen in ihrem Herzen … –
Und dann kam ein Tag, wo abermals ein Teil der Schleier zerriß, die eine vergangene Kindheit ihr nur als unklare Traumgebilde zeigten …
Ein Tag, an dem eine uralte Mulattin sich bei ihr melden ließ und ihr dann heimlich einen Zettel zusteckte – von jenem Kapitän Diego Tosca, der jetzt im Sterben lag und dem der nahende Tod das Geheimnis geweckt hatte.
Er flehte sie an, zu ihm zu kommen. Wichtiges habe er ihr mitzuteilen. Aber niemand dürfe etwas davon erfahren, daß sie ihn besuchen wolle – niemand! –
Isabella verabredete mit der alten Mulattin, daß sie nachts elf Uhr an einer Hinterpforte des Parkens des Palastes sich einfinden würde …
Dies alles erzählte Melanie dem tief bewegten Vater im Führerstande der Sphinx …
Inzwischen hatte das Luftboot mit Höchstgeschwindigkeit Kurs auf San Miguel genommen – durch Nacht und Sturm …
Ununterbrochen hatten die beiden großen Propeller heulend und pfeifend die Luft zerschnitten …
Bis die Sphinx das Zentrum des Orkans hinter sich und eine völlig windstille Region erreicht hatte … –
Ein Blick auf den Spiegel des Sehrohrs zeigte Doktor Falz plötzlich weit voraus in der Tiefe eine Insellandschaft und in der Ferne einen blinkenden, flatternden Punkt.
Stunden waren verflossen. Die Uhr im Führerstand zeigte die zweite Morgenstunde an.
Da erhob Doktor Falz sich …
„Mein liebes Kind, den Schluß deiner Geschichte berichtest du mir ein andermal,“ sagte er mit jener schlichten Zärtlichkeit, die Melanies Herz so unendlich wohltuend berührte. „Jetzt ruft uns die Pflicht zur anderem Tun. Wenn mich nicht alles täuscht, so haben wir San Miguel bereits erreicht. – Wecke den Kabylen, meine Mela …“ –
Abd el Sarfa betrat nach wenigen Minuten den Führerstand.
Mittlerweile war die Sphinx tiefer gegangen, und im Sehspiegel erkannten die Männer nun mit aller Deutlichkeit am Abhang eines hohen Bergmassivs die zum Himmel emporzüngelnden Flammen eines gewaltigen Brandes.
„Es muß das uns unbekannte Observatorium sein,“ meinte Doktor Falz zu dem Kabylen. „Die Örtlichkeit stimmt … Links der Berg – der Monte Rossa … Und auch den Turm erkennt man bereits. Gebe Gott, daß wir noch zur rechten Zeit kommen …!“
Und tiefer senkte sich die Sphinx …
Die ganze Umgebung des Observatoriums war taghell erleuchtet …
Schon bemerkten Falz und Abd el Sarfa vor dem brennenden Gebäude eine Menge Gestalten, die in wilder Erregung hin und her eilten …
Mela war an Deck gestiegen und hatte ein Fernglas mitgenommen. Sie war’s, die so als erste in dem einen Turmfenster die beiden Gestalten entdeckte …
Mit dem Rufe: „Sie leben – sie leben!“ eilte sie wieder in den Führerstand zurück …
Falz hatte bereits die Propeller ausgeschaltet. Wie ein grauer großer Fleck hing nun die Sphinx schräg über dem lohenden Observatorium …
„Wir retten sie!“ sagte der Doktor mit einem tiefernsten Gesicht. „Abd el Sarfa, suchen Sie aus der Vorratskammer die längste Stahltrosse heraus … Wir dürfen nicht zu tief mit der Sphinx hinabgehen … Die durch die Hitzewellen wenig tragfähige verdünnte Luft könnte das Luftboot jäh wie einen Bleiklumpen hinabschießen lassen. Wir müssen vorsichtig sein, zumal meine Fertigkeit im Bedienen der Schalthebel nicht allzu groß ist.“
Der Kabyle verschwand …
Und – in der Vorratskammer, der er zustrebte, lag der an Händen und Füßen gefesselten Lomatz …
* * *
Edgar Lomatz …
Auswurf der Menschheit – Feigling, und doch ein Mensch von teuflischer Schlauheit …
Auf einem Haufen von Bastmatten lag der Elende in der dunklen, stickig heißen Kammer im Vorschiff …
Nur angewiesen auf sein Gehör, um die Vorgänge der Umwelt erraten zu können …
Als er an den Geräuschen der Motoren erkannt hatte, daß die Sphinx in windschneller Fahrt einem fernen Ziele zustrebte, da hatte er sich sehr bald gesagt, daß dieses Ziel nur die Insel San Miguel sein könne …
Dabei war in ihm der Lebenswille mit aller Macht wieder aufgeflammt, da hatte die Furcht vor den unausbleiblichen Folgen seiner Schandtaten ihn zu den verzweifeltsten Anstrengungen angespornt, seine Fesseln zu lockern – sich von den festen Stricken zu befreien und irgendwie von neuem den Kampf gegen seine Feinde aufzunehmen … –
Abd el Sarfa war’s gewesen, der ihn gefesselt hatte, und der Kabyle war wenig sanft mit dem Verbrecher umgegangen …
Unerträglich drückten die dünnen geteerten Stricke, schnitten tief in die nackte Haut der Handgelenke ein …
Die Schmerzen fachten des Elenden regen Geist stets von neuem zu Versuchen an, zunächst einmal sich dieser folternden Fesseln zu entledigen …
Er wälzte sich hin und her – und stieß plötzlich gegen eine leere Flasche, die klirrend umfiel …
Eine große Flasche offenbar …
Lomatz schob sich weiter vorwärts, bis er den Flaschenhals mit den auf dem Rücken festgeschnürten Händen umklammern konnte.
Dann – ein Klirren, Splittern …
Es war gelungen, er hatte die Flasche an einem der hier lagernden eisernen Ersatzanker der Sphinx zerschlagen.
Einen der Glassplitter betastete er nun vorsichtig – einen zweiten, bis er so gefunden, was er brauchte. Ein schmales Stück mit langer Schnittfläche!
Und dieses benutzte er nun trotz der Fesseln mit wahrer Taschenspielergewandtheit als Messer …
Dieses ließ er mit der Schärfe des Glases über die Stricke der Hände in mühseliger Arbeit sägend hin und her gleiten.
So und so oft wollte er schier verzagen …
Die unnatürliche Verdrehung und Anstrengung der Finger löste Krämpfe in den Armmuskeln aus …
Aber die Hoffnung auf Freiheit verlieh dem Verbrecher ungeahnte Willenskraft …
Anderthalb Stunden, dann … hatte er die Fesseln zerschnitten …
Seine Hände waren frei …
Und – ein pfeifendes, zwischendes Aufatmen kam nun über seine trockenen Lippen …
Ein höhnisches Auflachen folgte, – denn ein rasches Betasten seiner Taschen zeigte ihm, daß der Kabyle es nicht einmal für nötig befunden, ihm das Messer wegzunehmen, das große breite Dolchmesser mit der haarscharfen Schnappklinge … –
Auch die Fußfesseln fielen …
Lomatz knetete Hand- und Fußgelenke, brachte den Blutkreislauf wieder ein Ordnung und saß nun, zu allem bereit, auf dem Haufen Bastmatten und … wartete …
Er wußte, daß über kurz oder lang jemand nach ihm sehen kommen würde …
Wenn es Fator war, standen die Aussichten schlecht. Fator war ihm unheimlich, immerhin vielleicht durch einen wohlgezielten Hieb niederzustrecken …
Durch einen … Hieb! Das war sicherer als … ein Stich! Doch – eine Schlagwaffe fehlte ihm. Die mußte erst gefunden werden …!
Er erhob sich – suchte tastend im Dunkeln die Kammer ab …
Sie war nicht groß … Rollen Tauwerk, Stahltrossen, Ersatzpropeller gab es da …
Und hier – – wahrhaftig! – das konnte der Form und dem Stoffbezug nach nur ein Fallschirm sein …!
Lomatz nahm das umfangreiche Ding in die Hand … Prüfte nochmals mit den Fingern den wichtigen Fund …
Kein Zweifel. Ein Fallschirm!!
Und da – nahmen des Verbrechers Befreiungspläne mit einem Schlage eine andere Richtung an …
Im tiefsten Innern seines verderbten Herzens saß ihm doch wie ein drohendes Gespenst ein stilles Grauen vor neuen Untaten …
Er war kein Mörder, der Geschehenes einfach aus der Erinnerung zu streichen vermag wie eine belanglose Kleinigkeit. Er war ein erbärmlicher Feigling, und jeder Feige sieht die eigenen Untaten aus Angst vor Vergeltung jeder Zeit als furchtbare Warnung in grellen Schreckensszenen vor sich.
Nein – – nein, kein Blut mehr vergießen! schoß es Lomatz durch das überhitzte Hirn. Nur frei sein – frei, und dann mit List sich wieder emporschwingen zum machtvollen Kämpfer um die Goldmilliarden!
Aus diesen neuen Gedanken schälte sich ein anderer heraus. Diese Kabine war ja gerade die, deren Decke durch den vordersten Teil des Decks der Sphinx gebildet wurde! Und hier mußte sich die kleine Vorderluke befinden – gerade hier!
Rasch reckt er die Arme hoch, nachdem er den Fallschirm beiseite gelegt hatte …
Tastete die Planken oben ab, gelangte an den viereckigen Lukenausschnitt …
Ein heller Jubelschrei glitt über seine Lippen …
Die Luke – die Luke!! Und – sie wurde von innen nur durch zwei starke Patentklammern verschlossen gehalten!
Im Nu hatte er drei – vier Rollen Tauwerk übereinander geschichtet, stellte so eine Leiter her, die es ihm ermöglichte, die Luke bequemer zu erreichen, die Klammern zu lösen …
Er klappte den Deckel langsam nach oben, ergriff den Fallschirm, schob ihn hinaus, zog sich empor …
Matte nächtliche Dämmerung oben auf Deck …
Und – leer – keine Seele …
Mond und Sterne über ihm …
Pfeifender Luftzug strich über ihn hinweg …
Die Propeller rasten … –
Vorsichtig kroch er vollends hinaus …
Koch bis zur Reling …
Unter ihm … der Ozean … Und drüben im Mittelturm Licht …
Er schob sich dorthin, lugte durch das eine runde Fenster …
Sah Fator und die Rotblonde – eng aneinander geschmiegt, zärtlich umschlungen …
Fator aber streichelte zuweilen ihre Hand, nickte ihr zu. – So voll gütiger, rein väterlicher Liebe, daß Lomatz nicht begriff, was dort im Führerstand unten vor sich ging …
Undenkbar war es ihm, daß Fator die fremde, geheimnisvolle Frau, die dort auf dem mittleren der drei Robigas-Eilande, auf Mala Gura, im weißen Mantel von Mövenflügeln plötzlich aufgetaucht war, zu seiner Geliebten erkoren hätte …!
Fator – – undenkbar!!
In welchem Verhältnis standen die beiden also zueinander? Wie kam der Unheimlich-Geheimnisvolle dazu, mit dieser Fremden so vertraut zu tun?! –
Lomatz lag lang auf den Deckplanken …
Beobachtete weiter …
Und sah nach Minuten, daß Fator mit Aufmerksamkeit den Spiegel des Sehrohres musterte …
Ganz so, als ob er Besonderes in der Ferne entdeckt hätte …
Da erhob auch er sich rasch, glitt zur Reling …
Ein einziger Blick vorwärts in die Tiefe …
Dort – das war eine Insel – eine Insellandschaft …
Und dort – ganz fern – glühte inmitten der Landschaft ein flackernder heller Punkt … –
Lomatz kroch zur Vorderluke, verschloß sie. Er merkte, die Sphinx ging nieder, lag ganz schräg …
Es … wurde Zeit für ihn …
Er nahm den Fallschirm, kletterte auf die Reling, prüfte nochmals den Mechanismus des Schirmes …
Wartete …
Blickte hinab in die Tiefe … Schätzte die Entfernung …
Vierhundert Meter …
Dreihundert …
Und dort in der Ferne wuchs der helle Punkt zum lohenden Brande an …
Ein Feuer – ein brennendes Haus …!
Dann – schnellte Lomatz’ Kopf in jähem Erschrecken zur Seite …
Ein Geräusch vom Mittelturm her … Die Luke dort öffnete sich …
Ein Kopf erschien … Die Rotblonde …
Lomatz sprang … Sprang hinaus in das Nichts, hielt mit beiden Händen die Leberschlaufen des Fallschirmes umklammert …
Sauste wie ein Pfeil abwärts …
Bis der Fallschirm sich öffnete, bis die Gewalt des Sturzes an dem starken Leinendach sich schwächte und aus der rasenden Abwärtsbewegung ein sanftes Schweben wurde …
So sanft, daß der Verbrecher jenseits der Schlucht, die das brennende Observatorium nach Westen zu von dem Urwalde der Hochebene trennte, am Waldrande unbeschädigt den Boden erreichte.
Frei … frei …!! – Und er warf den Schirm beiseite … reckte die Arme drohend empor zur grauen Sphinx, die dort jetzt über dem Riesenbrande kreiste …
Und jetzt, wo die Gefahr überwunden, kam auch in der Seele des Verbrechers all das wieder mit elementarer Macht zum Ausbruch, was nur die Angst vor seinen Gegnern bisher zurückgehalten hatte …
„Rache – – Rache!“ zischte er … „Rache für diese letzten Stunden der Qual, für die blutigen Striemen an meinen Handgelenken, für all das andere!“
Auch das verflog …
Lomatz ward ruhig, überlegte …
Zunächst galt es, hier zu beobachten, weshalb die Sphinx noch immer über dem brennenden Hause schwebte …
Er wußte ja nichts von den vielfachen Gefahren hier auf San Miguel …
Nichts davon, daß dort in der Kuppel des Turmes zwei Menschen dem Flammentode ins Auge schauten …
Und umging jetzt den Abgrund, denselben Abgrund, in dem der Neger Jack, Doktor Gouldens Diener, zerschellt war – hinabgeschleudert in die grausame Tiefe durch die Affenmenschen, die Homgoris …
Gelangte auf Umwegen in einer Viertelstunde an die Nordseite des Gebäudes, schob sich hier im dichten Gestrüpp vorwärts, bis er den Vorplatz des Hauses, einen Teil der Terrasse und des Turmes übersehen konnte …
Seine Augen wurden starr …
Weiteten sich …
Geschöpfe eilten dort hin und her, wie er sie noch nie gesehen …
Nicht Affen, nicht Menschen … Und doch mehr menschenähnlich …
Wahre Ungeheuer – erschreckend mit ihrem enormen Gliederbau, dem behaarten Körper, diesem Gemisch von Affen- und Niggergesicht …
Und mitten unter ihnen gewahrte er Agnes Sanden, die blonde Agnes, einst seine Braut, einst sein ahnungsloses Werkzeug, als er noch, Spion einer feindlichen Macht, sein deutsches Vaterland für Geld verraten hatte.
Gewahrte auch Pasqual Oretto, den Hafentaucher von Lissabon, ferner den alten Gottlieb Knorz, neben dem der Teckel Kognak am Boden hockte …
Zwei mächtige gelbe Hunde sah er auch, die Agnes nicht von der Seite wichen …
Und diese drei Menschen da, seine erbitterten Feinde, – all diese menschenähnlichen Geschöpfe dort starrten angestrengt zum Turm nach oben, zu dem die Flammen gierig emporleckten, der selbst schon im unteren Stockwerk zu brennen schien …
Lomatz richtete den Blick ebenfalls dorthin …
Und bemerkte undeutlich, rauchumwogt, zwei Gestalten …
Bis ein stärkerer Windstoß den Qualm vollends nach Westen drückte und die Leuchtkraft der roten Lohe auch die Gesichter der beiden erkennen ließ …
Gaupenberg – – Mafalda!!
Eine wilde satanische Freude quoll da berauschend in Lomatz’ schadenfrohem Herzen auf …
Mochten die beiden dort oben nur erstickten – verbrennen!! Mochte es all denen so ergehen, die er haßte, fürchtete, all diesen Braven, die … für das Azorengold kämpften, litten!
Doch – – ebenso jählings wieder ward sein hämisches lautloses Kichern zu einem wilden Fluch …
Die … Sphinx – – die Sphinx!!
Senkte sich tiefer …
Und …
Ein neuer Fluch …
Ein wilder Blick ringsum …
Gab’s denn nichts, dieses waghalsige Tun zu verhindern …?
Ein neues lautloses Lachen …
Und Lomatz sah dort zwischen den Steinen die Repetierbüchse des zweiten Dieners Doktor Gouldens liegen – des Negers John, der hier die riesenhaften Ausbrecher wieder in ihre Käfige hatte zurückscheuchen wollen – der nun gleichfalls unten im Abgrund lag, eine blutige, formlose Masse …
Rasch hatte Lomatz, sich eng zwischen die Steine schmiegend, die Waffe geholt …
Prüfte die Kammer … Noch vier Schuß – vier Patronen …! Das genügte!
Er erhob sich halb im Gestrüpp …
Kniete …
Zielte bedächtig …
Das Knattern und Fauchen der Feuersbrunst mußte den Knall eines einzelnen Schusses übertönen …
Und … drückte ab …
Erkannte an dem ruckartigen Hochschnellen des Körpers dort oben, daß er getroffen hatte …
Schaute zur Seite, ob doch nicht etwa jemand aus der Gruppe von Menschen und Tiermenschen an der Terrasse den Schuß vernommen …
Gewahrte zu seinem Entsetzen, daß eins der Ungetüme rasch der Stelle sich nahte, wo er verborgen …
Und – – entfloh …
Stürmte vorwärts – wie gehetzt …
Hörte einen schrillen Schrei, dann ein merkwürdiges Trommeln … –
Murat, Agnes Sandens Homgori-Freund, rief seine Sippe durch das Trommeln herbei …
Schickte drei der Jüngeren dann hinter dem Flüchtling drein …
Lomatz keuchte weiter …
Ein rascher Blick nach rückwärts …
Ein Erblassen …
Drei – drei … hinter ihm drein – mit wahren Panthersätzen …
Schweiß brach ihm aus allen Poren …
Seine Knie versagten – zitterten nur noch …
Und hinab in den Hohlweg ging’s …
Blindlings …
Er rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war …
Stolperte … stürzte …
Die Büchse flog ihm aus der Hand …
Und – im selben Moment bogen fünf Reiter im schärfsten Tempo um die Ecke des engen Felsenpfades …
Die Fürstin Mafalda Sarratow hatte soeben den Grafen Viktor Gaupenberg glücklich oben im Kuppelraume des Turmes vor den das Observatorium bereits besetzt haltenden Affenmenschen in Sicherheit gebracht, hatte ihn keuchend und doch erfüllt von innerer Genugtuung, ihn abermals retten zu können, auf ihren Armen die schmale Steintreppe nach oben getragen.
Sanft legte sie ihn in einen der Sessel, die Doktor Goulden hier zu seiner Bequemlichkeit inmitten der sonst so schlichten, streng wissenschaftlichen Umgebungen aufgestellt hatte. –
Gaupenberg erholte sich bald …
Und im Verein mit Mafalda verbarrikadierte er dann die kleine Zugangstür, suchte sich und die Fürstin vor den blindwütigen Homgoris zu schützen, die bereits mit hallenden Schlägen von außen gegen die Tür donnerten … –
Mafalda dachte nicht an die Gefahr, in der sie hier schwebte …
Dachte nicht mehr daran, daß sie beide nur noch über eine einzige Patrone für Gouldens Repetierbüchse verfügten …
Nur an den Mann dachte sie, der ihr jetzt zu Dank verpflichtet, dem sie das Leben mehrfach gerettet, der nun einsehen mußte, daß sie ihn wahrhaftig liebte, bereit zu jedem Opfer, mit einer Hingabe, die ihn rühren mußte.
Und doch war sie klug, vorsichtig …
Als die Angreifer draußen jetzt vorläufig ihre Bemühungen, die Türe zu zertrümmern, aufgegeben hatten, zwang sie Gaupenberg in liebevollster Weise, sich auf dem rasch von ihr hergerichteten Lager aus Teppichen, Decken und Kisten auszuruhen …
„Du mußt dich schonen, Viktor,“ bat sie immer wieder. „Vergiß nicht, daß du noch heute früh hohes Fieber hattest. Das kann wiederkehren …“
Er gehorchte. Er fühlte selbst, daß ihn zuweilen ein Schwindel packte, daß die Aufregungen und Anstrengungen ihm doch geschwächt hatten.
Mafalda ging zum Waschbecken an der Wand, öffnete den Wasserhahn und feuchtete ein Handtuch an, legte es Gaupenberg als Kompresse um den Kopf, kniete neben ihm …
Und – beherrschte sich, obwohl ihr leidenschaftliches Herz nach ungestümen Zärtlichkeiten lechzte …
Gaupenberg lag mit geschlossenen Augen da.
Seltsames ging in ihm vor …
Wie ein in jagender Hast sich abrollendes Bild buntester Szenen schaute er all die Ereignisse, seit er Mafalda zum ersten Mal begegnet war …
Und in all diesen wirren, nervenaufpeitschenden Szenen spielte … die andere eine Rolle, das holde, blonde Mädchen, dem noch immer seine Liebe gehörte: Agnes Sanden!
Hier nun aber neben ihm als sanfte, zärtliche Pflegerin die … Intrigantin, die Berge von Mißverständnissen zwischen Agnes und ihm aufgetürmt hatte …
Die Intrigantin, fraglos eine Verbrechernatur, und doch – ihm ergeben in brünstiger Liebe wie eine Sklavin, – – seine Retterin!
Noch immer sah er das furchtbare Gesicht des Menschenaffen vor sich – am offenen Fenster des Krankenzimmers, sah Mafalda mit der gefüllten Wasserkanne in jähem Hieb den Eindringling zurückwerfen – hinab in die Tiefe …
Und jetzt wieder, zart wie eine besorgte Mutter war sie um ihn her …
Zarter konnte keine Pflegerin von Beruf für ihn sorgen …
Die Intrigantin – Verbrechernatur – – eben das Rätsel Weib!!
Oder aber – – wieder Komödie, wieder nur das feine Spiel des schlauen, berechnenden Charakters …!
Was – was war’s nun?!
Und Viktor Gaupenbergs vornehme Seele sträubte sich gegen diesen Verdacht. Die Dankbarkeit war’s, die seinen klaren Sinn trübte … nur die Dankbarkeit!
Und all das verdichtete sich in ihm zu unendlichem Mitleid mit dieser Hochstaplerin, dieser Abenteurerin …
Mitleid war’s, das ihm ein schwaches Lächeln um die Lippen zwang, als sie ihm jetzt auch ein Glas kühlen Wassers an die Lippen führte, seinen Kopf etwas anhob und ihn trinken ließ …
Mafalda stand auf …
„Versuche zu schlafen, Viktor … Ich werde dich schon bewachen … Selbst wenn ich den einen Schuß abfeuern müßte, werden wir doch nicht ohne Waffen sein …“
Und sie nahm eine kleine Glasspritze vom Tische auf, deutete auf ein Schränkchen …
„Dort steht eine große Flasche Salzsäure, Viktor … Wenn es nottut, werde ich die Angreifer blenden … Ich will, daß wir leben!“
Ein harter, unerbittlicher Zug lag um ihren vollen, reifen Mund …
Da begriff Gaupenberg, daß … sie nur für ihn, um ihn kämpfte – kämpfen wollte bis zum letzten Atemzuge …
„Ich will, daß wir leben!“ hatte sie gesagt …
Wir – – sie und er …!
Und Leben hieß hier … leben und lieben!
Nie – niemals würde sie auf ihn freiwillig verzichten! Würde … vernichten, was ihr im Wege stand – ihrem Glück, ihrem schrankenlosen Begehren!
Und – – er erschrak …
Intrigantin – – Verbrechernatur, – – und doch Liebe – – Liebe!!
Ihn überlief es kalt …
Er fröstelte …
Sah dieses Antlitz der Fürstin, von dämonischer Schönheit in diesem Augenblick, sah den schlanken Körper in dem hellen kleidsamen Flanellanzug …
Eine Schönheit – selbst in Männertracht!
Mafaldas Blick war dem seinen begegnet …
Und in ihrem Blick lag ein fast hündisches Betteln um … Liebe, glomm dennoch bereits der Funke wilder Sinnenlust …
Er schloß die Augen …
Er … kannte sie ja – von der Gaupenburg her …
Und siedend heiß stieg’s jetzt in ihm auf …
Erinnerungen … glutheiß wie Tropennächte, durchduftet von dem Hauch ihres Leibes …
Ganz fest schloß er die Augen …
Zauberte Agnes Sandens Bild herbei, als Schützerin, als Engel der Abwehr …
Agnes – – Agnes …!!
Verloren für ihn … vielleicht für immer!
Was war Mafaldas vollerblühte sinnentflammende Weiblichkeit im Vergleich zu Agnes’ keuscher Holdseligkeit!
Und – was hatte Agnes ihm doch vor Tagen in der Kabine der Sphinx in stolzer Unnahbarkeit gesagt:
‚Ich will versuchen zu vergessen, was du mir angetan … Ob es mir gelingen wird, weiß ich nicht … Aber Freunde bleiben wir, Viktor, treue Freunde.’
Gaupenbergs Gedanken glitten so allgemach in das Reich der Träume hinüber.
Er … schlief ein … –
Mafalda Sarratow hatte den einen Sessel an das Fenster neben seinem Lager gerückt, saß dort regungslos wie eine Statue, die Büchse auf den Knien …
Lauschte den verworrenen Geräuschen, die aus dem Hause empordrangen …
Zuweilen ein grimmes Heulen – schrille Schreie – Poltern … Dröhnen …
Was taten die Homgoris, die Tiermenschen? Was mochten sie mit Doktor Gouldens Leiche begonnen haben?!
Armer Goulden …
Wie bitter hatte sich der Frevel an ihm gerächt, daß er hier in der weltabgeschiedenen Einsamkeit diese Geschöpfe durch seinen Machtspruch geschaffen hatte, daß er die widernatürliche Paarung zwischen Neger und Gorillaweibchen erzwang und die unglückseligen Halbtiere dann auf menschliche Art zu erziehen versucht hatte! Seine Homgoris hatten ihm den Tod gebracht …!
Und weiter dachte Mafalda …
An das, was nun werden sollte, wie diese Belagerung hier im Turme enden würde …
Angst befiel sie … Angst um sie beide, die hier eingeschlossen, – Angst um die Zukunft, von der sie Liebe, Glück, Seelenfrieden erwartete …
Und ihre Augen glitten ruhelos in dem dämmerigen Kuppelraum hin und her …
Dort – – der Schalttisch mit den Funkapparaten.
Den hatte sie noch gar nicht beachtet …
Funkdepeschen – drahtlose Hilferufe …
Vielleicht … vielleicht kam man ihnen zu Hilfe …
Und jäh beugte sie sich zu Gaupenberg hinab, weckte ihn …
Sprach hastig, deutete auf den Tisch …
Gaupenberg richtete sich auf …
„Goulden erzählte mir, daß er auch einen Sender besäße … Gut, ich will zusehen, ob der Apparat in Ordnung ist …“
Die Fürstin stützte ihn, führte ihn zum Tische, schob ihm einen Stuhl hin …
Oben auf dem Kuppeldach ragten die Antennenmasten empor …
Die Bronzedräthe funkelten im Abendrot, sandten jetzt die Wellen aus …
Welle 1600 …
Und der Hilferuf schwebte durch den Äther in unendliche Fernen …
„Der Apparat arbeitet tadellos!“ rief Gaupenberg Mafalda zu …
Die hatte das eine Fenster geöffnet, stierte hinab auf den Seitenflügel der Steingebäudes …
Totenblaß war sie … Und nur das Abendrot lieh ihr ein wenig Farbe …
Langsam wandte sie sich um …
Brüchig klang ihre Stimme …
„Viktor, das Haus brennt …“
Er fuhr hoch … sah ihre versteinerten Züge …
Kam zum Fenster …
Und – unten im Seitenflügel schoß aus dem zerspringenden Fenster Qualm und rote Lohe heraus …
Gaupenberg wankte, lehnte sich an Mafalda …
Sie umschlang ihn, schmiegte sich dichter, ganz dicht an ihn und flüsterte:
„Wenn … wir sterben müssen, so … sterbe ich in deinen Armen, Lippe auf Lippe – Leib an Leib … Ich – – liebe dich …!“
Er hörte kaum in …
Seine Augen verfolgten zwei Homgoris, die soeben die Leiche der alten Negerin Nanna in die Büsche schleppten …
Auch Nanna also hatten die Tiermenschen gemordet!
Dann raffte er sich auf …
„Ich werde den Notruf wieder in die Dunkelheit hinaussenden, Mafalda … Vielleicht, daß man ihn telefonisch an Sennor Rovenna, den Maultierzüchter, dem nächsten Nachbar dieses Hauses, weitergibt …“
Er setzte sich abermals an den Tisch, stülpte den Kopfhörer über und ließ den Röhrensender arbeiten …
Und – einen dieser Notrufe fing am fernen Gestade der Robigas-Insel Christophoro der Geheimagent Alfonso Jimminez an Bord der Sphinx klar und verständlich auf …
Einen anderen die Küstenstadt an der Nordseite von San Miguel …
Und diese Station war’s, die dann telefonisch die entlegene Hazienda des Züchters Sennor Rovenna anrief, ohne Erfolg! Zunächst ohne Erfolg … –
Eine volle Stunde saß Gaupenberg an den Apparaten, bis seine Schläfenwunde zu schmerzen begann, bis er fühlte, daß er sich nicht mehr weiter in dieser Art anstrengen dürfe …
Inzwischen hatte das Feuer, das durch eine Unvorsichtigkeit eines der in der Küche umhertobenden Homgoris entstanden war, weiter und weiter sich ausgedehnt …
Hatte an der inneren Holztäfelung der Wände, an Möbeln und sonstigen Gegenständen genügend Nahrung gefunden und bereits das ganze Erdgeschoß ergriffen. Aus allen Fenstern unten drangen Flammen und Rauch empor. Längst machte sich auch hier im Kuppelraum die Hitze des Brandes unangenehm bemerkbar.
Schweigend, stumm vor sich hinbrütend, saß Mafalda neben Gaupenbergs Lager auf einer niederen Kiste …
Seine Hand hielt sie in der ihren …
Er duldete es …
Nacht war’s draußen … Nacht hier im Kuppelbau … Und doch fast taghell vom Schein des gierigen Feuers …
Mafaldas Hand bebte …
Eine ohnmächtige Wut gegen das Schicksal durchzitterte sie mit brandenden Wogen zwecklosen Suchens nach einem Rettungsweg …
Es – – gab keinen …
Es gab keine Möglichkeit, nach unten zu Erbe hinabzugelangen …
Und wenn, – – dort unten lauerten ja die Untiere, haßerfüllt ihres elenden Zwitterdaseins wegen – haßerfüllt gegen alles, was Mensch hieß … –
Mafalda starrte vor sich hin…
Das Zifferblatt ihrer Armbanduhr blinkte matt …
Mitternacht war’s …
Genau Mitternacht … Und auch der Oberstock brannte schon … Mitunter hüllte der Qualm den Turm so dicht ein, daß Finsternis der grellen rötlichen Helle folgte … Dann jagte der barmherzige Ostwind den Rauch wieder davon, trieb auch die Glutwellen zur Seite. Ohne die Kraft des Windes wären die beiden einsamen Menschen hier längst erstickt.
Und doch war der Kuppelbau von stinkenden Schwaden, von dem Gluthauch des Brandes erfüllt …
Umsonst hatte Mafalda Zugluft herzustellen versucht… Rasch mußte sie die Fenster wieder schließen.
Und so erwarteten diese beiden hier, verbunden einst durch Sinnenrausch, getrennt durch das Erwachen des Mannes, wieder vereinigt durch den machtvollen Willen der liebesbrünstigen Frau … den Tod … –
Die Hitze im Kuppelraum nahm zu …
Gaupenberg atmete keuchend …
Das Fieber raste wieder in seinen Adern …
Mafalda wechselte die Kompresse …
Sie taumelte, wenn sie zum Wasserbecken ging …
Saß wieder neben dem Geliebte, eine arme Verirrte, eine große Verbrecherin – und doch vielleicht bemitleidenswert in all ihrem widerspruchsvollen Weibestum …
Glitt jetzt von ihrem harten Sitz herab … neben Gaupenberg …
Ihre Lippen suchte die seinen…
„Agnes – – Agnes …!!“ flüsterte der Mann im Fieberrausch …
Ein halbirres Lachen verzerrte der Fürstin Mund …
Tränen stürzten ihr aus den Augen …
Sie erhob sich … Taumelte ans Fenster, stützte sich schwer auf das Fensterbrett …
Flammen ringsum … Flammen der Eifersucht in ihrem Herzen …
Sterben – so sterben – – als eine Besiegte, Verschmähte … Besiegt von diesem weichlichen blonden Wesen …!
Und – all das Gute, was diese Stunde in Mafaldas Seele hatten wieder aufkeimen lassen, versank abermals …
Agnes … Agnes Sanden!
Wie sie dieses Mädchen haßte …! Wie sie ihr gewünscht hätte, dies hier durchleben zu müssen!
Ob Agnes dann auch so tapfer geblieben wie sie selbst?!
Ein Hohnlachen durchschrillte den Raum …
Brach jäh ab … Und Mafaldas starre Augen bohrten sich durch Qualm und Feuerzungen hindurch – dorthin, wo sie im zuckenden Lichte der Feuersbrunst eine Schar Gestalten erblickte – – Agnes mitten unter ihnen … Agnes auf dem Rücken eines dieser Tiermenschen …
Mafaldas schloß die Augen …
‚Fieber – Fieber glüht auch in meinen Adern – Fieberbilder sind’s!’ dachte sie …
Und schaute wieder hinab …
Da war Agnes, da waren Pasqual, Gottlieb, ein Dutzend Homgoris – wie gute Freunde …!
Die Fürstin wandte sich um … Hatte schon Gaupenberg emporgehoben, schleppte ihn zum Fenster …
Den Triumph wollte sie noch erleben, daß Agnes sie beide sah – eng umschlungen – vereint durch den Tod …
Gaupenbergs umnebelte Sinne klärten sich …
Auch er erkannte die Getreuen, erkannte die Geliebte …
Und – wie ein niederschmetternder Vorwurf nun sein Flüstern:
„Hättest du mich nicht in die Wildnis entführt, Mafalda, wäre mir dieses Ende erspart geblieben …“
Noch mehr wollte er hinzufügen.
Verstummte …
Sah, daß Pasqual und Gottlieb die Mützen schwenkten, daß Agnes winkte, daß sie … nach oben zeigte – zum nächtlichen Himmel empor …
„Die … Sphinx!! Die Sphinx!!“ – ein heiserer Schrei …
Und Mafalda wiederholte gedehnt – wie enttäuscht:
„Ja … – die … Sphinx …!!“
„Und gerettet, Mafalda …! Gerettet! Die Sphinx wird uns retten …!“
Mafalda schwieg …
Gaupenberg blickte sie an …
Tränen hingen ihr in den langen dunklen Wimpern.
Er begriff …
Und – – er bemitleidete sie, sagte weich:
„Mafalda, weshalb soll es nicht Freundschaft geben zwischen dir und mir, da Liebe … unmöglich ist?! Du hast mir heute zweimal das Leben gerettet, und …“
Sie trat zurück …
Flammenschein lief über ihr entstelltes Gesicht hin.
„Freundschaft …?!“ Sie lachte grell. „Eine Mafalda Sarratow begnügt sich nicht mit den Brosamen, die vom Tische der Liebe fallen …! – Freundschaft, Graf Gaupenberg, – – Feindschaft bis zum … allerletzten Atemzuge …!“ –
Und sie taumelte in den nächsten Sessel …
Bedeckte das Gesicht mit den Händen …
Weinte … vielleicht …
Die Sphinx hing schräg über dem brennenden Observatorium wie ein grauer Schatten …
An Deck standen Doktor Falz, Abd el Sarfa und Mela, Fators wiedergefundene Tochter.
Hitzewellen und Qualm kamen bis zu ihnen empor, mahnten, den beiden im Turme Eingeschlossenen schleunigst Hilfe zu bringen.
„Gaupenberg trägt den einen Arm in der Schlinge, ich sah es genau. Er wird unfähig sein, unser Rettungswerk von sich aus zu unterstützen …“
Der Kabyle erklärte schlicht:
„Ich werde an der Stahltrosse hinabkletterten … Wenn das Luftboot dann derart manövriert, daß ich die Kuppel des Turmes erreiche, aus der das große Fernrohr herausragt, wird es mir ein leichtes sein, den Grafen so sicher anzuseilen, daß Sie ihn emporziehen können, Sennor Fator …“
„Sie unterschätzen die Gefahr, Abd el Sarfa,“ warnte der Doktor eindringlich. „Sekunden völliger Windstille würden Hitze und Rauch kerzengerade hochsteigen lassen und…“
Der Kabyle hatte den Kopf geschüttelt …
„Ich wage es trotzdem! Sie, Sennor, haben mich aus der Brandung von Christophoro herausgeholt, ich werde Ihren Freund aus den Flammen holen…“
Und er schritt zur Reling, wo die vierzig Meter lange Stahltrosse schon festgeknotet war, warf den hellen Burnus ab und stand nun schlank und kraftvoll da, Sohn eines freien, kriegerischen Volkes, Sohn jener tapferen Rifkabylen, die den nicht minder tapferen Spaniern jeden Schritt Bodens in Marokko mit Blut düngten.
Schwang sich leicht und gewandt über die Reling, packte die harte Trosse, glitt abwärts, schlang die Beine herum und kletterte ohne Hast in die Tiefe … –
Die Sphinx senkte sich …
Propeller schlugen, ruhten wieder …
Dicht über dem gewölbten kupfernen Turmdache befand sich der Retter nun …
Glühender Odem des Brandes umwogte ihn …
Die Augen schmerzten, tränten …
Tiefer glitt der Kabyle …
Doch – seines ereignisreichen Lebens emsige Uhr war abgelaufen …
Ein feiger Schütze dort unten in den Büschen suchte das Werk der Rettung zu vereiteln …
Wie ein Faustschlag donnerte es gegen Abd el Sarfas Stirn …
Er zuckte zusammen …
Seine Hände öffneten sich …
Und schwer und dumpf schlug sein lebloser Körper auf das Fernrohr der Kuppel auf, blieb dort hängen.
Regungslos … schlaff, wie ein armseliges Bündel.
Mela Falz hatte von Deck aus voller Entsetzen des tapferen Kabylen jähes Ende beobachtet, stürzte nun in den Führerstand hinab …
„Vater – Vater – Abd el Sarfa muß ohnmächtig geworden sein …! Er …“
Doktor Falz nickte traurig … „Ich ahnte es, mein Kind … Wenn Gaupenberg und die Fürstin sich nicht selbst retten, indem sie sich an die Stahltrosse anseilen, werden wir umsonst …“
„Ich versuche es, Vater, ich …!“ rief Mela, und ihr Gesicht drückte eine Entschlossenheit aus, die unumstößlich war.
„Kind, Kind, soll ich dich denn schon wieder verlieren, wo ich dich eben erst wiedergefunden habe!“ meinte der Doktor ernst und traurig. „Ich selbst würde ja ohne Bedenken mich dort hinabwagen, denn – mich flieht der Tod! Ich darf es nicht. Ich muß an Bord bleiben. Wer sollte die Sphinx steuern?! – Nein, meine Mela, sehen wir erst zu, ob die beiden nicht von selbst Mittel und Wege finden, den Flammen zu entrinnen … Da – schau’ in den Spiegel des Sehrohres … Das Ende der Trosse liegt auf dem Kuppeldach … Und … – – da – – die Dachluken wird geöffnet … Die Fürstin erscheint … Sie hat die Trosse ergriffen … – An Deck, Kind … An Deck! Dort kannst du alles genauer beobachten, mir dann rasch eine Weisung zurufen …“
Melanie hastete die kurze Treppe empor, eilte an die Reling …
Auf dem gewölbten Kupferdach des Turmes stand Mafalda …
Untätig … Schien des Kabylen regungslosen Leib zu betrachten …
Und – bückte sich …
Packte abermals die Trosse, an deren Ring ganz unten drei feste Gurte geknotet waren …
Der eine hatte den lebenden Kabylen wieder emporschaffen sollen …
Wurde jetzt um des Kabylen Leiche geschnallt …
Und – Mafalda ließ sich Zeit …
Ihr lag nichts mehr am Leben … nichts! Sie sehnte den Tod herbei … –
Nun hing Abd el Sarfas Körper in dem breiten Gurt …
Und – – – die Fürstin … stieg wieder hinab in den Kuppelraum – müde, gleichgültig, entschlossen, nichts zu tun, was Gaupenberg retten konnte …
Der lag im neuen, noch heftigeren Fieberanfall auf seinem Lager …
Mit flirrenden, schweißerhitztes Augen …
Fiebergestalten umtanzten ihn …
Die Gegenwart war für ihn tot. In wirren Bildern mischte sich in seinem Hirn Erlebtes und nie Dagewesenes …
Mafalda Sarratow schaute ihn an, ein hartes Lächeln um die Lippen …
Nebel wogten vor ihren Augen – erste Anzeichen nahender Ohnmacht …
Gluthitze lastete in dem kleinen Raum …
Der Turm brannte …
Und matt sank sie in den Sessel, legte die Hände in den Schoß – – wartete auf den Tod – – das Ende … – –
Auf der Sphinx zwischen Vater und Tochter eine neue erregte Szene … Kein Streit über das, was nun geschehen müßte, nachdem man die Überzeugung gewonnen hatte, daß Mafalda Sarratow offenbar sich selbst und Gaupenberg nicht retten wollte, und nachdem man schnell auch des Kabylen Leiche hochgehißt und gesehen, daß eine heimtückische Kugel seinem Leben ein Ende gemacht hatte …
Kein Meinungsstreit. Nein, nur von Seiten Doktor Falz’ ein verzweifeltes Ankämpfen gegen den festen Entschluß seines Kindes, nun selbst in den Turm hinabzuklettern und zunächst den Grafen zu bergen, – ein Ankämpfen gegen Melas Opferfreudigkeit, die er der ungeheuren Gefahr nicht preisgeben wollte.
Und doch schwieg er bald …
Die Sphinx schwebte indessen mit ganz langsam arbeitenden Propellern, die den Abtrieb des Windes ausgeglichen, fast an derselben Stelle wie verankert …
Mela warf die Stahltrosse wieder hinab …
Als nun mit Splittern und Krachen, Fauchen und Brausen das Flammenmeer sich auch einen Weg durch die unteren Turmfenster gebahnt hatte, zögerte sie nicht länger …
Mit mutiger Gebärde umschlang sie rasch nochmals den Vater, küßte ihn wortlos und kletterte über die Reling. Die Decke, die sie anstelle eines Rockes um den Unterteil des schlanken Leibes geschlungen hatte, war schon vorher als hinderlich gefallen. Nur bekleidet mit den weiten seidenen türkischen Frauenbeinkleidern und der ihr viel zu großen blauen Seemannsjacke, glitt sie abwärts …
Doktor Falz stand an der Reling, den Blick starr emporgerichtet zu den Gestirnen, die über Rauch und Feuerzungen in unendlichen Fernen feierlich strahlten.
Betete er – flehte er die Sterne um gütigen Beistand an?
Über seinem klugen, durchgeistigten Antlitz lag jetzt wieder jener Schimmer von Verklärung, von visionärer Weltfremdheit, der dann stets so scharf hervortrat, wenn Dagobert Falz mit der Gottheit, die dort im unermesslichen Weltall die Geschicke der Erde und ihrer Bewohner lenkte, inbrünstige Zwiegespräche hielt … –
Mela wurde vom Winde begünstigt. Stärkere Luftstöße als zuvor jagten Qualm und Hitze gen Westen zur Seite. So gelangte sie ohne besondere Beschwerden bis auf das gewölbte Kupferdach.
Die Luke war noch offen. Bevor Mela hinabstieg, knotete sie noch die Trosse um das starke Eisengeländer des Daches.
Lautlos glitt sie jetzt die Eisentreppe hinab …
Stand still …
Rote zuckende Lichtstreifen des Brandes trafen das schöne, starre Gesicht der Fürstin.
Ein Ausdruck von todestraurigem Gleichmut, aber ein nicht minder deutlich bemerkbarer Zug von unerbittlicher Härte machte dieses Frauenantlitz zu einem Bilde jener römischen Priesterinnen, die sich dem Dienste der strengen Göttin Vesta geweiht und mit dem harten Gelübde auch ihre Seele, ihr Herz erstickt hatten …
Mela Falz stand noch immer wie versteinert …
Ungläubiges Staunen verriet ihr Blick …
Sie … erkannte die Fürstin wieder.
Sie … kannte diese Frau vom Palast ihres Adoptivvaters her …
Und diese Frau war ihr Schicksal geworden, war schuld daran, daß Don José Armaro, Präsident von Patalonia, sie nach dem einsamen Eiland, nach Mala Gura, verbannt hatte … –
Ein donnerähnliches Krachen, hervorgerufen durch den Einsturz eines Teiles vom Dach des Hauptgebäudes, mahnte Mela an ihre Pflicht …
Ihre Verachtung, ihren Widerwillen gegen jene Abenteurerin dort drängte sie zurück …
Während draußen der Funkenregen eines gigantischen Feuerwerks infolge des Dacheinsturzes zum Himmel empor wirbelte, nahm Mela den fiebernden, besinnungslosen Gaupenberg wortlos in die Arme und trug ihn mit Aufbietung all ihrer Kraft nach oben, schnallte ihn rasch in einen der Gurte ein und wollte wieder hinab in den Kuppelraum.
Ein Geräusch, das Entlangschleifen der Füße Gaupenbergs über die Eisenstufen der Treppe, hatte inzwischen Mafalda, die bisher mit geschlossenen Augen und ohne Ahnung von der Anwesenheit einer Fremden im Turme dagesessen hatte, müde die schweren, bereits von Hitze und Rauch geschwollenen Lider heben lassen …
Ihr Blick fiel auf das leere Lager Gaupenbergs …
Das rüttelte sie auf …
Der Kopf schnellte herum …
Leer auch der kleinen Kuppelraum …
Wo – wo war Gaupenberg geblieben?
Und – emporfuhr sie da …
Alle Schwäche glitt von ihr ab …
Wollte er sie retten …? War er bereits in Sicherheit …? War doch jemand von der Sphinx an der Trosse abwärts geklettert?
Ihr Antlitz färbte sich dunkler – verzerrte sich …
Sterben sollte er hier – hier sterben – – mit ihr zusammen!!
Und – auch das war nun vereitelt …! Er war gerettet – – für die andere, für Agnes Sanden!
Da – – kam Mela die schmale Eisentreppe vom Dache her hastig hinab …
Ein neuer Funkenregen warf grelles Licht über die beiden Frauen hin …
Auch Mafalda erkannte im Augenblick die Feindin – die Gegnerin aus Taxata, der Hauptstadt der Mulattenrepublik …
Haß sprühte in ihren Blicken …
Sie ahnte nicht, daß Isabella Armaro jetzt den leiblichen Vater wiedergefunden, daß aus Isabella Armaro eine schlichte Mela Falz geworden …
Und hohnlachend rief sie – unter frechem Hohn ihre Wut und Enttäuschung verbergend:
„Also Sie haben den Grafen mir entführt – – Sie!! Sind Sie wirklich von Mala Gura entflohen, stolze Isabella?! Oder hat Präsident Armaro die Mörderin seines Sohnes … begnadigt?!“
Mela erwiderte nur:
„Wissen Sie in diesem Augenblick, wo der Tod Ihnen so nahe, wirklich nichts anderes zu sagen?! – Kommen Sie …!“
Und sie trat beiseite, deutete die Turmtreppe empor …
„Habe ich Sie zu Hilfe gerufen?!“ war der Fürstin feindselige Antwort. „Gehen Sie …!! Ich rette mich schon selbst – – oder sterbe! Gehen Sie …!“
Mela wollte, von plötzlichem Mitleid mit dieser Unseligen erfaßt, ihr jetzt in gütigster Art zureden und den Starrsinn der ihres Tuns wohl kaum voll Bewußten durch einen Hinweis auf den grausigen Flammentod ändern …
Doch ihre ersten Worte schon wurden von neuem Getöse weiter einstürzender Dachteile übertönt …
So eilte sie denn auf Mafalda zu, faßte ihre Hand …
Und – wurde brutal zurückgestoßen …
Da wandte sie sich um … kehrte leichtfüßig auf das von Funkengarben umstobene Turmdach zurück und packte die Trosse … knotete sie los … stützte Gaupenbergs festgeschnallten Körper, hatte auch im Nu den zweiten Gurt um die Hüften geschlungen …
Winkte nach oben …
Spürte, wie die sengende Glut ihr den Atem benahm, ihre Sinne verwirrte … –
Die Sphinx stieg empor …
Trug die beiden Menschen aus Rauch und Flammen in den wohltuenden klaren Lufthauch des starken Ostwindes empor …
Dann zog Doktor Falz mithilfe der Ankerwinde die doppelte Last an Deck, wo das Kabylen Leiche mit verglasten Augen als trauriger Zeuge dieses unerhörten nächtlichen Dramas lag …
Und unten neben der Terrasse eine Menge Gestalten – Menschen, Homgoris, Hunde …
Alle hinaufstierend in bangem Schweigen zu der Sphinx, die jetzt wieder langsam sich senkte und dann eine Strecke von der Terrasse entfernt landete …
Agnes Sanden stürmte da vorwärts …
Sie hatte ja gesehen, daß Gaupenberg wie leblos in dem Gurte unter der Sphinx hing …
Angst trieb sie zu dem Luftboot … Und kaum hatte Doktor Falz die Außenleiter der Sphinx hinabgelassen, als Agnes schon an Deck war und ihrem gütigen väterlichen Freunde gegenüberstand.
„Lebt Gaupenberg?“ stieß sie hervor, und in ihren Augen schimmerte die verzehrende Furcht um den Geliebten …
„Er lebt, Agnes … Und er wird am Leben bleiben … Er liegt unten in seiner Kabine …“
Agnes Sanden beachtete weder die ihr fremde Erscheinung Melas noch die Leiche des Kabylen …
Eilte weiter – hinab in den Mittelturm, durch den Gang zur Kabine, öffnete die Tür …
Und – zögerte … trat leise näher …
Sie war Weib … Sie hatte gelitten, war verstoßen worden, war durch Tage der Trübsal und Gefahren gehetzt worden – – Mafaldas wegen …!
Sie war Weib … Und wieder stieg jetzt die Eifersucht in ihr empor, zeigte ihr Bilder, die ihr das Herz zusammenkrampften …: Gaupenberg und die Fürstin eng umschlungen am Fenster des brennenden Turmes!! Umschlungen wie Liebende …!!
Sie hatte am Bette des Kranken niederknien wollen, hatte seine Hände streicheln wollen … Und alles – alles hätte sie vergessen können, – – wenn nicht abermals jetzt der Gedanke an Gaupenbergs Wankelmütigkeit, durch Eifersucht wieder in den Vordergrund gedrängt, ihre Hingebung und ihr zärtliches Mitleid niedergehalten hätte.
Leise rückte sie einen der leichten Schiffsstühle an das Bett …
Saß da und schaute in das von Fieber tief gerötete Gesicht des Mannes, für den sie gekämpft und geduldet.
Ihr Denken glitt weiter …
Zu Mafalda Sarratow …
Fragen bestürmten sie …
Weshalb war die Fürstin im Turme geblieben? Weshalb war die Sphinx gelandet, ohne noch einen weiteren Versuch zu unternehmen, auch Mafalda zu retten? –
Draußen brannte das Steingebäude jetzt infolge des völligen Einsturzes aller Dachteile wie eine ungeheure Fackel …
Der Turm war von Flammen umgeben …
Und an Deck der Sphinx sagte Doktor Falz zu Gottlieb und Pasqual:
„Mafalda muß jetzt erstickt sein … Es hätte keinen Zweck, wenn einer von uns sich noch opfern wollte …“
Insel Christophoro …
Riffumgürtet, wogenumbrandet …
Südlichstes der drei Robigas-Eilande, Besitz der Republik Patalonia, unbewohnt, entlegen, kaum bekannt …
Und doch jetzt der Mittelpunkt der Gedanken zahlreicher Menschen … gieriger Wünsche, ernsten, selbstlosen Mühens …
Goldmilliarden, der Azorenschatz, lagerten hier in der schmalen, langen Grotte am Westrand …
In derselben Grotte, deren versperrter Eingang durch die Kraft der Sprengstoffe wieder freigelegt worden war, deren Felsboden sich durch dieselbe Explosion zu zackigem Loche geöffnet hatte.
Und vom Rande dieses Loches war Steuermann Hartwich durch abbröckelndes Gestein mit in die Tiefe gerissen worden, war in den weiten unterirdischen See gefallen – endlose Meter tief, war halb bewußtlos durch den Sturz auf die Wasseroberfläche versunken, hatte trotzdem noch die Kraft gefunden, mit beiden Armen sich wieder emporzuschnellen ans fahle gelbe Licht, das diese Riesenhöhle geheimnisvoll beleuchtete … Schöpfte Atem, erholte sich und schwamm in immer machtvolleren Stößen dem fernen Südufer zu, wo die hellen phantastischen Paläste nun deutlicher und klarer sich den ungläubigen Blicken des Steuermanns in all ihrer seltsamen überwältigenden Schönheit wie Zauberbauten eines Zauberlandes zeigten …
Georg Hartwich, kraftvoller, nüchterner Verstandesmensch, hätte noch vor wenigen Wochen ein so magisches Bild wie dieses da, das Bild einer unterirdischen Stadt, lediglich für ein Produkt krankhaft überreizter Nerven – für eine seelische Störung gehalten.
Aber diese letzten Wochen mit ihrem Übermaß von abenteuerlichen und zum Teil geheimnisvollen Geschehnissen, besonders die Vorgänge in der hohlen Dorgas-Klippe, hatten ihm bewiesen, daß selbst die menschliche Erkenntnis dieses an Erfindungen so reichen Jahrhunderts noch lange nicht all das aufgedeckt hatte, was der Erdplanet an Unbegreiflichem dem spürenden Menschenhirn darzubieten hatte.
Georg Hartwich hatte sich eben daran gewöhnt, selbst das Unwahrscheinlichste für möglich zu halten.
Während er nun mit ruhigen gleichmäßigen Schwimmstößen den hellen Landungsbrücken des Ufers zustrebte, an denen eine Unmenge von größeren und kleineren Barken von altertümlicher Form vertäut waren, erinnerte er sich an ein Abenteuer aus seinem Seemannsleben, das ihn in der Südsee auf die durch ein Erdbeben aus den Tiefen des Ozeans emporgehobene Insel Sapaua geführt hatte, auf der die Insulaner ebenfalls in geräumigen Grotten hausten und zwar innerhalb dieser Höhlen wieder in den bei ihnen üblichen Pfahlhütten, die auf fünf bis sechs Meter hohen Pfeilern errichtet waren. Damals weilte er ein volles halbes Jahr bei diesen Insulanern als Gefangener – zum ersten Male in einer unterirdischen Niederlassung, die freilich am Tage geringes Licht durch Spalten der Höhlendecke empfing. Später, als ein Schiff ihn befreite, wollte man ihm nicht glauben, daß Sapaua, die Erdbebeninsel, bewohnt sei. So sorgfältig hatten die Insulaner ihre Wohnstätten bisher vor jedem Europäer geheim gehalten.
Hieran erinnerte er sich jetzt, als er dem Ufer immer näher kam, und als er nun auch feststellen konnte, daß die Barken so gut erhalten waren wie eben erst aus den Händen eines geschickten Bootsbauers hervorgegangen.
Und doch, weder auf der breiten, glatten Uferstraße, noch in den Palästen, war auch nur ein einziges lebendes Wesen zu bemerken.
Still, verlassen lagen Strand, Paläste und die hohen Hügel zu beiden Seiten da – wie etwas Unwirkliches, Geisterhaftes. –
Steuermann Hartwich kletterte in eine der Barken. Der Rand des großen Bootes war mit reichen Schnitzereien bedeckt. Heck und Bug liefen in meterhohe, bunt bemalte Holzfiguren von abschreckender Häßlichkeit aus – fraglos Götzenstatuen!
Von der Barke schwang Hartwich sich auf die Landungsbrücke, deren Geländer gleichfalls kunstvolle Schnitzereien aufwies.
Hier blieb er zunächst einmal minutenlang stehen und schaute sich genau um.
Am meisten interessierte ihn die Frage, woher wohl das fahle, matte gelbliche Licht käme, das diese gigantische Grotte, deren Abmessungen mit den Augen nicht festzustellen waren, in allen Teilen erfüllte.
Er glaubte schließlich die Frage sich dahin beantworten zu können, daß es die Felsendecke der Höhle sei, die irgend einen Leuchtstoff enthielte.
Am Ufer erhoben sich in Abständen von etwa hundert Meter im ganzen sieben Paläste mit allerlei niederen Nebengebäuden. Von der Uferstraße führten flache Steintreppen von endloser Stufenzahl zu diesen Riesenbauten empor. Und zwischen ihnen hindurch konnte man in das bergige Hinterland hineinschauen – auf das Dächermeer einer ausgedehnten Stadt.
Hartwich schritt weiter …
Etwas zögernd …
Er war überzeugt, daß die Stadt bewohnt sei, denn in den Barken lagen tadellos erhaltene breite Blattruder, Taue und matt golden schimmernde Ketten.
Unwillkürlich faßte er in die Tasche und nahm seine Repetierpistole zur Hand. Er wollte vorsichtig sein.
Nun betrat er die breite Uferstraße …
Marmorplatten – grauschwarzer Marmor …!
Ging weiter … Noch zögernder … Eine der mächtigen Treppen hinan, immer sich umschauend, stets bereit, einem unerwarteten Massenangriff durch schleunige Flucht auszuweichen …
Unheimlich war diese Totenstille hier …
Noch unheimlicher die grinsenden Götzenfiguren auf den Absätzen der Marmorstiegen …
So erreichte er denn die breite Terrasse oben, stand nun vor der bunt bemalten hohen Flügeltür, an der lediglich zwei runde Griffe, anscheinend Messing, angebracht waren.
Auch hier in den Feldern der Türen dieselben Götzenbilder …
Hartwich erinnerte sich plötzlich, im Berliner Völkermuseum ähnliche Bildwerke gesehen zu haben – aus Mexikos Vergangenheit, aus der Zeit des großen Kulturreiches der Azteken, das dann der Spanier Cortez vernichtet hatte … –
Ein Name durchzuckte sein Hirn:
Vitzliputzli …!!
Vitzliputzli, der grausame Aztekengott, dem zu Ehren bei großen Festen unzählige Menschen abgeschlachtet wurden …
Und – fester umklammerte er die Waffe, spannte sie …
Zögerte wieder …
Streckte die Hand nach dem einen Türgriff aus, ließ sie wieder sinken …
Und – prallte zurück …
Jäh hatten sich beide Türflügel nach innen geöffnet …
Vor dem Steuermann stand ein greiser, weißbärtiger Mönch in brauner Kutte, um die Hüften einen Rosenkranz aus großen Perlen gegürtet, das schlohweiße Haupt unbedeckt, in der Linken einen Krümmstab, auf den er sich, vom Alter gebeugt, zitternd stützte …
Eine so würdige, imponierende Erscheinungen, das Hartwich mit unwillkürlicher Bewegung die Seemannsmütze ziehen wollte …
Doch – er war ja barhäuptig … Seine blaue Mütze war ihm vor dem Sturz in den See entglitten und oben am Rande der weiten Öffnung liegen geblieben, wo Doktor Falz und Mela sie später fanden und mit Recht daraus schlossen, daß Hartwich hier ein Unglück zugestoßen sein müsse. –
Der Steuermann verneigte sich ehrfürchtig vor dem greisen Mönch, fragte dann auf gut Glück in englischer Sprache, die ihm ebenso geläufig wie das Deutsche war:
„Verzeihen Sie, ehrwürdiger Pater, daß ich hier soeben in diesen Palast einzudringen versuchte. Ein seltsamer Zufall hat mich …“
Der Mönch hob die rechte Hand – eine welke, knorrige Greisenhand …
Und … winkte schweigend – mit so eindrucksvoller Gebärde, daß Hartwich verstummte und sofort auch begriff, daß er dem Pater folgen sollte.
Ein schmerzliches Lächeln, voller Güte und Mitleid, breitete sich nun über das hagere, fahle und faltenreiche Gesicht des Greises aus. Langsam schritt er an Hartwich vorüber – die Treppe hinab – über die marmorne Uferstraße – auf eine der Landungsbrücken.
Blieb stehen …
Deutete auf eine kleine Barke und stieg hinein …
Hartwich kletterte in dasselbe Boot, mußte nun die breiten Blattruder ergreifen und auf einen neuen Wink des Mönches hin quer über den großen See rudern …
Der Pater hatte am Steuer des leichten Fahrzeuges Platz genommen …
Die Barke glitt mit leisem Rauschen durch das stille Wasser …
Kam auch unter der Öffnung in der Inselhöhle entlang, und hier war’s, wo der blonde Steuermann nach einem kurzen Blick zu dem zackigen Loche empor nicht länger dieses drückende Schweigen ertrug und in recht kräftigem Tone sagte:
„Ehrwürdiger Pater, ich habe wohl ein Recht darauf zu fragen, wo diese Fahrt enden soll …!“
Die grauen großen Augen des Mönches, von der Last der Jahre wohl genauso geschwächt wie der übrige Leib, starrten gleichfalls nach oben, wo durch die Öffnung ein geringer Schimmer des scheidenden Tageslichtes in die unterirdische Welt hineinfiel …
Er schien Hartwichs Worte nicht gehört zu haben.
Murmelte etwas vor sich hin …
In spanischer Sprache …
So leise, daß der Steuermann nur einzelnes verstand …
„… ein halbes Jahrhundert … und doch noch das Licht der Oberwelt … doch noch … fünfzig Jahre … mehr als ein Menschenleben …“
Dann war die Barke unter der weiten Öffnung hinweg …
Unter der Pater senkte den altersmüden Kopf, schaute nun Hartwich an und … blieb stumm …
Aber der ernste, fast warnende Ausdruck seines schmalen Gesichts verriet dem Steuermann, daß er gleichfalls schweigen solle.
Und so zog er dann kraftvoll und gleichmäßig, unbekümmert und nur neugierig darauf, wie dieses Abenteuer enden würde, die Blattruder durch die gurgelnde Flut, deren Oberfläche das gelbliche Höhlenlicht in matten Reflexen widerspiegelte.
Eine halbe Stunde fast ruderte er, bis der schweigsame Mönch mit Hilfe des Steuers der Barke eine andere Richtung gab.
Inzwischen war das ferne Ufer mit den Palästen der unterirdischen Stadt so undeutlich geworden, daß man kaum noch Einzelheiten unterscheiden konnte.
Die Barke glitt an ein paar kahlen kleinen Felseilanden vorüber und bog nun in die enge Bucht einer größeren Insel ein.
Der Pater winkte wieder. Hartwig ließ die Ruder schleifen und wandte sich um.
Eine kleine Landungsbrücke dicht voraus lud zum Anlegen ein. Der Steuermann vertäute hier das Fahrzeug und folgte dem Mönch in ein Gewirr von Felsblöcken hinein, das sich zu einem hohen Hügel auftürmte.
Plötzlich öffnete sich hier ein runder freier Platz … Und Hartwich erblickte geradeaus in einer senkrecht abfallenden Steinwand eine breite Tür aus einem wie Messing schillernden Metall.
Der Pater schritt etwas hastiger als bisher auf diese Tür zu und schob drei schwere dicke Riegel mühsam zur Seite, zog die Tür ebenso mühsam auf und … deutete in den finsteren Gang hinein – ein natürliches Gewölbe, wie des Steuermanns mißtrauischer Blick sofort feststellte …
Er … zögerte …
Und da … kam’s wie ein scheues Lispeln über des Mönches farblose Lippen:
„Gehen Sie … gehen Sie …! Es gilt Ihr Leben … Sie hören noch von mir …“
So beschwörend, so eindringlich klang dieser halbe Befehl, daß Georg Hartwich jetzt wirklich gehorchte …
Drei Schritt vorwärts …
Noch ein Flüstern hinter ihm – wie ein tröstlicher Zuspruch: „Sie hören noch von mir …“
… und die Metalltür schlug mit seltsam reinem Klang gegen das Gestein …
Klappend wurden drei Riegel vorgeschoben …
Und Steuermann Hartwich stand in undurchdringlicher Finsternis da …
Lauschte …
Hörte nur das dumpfe erregte Pochen des eigenen Herzens und das feine Singen und Klingen des Blutes in den Ohren …
Stand regungslos …
Minutenlang …
Bis die halbe Erstarrung über dieses schier unglaubliche Erlebnis, das ihm wie ein düsterer mystischer Traum anmutete, wieder von ihm wich und er sein kraftvolles energisches Selbstbewußtsein wiederfand …
Stiller Ärger gegen sich selbst stieg da in ihm hoch …
‚Narr!’ dachte er … ‚Weshalb ließest du dich hier einsperren wie ein Wehrloser, wie ein Hypnotisierter! …’
Dachte nichts weiter …
Fuhr leicht zusammen …
Streckte den Kopf lauschend vor …
Schritte – – langsame schleichende Schritte …
Und das Rauschen von seidenen Frauengewändern jetzt … immer deutlicher …
Jenes feine kennzeichnende Rauschen, das an elegante schicke Frauen mit köstlicher Wäsche und gepflegtem Körper erinnert, an Ballsäle, lichtdurchstrahlt, an schmeichelnde Tanzmusik – – an heiteren Lebensgenuß …
Näher und näher die Schritte … Das Rauschen, das Frou-Frou seidener Röcke …
Und dann … eine feine Welle zarten Wohlgeruchs.
Da – – reckte Hartwich den Arm aus …
Seine Finger glitten über ein Gesicht hin …
Ein gellender heller Schrei …
Und vornüber fiel die Unsichtbare – Hartwich in die Arme – – ohnmächtig vor Schreck infolge der jähen unvermuteten Berührung …
Ein Weib ruhte an des Steuermannes Brust …
Der Kopf des Weibes war seinem Gesicht so nahe.
Duft von Frauenhaar umgab ihn … Seide knisterte … Wohlgeruch täuschte eine romantische Liebesszene vor …
Liebesszene …!! Hier – hier in der Unterwelt …!! Liebesszene …!!
Hartwich hielt den Atem an, preßte die Lippen zusammen, straffte Körper und Geist, auf daß er sich klar darüber würde, ob er nicht doch träumte …!
Schwer hing die unsichtbare Bewußtlose in seinen Armen …
Kein … Traum …!! Leben – Erleben war’s …
Des Goldschatzes magische Kraft warf in neues unerhörtes Geschehen einen der selbstlosen Kämpfer wie in Nacht und Wunder hinein …
Als der Maultierzüchter Diego Rovenna um Mitternacht nach wüstem Zechgelage das Küstenstädtchen Parietto zu Pferde verließ und halb trunken in wildem Galopp die dürftige Straße entlangjagte, quollen über seine zuckenden bärtigen Lippen unaufhörlich wilde Flüche …
Er fluchte über sich selbst, seine unsinnige Spielwut, über seine Freunde in Parietto, die ihn heute völlig ausgeplündert hatten – auf alles fluchte er …!
Das arme Tier, ein starkknochiger Brauner, mußte des grausamen Herrn böse Laune am eigenen Leibe spüren …
Immer wieder jagte Rovenna dem Pferde die Sporen in die Weichen, immer wieder trieb er es zu tollem Galopp an, wollte, daß er samt dem Tiere stürzte, das Genick brach …
Aus war’s ja mit ihm …!
Diese Nacht hatte den Rest seiner Habe verschlungen.
Alles hatte er verspielt, bares Geld, dann seine Maultierherde, die Ländereien, die Hazienda …
Alles – alles …
Auf Ehrenwort …
Und Diego Rovenna war Spanier, hielt sein Wort, hatte außerdem auch zum Schluß den Schein unterzeichnet, der ihn zum Bettler machte … –
Bergauf ging die elende Straße …
Der Braune keuchte …
Warf Schaumflocken …
Da wurde Rovenna langsam nüchtern … Hielt auf einem Hügel an, riß den breitrandigen Strohhut vom gedunsenen, weingeröteten Kopf …
Der Nachtwind spielte in seinem vollen schwarzen Haar, das er stets schlicht zurückgestrichen trug …
Sein braunes, heute so tierisch verändertes Gesicht mit dem schwarzen Spitzbart, in dem noch Sekttropfen widerlich dufteten, wandte sich dem über den Bergen stehenden Monde zu …
Stier blickte Rovenna zum Nachtgestirn empor …
Ein neuer Fluch dann …
Er trabte weiter …
Und vor ihm her hasteten qualvolle Gedanken seiner Hazienda zu, seinem Heim, das nun nicht mehr sein Eigen war …
Vor acht Jahren hatte er sich, jung und unternehmungslustig, hier in die Wildnis von San Miguel begraben, hatte mit geringem Kapital, aber desto zäherem Eifer und Fleiß die Maultierzucht begonnen, meilenweite Gebiete gekauft – – und war ein reicher Mann geworden …
Reich – noch vor drei Monaten …
Da hatten Trunk und Spiel unten im Küstenstädtchen begonnen. Da war in den ehemaligen Madrider Advokaten Diego Rovenna, der wegen Unterschlagung von Mündelgeldern zwei Jahre lang hinter Kerkermauern gesessen, die alte unselige Leidenschaft wieder erwacht: das Spiel – die Karten – –!
Drei Monate nur …
Und heute … ein Bettler!!
Dahin all das mühsam Errungene – für immer dahin …! –
Ein zischender Seufzer glitt über Rovennas Lippen.
Die Reue kam …
Wie immer – –: zu spät!
Und dem braven treuen Braunen streichelt er jetzt den schweißfeuchten Hals …
Sprach mit dem Tiere wie mit einem menschlichen Wesen …
„Hätte ich nur Doktor Gouldens Warnungen beachtet … Er sah das Unheil kommen …“
Rührseligkeit packte ihn …
Die ganze Unausgeglichenheit seines Charakters offenbarte sich in den über sein Gesicht rollenden Tränen … –
Und weiter trabte der Braune bergan, kannte den Weg, fand zur einsamen Hazienda auch ohne Zügeldruck zurück, bog in den steinigen Pfad zwischen den Hütten der Angestellten ein und machte vor der Veranda halt.
Diego Rovenna wollte schwerfällig aus dem Sattel springen …
Ein Mann tauchte neben ihm auf – sein Diener Manuel …
„Sennor, das Observatorium brennt,“ rief der junge Bursche atemlos … „Wir haben bisher auf euch gewartet, wollten jetzt gerade hinüberreiten – ich und die drei Aufseher …“
Rovenna zuckte hoch …
„Brent … brennt?! Das … Observatorium?! – Du bist verrückt, Manuel …!“
„Dort der helle Schein über den Wäldern, Sennor! Seht nur! Es kann nur das Observatorium sein … Und vor drei Stunden läutete andauernd in eurem verschlossenen Zimmer das Telephon, Sennor … Ich konnte leider nicht hinein …“
Rovenna schaute gen Norden …
Dorthin, wo der rötliche Glanz den Nachthimmel unnatürlich färbte …
Brüllte dann:
„Zu Pferde!! Beeilt euch! Vorwärts!“
Fünf Reiter jagten dem Monte Rossa zu …
Auf Wegen, die keine Wege waren …
Ohne Aufenthalt …
Ohne Rücksicht auf die Pferde …
Kamen dem Brande näher und näher … Bogen in den langen Hohlweg ein, der zu der breiten Bergterrasse emporführte, auf der das steinerne Haus Doktor Gouldens stand … Bogen um eine kurze Ecke des Engpasses …
Und sahen dicht vor sich einen stolpernden, stürzenden Mann … verfolgt von drei zottigen Untieren – nicht Affe, nicht Mensch, und doch beides: Homgoris, Affenmenschen, Halbtiere!
Die drei Homgoris stutzten …
Auch die Reiter rissen die Pferde zurück, und Diegos Hand fuhr in den breiten Sportgürtel – zur Revolvertasche …
Ein Schuss knallte … noch einer …
Rovennas Begleiter feuerten gleichfalls, und die rostbraunen behaarten Geschöpfe verschwanden blitzschnell zwischen den Felsen in den Sträuchern …
„Teufel, was waren denn das für Bestien?!“ rief Rovenna. „Habt Ihr schon jemals solche Affenart hier angetroffen …? – Ich jedenfalls nicht!“
Da erhob sich der Mann, der dich vor den Pferden zu Fall gekommen war …
Lomatz war’s, Edgar Lomatz …
Sein Kinn blutete … Seine linke Hand war voller Rißwunden …
Aber sein Auge war klar … Und ein rascher taxierender Blick überflog die im Mondeslicht haltenden Reiter …
Dann trat er an den vordersten heran …
„Auf einem Ort, Sennor … Ein Wort unter vier Augen … Es … lohnt!“
Rovenna horchte auf …
Drängte seinen Braunen vorwärts, beugte sich zur Lomatz herab …
„Was gibt’s, Sennor? Werseid Ihr?“
„Einer, der ein … Milliardengeheimnis kennt … Einer, der Euch Milliarden an Goldbarren schenken kann, wenn Ihr mich schützen wollt …“
Lomatz flüsterte … flüsterte weiter …
Offenbarte das Geheimnis des Azorenschatzes dem … Bettler, dem Spieler, dem Manne, der in acht Jahren ein Vermögen erarbeitet und es dann in acht Wochen wieder verloren hatte …
Was er flüsterte, trug den Stempel der Wahrheit.
Und eine wilde Freude flammte da in des ehemaligen Advokaten widerspruchsvoller Seele auf …
„Gut, Sennor Lomatz … Ich nehme an … Meine vier Leute dort werden Euch zu meiner Hazienda bringen, sind mir treu ergeben und verschwiegen … Ich selbst reite zum Observatorium … Ich werde Eure Feinde zu mir einladen, und sie werden dann … die Sphinx wieder preisgeben müssen … – Laßt mich nur machen, Sennor Lomatz …! Gerade ich bin Euer Mann!“
Dann wandte er sich an seine Begleiter …
Ein paar Befehle – nichts weiter … Die Leute waren blinden Gehorsam gewöhnt. Dankbarkeit kettete sie an Rovenna. Entlassene Sträflinge waren’s, die hier in der Einsamkeit der Verachtung der Welt entzogen und von ihrem Herrn stets gut behandelt worden waren.
Manuel nahm Lomatz vor sich auf sein Pferd. Sie kehrten um, ritten zurück. Diego Rovenna setzte seinen Weg vorsichtig fort, den Revolver noch immer in der Hand, mißtrauisch den Rand des hohen Weges oben musternd, nach den zottigen Untieren ausspähend und … sich den Kopf zergrübelnd, woher diese Ungeheuer hier so plötzlich hatten auftauchen können …
Bemerkte nichts Verdächtiges …
Und – wurde doch aus dem Gestrüpp von drei schillernden Augenpaaren beobachtet …
Ahnte es nicht – kam um die letzte Biegung, sah plötzlich die Riesenfackel des lohenden Hauses vor sich, mußte den Braunen erst zur Vernunft bringen, der jetzt angstvoll rückwärts drängte …
Sah noch mehr, den grauen Schpindelleib der Sphinx, und neben dem Luftboot ein Dutzend jener merkwürdigen Geschöpfe, sah auf dem Deck drei Männer, einen der seltsamen Riesenaffen und zwei gelbe Rüden, die er nur zu gut kannte: die Hunde seiner Maultierhirten drüben auf der Hochebene!
Den Revolver faßte er fester …
Blieb am selben Platz halten und beobachtete, fürchtete die Homgoris, deren Existenz Doktor Goulden selbst ihm verschwiegen hatte. –
Pasqual Oretto, der Taucher, machte jetzt Gottlieb und Fator auf den Reiter aufmerksam …
„Es wird Sennor Rovenna, der einzige Nachbar Gouldens, sein …“ meinte er. „Ich werde ihm entgegengehen … Was darf er erfahren, was nicht?“
„Bringen Sie ihn nur her, lieber Pasqual,“ erwiderte Fator. „Ich werde mit ihm reden … Von dem Schatz natürlich kein Wort …“
Der Portugiese stieg die Außenleiter der Sphinx hinab. Unten drängte sich sofort Baru, der stärkste und älteste der Homgoris, an ihn heran …
In seiner unbeholfenen Ausdrucksweise fragte er Pasqual, was nun aus ihm und den übrigen Homgoris werden solle.
„Später, Baru, später …!“ meinte Pasqual Oretto freundlich. „Ihr habt ja bereits erkannt, daß wir euch alle als unseresgleichen, eben als Menschen, betrachten und danach behandeln … Lagert euch dort drüben … Ich muß jetzt den Reiter begrüßen, einen Freund Doktor Gouldens …“
Dies letzte hätte der Taucher besser für sich behalten sollen.
Er wußte nicht, welch unbändiger Haß in diesem Tiermenschen gegen den Mann lohte, der sie geschaffen, ihnen ein elendes Dasein in ihrer Halbheit aufgezwungen hatte.
Kaum war denn auch Gouldens Name an Barus Ohr gedrungen, als des riesenhaften Homgori dicht behaartes Negergesicht sich grauenvoll verzerrt …
„Goulden – – Freund von Goulden!“ wiederholte Baru und fletschte die mächtigen Hauer, die nur zu sehr noch an seine Gorillaabstammung erinnerten … „Freund von Goulden …!!“ kreischte er dann in schrillen Tönen … „In den Abgrund mit ihm …! In den Abgrund – wie John und Jack …!!“
Die übrigen Affenmenschen horchten auf …
Sahen, daß Baru den Taucher beiseite stieß und mit langen Sprüngen auf den Reiter losstürmte …
Hörten, wie Barus Fäuste den mächtigen Brustkorb zu dröhnendem aufreizenden Trommelschlag bearbeiteten …
Und – stürzten ebenfalls vorwärts in jäh entflammter Wut …
Eine Horde von Teufeln …
Ein Heer von Geschöpfen, die noch aus der Vorzeit zu stammen schienen …
Und all diese blitzschnell wieder völlig ins Tierische herabgesunkenen Wesen ließen jetzt die Fäuste wie Baru in wirbelnden Schlägen das Trommelfell benutzen …
Jagten so auf Diego Rovenna zu, der von diesem plötzlichen Angriff so überrascht war, daß er sekundenlang kein Glied rührte …
Dann aber machte das durch den ungewohnten Lärm und durch die im roten Flackerlicht des Brandes daherstürmenden Gestalten ebenso erschreckte Pferd einen Satz nach rückwärts, warf sich herum und galoppierte den Hohlweg abwärts …
Ließ sehr bald die gefährlichen Verfolger weit hinter sich … –
Rovenna hatte kaum bemerkt, daß die gräulichen Untiere ihm als Reiter nichts anhaben konnten, als er auch schon den zitternden Braunen zügelte und hier auf einem kleinen Plateau unterhalb des Hohlweges halt machte.
Mit Recht nahm er an, daß der Europäer, der die Sphinx verlassen hatte, ihm hatte entgegengehen wollen. –
Inzwischen war Pasqual denn auch den Homgoris nachgeeilt, so schnell ihn nur seine Füße tragen konnten. Am Engpaß unten traf er mit ihnen zusammen. Sie befanden sich schon auf dem Rückweg, und echt tierisch war es wieder, daß ihre Wut bereits völlig verraucht war und daß Baru nun mit stumpfer Gleichgültigkeit Pasquals erregte Vorwürfe hinnahm.
Der Portugiese wußte genau, wie man diese Halbtiere am leichtesten gefügig machte. Er hatte ja an ihnen bereits mancherlei Erfahrungen gesammelt, hatte mit Agnes und Gottlieb sich dem mächtigen Rücken dieser bedauernswerten Geschöpfe anvertraut, um recht schnell das brennende Observatorium zu erreichen.
„Menschen wollt ihr sein!“ fauchte er Baru an. „Und benehmt euch wie die Bestien?! – Was hat euch der Freund Gouldens zuleide getan? Nichts, nichts! Der Mann hat euch noch nie gesehen, ahnte bisher nichts von euch! – Schäme dich, Baru …! Wenn die weiße Miß, deren Freunde ihr sein wollt, von diesem Angriff auf den Reiter erfährt, wird sie euch verachten …!“
Baru, der Riese, senkte den Kopf …
Grunzte unzufrieden …
Der Gedanke, daß Agnes Sanden sich verachtungsvoll von ihm abwenden könnte, rief in seiner für rein menschliche Regungen durchaus zugänglichen Seele ein Gefühl von Reue und Ärger gegen sich selbst hervor.
„Baru wird mit Reiter Frieden halten …,“ gurgelte er in seinen mühsam erlangten Englisch …
Und er winkte den Seinen und eilte wieder den Engpaß aufwärts, dem brennenden Hause zu.
Pasqual schritt weiter …
Sah bald in der Ferne auf dem mondhellen Plateau den Reiter neben seinem Pferde stehen und begrüßte ihn dann in höflicher Weise, bat ihn, mit ihm zur Sphinx zurückzukehren, da nun jede Gefahr vorüber …
Diego Rovenna fragte zunächst, welcher Art denn diese riesenhaften Menschenaffen seien, die er hier auf San Miguel noch niemals angetroffen habe …
„Doktor Goulden hat sie gezüchtet, Sennor,“ erklärte der Taucher hastig. „In aller Heimlichkeit hat er diese Kreuzungsversuche zwischen Neger und Gorilla unternommen … Doch – folgen Sie mir jetzt, Sennor … Wir wissen noch nicht, was aus Goulden geworden ist … Seine beiden Neger sind tot, ebenso die alte Negerin …“
Rovenna überlegte …
Meinte: „Sie dürften kaum für diese Halbtiere einstehen können, Sennor Oretto … Besser ist, daß ich diese Geschöpfe nicht nochmals durch meinen Anblick reize … Ich bitte Sie aber dringen, mich auf meiner Hazienda besuchen zu wollen … Sie alle sind mir liebe Gäste … Ich möchte unbedingt erfahren, wie es um meinen Freund Goulden bestellt ist. Versprechen Sie mir, daß ich Sie alle bei mir erwarten darf …“
„Gern sag ich Ihnen dies zu,“ nickte der arglose Taucher. „Einer von uns, ein Graf Gaupenberg, ist schwer erkrankt und muß erst gesund gepflegt werden, ehe wir weiterreisen können. – Auf Wiedersehen, Sennor, – auf Wiedersehen …“
Diego Rovenna ritt heimwärts …
Ein anderer Rovenna als der, den Verzweiflung und Reue heute Nacht zu unsinnigem Dahinjagen auf steinigem Pfade getrieben hatten …
Das Azorengold pochte wie ein Lebenselixier aufmunternd, Hoffnungen erweckend und neue Kräfte entfaltend in seinen Adern ….
Die magische Macht der Goldmilliarden zog ein neues Opfer in ihre Netze …
Gaupenbergs schwerer Fieberanfall dauerte nur wenige Stunden.
Als der geniale Erbauer der Sphinx morgens gegen acht Uhr aus halber Bewußtlosigkeit erwachte, lag er in einem breiten bequemen Bett in einem großen, hellen, ihm völlig fremden Zimmer mit zwei Fenstern, dessen Ausstattung schlicht, aber geschmackvoll war.
An seinem Bett saß … Agnes Sanden …
Gaupenbergs immer klarerer, bewußter Blick ruhte eine geraume Weile voll tiefer Zärtlichkeit auf dem durch Leid und Enttäuschungen zu besonderer Eigenart gereiften holden Antlitz der Geliebten. Agnes hatte vor Übermüdung die Augen vorhin geschlossen und war gegen ihren Willen eingeschlummert.
Trotz ihrer übergroßen Erschöpfung hatte sie nicht geduldet, daß ein anderer die Wache an Gaupenbergs Schmerzenslager übernahm.
„Ich bin seine Freundin, seine Kameradin, und was ihn und mich verbindet, macht es mir zur Pflicht, ihn die Schreckensszenen im Turme rasch vergessen zu lassen,“ hatte sie zu Melanie Falz gesagt, die sich mehrfach erboten hatte, die Krankenwache zu übernehmen. –
Gaupenberg, der sich mit jeder Minute kräftiger fühlte, bewegte sich ein wenig. Und schon dieses geringe Knarren des Bettes genügte, Agnes zu ermuntern.
Ihre noch ein wenig verwirrten Augen begegneten denen Gaupenbergs …
Sie sah, daß die unnatürliche Fieberröte von seinen Wangen gewichen war. Rasch beugte sie sich halb über ihn …
Und – er lächelte dankbar und glücklich, flüsterte hastig:
„Wie gut du bist, Agnes …! Konnte es für mich Schöneres geben, als beim Erwachen deine Nähe?!“ – Seine Stimme vibrierte leicht, und bezwungen von tiefer, jäh aufquellender Zärtlichkeit, legte er den Arm um ihren Hals, zwang ihren Kopf näher und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn.
Agnes hob sich rasch. Flammende Röte färbte ihr schmales, feines Gesicht …
Wie ein Schwindel war es über sie gekommen …
Diese scheue Zärtlichkeit, diese körperliche Berührung hatten ihr mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß in ihrem Herzen die Liebe zu Viktor noch genau so hingebungsvoll und stürmisch pochte wie einst …
Und doch – ihr Mund, ihre abweisenden Augen verrieten nichts von dem, was in ihr vorging.
Freundlich, aber mit einer gewissen kühlen Zurückhaltung fragte sie:
„Wie fühlst du dich, Viktor?“
„Gesund, Agnes …! Völlig gesund! Der gebrochene Arm wird mir zwar noch etwas hinderlich sein, aber …“
Sein munterer Ton, seine lebhaften Worte waren allmählich nachdenklicher, leiser und gedehnter geworden. Mitten im Satz brach er ab …
Seine Augen wurden matt …
Urplötzlich war ihm die Erinnerungs an die letzten Stunden im feuerumlohten Turm mit unheimlicher Deutlichkeit gekommen …
Und diese jetzt glanzlosen, wie erloschenen Augen hingen mit bangen Fragen an Agnes’ zartem Antlitz …
„Wo … bin ich?“ flüsterte er …
„In der Hazienda Sennor Rovennas, des Freundes des armen Doktor Goulden …“
„Und … und …“ – er zögerte – „… ist die Fürstin Sarratow ebenfalls gerettet worden?“
„Nein … Sie hat sich nicht retten lassen … Fators Tochter Melanie wollte auch sie mit zur Sphinx empornehmen, aber Mafalda Sarratow stieß sie zurück.“
Gaupenberg schloß einem Moment wie betäubt die Lider.
„Arme Mafalda,“ murmelte er … „Das Schicksal hatte sie nicht verdient … Zweimal hat sie mir gestern das Leben gerettet, Agnes …“ Und er blickte sein Gegenüber zaghaft an … „Ich wäre undankbar und herzlos, wenn ich nicht vor aller Welt bekennen wollte, daß sie ihre schlechten Tage durch dieses entsetzliche Ende überreicht gesühnt hat … – Und – – Goulden, Agnes? Hat man noch Überreste seiner Leiche gefunden?“
Er fragte nach Goulden und dachte an Mafalda. Und daß er so dankbar ihrer gedachte, sprach nur für seinen Charakter.
Agnes hatte den Sessel ein wenig vom Bett abgerückt und wieder Platz genommen.
Sie ahnte, daß Viktor sich nur scheute, über Mafalda nach Einzelheiten zu forschen.
„Die Wasserleitungsrohre im Turme des brennenden Hauses müssen durch die Hitze geplatzt sein,“ berichtete sie ganz sachlich. „Das Feuer erlosch ziemlich plötzlich. Da außerdem das Hauptgebäude längst vollkommen ausgebrannt war, da auch der Ostwind gegen Morgen zum Sturm anwuchs und die Bandruine rasch abkühlte, konnten Pasqual und Faktor in das Innere des Hauses eindringen. Sie fanden von Gouldens Leiche nur noch geringe Überreste, die bereits bestattet worden sind, fanden den Turm völlig unter Wasser und leidlich unversehrt, konnten die Eisentreppe nach oben steigen und haben auch den Kuppelraum durchsucht. Mafalda Sarratows Leiche wurde nicht gefunden. Fator nimmt mit Bestimmtheit an, daß die Fürstin sich, als der Turm ganz von Flammen und Rauch eingehüllt war, aus einem Fenster in die gerade eingestürzten brennenden Dachteile des Hauptgebäudes gestürzt hat …“
Ihre Stimme war weich und mitleidig geworden …
„Ich bedaure die Unglückliche … Und ich gebe dir recht, Viktor, das Ende hat sie nicht verdient! Sie hat sich selbst gerichtet, hat sterben wollen. Anders ist ihre Weigerung, Melanie Falz zu folgen, nicht zu erklären …“
Wieder schloß Gaupenberg die Augen …
Stille – minutenlange Stille …
Dann fragte er leise:
„Und es ist unmöglich, daß sie sich gerettet hat?“
„Unmöglich …“
Gaupenberg atmete tief und schwer …
Abermals Stille … Eine Andacht volle Stille, wie ein letztes Gebet für die so grauenvoll ums Leben gekommene Abenteurerin
Gaupenberg richtete sich plötzlich etwas auf …
„Agnes,“ sagte er mit unendlicher Innigkeit, „nun ist die Frau tot, die sich zwischen uns beide gedrängt hatte … Agnes, Agnes – versuche zu vergessen …!“
Ein inbrünstiges Flehen war’s …
Und Agnes Sanden erwiderte schlicht und ehrlich:
„Laß mir Zeit, Viktor … Vielleicht werde ich vergessen können – vielleicht …!“
Er senkte wie mutlos den Kopf …
Hastiger, um ihn abzulenken, fügte sie hinzu:
„Wir sind nun alle wieder vereinigt, Viktor, bis auf Georg Hartwich und den tapferen Kabylen. Fator hat nun ebenfalls das Geheimnis seiner Person gelüftet. Er ist … Doktor Dagobert Falz, der greise Einsiedler von Sellenheim, nur verjüngt durch das Arkanum, das Lebenselixier des großen Parazelsus. – Sehr viel hätte ich hier noch zu berichten, Viktor … Jetzt nur das Wichtigste … –
Fator-Falz hat auf der Insel Mala Gura, dem mittleren der drei Robigas-Eilande, seine ihm vor mehr denn zehn Jahren entführte Tochter wiedergefunden, die von dem Präsidenten der Republik Patalonia zuerst als Kind adoptiert und dann verbannt worden war …“
Gaupenberg fiel ihr ins Wort …
„Und Hartwich, mein treuer Georg?“
„Hartwich dürfte sich noch auf der Insel Christophoro befinden. Doktor Falz mag dir das Nähere erzählen. Ich selbst weiß zu wenig von alledem. Wir hatten noch keine Zeit, gegenseitig all unsere Erlebnisse mitzuteilen. – Die Sphinx liegt hier unweit der Hazienda am Waldrande und wird von Gottlieb und Pasqual bewacht, die beide wohlauf sind. Doktor Falz und seine Tochter Melanie wohnen hier im Hause in den Zimmern neben diesem. Alfonso Jimminez ist unser Gefangener und an Bord der Sphinx einegesperrt. Lomatz gelang es leider, zu entfliehen. Er war’s, der den tapferen, opfermutigen Abd el Sarfa erschossen hat, als dieser an einer Stahltrosse zum Turmdach hinabklettern wollte, um dich und die Fürstin zu retten.
Zur Zeit durchstreifen die Homgoris, die Affenmenschen, die ganze Umgebung und suchen nach Lomatz. Wenn wir seiner wieder habhaft werden, Viktor, ist der Schatz unbestritten unser, der jetzt in einer Höhle der Insel Christophoro lagert.“
„Endlich unser – endlich!“ nickte Gaupenberg und seine Augen leuchteten auf. „Endlich können die Milliarden dann ihrer heiligen Bestimmung zugeführt werden, die Not unseres besiegten und geächteten Vaterlandes zu lindern! – – Agnes, keine Stunde wollen wir zögern, zunächst nach Georgs Verbleib zu forschen. Wir werden mit der Sphinx die Hazienda verlassen. Ich fühle mich frisch genug, den Befehl über mein Luftboot wieder zu übernehmen. Schicke mir Doktor Falz herein, Agnes … Mit ihm will ich das Nähere besprechen … Und wenn es dir keine Mühe bereitet, bringe mir etwas … Eßbares! Ich … habe Hunger!“
Agnes lächelte. „Gut, daß du Hunger hast, Viktor! Das ist ja das beste Zeichen der Genesung … – ich bin sofort wieder da …“
Und eilends schritt sie hinaus …
Ihr war so leicht, so frei ums Herz. Sie hoffte nicht nur, daß der Liebe Seligkeit ihr nun in klarer Schönheit aufs neue erblühen würde …! Nein – sie nahm dies für gewiß an! Mafalda war tot … Der Schatz geborgen … Die Feinde bis auf Lomatz unschädlich gemacht …
Sonnig und froh erschien ihr die Zukunft …
Und – ahnte nichts von dem geheimen Bündnis zwischen Lomatz und dem Herrn dieser Hazienda …
Nichts von der Funkdepeschen, die der Geheimagent von der Sphinx aus gestern Abend nach Taxata, der Hauptstadt von Patalonia, an den Präsidenten José Armaro gesandt hatte …
Nichts davon, daß die Privatjacht des allgewaltigen Armaro bereits unterwegs nach der Insel Christophoro war mit dreißig bewaffneten Matrosen an Bord …
Im Flur begegnete sie dem Sennor Diego Rovenna, dem Hausherrn …
In ihrer glückseligen Stimmung teilte sie ihm mit, daß Graf Gaupenberg erwacht und fieberfrei sei und Befehl gegeben habe, sehr bald die Hazienda wieder zu verlassen …
„Er will seine durch allerlei Zwischenfälle unterbrochene Forschungsreise möglichst rasch fortsetzen,“ erklärte sie noch, da Rovenna ein sehr enttäuschtes Gesicht machte. „Wir werden Ihnen also nicht mehr lange zur Last fallen, Sennor … In Ihr stilles Junggesellenheim haben wir doch recht viel Unruhe hineingebracht … Verzeihen Sie, ich muß weiter zur Küche … Gaupenberg hat Hunger …“
Und schlank und rank huschte sie weiter, ein lieblicher blonder Schmetterling von zartestem Duft keuscher Jungfräulichkeit …
Rovennas dunkle Augen starrten ihr nach …
Und – ein leiser Fluch glitt über seine bärtigen Lippen … Die hohe kluge Stirn des einstigen Advokaten, der in Madrid als Anwalt so begehrt gewesen, zog sich kraus …
Er überlegte …
Und eilte hinaus, dem massiven Stallgebäude zu, kletterte hier auf einer Leiter zum Heuboden empor und bahnte sich einen Weg durch die lockeren Heubündel bis in eine frei gemachte Ecke, wo Edgar Lomatz auf einem Lager von Decken, beleuchtet von einer Stallaterne, den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief.
Rovenna rüttelte ihn wach …
„Hallo, Amigo, werdet munter …! Es gilt zu handeln … Der verdammte Graf will uns in kurzem mit seinen Freunden davonfliegen. Er ist fieberfrei und leider zu frisch. – Was tun, Sennor Lomatz?“
Lomatz saß aufrecht, rieb sich die Augen … Gähnte …
„Hm – Ihr fragt noch, Rovenna?“ meinte er achselzuckend. „Auf derlei Abenteuer scheint Ihr nicht eingestellt zu sein …! Die Sachlage ist klar, und unsere Pläne sind im Moment entworfen. Ihr habt vier Leute zur Verfügung … Diese vier werden zunächst dem Taucher und dem alten Gottlieb Knorz auf der Sphinx ein wenig … den Schädel kitzeln … Zwei Hiebe mit dem Revolverkolben, und die beiden sind reif für feste Stricke. Dann kommen die Herrschaften hier im Hause heran, Gaupenberg, die Sanden und der … gefährliche Doktor Falz nebst Tochter …! Bei einiger Vorsicht haben wir die ganze Gesellschaft in einer halben Stunde als Gefangene in den Kellern Eures Hauses. Dann …“
„Ihr vergeßt die Hauptsache,“ unterbrach der Maultierzüchter ihn sehr ernst. „Ihr vergeßt die zwölf Homgoris, die der blonden Sennorita so treu ergeben sind, daß …“
Lomatz lachte …
„Diese Scheusale sind doch jetzt nicht hier, Sennor Rovenna …! Bevor die Untiere von ihrer Suche nach mir zurückkehren, ist alles erledigt. Kehren Sie zurück, so knallen wir sie nacheinander nieder …“
„Und wenn sie vorzeitig sich wieder einfinden?“
„Haben wir nicht Büchsen, Revolver?! Ich bin ja kein erstklassiger Schütze, aber solch eine Bestie werde ich schon treffen!“
Rovenna blieb bedenklich …
„Treffen – das glaube ich schon! Nur – diese zottigen Riesen haben menschlichen Verstand, Amigo! Die werden uns nicht blindlings vor die Mündungen rennen!“
„Desto schneller müssen wir eben handeln!“ zerstreute Lomatz des Züchters berechtigte Einwürfe. „Rasch, weiht nur Eure Leute sofort ein, Rovenna! Zuerst die Sphinx! Und dann die vier hier im Hause. Ist das geglückt, steigen wir mit der Sphinx auf Nimmerwiedersehen auf, holen das Gold und …“
„Holen – so einfach holen?!“ meinte Rovenna, zweifelnd den Kopf schüttelnd. „Der Steuermann Hartwich weilt noch auf der Insel Christophoro. Auch das nehmt Ihr zu leicht!“
„Durchaus nicht! Natürlich landen wir nachts auf dem Eiland und überrumpeln Hartwich, falls er wirklich noch am Leben …“
„Der Doktor hofft es …“
„Mag er! – Nun vorwärts, Rovenna! Beweist, daß Ihr auch bei solchen Gelegenheiten Euren Mann steht! Ich helfe mit, sobald die Sphinx in Eurer Gewalt ist. Vorher möchte ich mich doch nicht zeigen.“ –
Diego Rovenna verließ den Heuboden und den Stall.
Der Plan seines Verbündeten behagte ihm nicht … Er befürchtete, es könnten Zwischenfälle eintreten, die alles verderben würden …
Doch auch er sah andererseits ein, daß vielleicht ein rasches Zupacken noch am aussichtsreichsten sei … –
Wenige Minuten später hatte er mit seinem Diener Manuel und den drei Aufsehern alles nötige besprochen.
Die Würfel waren gefallen … Die Ereignisse nahmen ihren Gang, – – freilich einen ganz anderen Gang, als irgend jemand voraussehen konnte …
Mela Falz stand neben dem Diwan, auf dem ihr Vater, noch völlig angekleidet, seit einigen Stunden ruhte.
Er schlief …
Still und ergriffen betrachtete Mela die durchgeistigten Züge seines Gesichts, das nicht alt, nicht jung wirkte und eine merkwürdige Verschwommenheit aller Alterskennzeichen dem prüfenden Blick der Tochter offenbarte. –
Er hatte seinem Kinde in kurzen Umrissen während der Fahrt vom ausgebrannten Observatorium zur Hazienda seines Lebens seltsame Bahn geschildert, hatte auch erwähnt, daß er in einem geheimen Keller der Ruine Sellenheim, die er, ein Einsamer, käuflich erworben, das Laboratorium jenes Alchimisten Luithard Brandfels entdeckt hatte, dem es als Schüler des berühmten Parazelsus gelungen war, das Elixier des Lebens herzustellen und zu verbessern.
So wußte Mela denn auch bereits von der besonderen Tragik seines Daseins, daß er durch den Zaubertrank wohl um Jahrzehnte verjüngt, aber auch verdammt worden sei, bis ans Ende aller Tage, bis zum Weltende über die Erde zu wandern als ruheloser Pilgerer.
Auch die letzten Vorgänge in der Schatzhöhle auf Christophoro hatte er ihr zuerst gebeichtet, daß er sich durch die Sprengkapsel habe in Atome zerschmettern lassen wollen, und das wenige Sekunden vor der ungeheuren Explosion, die den Höhleneingang wieder freilegte, eine unsichtbare Gewalt ihn wider seinen Willen zurückgerissen und in eine tiefe Felsspalte gedrückt habe, wo die Stoßkraft der Explosion ihm nichts hatte anhaben können. Diese unsichtbare Gewalt, sagte er betont, sei wohl lediglich ein seelischer Zwang gewesen, immerhin auch so ein Beweis, daß der Fluch, als ewiger Jude alle Geschlechter zu überleben, sich an ihm erfüllen würde.
Hieran dachte Mela jetzt, als sie sein Antlitz sinnend betrachtete …
In zartester Weise weckte sie ihn dann. Falz war im Augenblick munter, setzte sich aufrecht und schaute sein Kind weltverloren, wie in den Banden besonderer Gedanken, mit tiefer Zärtlichkeit an …
Zog sie nun neben sich auf den Diwan und flüsterte seltsam tonlos:
„Waren es Träume, die meine Seele mit Grauen erfüllt haben? Oder waren es wieder jene Visionen, die sich nur zuweilen offenbaren und mir stets Zukünftiges mit greifbarer Deutlichkeit zeigen? Ich … weiß es nicht …! Ich möchte über diese Geschichte vorläufig nicht sprechen, bitte dich nur, mir jetzt sofort auch den Rest deiner Erlebnisse als Adoptivtochter des Präsidenten Armaro zu erzählen. Ich habe meine bestimmten Gründe für diese Bitte … – Du warst so weit gekommen, als du der alten Mulattin, die der Kapitän Tosca zu dir geschickt hatte, zusagtest, spät abends dich an einer Pforte des Palastes einfinden zu wollen …“
Er hielt Melas Hände in den seinen, und so, wieder eng aneinander geschmiegt, begann das rotblonde Mädchen, das trotz seiner achtundzwanzig Jahre noch so überraschend jung und frisch aussah, mit leiser Stimme zu sprechen …
* * *
Pünktlich um elf Uhr stellte Isabella Armaro sich an der kleinen Mauerpforte ein. Mit größter Vorsicht hatte sie den Palast verlassen, damit ihr Besuch bei dem sterbenden Kapitän jedem verborgen bliebe.
Den Schlüssel zu der starken kleinen Holztür hatte sie sich ebenfalls in aller Heimlichkeit durch einen der Gärtner des Parkes unter einem Vorwand verschafft.
Als sie nun die Pforte geöffnet hatte, stand die alte Mulattin, eingehüllt in eine schmierige Mantille, bereits wartend auf der engen Seitengasse.
Isabella hatte sich gleichfalls vermummt und Kleider einer ihrer Dienerinnen angelegt, dazu einen dichten Spitzenschal um den Kopf geschlungen.
Hastig eilten die beiden Frauen nun dem Hafenviertel der Hauptstadt zu, deren landschaftliche Schönheiten sie fast zu schade als Residenz eines Gewalthabers über eine unruhige, zumeist farbige Bevölkerung erscheinen lassen. –
Kapitän Tosca, der Vertraute des Präsidenten, bewohnte ein kleines, zwischen modernen Geschäftspalästen eingepferchtes Häuschen mitten in einem einer Wildnis gleichenden Gartens.
Die Mulattin eilte voraus und verständigte den Kranken von der Ankunft Isabellas.
Dann ließ sie diese in die mit Reiseandenken über und über gefüllte Stube, in der neben einem einfachen eisernen Bett eine Petroleumlampe auf einem Tisch brannte, eintreten.
In den sauberen Kissen des Bettes lag der zum Skelett abgemagert Kapitän, der einst der Führer jener Privatjacht Armaros gewesen, auf der Mela Falz von Hamburg aus nach Patalonia geschafft worden war und auf der sie auch in Notwehr den Wüstling Juan Armaro, den einzigen Sohn des allgewaltigen Präsidenten, mit dem Messer niedergestochen hatte.
„Entferne dich Eustachia!“ rief er dem alten Weibe dann krächzend zu. „Entferne dich …! Und wehe dir, wenn du an der Tür horchst!! Ich werde hier mit meinem Revolver durch die Türfüllung schießen! Nimm dich also in acht, alte Hexe!“
Eustachia grinste und verschwand. Sie war diese Art Behandlung schon gewöhnt. Sie wußte, daß der Kapitän doch an ihr hing, genau wie sie ihm treu ergeben war.
Dann flüsterte Tosca dem Mädchen zu:
„Näher heran, Exzellenza … Näher heran! Eine Beichte darf nicht laut herausgebrüllt werden, besonders nicht eine solche Beichte, Exzellenza …“
Das Mädchen schob den Sessel bis dicht an das Tischchen, auf dem neben der Lampe ein Revolver lag.
„Exzellenza,“ begann der Schwerkranke abermals nach einem furchtbaren Hustenanfall, „Exzellenza, mit mir geht’s zu Ende … Wenn ich ein gläubiger Christ wäre, würde ich einem Priester meine Sünden beichten … Da ich aber von der ganzen heuchlerischen Pfaffenbrut nichts wissen mag und außerdem mein Sündenregister länger ist als unsere Hauptstraße hier in Taxata, habe ich mir gedacht, daß es richtiger sei, nur meine Hauptsünden derjenigen einzugestehen, die es angeht, und das sind Sie, Exzellenza …“
Er schwieg erschöpft…
Bisher hatte Isabella keine Gelegenheit gehabt, irgend etwas zu äußern. Jetzt fragte sie hastig und halb befehlend:
„Nicht wahr, Ihre Beichte geht meine Herkunft an, Sennor Tosca? Längst ahne ich, daß es Lüge und Trug, daß man mich hier im Innern des Landes im Urwalde ganz allein krank und erschöpft aufgefunden hat …“
Der Kapitän nickte …
„Ja – eine Lüge, die ich gestützt habe, Exzellenza … – Hören Sie mich an …“
Und nun berichtete er all das, was in Mela Falz’ jungem Hirn durch das schwere Nervenfieber ausgelöscht worden war …: Die Reise über den Atlantik auf des Präsidenten damaliger Jacht, die Szene in der Kabine, Juan Armaros Tod …
Und mit einem Schlage erwachten da auch die anderen Erinnerungen zu greifbarem Leben: Die Kartenlegerin in Berlin, Juan Armaros stürmisches, freches Liebeswerben, sein zügelloser Wutanfall, sein brutales Ersticken ihrer gellenden Hilferufe, indem er sie würgte, bis sie die Besinnung verlor …
Alles bekam wieder Leben, Gestalt, was einst geschehen …
Nur etwas blieb der Entführten unbekannt, wollte trotz allem Grübelns auch jetzt nicht wieder lebendig werden:
Der Name ihrer Eltern!
Und den konnte selbst Kapitän Tosca ihr nicht nennen. Er kannte ihn nicht. Nur Ihren Vornamen wußte er: Melanie!
Und … „Melanie – also Melanie und Berlinerin, Deutsche!“ wiederholte das junge Mädchen träumerisch … hoffnungsfroh … voller Sehnsucht nach ihren fernen Eltern … –
Der Kapitän mochte ahnen, was in ihr vorging …
„Exzellenza,“ flüsterte er, nach Luft ringend, „Exzellenza, vielleicht glauben Sie nun, daß Sie Ihre Eltern wiederfinden könnten. – Exzellenza, zehn Jahre, über zehn Jahre sind seit jenen Ereignissen verstrichen. Bedenken Sie auch, daß Deutschland inzwischen den Weltkrieg verloren hat, daß Millionen Deutscher in fremder Erde ruhen, und daß unter diesen gerade die sein können, deren Aufgabe es einst gewesen sein mag, Sie zu suchen. Auch Ihre Eltern, Exzellenza leben vielleicht nicht mehr. Außerdem, wie wollen Sie jetzt nach so langer Zeit wohl Nachforschungen einleiten, da Sie nicht einmal den Namen Ihrer Eltern kennen?! Nein, Exzellenza, lassen Sie die Vergangenheit begraben sein …! Sie sind Patalonianerin geworden, leben hier in Glanz und Luxus …“
„… als eine Fremde!“ rief Melanie erregt dazwischen. „Nur als eine Fremde, Sennor Tosca …! Nie ist die Sehnsucht nach den Meinen in mir zur Ruhe gekommen! Und ich werde heimkehren, werde meine Eltern finden! Eine innere Stimme sagt es mir! Mein Adoptivvater wird mir meinen Vatersnamen nennen müssen! So sehr ich ihm auch zur Dankbarkeit verpflichtet bin, weil er die gemeine Handlungsweise seines Sohnes an mir wieder gutzumachen suchte, ebenso sehr ist er mir jetzt durch sein schamloses Leben entfremdet worden …!“
„Ah – Sie meinen seine jugendliche Geliebte, diese blendend schöne Fremde, diese Abenteurerin,“ krächzte Tosca. „Ja – ganz Taxata ist empört, weil er’s so toll treibt … Und wenn die Taxaner empört sind, muß es wahrhaftig schon schlimm sein, denn von Moral weiß das Volk hier verflucht wenig …!“
Er hustete wieder …
Nachdem der Anfall vorüber, flüsterte der Kapitän von neuem:
„Exzellenza, ich fühle mich schuld daran, daß Sie als Deutsche nun hier in diesem Banditenstaate leben müssen … Meine Stunden sind gezählt. Der Doktor hat es mir gesagt. Armaro kann sich also höchstens noch an meiner … Leiche rächen. –
Exzellenza, falls der Präsident Ihnen gegenüber die Angabe des Namens ihrer Eltern verweigern sollte, so … erinnern Sie ihn nur an die Dynamitkiste, die ich im untersten Raum der Jacht aufstellen und mit einem Zeitzünder versehen mußte, damit die Jacht mit Mann und Maus unterginge … Mit all den Zeugen der Schandtaten seines Sohnes!“
Melanie starrte den Kapitän ungläubig an …
„Ist … das wahr?“ stammelte sie.
„Leider, Exzellenza, leider … Und gerade dieser Massenmord fraß dauernd an meinem Gewissen … – Ich hätte Armaros Befehl nicht ausführen sollen, denken Sie vielleicht?! Oh Exzellenza, was hätte das genützt?! Gar nichts! Ein anderer hätte es dann getan, und – ich wäre ebenfalls gemordet worden!“
Melanie saß wie versteinert da …
Wenn sie sich auch von dem Charakter ihres Adoptivvaters bisher durchaus keinerlei allzu gute Vorstellungen gemacht hatte, – einen solchen ungeheuerlichen Schurkenstreich hatte sie ihm nicht zugetraut! –
Toscas heiseres Lachen weckte sie aus trübsten Gedanken …
„Exzellenza, und wenn Armaro die absichtliche Versenkung der Jacht ableugnen sollte, so halten sie ihm mal eine ebenso gemeine Geschichte vor… Fragen Sie ihm, ob er den Priester Mario Lopez kennt …! – Fast ein halbes Jahrhundert ist’s her, als der damals noch nicht zwanzigjährige Armaro diesen jungen Pater zwang, ihn mit einem geraubten, heftig sich sträubenden Mädchen, der Tochter eines New Yorker Millionärs, zu trauen und eine Urkunde darüber auszustellen. Mit dem Revolver hatte er den Pater bedroht. Und als er seinen Willen durchgesetzt hatte, bestach er mich, und wir beide und noch ein paar Lumpe brachten den Pater heimlich nach einem Inselchen, warfen ihn dort in die Brandung, die jedem den Zutritt so dem Eiland verwehrt. Mario Lorenz entrann den tobenden Wogen und hat die Insel Christophoro lebend erreicht. Was aus ihm geworden, weiß ich nicht. –
Jene junge Amerikanerin aber starb in der Wildnis am Sumpffieber, Exzellenza … Und – – Armaro beerbte sie! Das hatte er gewollt! Dieses Geld war der Grundstock seines Reichtums, seiner Macht!“
Mela hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt …
Grauen und Entsetzen ließen ihr Herz jagen …
Also das war der Mann, den sie bisher Vater genannt hatte, vor dem sie erst in den letzten Monaten sich fern gehalten hatte, weil er beständig mit dieser Abenteurerin zusammen war, die angeblich bei ihm den Posten einer Privatsekretärin bekleidete! –
Ein neuer endloser Hustenanfall des Kapitäns, begleitet von Atemnot, zwar Mela, die Mulattin herbeizurufen …
Und als sie dann eine Stunde später wieder ihre Gemächer im Palast erreicht und kaum die Verkleidung abgelegt hatte, trat José Armaro ganz überraschend bei ihr ein …
Schon sein Gesichtsausdruck sagte Mela, daß sie beobachtet worden sei, daß er von ihrem Gang zu Tosca durch Spione unterrichtet war.
Aber Präsident Armaro, selbst als Mann Ende der Sechzig noch eine stattliche, imponierende Erscheinungen, war ein viel zu gewiegter Diplomat, um Mela irgend etwas merken zu lassen von seinen geheimsten Gedanken.
Herzlich und freundlich wie immer begrüßte er sie durch respektvollen Handkuß, nahm Platz und kam erst auf Umwegen zum Zweck dieses nächtlichen Besuches.
Mela leugnete nicht, bei Tosca gewesen zu sein.
Als sie den Präsidenten dann fragte, ob er ihr nicht den Namen ihrer Eltern nennen wolle, erklärte er kühl, daß auch ihm dieser Name unbekannt sei.
Bisher hatte sich Mela mühsam beherrscht …
Nun aber brach all das hervor, was ihre Seele am Bett des Kapitäns mit Abscheu und Grauen erfüllt hatte …
Eine Unklugheit ohnegleichen war es von ihr, diesem Manne jetzt in ihrer sinnlosen Erregungen nicht nur die Versenkung der Jacht, sondern auch das an dem Pater Mario Lopez und der Amerikanerin verübte Verbrechen in leidenschaftlichen Worten vorzuhalten.
Mit keinem Worte unterbrach Armaro sie, blickte nur ernst vor sich hin und sagte dann, als sie ganz erschöpft schwieg:
„Also den Wahnideen eines mit dem Tode Ringenden glaubst du so ohne weiteres?! Tief traurig ist das für mich. Ich sehe jetzt ein, wie wenig du trotz all meiner Güte mir innerlich näher gekommen bist. – Nichts von diesen unerhörten Anschuldigungen ist wahr … Du bist im Urwald gefunden worden – allein, krank … Niemand kennt deinen wahren Namen, niemand … Und auch all der übrige Unsinn – von Dynamit und einem Pater – ist viel zu lächerlich, als daß ich mich verteidigen müsste …“
Er erhob sich …
„Diese Nacht hat uns beide entfremdet, Isabella … Solltest du mein Haus verlassen wollen, so steht dem nichts im Wege. Nur bitte ich dich, insofern auf mich Rücksicht zu nehmen, als du jedes Gerede dadurch …“
Sie unterbrach ihm …
„Ich werde … nach Deutschland reisen … Ich werde meine Eltern finden …! – Wir … sind quitt miteinander, Exzellenz … Sie haben mich soeben gröblich belogen. Sie kennen meinen Vatersnamen. Morgen früh verlasse ich Taxata …“
Und sie wandte sich und verschwand in ihrem Schlafzimmer … –
Ruhelos wälzte sie sich dann in den Kissen hin und her …
Erhob sich wieder, füllte aus der eisgekühlten Kristallkaraffe ein Wasserglas und trank in gierigen Zügen …
Stellte plötzlich das halbgeleert Glas wieder hin …
Sonderbar schmeckte das Wasser heute …
Leicht bitter …
Und dieser bitteren Geschmack machte sich jetzt immer mehr bemerkbar …
Ein jäher Verdacht stieg da in Mela auf …
Gift … vielleicht Gift …!!
Alle traute sie Armaro jetzt zu – – alles!
Angst packte sie …
Verstört griff sie nochmals nach dem Glase …
Und … prüfte den Inhalt durch den Geruchssinn.
Dann – ebenso jäh ein Schwindelanfall …
Das Glas zerschellte am Boden …
Und Mela sank matt auf dem weichen Jaguarfell vor ihrem Bett zusammen …
Wurde ohnmächtig … –
Norgens acht Uhr bereits verkündeten schwarz umrahmte Extrablätter der Bevölkerung der Hauptstadt, daß die Tochter des Präsidenten einem Herzschlag erlegen sei und daß die feierliche Beerdigung der tropischen Hitze wegen schon am folgenden Tage stattfinden würde … –
Und – ein pomphafter Leichenzug bewegte sich dann wirklich durch die Straßen der Stadt …
Ein leerer Sarg wurde im Erbbegräbnis der Familie Armaro beigesetzt.
Zur selben Stunde erwachte Mela auf derselben Hazienda, die sie schon vor Jahren kennen gelernt hatte. Jetzt als streng bewachte Gefangene des allmächtigen Gewalthabers!
Monate lebte sie hier in einem Zimmer mit vermauerten Fenstern, wurde nie ins Freie gelassen, wurde wie eine Verbrecherin behandelt.
Und doch schien Armaro dieses Gefängnis noch nicht sicher genug …
Eines Nachts schaffte man Mela zur Küste …
Ein Motorkutter brachte sie dann nach Mala Gura – zusammen mit zwei Mulatten, die sie dort bewachen sollten. Nur vier Wochen blieben diese beiden farbigen Unholde, die mehr als einmal sich an ihrer Gefangenen zu vergreifen suchten, am Leben. An einen windstillen Abend landeten auf dem Eiland fünf seltsam geformte Barken, denen zwölf schlanke rotbraune Gestalten entstiegen. Die beiden Mulatten schlichen sich an die Fremden heran, – Mela hörte in ihrer Steinhütte noch ein paar gellende Schreie … Und … sah ihre Wächter nie wieder …
War nun allein …
Ein weiblicher Robinson …
Bis der tapfere Kabyle die verborgene Hütte fand und all das geschah, was Doktor Falz miterlebt hatte …
* * *
Als Mela ihre Erzählung nun beendet hatte, fügte sie noch hinzu:
„Und jene Abenteurerin, die damals Armaros Geliebte war, sah ich … im brennenden Turme wieder … Es war – – Mafalda Sarratow …!!“