Der Nachtzug Haidarabad-Dschaipur lief in den Bahnhof des Städtchens Balmir ein. Drei strahlende Riesenkugeln bewegte der Regenwind an ihren Masten träge hin und her. Auf dem Bahnsteig warteten nur wenige Reisende; ein paar englische Offiziere, zwei hochgewachsene Brahmanen, vier Europäer in langen Gummimänteln und ärmeres eingeborenes Volk für die billigste Wagenklasse.
Im Schatten eines der Masten der Bogenlampen stand ein schlanker Mensch in graugrünem Sportanzug, eine kleine Reisetasche in der Linken. Diese Bogenlampe war nicht eingeschaltet. Wenn ihre Nachbarin ein wenig stärker pendelte, traf der Lichtschein doch zuweilen das bartlose, hagere, leicht gelblichbraune Gesicht dieses Reisenden, der Grund zu haben schien, erst im letzten Augenblick den Zug zu besteigen.
Der Mann ahnte nicht, daß er beobachtet wurde.
Links von ihm hinter einem Wellblechhäuschen duckte sich ein anderer Mann in das Dunkel hinein: klein, mager, langer Kopf, vorgebautes Kinn, dicke blonde Brauen, darunter halb zugekniffene Augen, kurze Nase, bartlos. – Er hatte den Kragen der Ölpelerine hochgeschlagen, trat nervös von einem Fuß auf den anderen, murmelte im Selbstgespräch: „Verdammt, – was das Weib nur von ihm will!! Seit gestern ist sie hinter ihm drein …“
Und hinter dem Mann im Sportanzug, dem der feine Sprühregen nur angenehm war mit seinen die Aussicht hindernden Schleiern, lehnte wieder im Schatten eines Pfeilers der Vorhalle eine Frau, von der nichts zu sehen war als der seidene Regenmantel, der weiche schwarze Lackhut, darunter ein dicker Knoten blonder Haare, über den hinweg ein weißer Schleier sich bis zum Kinn hinab zog. Vor der Frau stand ein einfacher Koffer. Sie verhielt sich ganz regungslos. Ihre Augen hafteten wie gebannt auf der Gestalt dessen, der vielleicht dorthin unterwegs war, wo ihre einzige Sehnsucht weilte.
Die Bremsen des Zuges kreischten. Braune Schaffner öffneten faul die Türen. Die Wartenden verschwanden in den Wagen.
Hinten am Zuge befanden sich die beiden Schlafwagen.
Der Mann im Sportanzug bestieg den einen, reichte dem Beamten ein Trinkgeld, sprach einige Worte. Ein Abteil mit tadellos weißem Bett nahm den Mann auf. Ihm folgte der andere im Ölumhang. Auch er flüsterte etwas, zeigte dem Schaffner eine zerdrückte, abgerissene Karte, auf der links ein kleines Lichtbild aufgeklebt war. Der Beamte dienerte sofort unterwürfig.
„Sehr wohl, Herr Inspektor. Also das Abteil nebenbei. – Bitte.“
Auch dieser Mann zog hinter sich die Tür zu, war allein.
Als letzte betrat die Frau den Wagen. Abermals erhaschte der Schaffner ein Trinkgeld. Und die Frau erhielt die Kabine links neben dem Gelbbraunen. Sie setzte ihren Koffer ab, stellte sich an das Gangfenster.
Der Zug glitt weiter – schneller und schneller, hinein in die Ebenen, Dschungel, Wälder und Klüfte Radschputanas.
Eine Laderampe flog vorüber. Zahme Elefanten beluden bei elektrischem Licht Plattformwagen mit schweren Stämmen, trugen das Holz in den gewickelten Rüsseln, bewegten sich gravitätisch, folgten jedem Wink des zwischen den Riesenohren hockenden Mahuts.
Das Bild verschwand. Der Zug durchbrauste ein Tal. Ein Eingeborenendorf, von Dornenverhauen gegen Tiger und Panther umgeben, tauchte auf. Vor den Hütten flackerten Feuer. Dunkle Gestalten drehten sich auf einem freien Platz im Reigen. Vielleicht ein Dorffest …
Wieder dunkle Nacht. Und die Frau starrte geradeaus, ließ den Zugwind ihr Gesicht kühlen. – Ach – diese Jagd regte sie noch immer auf … Gestern hatte sie die Spur verloren. Dann in Haidarabad erkannte sie ihn wieder trotz des gefärbten Gesichts. – Welche Angst hatte sie ausgestanden, ihn vielleicht gerade hier in Indien aus den Augen zu verlieren – gerade hier.
Abermals ein Dorf. Dicht an den Bahndamm schmiegte es sich an. Der Tiger fürchtete den Schienenweg, auf dem fauchende Ungetüme so und so oft vorüberrasten. Auch hier lodernde Feuer, Tänze … Doch wohl irgend ein Fest zu Ehren einer der vielen Hindugottheiten, dachte die Frau.
Sie starrte in die nächtliche Landschaft hinaus. Aber nur ihre Augen nahmen die verschwommenen Bilder auf. Sie hörte nicht das schnell verhallende Brüllen eines jagenden Tigers, nicht das Gekreisch einer aufgescheuchten Affenherde, nicht das dumpfe Quaken der Riesenfrösche in einem nahen Sumpf. Ihre Ohren lauschten auf das kleinste Geräusch, das aus der schmalen Kabine links von ihr hervordrang.
Wenig wars, was sie hörte. Das Rollen der Räder, das feine Klirren der Scheiben verschluckte zu viel von dem, was vielleicht der Mann dort jetzt trieb.
Nur einmal vernahm sie das Schnappen eines Schlosses. Es mußte das der Handtasche des Gelbbraunen gewesen sein.
Wenn sie nur wüßte, ob er das Bett wirklich benutzen würde, ob er sich entkleidete, unter das engmaschige Netz schlüpfte …
Er war ja so schlau … Er könnte auf der nächsten Station wieder aussteigen, während sie vielleicht zu schlafen wagte.
Und – sie war müde, so müde. Die erschlaffende Hitze Indiens hatte in wenigen Tagen den Rest ihrer Kraft fast aufgebraucht. Und die Aufregungen dieser Verfolgung, diese stete Furcht, er könne ihr entschlüpfen und sie könnte dann nie mehr finden, was sie suchte, – diese flackernde Furcht machte sie noch matter, noch elender.
Aber – sie durfte nicht schwach, mutlos werden! Sie ahnte, daß das Ziel nahe – dieses Ziel, das sie nicht kannte, von dem sie nur so wenig wußte.
Nein – nicht schwach werden – nicht an schlafen denken!
Und hastig betrat sie ihre Kabine, schob die Tür zu, stellte den Koffer auf den Schemel, entnahm ihm ein kleines Kästchen. In ihrer Rechten funkelte eine winzige Spritze. Sie schob den linken Ärmel des Mantels hoch. Die Nadel der Spritze drang in die weiße Haut ein. Das Gift, das köstliche, trügerische Gift teilte sich dem Körper mit, gab neue Spannkraft.
Und wieder stand sie im Gang und lauschte. Stunden rannen hinweg, – wie der Weg, den der Zug zurücklegte – schnell, unaufhaltsam, schnell für die Frau, deren Gedanken nur dort in jenem Abteil weilten.
Daß gerade sie hinter ihm her, ahnte er nicht. Wie sollte er auch?!
Dann ein Gedanke: Wie unvorsichtig, daß sie hier im Gang blieb! Wenn er jetzt die Tür öffnete, heraustrat, wenn er sie ansprach, wenn sein Argwohn rege wurde …!
Sie huschte hinweg. Ihre Kabinentür schnappte ins Schloß. Sie stand und dachte: „Wie unvorsichtig! – Daran war die Abspannung schuld! Nun bin ich wieder frisch …!“
Ihre Augen glitten über das Bett hinweg auf die polierte Holzwand zu, die die beiden Kabinen trennte. Sie prüfte diese Wand. Gewißheit wollte sie haben. Der Schlaf tat ihr so not … Vielleicht hatte er sich niedergelegt. Dann dürfte auch sie es wagen.
Sie öffnete den Mantel. Darunter trug sie ein Lodenkostüm, ganz dünner Stoff; dazu eine unscheinbare grauseidene Bluse.
Sie knöpfte die halblange Jacke auf. An der linken Seite des Gürtels hing an zwei silbernen Kettchen ein kurzes, breites Dolchmesser in reichverzierter Scheide. Sie nahm es in die Rechte – kniete auf dem Bett. Und in geduldiger, lautloser Arbeit entstand in dem polierten Holz ein winziges Loch.
Jetzt brachte sie das rechte Auge an die kleine Öffnung.
Und was sie sah, machte sie stutzig. Ihr Gesicht nahm einen unsicheren Ausdruck an …
Der Gelbbraune hatte zum Fenster seiner Kabine hinausgeblickt, als der Mann in der dünnen Ölpelerine hastig in den Wagen sprang. Das Licht des Vorraumes hatte den kleinen Mageren hell genug beschienen. Und da war der im Sportanzug zusammengezuckt, schnell vom Fenster zurückgetreten, hatte Sekunden in finsterem Nachdenken dagestanden und dann ganz vorsichtig die Tür seiner Kabine handbreit aufgeschoben, gelauscht …
„Sehr wohl, Herr Inspektor …!“
Noch jetzt hörte der Gelbbraune diese Worte, noch jetzt das ärgerliche: „Leise, – verdammt! – Leise …!“
Er wußte Bescheid. Einer der Meute war hinter ihm, seit er die alte Radschaburg droben im Lande seiner Väter verlassen hatte. Er kannte diesen Hageren flüchtig vom Ansehen; Händler wollte der sein, wie man ihm mitgeteilt hatte …
Er wußte jetzt Bescheid … –
Drüben im Westen zitterte ein Inselvolk vor dem geheimen, unheimlichen Raunen, das durch die zahllosen Millionen Indiens ging. Sie mochten dieses Raunen deuten, ergründen. Und – sie verstanden’s; wie sie alles konnten – alles; wie sie die ganze Welt beherrschten … –
Er setzte sich auf den Bettrand und sann. Stunden rannen dahin …
Er zog die flache, goldene Kapseluhr. Der Deckel sprang. Die Brillanten darauf sprühten. Und die Zeiger kündeten die zweite Morgenstunde.
Es wurde Zeit …
Er entnahm der Reisetasche einen Revolver, entsicherte ihn, schob ihn in die rechte Rocktasche; holte einen jener Gummimäntel hervor, die sich zu einer winzigen Rolle zusammenwickeln lassen. Dann griff er unter das Futter des Bodens, das ein wenig losgetreten war. Ein zackiger Stern aus Elfenbein war hier verborgen, eingehüllt in den Fetzen eines kostbaren Schals.
Er hielt den Stern gegen das Licht. Die Zacken waren kurz; in dem Mittelkreis befand sich ein kleines Bild: eine auf Wolken thronende Göttin, im blonden Haar eine schillernde Krone aus Diamanten, die vorn in eine wie segnend ausgestreckte Hand auslief. – Winzige Brillanten waren in das Elfenbein überall da eingelassen, wo die Wolkenkönigin sie als Schmuck trug. Das Bildchen gleißte und glitzerte. Und über das ernste Gesicht des Mannes huschte es hin wie Verzückung; seine Augen wurden weich, träumerisch, sehnsuchtsvoll. –
Er barg den Stern in einem Ledersäckchen auf der Brust. Dann flog die Handtasche mit dem übrigen nichtssagenden Inhalt zum Fenster hinaus.
Und wieder schaute er nach der Zeit.
Ah – noch drei Minuten. – Er mußte genau achtgeben. Sonst fand er in der Dunkelheit den Weg nicht, den er erst zweimal zurückgelegt bisher.
Er blickte nach der Notbremse hinüber. Nahm unter dem Rock einen langen Dolch hervor, durchschnitt den dünnen Draht, der den Hebel der Bremse in der Ruhelage hielt.
Er zählte langsam; – sechzig, – wieder sechzig, – nochmals.
Dann ein Griff. Der Hebel flog herum. Sofort das gellende Kreischen der Bremsklötze. – Im Nu hatte er den dünnen Mantel übergezogen, schaltete die Deckenlampe aus, stellte sich dicht an das offene Fenster.
Jetzt stand der Zug; jetzt ein Sprung – ein paar Sätze – und der Urwald, die Wildnis, nahm ihn schützend auf.
Inspektor Stuart Burne von der politischen Polizei saß auf dem Bettrand seiner Kabine und feuchtete einen kleinen Holzbohrer mit Speichel an.
Geräuschlos entstand ein kleines Loch nach der Nebenkabine hin. Burne blickte hindurch, nickte lächelnd.
Ah – seine Hoheit war nicht zu Bett gegangen; seine Hoheit saß wie er nur auf dem Bettrand. –
Stuart Burne war nicht ohne Grund hinter dem einzigen Mann dreingehetzt worden, von dem man mit Sicherheit wußte, daß er während der letzten Monate zu irgend einem geheimen Zweck zweimal für eine Woche aus seiner Residenz verschwunden war. Wohin – niemand wußte es bisher. Aber – man mußte es wissen! Denn – es ging irgend etwas vor in Indien – irgend etwas! Und wenn diese Millionen von braunen Fanatikern erst einmal der Freiheitstaumel gepackt hatte, wenn diese Millionen urplötzlich einen Kampf begannen, wie ihn vor einigen siebzig Jahren die unselige Einführung des Enfieldgewehres und dessen mit Rindertalg und Schweineschmalz eingeriebene Patronen bei den eingeborenen Truppen aufflammen ließ, dann würde nicht ein Engländer lebend dieses Land verlassen …
Dieser Kampf würde anders sein, als der, den damals Nena Sahib leitete. Heute würden ungezählte gebildete Hindu und Mohammedaner sich finden, die nicht nur die Glut des Hasses zu alles vernichtenden Flammen zu schüren wüßten, – nein, die es von den Europäern auch längst gelernt hatten, wie man diese Millionen willenloser Leiber lenkte und zur alles Fremde hinwegfegenden Woge formte. –
Ein Raunen ging hier durch die zweihundert Millionen Menschen, die in dumpfem Hoffen auf den Sieg ihrer Rasse über die verhaßten Weißen dahinvegetierten.
Und nie war die Zeit günstiger für eine solche Sturmflut wilder Freiheitsbegeisterung gewesen als jetzt, wo die ganze Welt noch siech war nach dem fast fünfjährigen Morden auf den Schlachtfeldern Europas, wo selbst die Sieger sich krampfhaft bemühen mußten, ihre wankenden Staatskörper zu stützen, wo der bis zum Wahnsinn gesteigerte Haß der triumphierenden Übermacht auch jetzt nach vier Jahren sich noch immer nicht genug tun konnte mit raffiniert ausgeklügelten Demütigungen der Unterlegenen und mit schlecht verhehlten, von Angst diktierten neuen Unterdrückungen.
Brach hier in Indien ein neuer Weltbrand aus, dann sprang das Feuer sofort auch auf Mitteleuropa über, wo die ohnmächtige Wut von weiteren achtzig Millionen nur auf den Moment lauerte, die schlau ersonnenen Ketten zu sprengen.
Deshalb hieß es wachsam sein – stets, überall! Deshalb mußte dieses geheimnisvolle Raunen, das hier wie ein Zug unsichtbarer Vögel mit seltsamen Stimmen einer neuen Verheißung über die Lande flatterte, dieses Raunen von einer Gottheit, die alle Völker unter ihrer segnenden Hand vereinigen würde, zum Schweigen gebracht und die, die es in richtiger Einschätzung der Empfänglichkeit der indischen Völker für neue religiöse Offenbarungen künstlich hervorgerufen hatten, rechtzeitig stumm gemacht werden …
Stuart Burne sah jetzt den Elfenbeinstern blinken, sah den Ausdruck verzückter Sehnsucht auf dem edelgeschnittenen Antlitz des Mannes, der von Millionen geliebt und verehrt wurde, der als erster sich seiner Reichtümer entäußert hatte zum Wohle der Darbenden.
Stuart Burne sah noch mehr, eine helle Stelle, ein Fleckchen mit krausem Rande drüben im polierten Holz der anderen Wand.
Und er lächelte wieder, entblößte das Gebiß einer Bulldogge dabei, schob den Unterkiefer triumphierend vor.
Die Frau drüben in der dritten Kabine schien den gleichen Pfad zu wandeln. Nun wußte er es bestimmt; ganz bestimmt. – Nur – weshalb dieses Interesse für Mahadur Mirat, den Radscha des Berglandes Gohdwura, – weshalb?!
Stuart Burnes Lippen preßten sich zusammen. – Ob man ihm allein nicht zutraute, das Geheimnis zu ergründen, wohin Mahadur Mirat unter so viel Vorsichtsmaßregeln jetzt zum dritten Male seine Schritte lenkte?!
Ob die hohen Herren es für ratsam gehalten hatten, noch ein Weib zu Hilfe zu nehmen?!
Burne kniff die Augen zu Schlitzen, sann nach. – Wer konnte die Frau sein? Er kannte doch alle Geheimagentinnen der politischen Abteilung. Gestern hatte er in Haidarabad diese Frau unverschleiert gesehen. Sie war ihm eine völlig neue Gestalt.
Aber – sie war ihm auch sofort beachtenswert erschienen. Nicht nur, weil sie den Radscha von Gohdwura nicht aus den Augen ließ. Nein – sie hatte ihm als Mann gefallen, mehr noch, ihre eigenartige Schönheit, diese Schwermut, ausgegossen über holde Züge, hatte sofort seine nur zu leicht aufflackernden Sinne erregt. Er war ja Frauenkenner, war ein Feinschmecker. Blonde Weiber mit so großen, dunklen Rätselaugen, mit so leuchtend roten Lippen, mit dieser etwas kurzen vollen Oberlippe und so schmalem Nasenrücken schätzte er als Vulkane, die jeden Augenblick lodernde Gluten verbreiten können.
Die Weiber – Stuart Burnes einzige Schwäche! Er rauchte nicht, er trank nicht, spielte nicht, wettete nicht. Er war nur Kriminalinspektor, nur, – falls er nicht gerade das Unglück hatte, einer zu begegnen, die seine rege Phantasie zum Arbeiten brachte. Er spielte gern mit lüsternen Gedanken. Sie hatten ihm schon viel Ärger bereitet, die Weiber und diese Gedanken … –
Stuart Burne schrak zusammen. Verdammt! Schon wieder auf Abwegen, schon wieder dieses verteufelte Prickeln in den Nerven …
Die Bremsen des Zuges mit ihren mißtönenden Lauten hatten ihn aufgerüttelt.
Was bedeutete dieses Halten mitten im Urwald? Vielleicht ein Baumriese über den Schienen? Vielleicht eine heißgelaufene Achse?
Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus, stutzte.
Eine Frauengestalt bog gerade um den letzten Wagen des Zuges, glitt tief gebückt den Bahndamm hinab.
Burne sprang nach dem vorhin gebohrten Löchlein.
Ah – die Nebenkabine dunkel …
Er begriff; ließ seinen Handkoffer zurück, riß die Tür auf, fand im Gang ein Fenster offen, zwängte sich hindurch …
Der junge Radscha fühlte sich ganz sicher. Einen kurzen Blick noch nach dem Zug hin, nach der Lokomotive, wo ein paar Beamte sich gegenseitig schlaftrunken anbrüllten. Dann bog er in den schmalen Waldpfad ein.
Eine gute Vorbedeutung. Der Mond trat hinter den Wolken hervor; der Regen ließ nach. Milde Helle schimmerte durch die Laubkronen des schnell lichter werdenden Urwaldes. Hügelige Steppe begann. Mannshohe Gräser säuselten im Nachtwind. Einzelne Bäume lagen wie schwarze Klexe über dem Rand des Grasmeeres.
Der Pfad lief jetzt schnurgerade weiter. Dann senkte er sich. Sumpf begann. Eine primitive Hängebrücke aus dicken Baststricken schwankte unter dem einsamen Wanderer hin und her. Ein morastiges Flüßchen hauchte da unten Fieberdünste aus. Träge zog ein Krokodil im Wasser dahin, warf kleine Wellen auf, die der Mond in Silberfischchen verwandelte. Ein wilder Büffel wälzte sich im Schlamm. Wasservögel kreischten, schrien auf.
Der Pfad hob sich wieder, durchschnitt einen Dschungelgürtel. Eine Lichtung öffnete sich. Dort rechts die dicken Dornenverhaue eines Dorfes, des letzten, bevor die menschenleere Einöde begann.
Abermals der Urwald mit der feuchtwarmen, stickigen Luft. Dschungelgras, Gestrüpp, Dornendickicht ringsum wie Mauern. – Der Pfad teilte sich oft. Dann blieb der Radscha stehen, suchte nach den geheimen Marken am nächsten Baume, nach dem in die Stämme eingebohrten Ast einer anderen Baumart, der die Richtung wies.
Er eilte dahin, ohne sich umzublicken. Niemand begegnete ihm. Nur Getier huschte zuweilen über den Weg, schlanke, geschmeidige Schlangenbeißer, die so zahm werden wie Hunde, Stachelratten, auch einmal ein Rudel lärmender Wildschweine. –
Zwanzig Schritt hinter ihm, zuweilen noch näher, hielt sich die Frau im dunklen Seidenmantel. Zuerst war sie ängstlicher mehr zurück gewesen. Jetzt hatte sie gemerkt, daß der, der doch der Richtige war, der es sein mußte trotz allem, hier vor Verfolgern sich sicher wähnte.
Die Wirkung des trügerischen Giftes dauerte noch an. Die Frau kannte keine Furcht. Wer das bereits mit zwanzig Jahren durchgemacht, was ihr ein höhnisches Geschick auf die schwachen Schultern geladen hatte, scheute nicht die Nacht mit ihren Schrecken, belächelte die, die in ihren Weiberröcken vor jeder Spinne aufkreischen.
Wenn der, dem sie sich an die Fersen geheftet hatte, halt machte und die Bäume betastete, duckte sie sich auf der Schattenseite des Pfades zusammen, verschmolz mit dem ungewissen Dunkel in eins.
Und hinter ihr wieder der dritte; einer, der es verstand, unbemerkt zu bleiben; der bereits in Gedanken die Mühe von Monaten in dieser Nacht gekrönt sah.
Stuart Burne ließ sich Zeit. Oft war er fünfzig Meter hinter der Frau; oft entschwand sie seinen Blicken. Er wußte, daß die beiden da vor ihm denselben Weg hatten, und daß der Radscha an den Kreuzungen die Bäume nach Zweigen absuchte, wußte jetzt, was diese Zweige bedeuteten, die nicht zu den Bäumen gehörten. –
Abermals Grassteppe.
Eine Herde Tschikara-Antilopen raste über den Pfad. In der Ferne kläfften Hunde, leuchtete flackernder Schein.
Der Radscha stand regungslos. Stand und sah den breiten, neuen Pfad, den Elefanten, Menschen, Pferde hier in das Gras gestampft hatten. Und er folgte dieser Bahn, die auf die flackernden Lichter dort drüben zulief.
Bald hatte er ein Dutzend Zelte vor sich. Jene großen, doppelwandigen, eleganten Wohnzelte der hohen indischen Kolonialbeamten, die mit ihrer Badeeinrichtung, ihren Ventilatoren – mit ihrer ganzen sinnreichen Ausstattung jedes Hotel ersetzen.
Er sah die Jagdelefanten mit pendelnden Rüsseln dastehen, sah auf Pfählen die Köpfe erlegten Steppenwildes, darunter die Ameisenhaufen, deren Bewohner die Schädel in kurzem so sauber benagen und kein Knöchlein beschädigen.
Ein Jagdlager also …
Er atmete erleichtert auf, eilte zurück, eilte an zwei Gestalten vorüber, die dicht in das Gras geschmiegt ihn vorüberließen.
Die eine Gestalt richtete sich auf, wollte wieder hin nach dem schmalen Wildpfad, wollte …
Stuart Burne jubelte. Das Jagdlager kam ihm wie gerufen. Allein für ihn wärs ein böses Wagnis gewesen, den Radscha und die, die sich hier irgendwo zusammenfanden zu dunklem Treiben, zu überraschen.
Die Frau prallte zurück, als Burne ihr den Weg vertrat.
„Folgen Sie mir!“ befahl er kurz. „Wir werden gemeinsam weiter arbeiten.“
Die Frau zögerte.
„Wer sind Sie?“ fragte sie unsicher.
„Kriminalinspektor Burne. Und – auch hinter dem Radscha von Gohdwura drein – wie Sie, Miß. – Kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir finden dort Verbündete. Jeder Engländer wird mein Verbündeter, wenn er meinen Ausweis sieht.“
Die Frau zögerte noch immer. Als Burne den Radscha erwähnte, hatte sie wie abwehrend die Hände erhoben. Jetzt senkte sie hilflos, verzweifelt den Kopf.
„Ich … ich suche …“ – sie wollte fortfahren … „keinen indischen Radscha …“
Aber Burne fiel ihr schon ins Wort. „Ich weiß Bescheid. Sie suchen wie ich den Ort, wo diese braune Bande Märchen wie das von der neuen Göttin über den Wolken ersinnt, um Unruhe ins Volk zu tragen. – Vorwärts! Sie sind natürlich eine Geheimagentin. Wahrscheinlich von der Sektion Bhagalkur. Dort bin ich wenig bekannt.“
Sie schritt wie im Traum neben ihm.
In ihrem Innern nur eine verzweifelte Stimme: „Du bist umsonst all die Monate über Meere und Länder geeilt – umsonst! Du hast die Spur verloren! Du bist von Haidarabad ab einem Falschen gefolgt! Eine Ähnlichkeit hat dich genarrt!“
„Wie heißen Sie, Miß?“
Da kam sie zu sich. Und da wurde auch sofort ein neuer Gedanke in ihr lebendig: Dieser Mann sprach soeben von einer neuen Göttin über den Wolken! – Und – in ihrer Brust bewahrte sie ein Geheimnis, das sie bisher niemandem anvertraut hatte, selbst dem nicht, der ihr nun doch entgangen war, – eines der merkwürdigsten Geheimnisse, das es je gegeben, das keines Menschen Phantasie sich ersinnen konnte und das vielleicht daher auch etwas Wahres hinter sich haben mußte.
Göttin über den Wolken!
Und auch der Mann in der Nebenkabine, der nun ein Radscha sein sollte, hatte ein Elfenbeinbildchen in der Hand gehalten, – genau das Bild jener Königin, von der ein Toter einer lebenden Maschine einst Wunderdinge berichtete.
Ganz plötzlich wurde es der Frau jetzt klar! Hier bestanden Zusammenhänge zwischen ihrem Geheimnis, diesem Radscha und dem Elfenbeinstern, die sie ergründen mußte! Hier galt es, etwas zu schützen, was ihr selbst als Vermächtnis eines in weher Sehnsucht Dahingegangenen heilig war.
Blitzschnell war all das durch ihr Hirn gejagt.
„Ich heiße Hella Dörcksen,“ sagte sie ruhig. Es war die Wahrheit. Aber dann folgten die Lügen: „Sie haben recht. Ich bin Geheimagentin. Doch nicht staatlich angestellt. Ich handele im Auftrag eines großen Syndikats, das an der Erhaltung des jetzigen Zustandes hier in Indien mindestens ebensoviel Interesse hat, wie die Regierung selbst.“
„Ah – ich verstehe. – Wohl das neue Platinsyndikat?“
„Vielleicht.“
„Ich höre es Ihrem Englisch an, Miß Dörcksen, – Sie sind Deutsche.“
„Nein – Norwegerin.“
Hunde kamen den beiden entgegengestürmt, Bestien, die noch abends das frische Blut einer Antilope geleckt hatten, die halb toll waren vor Mordgier nach diesen ersten Jagdtagen.
Burne stellte sich schützend vor Hella Dörcksen, zog den Revolver, schoß vor der Meute in die Erde.
Ein riesiger Köter, Kreuzung von russischem Steppenhund und Dogge, sprang den Inspektor blitzschnell an. So unvermutet geschah’s, daß der nicht mehr zum Schuß kam.
Da – neben ihm ein Feuerstrahl, dicht an seiner Wange vorbei.
Hella hatte gefeuert. Mit Kopfschuß sank der Hund, von Burnes Faust zurückgeworfen, zu Boden.
Hindudiener eilten herbei, Soldaten folgten. Das Lager erwachte. – Fackeln flackerten auf. Befehlende Stimmen durchkreuzten den Lärm.
Hella und Burne standen inmitten einer aufgeregten Menge, wurden vorwärtsgeschoben, halb gestoßen, bis vor das große Zelt.
Dort wartete bereits ein großer, schlanker Mann mit grauem Spitzbart. In der Eile hatte er einen hellen Staubmantel übergezogen. Seine harten, tiefliegenden Augen musterten den von dem rötlichen Licht der Fackeln in wachsender Helle phantastisch bestrahlten Menschenhaufen und die beiden Fremden, die man willenlos vor ihn drängte.
„Diebsgesindel …! Den besten Hund haben sie erschossen,“ gröhlte ein Riese von farbigem Unteroffizier, auf dessen offenem Rock die Gedenkmünzen heißer Kämpfe zu Ehren des großen Inselvolkes klirrten. Er konnte sich schon ein offenes Wort vor seinem Oberst erlauben, der Unteroffizier Chassim Marattu.
„Wer sich nachts so allein in der Wildnis herumdrückt, hat kein gutes Gewissen,“ fügte er hinzu.
Oberst Jaffersons befehlende Handbewegung genügte. Die Menge teilte sich, wurde zum Halbkreis. Und Hella und Burne waren die Bedränger los.
Stewart Burne verbeugte sich, lächelte ein wenig selbstbewußt, reichte dem Oberst das abgerissene Papier mit dem kleinen Lichtbild und der eigenhändigen Unterschriften des Vizekönigs von Indien.
Howard Jafferson winkte einen Fackelträger heran, hob den Ausweis gegen die Lichtquelle.
Sein Gesicht veränderte sich. Er streckte Burne mit ein paar Worten der Entschuldigung die Hand hin. Und der Inspektor beeilte sich als Gentleman, Hella Dörcksen dem Oberst vorzustellen.
Geheimagentin …! – Jaffersons Verbeugung vor der Verschleierten fiel etwas knapp aus. – Nur eine Detektivin! Ein Beruf, den eine Dame kaum wählt …!
Dann schob er den Zeltvorhang zurück. Ein einladender Wink mit der schmalen, leicht gebräunten Hand.
Burne sagte zu Hella: „Bitte, Miß Dörcksen.“
Und die drei verschwanden nun im Innern des Riesenzeltes. –
In dessen Arbeits- und Empfangsraum standen zierliche Bambusmöbel. Auf dicken Linoleumplatten lag ein kostbarer Perser. Eine Karbidkrone mit drei Flammen verbreitete weißes, ruhiges Licht.
Hella und Burne saßen in bequemen Sesseln neben dem Mitteltisch. Der Oberst hatte sich zwanglos an den Schreibsekretär gelehnt. Der Inspektor begann leise:
„Hier haben die Wände zu leicht Ohren, Herr Oberst. Bitte, vielleicht entfernen Sie die Dienerschaft. Es handelt sich um sehr wichtige Dinge.“
Jafferson griff neben sich, schwang eine kleine Glocke. Im Nu erschien ein dunkelbrauner älterer Hindu.
„Gudschra, niemand bleibt im Zelt. Ich brauche euch vorläufig nicht.“
Der Hindu verneigte sich mit über der Brust gekreuzten Armen und huschte hinaus.
„Bitte, sprechen Sie, Herr Inspektor,“ meinte der Oberst.
Stuart Burne erklärte, weshalb er und Hella hinter dem Radscha von Gohdwura her waren. Jaffersons Mienen wurden reger.
„Ah, – die Göttin über den Wolken,“ sagte er ebenso leise wie Burne gesprochen hatte. „Auch in meinem Regiment erzählen sich die Leute viel von dieser auf Wolken thronenden neuen Gottheit, die zuweilen besonders Erwählten am Himmel sichtbar werden soll. – Ganz recht, Herr Inspektor“ – und sein Gesicht wurde drohend – „natürlich alles nur ein schlauer neuartiger Trick unserer Ruhestörer zur Beeinflussung der Volksseele.“
Hella Dörcksen dachte: „Ihr mißtrauischen Toren! Ich weiß jetzt besser als ihr, daß hier wohl ein Geheimnis, aber kein klug berechneter Schwindel vorliegt.“ Und weiter dachte sie wieder wie vorhin: „Ich werde die schützen, denen die Königin über den Wolken heilig ist wie auch mir.“
Jafferson flüsterte lebhafter: „Gut, Master Burne, es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen. Ich habe fünfzig meiner besten Leute als Treiber hier. Morgen wollen wir einen Tiger einkreisen …!“ Seine Lippen zogen sich schmal, drohten denen, die die zweihundert Millionen farbiger Leiber hier zu einem gefügigen Ganzen einen wollten.
Dann zu Hella: „Miß, darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? – Sind Sie wirklich Beauftragte des Platinsyndikats? Ich meine, Sie können doch getrost zu uns volles Vertrauen haben.“
Und er suchte den dichten weißen Schleier, der jetzt bis zum Munde aus Höflichkeit hochgeschoben war, mit den Blicken zu durchdringen. – Was verbarg sich dahinter? Ein häßliches oder alltägliches Antlitz?
Hella hörte etwas wie Mißtrauen aus Jaffersons Worten heraus. – Nur das nicht – nur nicht Argwohn erregen! Dann war sie verloren. Fragte man sie nach irgend einem Papier, das ihre Mission bei dem Platinsyndikat – den Namen kannte sie bisher nicht einmal! – bestätigen sollte, so würde man sie hier festhalten, bis alles geklärt war. Der Inspektor würde dann dafür sorgen, daß er erfuhr, wen er eigentlich vor sich hatte.
Langsam hob sie mit beiden Händen den Schleier bis in die Stirn, schaute Jafferson voll an.
„Gewiß, Herr Oberst. Das Platinsyndikat bezahlt mich,“ sagte sie gelassen.
Jafferson hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet, stotterte, ganz verwirrt von so viel eigenartigem Liebreiz:
„Ah, Miß Dörcksen, – das – das trifft sich gut. Sie werden dann Gelegenheit haben, hier meinen Freund Crosterbroux – Thomas Crosterbroux, den Generaldirektor – begrüßen zu können.“
Hella rann ein Eiseshauch über den Rücken. Aber – sie lächelte ganz wenig …
„Ich würde mich freuen, die persönliche Bekanntschaft Master Crosterbroux’ zu machen. Leider dürfte aber dazu kaum Zeit sein. Ich halte es für meine Pflicht, dem Radscha sofort wieder zu folgen. Ich darf seine Spur nicht verlieren. Master Burne wird mir recht geben, wenigstens muß einer von uns beiden unverzüglich aufbrechen. Und ich hätte keine Ruhe, wenn ich hier untätig …“
Sie schwieg. Und draußen Männerstimmen.
Und wieder ging ihr der eisige Hauch über den Leib.
Nun ein tiefer Baß vor dem Eingang:
„He – Jafferson, dürfen wir eintreten?“
„Ah – da ist Crosterbroux schon,“ meinte der Oberst.
Hella duckte sich zusammen. – Verloren! – Verloren! gellte eine Stimme in ihrem Innern. – Doch – nur einen Bruchteil von Sekunden die sinnverwirrende Bestürzung.
Der Oberst rief: „Bitte – nur herein …! Es gibt hier eine kleine, reizende Überraschung.“
Crosterbroux’ Ringkämpfergestalt mit dem bartlosen Gesicht eines alten Schauspielers trat ein. Hinter ihm Leutnant Sydney Baalk, Jaffersons Adjutant.
Hella hatte sich erhoben.
„Master Crosterbroux,“ sagte sie schnell. „Sie kennen mich, wenigstens dem Namen nach. Ich möchte Sie sofort für ein paar Minuten allein sprechen.“
Thomas Crosterbroux wurde so viel Schönheit gegenüber nur Kavalier. Hella war schon im Vorraum, winkte ihm. Er folgte ihr.
Der Platz draußen vor dem Zelt lag leer. Das Lager war wieder zur Ruhe gekommen.
Zwei Meter vor dem Zelteingang standen zwei eiserne Stangen, in deren Ringe je zwei Fackeln geklemmt waren. Träge zog der Qualm des brennenden Harzes dicht über der Erde hin.
Crosterbroux beugte sich zu Hella hinab.
„Miß, handelt es sich um etwas Geschäftliches?“ fragte er leise. Er war nun wieder er selbst geworden.
„Ja. – Doch – bitte bringen Sie mir einen Likör heraus. Ich fühle mich sehr matt … – es handelt sich um … um neue Platinfundstellen …“ Das letzte raunte sie ihm ins Ohr.
„Sofort, Miß, sofort …“ Er verschwand im Zelt.
Und Hella Dörcksen war mit einem Satz bei den Fackeln, riß zwei heraus, schleuderte die eine dicht vor den Zelteingang, halb unter den Vorhang von gummiertem Stoff. Sie wußte, verbrennen würden die Männer da drinnen nicht. Jedes Messer schaffte ihnen schnell einen Ausweg ins Freie. Aber – sie würde Zeit gewinnen …
Sie raffte die Röcke hoch, lief – die Lagergasse hindurch, an den Elefanten vorbei, den niedergetretenen Weg entlang – dem Dschungelpfade zu …
Sie hatte ihn erreicht. Bog nach rechts ein, blieb stehen, schaute sich um …
Wüster Lärm von dort, wo jetzt feurige Lohe haushoch emporzüngelte …
Sie lief weiter, die andere Fackel noch immer in der Rechten.
Schnurgerade ging hier der Wildpfad. Und hier hatte der leichte Regen nicht mehr die ausgedörrte Erde erquickt. Gräser, Sträucher hatten fahle, welke Spitzen.
Hinter der Fliehenden jetzt das Kläffen der Hunde. Sie schaute abermals zurück. Der Mond stand gerade über dem Pfad. Reiter kamen um die ferne Biegung; kleine Tierkörper rasten vor ihnen dahin; auch dort Fackellicht …
Der Weg stieg an. Einzelne Felsen traten auf. Das Dickicht wurde lichter. Und vor Hella jetzt eine Steppe, endlos weit, so recht geeignet, jemand zu hetzen …
Ein Felsblock stand dicht am Wege. Hella kletterte hinauf, hielt die Fackel hoch und prüfte die Windrichtung. Der Qualm zog dem Jagdlager, den Verfolgern zu.
Der rechte Arm des jungen Weibes fuhr nach hinten, schnellte vor. Die Fackel flog in ein ausgedörrtes Gestrüpp. Knisternd, zischend leckten Flämmchen hoch, vereinten sich, schossen höher, verneigten sich vor dem Wind, sprangen weiter wie tänzelnde Gnomen, dehnten sich in die Breite, wurden zum lohenden Gürtel.
Hella stand noch immer auf dem Felsblock. Die furchtbare Erregung der letzten Viertelstunde fiel plötzlich wie ein die klare Überlegung in jähen Wahnsinn verwandelndes Zaubergewand von ihr ab.
Was – was hatte sie getan …?! Brandstifterin …! Und jetzt noch – das Leben all der Jagdteilnehmer drüben war durch ihre Schuld von den Flammen des brennenden Dschungels bedroht …!
Ein Zittern überkam sie. Sie schwankte; vor ihren Augen wurde der lodernde Dschungel zu lauter rasend schnell sich drehenden Feuerrädern; das trügerische Gift der kleinen Spritze wirkte nicht mehr; matt glitt sie herab von dem rauhen Stein, lag nun regungslos im Gras.
Hinter einem zweiten Felsblock richtete sich die Gestalt eines Mannes auf. Es war der junge Radscha von Gohdwura. Er hatte die beiden Revolverschüsse gehört, die drüben im Jagdlager den Hunden gegolten hatten. Sein Mißtrauen war rege geworden. Mit aller Vorsicht hatte er sich dem Lager erneut genähert, hatte es beobachtet, war dann aber wieder davongeeilt, da er nichts entdeckte, was ihn beunruhigen konnte.
Aber gerade hier auf der Höhe des Pfades hatte er nochmals zurückgeblickt; hatte den Weg entlang, den er soeben gegangen, ein flackerndes rötliches Licht huschen gesehen, hatte dann ein Weib erkannt, eine Fackel in der Rechten, hatte den Lärm der Meute vernommen, weit hinten andere Fackeln bemerkt.
So wurde er Zeuge, wie die Frau den Dschungel anzündete.
Jetzt schritt er auf die Ohnmächtige zu, kniete nieder, hob ihren Kopf …
Das Mondlicht traf voll das blasse Gesicht Hella Dörcksens.
Des Fürsten Augen weiteten sich; wie eine Lähmung war dieses ungläubige Staunen; er starrte und starrte; wie eine Gruppe aus totem Stoff waren diese beiden Lebenden, die der lodernde Dschungel mit seinem Fackelschein hell bestrahlte. Nur die Blicke des jungen Radscha wechselten den Ausdruck. Denn seine Gedanken waren: „Eine Ähnlichkeit – nichts weiter!“ – So suchte er den Bann von sich abzuschütteln.
Seine Rechte streifte den Schleier noch höher, auch die tief in die Stirn fallende Welle des blonden Haares nach oben …
Und wieder wurden seine Augen groß. Er beugte sich tiefer …
Das braune Muttermal auf der weißen Stirn in Form eines sechszackigen Sternes hob sich deutlich ab.
Da sank er vornüber, drückte die Stirn auf den harten Boden …
Er huldigte dem großen Wunder, das diese Nacht gebracht. –
Minuten verharrte er so. Dann sprang er auf, nahm das junge Weib in die Arme, eilte von dannen – über die Steppe hinweg auf kaum noch sichtbarem Pfad, den überall Wildfährten kreuzten und verwirrten. Doch – er kannte jetzt den Weg; das Ziel war nahe, lag dort inmitten jenes Urwaldstreifens, der sich in die Steppe hineinschob.
Hinter ihm dehnte sich der Brand weiter und weiter aus. Flüchtende Antilopen, aufgescheucht durch das Feuer, jagten vorüber; plumpe Büffel rasten in besinnungsloser Angst dahin; ganze Vogelschwärme strichen kreischend dem sicheren nördlichen Horizont zu. –
Hella kam zu sich, schlug die Augen auf. Ihre Blicke umfingen den Kopf des Mannes, an dessen Herzen sie ruhte, der so schnell ausschritt, so leicht, als spürte er diese Last in den Armen kaum.
„Radscha Mahadur Mirat …“ flüstert sie.
Da erst gewahrte er ihre geöffneten Lider; blieb stehen, fragte voller Ehrfurcht:
„Bist du zu Fleisch und Blut geworden, oh Göttin über den Wolken? Bist du zu uns herabgestiegen, uns zu helfen, der Welt den wahren Frieden zu geben?“
Sie antwortete nicht sofort. Sie sann nach … – abermals dieses „Göttin über den Wolken“, das in ihr so seltsame Erinnerungen aufscheuchte …! Wo – wo nur war die Brücke, die all diese Geheimnisse, denen die letze Nacht wieder neue hinzufügte, verband – wo nur?!
„Radscha, ich bin keine Göttin,“ sagte sie schlicht. „Ich heiße Hella Dörcksen, bin eine Deutsche …“
Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie war so sterbensmatt.
„Ich … wollte dich schützen, Radscha Mahadur Mirat,“ fuhr sie stockend fort. Und das vertraute du glitt ihr so leicht, so selbstverständlich über die Zunge. „Du wurdest verfolgt. Und hinter mir waren sie her mit Hunden und Pferden. Da habe ich das Feuer zwischen uns und sie gepflanzt.“
Sie schloß die Augen wieder, hörte nur noch halb wie im Traum …
„Mich beschützen …?! Dann – – bist du doch die Göttin über den Wolken …! Du trägst das heilige Mal auf der Stirn. Und eine Ähnlichkeit wie diese bringt kein Zufall hervor …!“
Hella schlief ein vor Müdigkeit. Erwachte erst, als eine leise Erschütterung durch ihren Körper ging und der Fürst sie sacht auf den Boden legte …
Das Ziel war erreicht …
Das Mondlicht ließ den kleinen See schillern, wie eine ovale Silberplatte. Keine noch so kleine Welle kräuselte das Wasser. Die steilen, bewaldeten, zerklüfteten Höhen ringsum sperrten jeden Lufthauch ab.
Mitten in der gleißenden Fläche ein dunkler Fleck; eine Felseninsel; darauf die Ruine einer uralten Burg; nur einer der vier Ecktürme reckte sich noch dem Firmament entgegen. –
Hella Dörcksen hatte sich aufgerichtet. Dicht vor ihr am Ufer stand gebückt der Radscha und flüsterte mit einem Hindu, auf dessen Stirn das Abzeichen der Brahmanen ruhte. Der Brahmane saß in einem kleinen Nachen, hielt ein einfaches Ruder in den Händen. Jetzt erhob er sich. Hella sah ein von zahllosen Runzeln durchfurchtes Gesicht, in dem ein paar dunkle Augen tief im Kopf glühten. Er war ein wandelndes Gerippe. Nur um die Lenden trug er einen Schurz, dunkel und hell gestreift; einen Schurz aus Schlangenhäuten, deren Köpfe man daran gelassen hatte, so daß sie bei jeder Bewegung träge hin und her pendelten.
Der Brahmane stieg aus dem Boot, beugte sich über Hella, flüsterte in gebrochenem Englisch:
„Herrin, zeige mir das Mal auf deiner Stirn.“
Hella schob die Haarwelle hoch.
Der Hindu sank in die Knie, kreuzte die Arme über der Brust, berührte mit der Stirn den Boden, stand wieder auf, stieg in den Nachen zurück.
Der Radscha trat vor Hella hin.
„Bitte – folge uns.“
Er reichte ihr die Hand, half ihr beim Aufstehen, half ihr in das plumpe Wasserfahrzeug.
Langsam glitt der Nachen der kleinen Insel zu. Steil ragten die Felsen aus dem Wasser. Nur an einer Stelle zog sich eine enge Schlucht bis zum See hinab. Hier waren Stufen in den Stein gehauen. Hier führte der Radscha Hella Dörcksen aufwärts zu einem Vorplatz. Der Brahmane ging ihnen voran. Verfallene Marmorstufen ruhten vor dem breiten Tor der alten Burg. Und wieder stützte der Radscha das weiße junge Weib. Der Brahmane wartete jetzt mit brennender Fackel vor dem Tor, dessen Türflügel geborsten, halb verfault dalagen. Glatte Marmorblöcke hatte man von innen vor dem Tor aufgeschichtet zu einer hohen Mauer. Von außen bildeten andere Blöcke eine Art Treppe bis zur Höhe dieses Hindernisses.
Der Brahmane stieg hinauf, streckte Hella die Rechte hin. Und der Radscha sorgte ebenfalls, daß sie sicher die Mauerkrone erreichte.
Nun stand sie oben. Die Fackel bestrahlte eine viereckige Halle, bestrahlte die kostbar verzierten Wände, schillerte in den Vergoldungen plumper Götzenbilder, die im Hintergrund mit ihren scheußlichen, höhnenden Gesichtern und verzerrten Gliedern drohten.
Hellas Augen wurden starr vor Grauen …
Dort unten auf den hellen Fliesen der Halle kroch ekles Gewürm umher: Schlangen – nichts als Schlangen, – fünfzig, hundert mögen es gewesen sein; sie schlüpften hierhin und dorthin, all diese giftigen Nattern, die in Indien den Schrecken der Menschen bilden, die jährlich abertausende hinwegraffen …
„Mein Gott …!“ entfuhrt es Hellas Lippen. „Was – was bedeutet das …?!“
„Ein Schutz für die Geheimnisse dieses alten Schlosses, in dem einst der Ahnherr der Maharadschas von Radschputana hauste,“ erwiderte der Brahmane. „Ich, oh Herrin, bin der Hüter dieser Burg und der Herr der Schlangen. Ich werde vorangehen. Folge mir weiter ohne Sorge.“
In die glatten Blöcke waren auf der Innenseite hie und da Stäbe aus Eisen eingefügt. Der Brahmane kletterte hinab, scheuchte mit der Fackel die nächsten Reptile zurück, setzte eine Flöte an die Lippen, begann stets dieselben vier Takte zu blasen.
Es war, als ob die kriechenden Bewegungen der Schlangen langsam erstarrten. Nur die Leiber des eklen Getiers, das sich nicht mehr vom Fleck bewegte, hoben sich, die Köpfe schwankten wie trunken hin und her.
Der Brahmane blies lauter, schriller …
Der Radscha flüsterte: „Herrin, wirst du an den Stäben hinab können?“
Hella nickte nur mechanisch, kniete nieder, suchte mit den Füßen einen Halt, stand bald neben dem Brahmanen, der nun gelassen mitten durch die hin und her pendelnden Schlangen schritt.
Hella blieb dicht hinter ihm. Sie wußte, daß sie vor den Giftzähnen geschützt war; sie hatte genug gelesen, über die unheimliche Macht der indischen Schlangenbeschwörer in den Büchern ihres gelehrten, unglücklichen Vaters.
Auch der Radscha ging furchtlos denselben Weg. Dann drückte der Brahmane eines der Götzenbilder zur Seite. Ganz leicht drehte es sich auf seinem Sockel. In diesem gähnte nun eine quadratische Öffnung. Die Fackel enthüllte den Anfang eines schmalen Ganges, der steil in die Tiefe lief.
Radscha Mahadur Mirat deutete auf die Steintreppe.
„Herrin – bitte!“
Und Hella stieg die Stufen hinab. Der Brahmane hatte schnell eine zweite Fackel angezündet, gab sie Hella in die Hand. Er wartete, bis die beiden in der Tiefe hinabgetaucht waren, rückte nun das Götzenbild wieder zurück, verschloß so die Öffnung, griff nach der Flöte, blies, ließ die Schlangen weiter zu harmlosen Pendeln werden, kehrte zum Ausgang der Halle zurück und hockte sich draußen auf dem Vorplatz dicht am Steilabfall der Felsen nieder, starrte über den See hin, wachte, daß niemand diejenigen störe, die in den Gewölben der alten Burg nun vollzählig versammelt waren.
Wie eine Statue saß er da. Nur seine Augen glitten hin und her, verfolgten den Mond, der bleicher und bleicher wurde, der vor dem heraufdämmernden Morgen sein Antlitz immer dichter verhüllte.
Die Treppe hatte ein Ende. Hella Dörcksen wartete, bis der Radscha neben ihr stand.
Ein weites, kühles Gewölbe durchschritten sie jetzt.
„Wir befinden uns hier bereits unter dem Spiegel des Sees,“ sagte Mahadur Mirat, fügte fast scheu hinzu: „Du wirst es wissen, Herrin. Denn du weißt alles.“
Hella schwieg. Was sollte sie antworten?! Sie wandelte dahin zwischen lauter Rätseln. Und so war es schon von Jugend an: überall Geheimnisse, überall Unerklärliches. – Sie hätte sich das Wundern längst abgewöhnen müssen.
Der Radscha machte in der Mitte des Gewölbes halt. Der Boden war mit quadratischen, großen Marmorplatten belegt. Eine war wie die andere, hellgrau, dunkel geädert.
Er bückte sich. Eine kaum sichtbare Fuge gab es hier zwischen den gleichmäßigen Steinen. Er schob die Spitze seines Dolches in die Fuge hinein, und langsam senkte sich die eine Platte.
Von unten strahlte heller Lichtschein herauf, drangen die Düfte brennenden Sandelholzes und wohlriechender Harze herauf.
Auch hier eine Treppe. Nur breiter und nach unten zu fächerartig sich dehnend. Das Geländer bildeten gekrümmte Schlangenleiber aus Marmor. Die Stufen waren blendend weiß. Und die natürliche Grotte, die hier tief unter dem See in den Felsmassen sich öffnete, war mit demselben weißen Marmor verkleidet, bildete ein Sechseck, an dessen Wänden hohe bronzene Ständer mit uralten Öllampen darauf in kurzen Abständen standen. Vierzig solcher Lampen brannten hier.
Hellas Fuß zögerte. – Ein Traum all das? War sie vielleicht doch in der Kabine ihres Schlafwagens der Müdigkeit erlegen? Träumte sie nur?
Ihre Blicke eilten über die Männer hin, die in dichtem Halbkreis dort geradeaus vor einem altarähnlichen Aufbau standen. Auch er nur Marmor, doch über und über bedeckt mit goldenen Bildwerken. Räucherschalen sandten von der Platte dieses Kunstwerkes längst entschwundener Zeiten helle Qualmfäden in die Luft! In zierlich geschwungenen Linien fügte sich dem Altar eine glatte Rückwand an, gut zwei Meter hoch. Auf der Bogenhöhe dieser Rückwand eine kleine Statue des Gottes Indra, der einst mächtiger als Brahma war.
In die Männer dort kam Leben und Bewegung.
Sie hatten die weiße Frau bemerkt. Sie drängten der Treppe zu. Rufe wurden laut, Drohungen gegen die Fremde …
Da erschien Radscha Mahadur Mirat neben ihr, machte ein Zeichen mit der Hand.
Schweigen …
Und langsam stiegen die beiden in die Marmorgrotte hinab, blieben auf der vorletzten Stufe stehen.
Der junge Radscha bat Hella leise, Hut und Schleier abzunehmen. Sie tats …
Und dann – wie ein jäh anschwellender Schrei ertönte es von den Lippen derer, die hier beraten wollten, wie man der Welt den Frieden geben könnte durch einen neuen Glauben an eine Gottheit, zu der alle beteten, die das Wunder über den Schneegipfeln der Himalayaberge je geschaut …
Ein Schrei …! – Staunen lag in diesem Ruf, Staunen und gläubige Hoffnung:
„Die Göttin über den Wolken – – die Wolkenkönigin …!“
Mahadur Mirat strich Hella mit zarter Hand die blonde Haarwelle aus der Stirn. Das Muttermal wurde sichtbar, der sechszackige winzige Stern …
Und abermals derselbe Ruf, nur lauter, freudiger:
„Die Göttin über den Wolken – – die Wolkenkönigin!“
Der Radscha ließ den Ruf erst verklingen.
„Freunde,“ begann er nun, „Freunde, die ihr aus allen Teilen der Erde euch wieder hier eingefunden habt, damit wir gemeinsam Rat halten, wie wir den Glauben an die neue Gottheit über die Länder verbreiten können, wie aus einer neuen, alle umfassenden Religion das Glück für die Menschen sich aufbauen ließe, wie ohne rohe Gewalt der Wille der Völker einen Zustand ewiger Glückseligkeit schaffen könnte … – Freunde, den Mächtigen dieser Erde ist nichts daran gelegen, diesen Zustand zu erreichen. Persönliche Eitelkeit, Machtkitzel, schnöde Selbstsucht in ihren vielen Formen würden uns Hindernisse in den Weg legen, die uns sehr bald verzweifeln ließen. Nur in aller Heimlichkeit dürfen wir die neue Lehre ausbreiten, gestützt auf das eine, was sie hinaushebt über alle übrigen Bekenntnisse: die Götter, an die die Menschheit bisher glaubte, waren nicht einmal Schemen, waren nur Begriffe, aus Worten geformt; die neue Gottheit hat sich uns, die wir hier versammelt sind, in all ihrer Pracht gezeigt, thronend auf Wolken über den Eisfeldern des fernen Gebirges dort im Norden, des Rückgrates der Welt, des Himalaya … –
Freunde! Eine Nacht des Heils ist die heutige! Ihr habt gesehen, ein Wunder hat sich vollzogen, die neue Göttin ist leibhaftig herniedergestiegen, weilt unter uns!“
Er wollte weiter sprechen.
Da legte Hella Dörcksen ihm schnell die Hand auf die Schulter, rief verwirrt:
„Ich wäre eine Betrügerin, wollte ich euch länger in dem Glauben belassen, ich sei ein anderes Wesen als ihr! – Nein – ich könnte, ich kann euch beweisen, daß ich Eltern gehabt wie ihr alle hier, daß ich von Fleisch und Blut und eine Deutsche bin, die nur nach Indien gekommen, um ihren um vier Jahre jüngeren Bruder zu suchen, den ein elender Schurke geraubt hat und irgendwo verborgen hält! Ich schwöre euch: Ich heiße Hella Dörcksen, mein Vater war der Chemiker und Naturforscher Doktor Harald Dörcksen, der vor anderthalb Jahren in einer Schlucht im Riesengebirge den Tod fand. – Ich bin keine Göttin – auch keine Betrügerin!“
Das halbe hundert Männer vor den Stufen der Treppe geriet wieder in Bewegung. Man raunte, flüsterte, wechselte unsichere Blicke.
Alle Rassen, alle Nationen waren vertreten, alle Bekenntnisse bis herab zu dem Neger des Aschantilandes, der seinen Fetisch bisher anbetete.
Ganz vorn stand neben dem englischen Reverend Dixon der deutsche Literaturprofessor Herbst.
„Dixon – was hältst du von dem Wunder dieser sprechenden Ähnlichkeit, dieser völligen Gleichheit der beiden Male auf der Stirn?“ fragte Herbst leise.
„Hm – ich wäre dafür, daß wir das Bild erscheinen ließen, damit wir vergleichen könnten …“
Der Professor nickte. „Ganz recht – – vergleichen!“
Und er rief nun dem jungen Radscha zu:
„Mahadur Mirat, mag die Dame sich auf den Altar setzen. Dann lasse das Bild erscheinen, und wir werden sehen, ob hier wirklich eine so verblüffende Ähnlichkeit vorliegt, daß …“
Seine weiteren Worte verschlang der laute Beifall, den dieser Vorschlag fand.
Der Radscha wandte sich an Hella. „Miß Dörcksen, würden Sie gestatten, daß wir …“
Sie schritt schon dem Altar zu. Es war, als ob irgendeine geheimnisvolle Macht sie vorwärts trieb.
Man half ihr schnell auf die linke Ecke der Altarplatte hinauf. Und ebenso schnell erloschen jetzt die sämtlichen Lampen.
Tiefes Dunkel. Totenstille …
In Hellas Nerven zitterte die Erwartung.
Was – was würde geschehen? Was würde erscheinen? Ein Bild …?!
Und – wieder dachte sie an das, was ein Toter einer lebenden Maschine anvertraut und was sie stets für ein wundervoll poetisches Märchen gehalten, entsprungen dem krampfhaft überreizten Hirn eines Mannes, dessen Gedächtnis gerade in dem einen Punkt versagte … – Nur für ein Märchen! Und doch war es für sie etwas Heiliges, und die, um die dieses Märchen sich wob, eine Heilige.
Totenstille. – – Tiefes Dunkel.
Dann – ein feiner weißer Strich, ein Lichtfaden, der sich nach der Rückwand des Altars hinzog …
Hellas Herz jagte …
Was – was würde geschehen …?
Die im Empfangsraum des großen Wohnzeltes Zurückbleibenden hatten mit den gleichen erstaunten Blicken Thomas Crosterbroux und Hella Dörcksen nachgeschaut.
Jetzt fiel der Türvorhang hinter den beiden zu. – Da regte Stuart Burne sich, blickte Oberst Jafferson an, flüsterte:
„Hier ist etwas faul … Dieses Weib hat gelogen, schätzt’ ich. Sie wird Crosterbroux einzuwickeln versuchen. Sie hat ihn nicht mal dem Namen nach gekannt, vielleicht ebenso wenig das Platinsyndikat …“
Jafferson nickte. „Ich traue ihr ebenfalls nicht …“
Nur der schlanke, hübsche Leutnant Sydney Baalk meinte leise: „Sie ist so schön. So viel Schwermut ist über ihr Antlitz ausgegossen.“
Crosterbroux trat wieder ein, rief hastig:
„He, Jafferson, – eine Herzstärkung für Miß Dörcksen. Sie hat drum gebeten. Schnell …“
Burne sprang auf.
„Ah – diese raffinierte …“ Er riß schon den Vorhang zur Seite, wollte hinaus. Er ahnte, daß Hella nur fliehen wollte.
Doch – ebenso schnell tat er einen Satz nach rückwärts. Flammen, Qualm, der scheußliche Geruch brennenden Gummistoffes schlugen ihm entgegen.
„Feuer!“ brüllte er. „Sie … hat das Zelt in Brand gesteckt …“
Die Flammen loderten unheimlich schnell höher. Erstickende Dünste drangen in den Raum zu den vier Männern ein. Sekundenlang standen sie wie Bildsäulen. Dann griff Jafferson nach einem langen afghanischen Dolch auf dem Schreibtisch …
„Dort hinaus …!“ rief er, trennte mit langem Schnitt erst die innere Zeltwand auf, dann die äußere, blieb auch jetzt Hausherr, ließ seine drei Gäste zuerst ins Freie, packte noch umweht von sengender Hitze und Rauchschwaden, das zusammen, was ihm am wertvollsten dünkte.
Stuart Burne war als erster draußen, schoß die Lagergasse entlang, erspähte noch undeutlich zwischen den mannshohen Gräsern einen schnell enteilenden flackernden Lichtschein, – eine Fackel, die das Weib mitgenommen, das ihn überlistete …
Sydney Baalk rannte nach dem Stallzelt hinüber. Seine helle Stimme scheuchte die Schläfer in den Dienerhütten auf. Nur notdürftig bekleidete Gestalten holten die jetzt angeketteten Hunde herbei, brachten die Pferde ins Freie.
Burne war mit einem wahren Kunstreitersatz wieder als erster auf dem ungesattelten Rücken eines Bergponys, ließ nur noch den Zaum überwerfen, sich eine Fackel reichen, jagte davon.
Jafferson, Baalk, vier Soldaten waren nicht minder beweglich, folgten ihm. Der Leutnant hatte vier der kräftigsten Hunde an der Leine.
Die Hetze begann. Der kleine Trupp bog in den schmalen Dschungelpfad ein. Stuart Burne bemerkte vor sich den flackernden Schein der Fackel, die enteilende dunkle Gestalt.
„Ah – wir werden sie bald haben …!“ brüllte er in vorschnellem Triumph.
Weiter ging die Jagd – schnurgerade. Die Hunde heulten, bellten; die Reiter riefen sich kurze Bemerkungen zu.
Jafferson schäumte vor Wut. Vom Lager her hörte er das Knattern der im Feuermeer des Zeltes explodierenden Patronen seiner Waffenkiste …
Da – Burnes Stimme: „Halt – Halt … Sie hat den Dschungel angezündet …! Der Wind kommt uns entgegen …!“
Die Pferde wurden zurückgerissen. Jafferson fluchte. Drüben leckten die Feuerzungen hoch, schossen hierhin, dorthin, bildeten im Nu einen Wall von Flammen, der vorwärts drang wie die Woge einer Sturmflut, der immer wieder lange Streifen trockenes Gras fand, wo die Flämmchen mit Gier sich weiterfraßen wie tastende Fühler, die für ein Ungeheuer den besten Weg suchen.
„Zurück!“ Jafferson kannte die Gefahren des brennenden Dschungels.
Burne tobte. Aber er mußte mit – mußte fliehen vor dem glühenden, wandernden Hindernis, das ein Weib dort hinten den dahinhetzenden Reitern errichtet hatte.
Das Lager war erreicht. Längst war hier alles wach, in Bewegung. Unteroffizier Chassim Marattu empfing seinen Oberst mit der Meldung:
„Das Gegenfeuer wird sofort aufflammen. Dort im Osten ist Sumpf. In einer halben Stunde ist jede Gefahr vorüber.“
Alle Hände packten unten mit zu. Vor dem Lager nach Nordwest zu brannte man einen breiten Grasstreifen nieder, sorgte, daß die Flammen nicht weiter um sich griffen, als beabsichtigt. Immer länger wurde der Streifen verkohlter schwarzer Gräser; immer breiter. Brennende Grasbüschel flogen gegen den Wind über den Rand des Streifens hinaus. Und dann: zwei lodernde Wogen begegneten sich, schienen mit einander zu kämpfen. Gluthauch zog über das Lager hin. Die Diener hatten den Pferden und Elefanten nasse Decken über die Köpfe geworfen, selbst die Köpfe darunter gesteckt. Alles übrige an Menschen lag flach am Boden, das Gesicht in schnell gewühlte Erdlöcher gedrückt.
Die beiden lodernden Wogen kämpften. Doch ihre Wut fand keine neue Nahrung. Qualmmassen verkündeten den Sieg. Die Flammen duckten sich tiefer und tiefer, wie Ringer, die ermattet zu Boden sinken.
Die Glutwelle entfloh; der Qualm lichtete sich.
Die Männer sprangen auf, schüttelten den feinen Aschenregen von sich ab.
Und dort zu beiden Seiten des Lagers fraß das Feuer weiter den trockenen Dschungel, bis es hier und da auf feuchten Boden traf, erlosch … –
Jafferson, Burne und Leutnant Baalk standen und hielten Kriegsrat.
„Ich muß sie haben, dieses Weib!“ sagte der Inspektor. „Sie ist mit jenen im Bunde, die hier irgendwo über Unheil …“
„Irgendwo?!“ fiel ihm Jafferson ins Wort. „Ich kenne diese Wildnis. Hier gibt’s nur einen Ort, der in Verdacht kommt: die Ruine der Maharattenburg im Heiligen See, von dem die Hindu glauben, daß seine Wasser bis zum Mittelpunkt der Erde gehen. Dort spielt jetzt ein alter Brahmane den Hüter – seit etwa neun Monaten.“
„Ah – gerade so lange,“ rief Burne.“ Und vor acht Monaten verschwand Radscha Mahadur Mirat zum ersten Mal aus seiner Hauptstadt. – Es wird stimmen, Herr Oberst. – Vorwärts – wir werden den See umzingeln, das Verschwörernest ausheben …!“
Bald darauf durchzogen drei Trupps die Steppe, drangen von verschiedenen Seiten in den Urwaldstreifen ein, der den See und die Maharattenburg umfing. – –
Im Schatten der Bäume standen Jafferson, Baalk und Burne, spähten mit Gläsern über den See hinüber nach der Insel.
„Dort hockt der Brahmane,“ meinte Jafferson. „Wenn man den Kerl in aller Stille die Kehle etwas zudrücken könnte, wäre es möglich, die ganze Gesellschaft zu überraschen. Sie werden doch fraglos auch allerlei Schriftliches dort in ihrem Fuchsbau haben, vielleicht Mitgliederlisten – ähnliches. Dann wäre die ganze Bande mit einem Schlage unschädlich zu machen.“
„Den Brahmanen erledige ich,“ erklärte Stuart Burne ohne jede Prahlerei. „Das gehört zu meinem Geschäft. Ich werde dort von der Südseite den See durchschwimmen.“
„Hm. – Ich fürchte, Sie stellen sich das allzu einfach vor,“ sagte der Oberst ernst. „Die Teufeleien unserer braunen Landeskinder kennen Sie ja, Inspektor. Ich rate zur Vorsicht.“
„Auch das gehört zu meinem Geschäft. – Gibt es Krokodile in diesem Gewässer?“
„Kaum. Ich habe bisher keine bemerkt.“
Sie verschwanden unter den Bäumen, kamen an der Kette der Posten vorüber, die das Seeufer umsäumten und die nichts Lebendes durchlassen würden.
Dann machten sie wieder halt. Burne warf die Oberkleider ab, band sich den Revolver mit dem Taschentuch unter der Reisemütze fest, stieg hinter ein paar Felsblöcken ins Wasser, nahm Strauchwerk auf, legte es sich um die Schultern, daß es seinen Kopf völlig verdeckte.
Nur ein kleiner Haufen Strauch schien der Insel zuzutreiben …
Der bleiche Mond am sich lichtenden Firmament wurde Zeuge, wie Stuart Burne die Insel umschwamm, dann die Treppe lautlos empor kroch, den Vorplatz erreichte.
Der Brahmane am Rande des Steilabfalls glich einer Bronzestatue. Jetzt huschte ein blitzschnelles, grimmiges Lächeln über sein furchenzerrissenes Skelettgesicht. Er sah nichts. Aber seine Ohren hatten längst das feine Schleifen über den Steinboden hier gehört. Er wußte, was geschehen würde. Seine hageren Arme blieben ohne Bewegung. Nur die Muskeln spannten sich.
Stuart Burne lag dicht hinter ihm, den gespannten Revolver in der Rechten. Er mußte den Brahmanen lebend haben. Nur dann würde dieser ihn in den Schlupfwinkel der Verschwörer führen können. All diese alten Schlösser hatten ihre Geheimnisse, – Geheimtüren, Geheimtreppen, unterirdische Räume.
Der Inspektor rief leise, drohend:
„Keine Bewegung! Ich bin Kriminalinspektor Burne. Wenn du nicht gehängt werden willst, gehorche! Der See ist von Militär umstellt. Keine Maus entschlüpft uns. Wir wissen, was hier vorgeht. Zeige mir den Weg zu denen, für die du Wächter spielst.“
Der Alte wendete den Kopf.
„Ich gehorche, Sahib,“ erklärte er demütig und erhob sich.
„Geh’ voran!“ befahl Burne. „Und – keine Hinterlist, Bursche! Ich kenne mich aus mit euch …!“
Der Brahmane schritt die verfallenen Stufen hoch, erklomm die aufgeschichtete Mauer. Der Inspektor blieb dicht hinter ihm. – Sie standen nebeneinander auf der Mauerkrone. Burne stierte in das Dunkel der Halle hinab, griff in die Tasche, schaltete die kleine Lampe ein. Der dünne Lichtkegel wollte abwärts gleiten.
Da – ein Stoß – – Burne verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber. Aber ebenso blitzschnell ließ er seiner Rechten den Revolver entgleiten, packte den nackten, verräterischen Arm, riß den Alten mit in die Tiefe …
Ein gellendes Hohngelächter des Brahmanen, der gerade auf den kalten Leib einer Kobra gefallen war, der die Giftzähne in seiner Schulter spürte, der trotzdem lachte – lachte …
Stuart Burne nannte man nicht umsonst den Mann ohne Nerven. Er hatte schon oft sich in Lagen befunden, wo sein Leben an einem Spinnwebfaden hing.
Wie eine Katze war er auf die Füße gefallen. Die kleine Lampe enthüllte ihm die Schrecken dieser Halle. Drei meterlange, sich windende Scheusale dicht neben ihm. Ein Satz – seine Hände erreichten den Rand der Mauer, seine Zehen krallten sich ein in die Fugen der Blöcke; ein Schwung, und er saß oben auf der Mauer.
Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Sekunden verharrte er ohne Bewegung, ohne Gedanken, ließ Herz und Hirn sich beruhigen. Dann suchte der weiße Lichtkegel nach dem Brahmanen. Durch den Eingang fiel der Schimmer der Morgendämmerung auf den halbentkleideten Mann, der sich jetzt weit vorbeugte, der mit Grauen zusah, wie der Alte dort unten auf den Fliesen der Halle hockte und … eine Kobra hoch in der Rechten schwang. Die Brillenschlange hatte ihre Haube vor Wut gebläht, zischte, wollte nach dem dürren Arm beißen.
Da – – Burne schmiegte sich blitzschnell glatt an die Mauer … und über ihn hinweg flog die Kobra, fiel draußen klatschend auf die geborstene Treppe, glitt wie ein Schatten zwischen die Trümmer.
Der Inspektor sah den Revolver, der auf der zweiten Stufe dicht unter ihm lag …
Wieder suchte der weiße Strahl den Brahmane. Dann – ein ganz schwacher Knall … Der Alte schnellte hoch, stürzte leblos vornüber. – Stuart Burne schoß selten vorbei.
Er stand auf. Wieder glitt der Lichtkegel hin und her, fand in der Nische links die Harzfackeln, das Luntenfeuerzeug.
Burne warf die erste brennende Fackel dicht neben den Toten. Sie brannte weiter … – die nächste zwei Meter davon ab … So zog er eine Reihe lodernder Brände über den Boden, scheuchte das Gewürm in die Ecken; so gelangte er bis an die grinsenden, bunten Götzenbilder.
Die kleine Lampe beleuchtete den Boden, die Sockel der Statuen. Burne hatte schon zweimal anderswo Götzen gefunden, die sich auf ihren Sockeln bewegen ließen.
Er rüttelte an den plumpen, häßlichen Tonfiguren. Seinen Augen entging nicht, daß die Staubschicht in einer Fuge fehlte. Er drehte diesen Götzen; hatte den Eingang zur Treppe freigelegt.
Und unten in dem großen Gewölbe bemerkte er den matten Fährtenabdruck vieler Füße auf den hellgrauen Marmorplatten, – einen breiten Strich, der in der Mitte des Gewölbes endete.
Er lächelte ein wenig; kniete nieder; auch hier fand er die richtige Fuge, leuchtete hinein, sah darin Metall glänzen, – einen Knopf …
Der Lauf des Revolvers war zu dick für die Fuge.
Burne überlegte. Ein Messer hatte er nicht bei sich. – Er eilte die Treppe wieder empor, zurück bis zu dem toten Brahmanen den sicheren, flackernden Pfad entlang. Am Schurzfell des Alten hing an einer Hanfschnur ein einfaches Messer mit Holzgriff. Es genügte für Burnes Zwecke.
Nochmals den Fackelpfad entlang; hinab in das Gewölbe; hinein mit der Spitze des Messers in die Fuge …
Hellas Herz jagte …
Was – was würde der feine weiße Strich ihr bringen, der nun auf die Rückwand des Altars fiel, der sich dehnte, Farbe bekam, zu wallenden bunten Nebeln wurde …?!
Hella hörte ein leises Klappern von der Treppe her. Sie achtete nicht darauf. All ihre Sinne waren nur auf die wallenden Nebel gerichtet. Nur Sekunden dachte sie: „Wie der Hauskinoapparat, den der Vater einst daheim im Hause auf dem Gletscher dem Bruder schenkte …“
Die Nebel formten sich … Zwei eisstarrende Berghäupter tauchten auf; zwischen ihnen zog träge Gewölk dahin, verschwand, machte einem anderen Bild Platz, das immer mehr an Schärfe gewann …
Lichte, zarte Wolken waren es; darauf ein breiter Armsessel aus Elfenbein; man erkannte die Schnitzereien, die Goldeinlagen … Der Sessel schwebte in dem blauen Gewölk …
Und auf dem Sessel saß eine Frauengestalt, leicht zurückgelehnt; der linke Arm ruhte auf der Sessellehne; zwanglos hing die schmale, ringgeschmückte Hand herab. Der rechte Arm lag im Schoß; die rechte Hand hielt einen langen, gewundenen Stab aus Elfenbein, der in die Goldfigur einer Eule, des Vogels der Weisheit, auslief.
Prächtige, golddurchwirkte Gewänder trug die Frau; um den Hals ein blitzendes Geschmeide mit einem großen Elfenbeinstern.
Und der Kopf mit der Fülle blonden Haares war geschmückt mit einer Krone, dicht mit Brillanten besetzt und vorn mit einer die Zacken überragenden, segnenden Hand aus kleineren Brillanten, deren Fingernägel aus eingefügten Perlen bestanden, deren durchschimmernde Adern blaßrosa Rubine waren.
Der Kopf!
Ganz scheu hatte Hella Dörcksens Blick ihn zuerst gestreift, nur erst die Krone, das Haar genauer betrachtet, wagte nun auch, des Gesichts bezaubernde Einzelheiten zu prüfen.
Einzelheiten? – Oh – ein Blick hatte ja genügt!
Ihre Arme, mit denen sie den zurückgewandten Oberkörper gestützt hatte, wurden schlaff, kraftlos. Sie sank langsam vornüber, sank mit der Stirn auf den kühlen Marmor.
Sie hatte ihr eigenes Gesicht geschaut – Linie um Linie, – selbst den Ausdruck von Schwermut um Mund und Augen, – selbst das kleine Mal auf der Stirn, den winzigen, sechszackigen Stern … –
Durch die Männer, die sich dicht vor dem Altar drängten, ging ein Raunen hin, schwoll an zu einem lauten Ruf:
„Sie ist’s! Sie muß es sein! Sie ist die fleischgewordene Wolkenkönigin, zu uns gesandt als unsere Herrin, unsere Führerin …!“
Ein anderer Ruf von der Treppe her; eine energische, scharfe Stimme, die gewohnt war, Drohungen wahr zu machen:
„Niemand rühre sich von seinem Platz! Hier steht Kriminalinspektor Burne. Das Schloß ist umzingelt. Im Namen des Vizekönigs – sie alle hier sind verhaftet!“
Hella Dörcksen hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet. Sie wußte, das Bild der Wolkenkönigin würde nun sofort verschwinden! – Noch einmal wollte sie es sehen …!
Sie hob den Blick …
Und – die hehre Frau da oben hatte jetzt wie segnend die Linke vorgestreckt: ein gütiges, wenn auch schmerzerfülltes Lächeln verschönte die feinen, durchgeistigten Züge.
Dann – wie weggewischt das ganze Bild: die Wolken, die Schneeberge, der Elfenbeinsessel, die Göttin …
Dafür Mahadur Mirats Stimme, die so weich sein konnte, so träumerisch wie dieses ganze Zauberland Indien, und die jetzt doch wie das ferne Grollen eines Gewitters klang:
„Inspektor Burne! Scherge derer, die noch die Macht in den Händen haben, – ich warne Euch! Verlaßt diese Burg sofort, oder aber …“
Burne kannte die Stimme. Dicht am Fuß der Treppe erklang sie. Er schaltete die kleine Lampe ein, tat gleichzeitig einen Satz nach unten, den zu packen, den er jetzt für den Anstifter dieses neuartigen Seelenfanges hielt.
Ein schwerer Gegenstand prallte ihm gegen die Brust, ließ ihn straucheln: der Kinoapparat mit seinem derben Stativ! – Doch ebenso rasch war er auch wieder auf den Beinen, griff nach der Lampe, die ihm entfallen, sprang vorwärts – – sprang gegen eine Marmorwand, die vorhin nicht vorhanden gewesen war, – gegen einen Teil des Bodenbelags der Grotte, den Mahadur Mirat durch den geheimen Mechanismus hatte hochklappen lassen.
Burne brüllte vor Wut, rannte an dem Hindernis entlang. Doch – es schloß an den Seiten ebenso dicht wie an der Decke; und an den Seiten lagen die übereinander geworfenen Ränder mit den alten Öllampen in wirrem Haufen.
Burne war wie von Sinnen. Er ahnte, sie würden ihm doch entschlüpfen, all diese Männer, von denen er nicht einen erkannt hatte, – nur die Stimme Mahadur Mirats …! – Sie würden sich mit Gewalt einen Weg durch die Wachen am Seeufer bahnen; und die, die verwundet vielleicht zurückblieben, würden sich töten, würden nie ein Wort ausplaudern. Er kannte ja die Gebräuche dieser politischen Verschwörer, ihren freudigen Selbstvernichtungswillen.
Nach oben also! Die Wachen alarmieren durch Revolverschüsse …! – Er bückte sich; er riß das Filmband von den Rollen, stopfte es in seine Mütze, machte daraus ein Bündelchen, stürmte die Treppe hinauf, hindurch durch die Halle, in die jetzt das Tageslicht in breitem Strich durch den Eingang hindurchfiel, in der die Fackeln noch qualmten und in der da vorn die Leiche des Brahmanen lag …
Er sprang die geborstenen Stufen zum Vorplatz hinab, streckte den Arm mit dem Revolver hoch, wollte abdrücken …
Unter ihm schwankte plötzlich der Boden. Hinter ihm krachte das Gemäuer; Teile des Turmes, der noch erhalten, stürzten ein; und der See warf hohe Wellen, als regten sich Ungeheuer in seinen Tiefen.
Stuart Burne drückte nicht ab – stürmte jetzt die enge Schlucht hinunter zu dem Nachen, sprang hinein, stieß ab – ruderte – ruderte um sein Leben …
Das Wasser der anstürmenden Wellen schäumte über den Bordrand, füllte den Kahn. Burne ruderte weiter. Er wagte einen Blick nach rückwärts, hörte zu rudern auf …
Aus den Tiefen des Wassers dumpfes Dröhnen; das kleine Felseneiland schien zu taumeln, verschwand langsam im See; die Flut bespülte bereits die Mauern der alten Maharattenburg; aber weiter noch sank die Insel in unbekannte, jäh geöffnete Abgründe; nur noch der Rest des einen Turmes ragre über die Oberfläche; dann – – nichts mehr!
Die Wasser beruhigten sich; die Wogen tänzelten nur noch harmlos, wurden kleiner und kleiner, bis der Seespiegel glatt dalag im Morgenlicht – so unschuldsvoll, so friedlich, als hätte er niemals soeben die kleine Insel verschluckt mit allem, was darauf sich befand: dem toten Brahmanen, den Schlangen, den Menschen, die den Völkern den wahren Frieden bringen wollten, und dem jungen Weib, das ausgezogen war, den geraubten Bruder zu suchen.
Am Ufer standen Soldaten, standen Jafferson, Baalk, Thomas Crosterbroux. All diese Gesichter waren bleich, starr.
Stuart Burne trieb den Nachen an Land, stieg schwerfällig aus, schritt auf die Gruppe des Obersten zu.
Jafferson reichte ihm die Hand …
„Ich sagte Ihnen ja, Inspektor, – diese braune Gesellschaft hat stets Überraschungen bereit …“
„Schade,“ meinte Burne verbissen. „Es wäre ein lohnender Fang geworden. – Nun – etwas habe ich doch mitgebracht …“ Er hielt die Mütze hoch, das Bündel. „Den Film habe ich mitgenommen, der mit zu ihrem Hokuspokus gehörte … Und … ob sie tot sind, die da unten versammelt waren, möchte ich bezweifeln. Stuart Burne wird suchen. Er hat noch stets gefunden, was nicht gerade am Himmel hing …“
Radscha Mahadur Mirat sah den Inspektor über den Kinoapparat stolpern, hastete nach dem Altar hin, drückte auf eine Verzierung, ließ so den Boden der Grotte eine neue Wand vor den Feind ziehen.
Ein paar Öllampen flammten auf.
„Freunde,“ rief der junge Radscha leise, „Ihr habt soeben gesehen, wie richtig es war, hier alle Vorkehrungen zu treffen, um jede Spur hinter uns im Notfall zu verwischen. Nehmt Abschied von diesem Ort, der uns heute zum dritten Mal beherbergt hat. Dann – vorwärts, – hinaus in die unterirdische Höhlenwelt, die uns ins Freie führen wird. Ihr kennt den Weg. Lebt wohl! Ich gebe euch Kunde, wo und wann wir uns wiedersehen. Lebt wohl! Und die Göttin über den Wolken schütze euch! – Ich muß zunächst noch zurückbleiben, muß die Zündschnüre in Brand setzen, die die Sprengmasse dann zur Entzündung bringen.“
Heftige, aber feste Händedrücke tauschten die Männer mit dem Radscha, verschwanden dann durch eine Falltür hinter dem Altar in die Tiefe.
Der deutsche Professor Herbst und sein Freund Reverend Dixon baten Hella, sich ihnen anzuschließen.
„Ich bleibe,“ sagte sie schlicht.
Die beiden Herren verbeugten sich tief und ehrfurchtsvoll.
Hella lehnte am Altar. Jeder der Männer hatte sich so vor ihr verneigt; mancher hatte geflüstert: „Leb wohl, oh Königin, oh Göttin über den Wolken …“
Mahadur Mirat hatte jetzt eine der Öllampen ergriffen, winkte, deutete hinter den Altar. Hella stieg durch die Falltür eine Steintreppe abwärts. Eisige Luft wehte ihr entgegen. Sie stand auf rauhem, steinbesätem Felsboden. Zackig, ungleichmäßig wölbte sich die Decke einer endlosen Höhle.
Der Radscha kniete neben dem Ende der Treppe. Dort ragten drei Metallröhren aus dem Gestein. Luntenenden schauten aufgerauht hervor. – Mahadur Mirat hielt die flackernde Flamme der Öllampe dagegen, blies auf die Zündschnüre. Sie begannen leise zu knistern, zu sprühen.
„Fort!“ rief er. „Wir müssen eilen …!“
Er hastete voran. Hundert Meter weiter stieg die Höhle aufwärts. Durch einen engen Spalt betraten die beiden die nächste Grotte.
Da – von rückwärts ein dumpfer Knall, ein unheimliches Rollen.
Das Gestein ringsum bebte; Stücke bröckelten ab; ein jäher Luftstoß schoß über die beiden hinweg, warf sie fast zu Boden.
Der Radscha machte halt, wendete sich Hella zu …
„Miß Dörcksen, – die Insel, die Maharattenburg versinkt; die Wasser des Sees werden bald über die Stätte hinfluten, wo wir das Gute wollten, werden durch die geborstenen Felsen sickern, den Altar benetzen, auf dem wir heute zwei Göttinnen schauten, – ein Wunder, das niemand sich zu erklären vermag.“
Hella schaute in des Radschas dunkle Schwärmeraugen.
„Niemand? – Vielleicht doch jemand, Mahadur Mirat, – vielleicht ich selbst …“
Der wollte etwas fragen, erklärte dann aber: „Nein – erst müssen wir in Sicherheit sein …“
Sie gingen weiter; stumm; jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Noch immer zitterten die Felsmassen nach; noch immer brachen hie und da kleinere Teile von den Wänden, polterten herab.
Und dann … weit vor ihnen ein Dröhnen, Prasseln; unheimlicher Lärm umtobte die beiden; die Höhlenwände warfen den Schall verstärkt zurück; furchtbare Echos wurden laut; die Luft wollte sich nicht beruhigen, schwang immer wieder in Wellen, die das Trommelfell fast schmerzhaft trafen.
Hella hatte sich unwillkürlich an ihren Begleiter geschmiegt. Der Radscha sah fahlgelb aus. Eine entsetzliche Vermutung trieb ihm das Blut aus dem Gesicht. Dennoch tat er ruhig, gelassen …
„Ein größerer Einsturz. Er hat nichts zu bedeuten …“
Hella schüttelte den Kopf. „Weshalb nicht die Wahrheit, Radscha? – Sie fürchten etwas, das unser Leben bedroht. – Sie brauchen mich nicht zu schonen …“
Plötzlich war ihr die fremde Anrede, das Sie, über die Lippen gekommen. – Weshalb? – Weil sie ein Weib war, weil sie gefühlt hatte, daß, als sie sich an ihn schmiegte, an diesen Mann, der dem anderen so ähnlich sah, von ihm zu ihr jenes seltsame Fluid überströmte, das die Nerven vibrieren machte, – die Anzeichen des Erwachens gegenseitigen Begehrens.
Er schaute zu Boden. Hella war etwas zurückgetreten von ihm. – Er nickte nur, sagte dann: „Gehen wir …“
Noch zwei Biegungen. Die Höhle ward enger und enger, ward zum Tunnel, der wieder steil aufwärts lief.
Der Radscha hob plötzlich die Öllampe …
Felstrümmer füllten den Tunnel; kleine, große Blöcke; einige davon vielleicht zehn Zentner schwer. Bis obenan nichts als ein Durcheinander geborstenen Gesteins.
Hella sah, wie Mahadur Mirat abermals erbleichte.
„Der Ausgang ist verschüttet …!“ sagte sie leise.
„Ja – – wir sind verloren.“ Er stellte die Lampe auf eins der Felsstücke. „Verloren, wenn es mir nicht gelingt, dieses Hindernis wegzuräumen. Nur hier könnten wir ins Freie. Diese Höhlen haben keinen anderen Ausgang.“
Er kletterte bis zu der Stelle hoch, wo die Tunneldecke und der Felsschutt sich berührten.
„Bitte, reichen Sie mir die Lampe, Miß Dörcksen,“ sagte er dann, und seine Stimme war ganz farblos.
Hella stieg von Stein zu Stein, rutschte zuweilen ein Stück zurück, kam doch höher.
Mahadur Mirat nahm ihr die Lampe ab …
„Überzeugen Sie sich selbst, Miß Dörcksen … Ein ungeheurer Block liegt hinter dem Trümmerhaufen … Menschenkraft genügt nicht, ihn zu beseitigen …“
Sie saßen droben auf dem Trümmerberg dicht nebeneinander …
Hella war ganz ruhig. – „Also verloren!“ dachte sie; „Hier werdet ihr umkommen, ihr beide, die ein Zufall, eine Personenverwechslung, zusammengeführt hat …“
„Wären Sie nur mit Professor Herbst vorausgeeilt, Miß Dörcksen,“ flüsterte der Radscha dumpf. „Ich … mache mir bereits so schwere Vorwürfe, weil ich …“
„Nicht doch Mahadur Mirat, – das sollen Sie nicht! Gehören wir nicht zusammen? Hat diese Nacht uns nicht zu Freunden werden lassen? – Sie sind mir jetzt schon wie ein lieber, treuer Bruder, sind mir …“
Sie führte den Satz nicht zuende.
Er raffte sich auf. „Nein – nein, – Sie dürfen nicht sterben, Miß Dörcksen, – Sie nicht! Sie haben eine Mission zu erfüllen auf der Erde! Nicht umsonst tragen Sie das heilige Zeichen auf der Stirn. – Kommen Sie, – wir werden suchen! Vielleicht gibt es doch noch einen zweiten Ausgang …“
Sie wanderten durch das endlose Höhlengebiet, – stundenlang, ohne viel Eifer; suchten nur, um sich gegenseitig einzureden, sie hegten noch Hoffnung. Sie stiegen in die Tiefen hinab bis dorthin, wo jetzt ein kleiner unterirdischer See entstanden war durch die eingedrungenen Wasser des anderen Sees auf der Oberwelt.
Sie sprachen absichtlich von gleichgültigen Dingen. Und sahen doch den sicheren Tod vor sich.
Der junge Radscha merkte schließlich, daß Hella vor Müdigkeit fast umsank. Er führte sie in eine kleine Nebengrotte, scharrte die Steine hinweg, trug weichen Sand zusammen, bereitete ihr ein Lager, so gut es ging. Hella zitterte jetzt vor Frost. Er zog die Jacke seines Sportanzuges aus, bedeckte sie damit.
Dann saß er neben ihr, bewachte ihren Schlaf; beugte sich über sie, ganz tief …
Sie atmete ruhig. Ganz scheu streiften seine Lippen ihr Haar …
Ein seltsames Bild, das die qualmende Öllampe beschien.
Auch ihn befiehl bald die Abspannung. Er lehnte sich gegen die Felswand; sein Kopf sank tiefer. Er schlief ein.
Als er erwachte, brannte die Lampe nur noch ganz trübe. Das Öl war fast verbraucht.
Eine schmale Frauenhand streckte sich ihm entgegen …
„Mein Freund, wir werden zu sterben wissen. – Setzen Sie sich neben mich. Bevor wir die Qualen eines Hungertodes durch mitleidige Kugeln eines Revolvers abkürzen, will ich Ihnen die Frage beantworten, die vorhin auf Ihren Lippen schwebte und unausgesprochen blieb: Woher ich bereits Kenntnis von der Wolkenkönigin hatte, bevor Sie mich auf Ihren Armen an das Ufer des Heiligen Sees trugen. –
Mein Vater beschäftigte sich viel mit Erfindungen. So hatte er auch einen Apparat, eine komplizierte kleine Maschine konstruiert, die imstande war, ähnlich wie ein Phonograph – ein Aufnahmephonograph – das gesprochene Wort in seinen Rillen auf einem Metallzylinder festzuhalten und dann wiederzugeben. Das Wesentliche bei diesem Apparat meines Vaters war die Kraft, mit welcher der mit einer Diamantspitze versehene Stift die Rillen in das Metall – eine Legierung von verschiedenen Metallen – der Walze eingrub.
Als mein Vater im Riesengebirge verunglückte – seine Leiche haben wir nie gefunden! –, entdeckte ich in einem Geheimfach seines Schreibtisches eine dieser mit Rillen dicht bedeckten Walzen. Ich sagte mir, daß gerade diese eine besondere Bedeutung haben müsse.
Und als mir dann durch den Schalltrichter meines Vaters Stimme entgegenklang, als ich mit atemloser Spannung all das Seltsame vernahm, was er nur diesem Metall anvertraut hatte, da habe ich angenommen, er hätte hier nur die Phantasien eines überreizten Hirns festgehalten.
Von meiner Mutter, unserer Mutter, wußten wir beiden Kinder so gut wie nichts. Der Vater hatte stets behauptet, sie sei früh verstorben – auf einer Seereise, sei auch im Meer bestattet worden.
Ich habe jene Walze unzählige Male mir das wunderbare Märchen von der Wolkengöttin vorsprechen lassen. Ich kann es Wort für Wort auswendig.
Ich werde es Ihnen erzählen, Mahadur Mirat.
Dann … werden Sie wissen, was auch ich seit dieser Nacht erst weiß:
Daß es kein Märchen ist!“
Weshalb will ich die alten Wunden wieder aufreißen?! Weshalb nur?! Ist’s nicht genug, daß in meinem Herzen die Sehnsucht brennt mit nie erlöschenden Flammen, ist’s nicht genug, daß in meinem Gedächtnis die Erinnerung an fünf Jahre eines märchenhaften Glücks noch heute so rege ist, als läge all das nur Tage zurück?!
Weshalb also vertraue ich dem kalten, gefühllosen Metall der Walze das an, was bisher niemand ahnt?
Vielleicht deswegen, um meinen Kindern, wenn ich nicht mehr bin, endlich darüber Aufschluß zu geben, wer ihre Mutter war?
Wärs nicht besser, sie erführen nie, wo ihre Wiege gestanden? – Wird nicht auch über sie dann dieses Sehnen kommen nach dem Zauberland, das noch keines Sterblichen Auge geschaut außer mir …! Wird nicht das Sehnen wachsen und wachsen in ihnen nach der Frau, die ihre Mutter ist und die ihre Kinder doch verstieß, weil … der Vater treulos war …!
Und – werden Hella und Gari mich nicht verachten, weil ich durch bloße Neugier mein Glück verscherzte und ihnen die Mutter nahm …?!
Doch – meine Kinder sollen alles wissen – alles!
Nichts will ich beschönigen, nichts. Will mich, mein Schicksal so darstellen, wie es der Wahrheit entspricht.
Ich habe Naturwissenschaften und Chemie studiert; habe in Berlin zum Doktor phil. promoviert, weil dies zum guten Ton gehörte. Nebenbei hatte ich auch den Ingenieuren so manches abgelauscht, hatte große Fabriken besucht, mich als Konstrukteur betätigt. Mit sechsundzwanzig Jahren verkaufte ich das Patent für eine wirklich praktische Schloßsicherung an eine große Firma für fünfzehntausend Mark.
Fünfzehntausend Mark! Das bedeutete für mich, den einzigen Sohn des armen Postunterbeamten, ein Vermögen, mehr noch, das brachte mich dem Ziel meiner Wünsche näher.
Ich war ehrgeizig. Ich wollte berühmt werden. Ich beneidete die, deren Namen in der Liste großer Forscher und Entdecker obenan standen, deren Namen jedes Kind in der Schule lernte.
Damals machte gerade Swen Hedins neueste Tibetexpedition ungeheures Aufsehen. Alle Welt sprach nur von dem berühmten Schweden, diesem kühnen, unerschrockenen Gelehrten, der in Tibet eingedrungen war, das bisher jedem Europäer verschlossen geblieben.
Glühend beneidete ich Sven Hedin. Ich – haßte ihn beinahe. Er hatte mir etwas geraubt. Denn seit Jahren hatte ich selbst in Gedanken das vollbracht, was ihm nun tatsächlich geglückt war! Er hatte mir Tibet geraubt, den Ruhm, als erster die geheimnisvolle Hauptstadt Lhassa erreicht zu haben.
Tagelang fühlte ich mich bestohlen; tagelang stierte ich auf die Karte Zentralasiens, auf die Gebirgsketten des Himalaya, auf dieses Riesenbollwerk, das sich im Süden dem Land des Papstes der Buddhisten, des Dalai-Lama, vorschiebt.
Dann – in später Nachtstunde wars! – Dann fiel mein Blick auf einen Namen – auf den des Berges Gaurisankar, auf die eingeklammerte Zahl daneben: 8800 Meter.
Ich wußte: Kein Berg der Erde kommt ihm gleich! Er ist die Spitze der Welt. Niemand hat diesen Riesen bisher bezwungen. Versucht hatten es viele; berühmte Bergsteiger hatten Monate geopfert, dazu Unsummen. Alles vergebens. Gaurisankar, der „Strahlende“, blieb Sieger, scheuchte die armseligen Menschlein immer wieder hinab in die Täler durch eisige Stürme, trügerische Spalten, alles begrabende Schneeorkane.
Der Gaurisankar!
Da – fühlte ich mich nicht mehr bestohlen! Da hatte ich ein neues Ziel meines Ehrgeizes gefunden.
Und – die Mittel besaß ich ja, die Kosten der Reise bis hin nach Nepal, an dessen Nordgrenze das Bergmassiv des „Strahlenden“ liegt, und die weiteren Ausgaben für eine kleine Expedition zu tragen. – –
Drei Monate später war ich in „Klein Nepal“, einem Tal, in dem am Fuße des Chandraphirpasses die langgestreckte Ortschaft Chitlong liegt.
Ich kannte nun Indien, das Land der Sehnsucht Unzähliger. Und – ich war nicht enttäuscht worden. Es gibt nirgendwo auf der Erde wieder eine solche Fülle verschiedenartigster Eindrücke für den Reisenden als in dem unermeßlichen Kaiserreich Indien, dieser Hauptkolonie Englands. Ich kannte nun auch einen Teil des Berglandes Nepal, hatte bereits in 6500 Fuß Höhe den Sissagaripaß überschritten, nur begleitet von meinem nepalesischen, englisch radebrechenden Führer, und war froh, mich erst einmal in dem von herrlichen Holzschnitzereien überladenen Rasthaus von Chitlong von dieser ermüdenden Kletterei, bei der selbst die Bergponys oft genug streiken, ausruhen zu können.
Mein Zimmer in diesem sauberen, öffentlichen Hotel, in dem man für ein Geringes Unterkunft und Verpflegung fand, hätte mir noch mehr behagt, wenn ich einen anderen Nachbar gehabt hätte.
Ich war mittags eingetroffen und suchte sofort nach dem Essen einige Stunden zu schlafen. Doch mein Zimmernachbar zur Linken war ein sehr unruhiger Geist, wanderte unermüdlich mit schweren Stiefeln auf und ab und führte halblaute Selbstgespräche.
Die Zwischenwände waren so dünn, daß man bei einiger Aufmerksamkeit leicht die Worte verstand.
Der Mann drüben mußte wohl Ingenieur – Mineningenieur – sein. Er sprach das Englische mit einem besonderen Akzent. Und was er sprach, handelte immer wieder von Gold – Goldstangen – Goldfundstellen.
An Einschlafen war nicht zu denken. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte gegen die Wand gehämmert, mir Ruhe ausgebeten.
Dann fiel eine Tür krachend ins Schloß. Mein Nachbar hatte sich entfernt. – Ich schlief bis gegen Abend. Dann durchstreifte ich die nächste Umgebung der Ortschaft, sah mir den kleinen Buddhistentempel an und belächelte die Gebetmühlen, die für den Besitzer mühelos den mit Gebeten beschriebenen Papierstreifen drehen und ihn durch jede Umdrehung dem buddhistischen Paradies näher bringen.
Neben dem Tempel zog sich ein Waldstück eine Berglehne hinauf. Ich erspähte droben ein paar Bergziegen und bildete mir ein, sie beschleichen zu können. Ich trug unter der Sportjoppe eine moderne Pistole mit langem Lauf, mit der ich bis auf sechzig Schritt tadellos traf, wenn ich für die Waffe einen Stützpunkt hatte.
Ich drang also in den Wald ein, verlor das Wild natürlich aus dem Gesicht und erkannte bald das Törichte dieser Pirsch. Inzwischen war es auch dunkel geworden. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt. Es begann zu tröpfeln.
Ich beeilte mich, das behagliche Rasthaus wieder zu erreichen. Da, unweit des Waldsaumes, vernahm ich plötzlich von rechts etwas wie Hilferufe. Ich blieb stehen, lauschte.
Alles still. – Und doch, ich konnte mich nicht getäuscht haben!
Ich suchte den Waldrand ab. Und – mit einem Male gewahrte ich eine Gestalt, die eiligst den ersten Häusern zulief. Den Mann, der sich in so auffälliger Weise entfernte, konnte ich der Dunkelheit wegen nicht erkennen. Es war eben nur eine Gestalt, die sehr schnell dann meinen Blicken entschwand.
Immerhin bestärkte diese Beobachtung mich in meinem Argwohn, daß hier in meiner Nähe ein Verbrechen verübt worden sei.
Ich suchte weiter.
Und – ich fand auch einen Mann mit einer schweren Kopfwunde, dem außerdem noch ein dünner Strick so fest um den Hals geknotet war, daß ich zum Lebensretter dieses Armen wurde. Wäre ich auch nur Minuten später an die Stelle gelangt, wo er in einem Gebüsch bewußtlos lag, so hätte er ersticken müssen.
Ich brachte ihn in kurzem ins Leben zurück, fragte ihn dann, da er sich schnell erhohlte, wer ihn überfallen habe.
Er verstand mich nicht, machte nur allerhand Zeichen, die mir zunächst genau so unverständlich blieben.
Ich wollte ihn stützen, ihn mit ins Rasthaus nehmen. Er schüttelte den Kopf. Abermals suchte er mir irgend etwas zu erklären. Ich begriff nicht, was.
Es wurde dunkler und dunkler. Als der Mann – er war von heller Hautfarbe, aber doch wohl kein Europäer – dann einen Schwächeanfall hatte, lud ich ihn mir auf die Schulter und trug ihn unbemerkt in mein Zimmer, verband hier seine Wunde, gab ihm zu essen und zu trinken und freute mich, als er auf meinem Lager in einen festen Schlaf fiel.
Ich selbst bereitete mir ein Notbett aus Decken und Kleidungsstücken. Als ich frühmorgens von meinem nepalesischen Führer geweckt wurde, erhob sich auch mein unbekannter Gast, drückte mir dankbar die Hand und wollte mich verlassen.
Es war ein Zufall, daß auf dem Tisch eine von mir selbst gezeichnete sehr übersichtliche Karte von Nordnepal und den benachbarten Ketten des Himalaya lag. Auch der Gaurisankar war natürlich deutlich darauf zu erkennen. Und in Blau hatte ich den Weg vermerkt, den ich bis zum Fuße des „Strahlenden“ zu nehmen gedachte.
So lernte ich Gari Dingra kennen, der mit meinem späteren Schicksal so eng verknüpft war. –
Die selbstgezeichnete Karte erregte des Fremden Aufmerksamkeit. Obwohl er bereits der Tür sich zugewandt hatte, blieb er plötzlich stehen, beugte sich über den Tisch und stierte geradezu wie verzückt auf die Karte.
Sein Benehmen war mir unerklärlich.
Nach Minuten erst richtete er sich auf. Aus seinen dunklen, großen Augen traf mich ein fragender Blick, glitt dann wieder hin nach der Karte.
Jetzt erst, wo das helle Tageslicht mir dieses Mannes Züge mit allen Einzelheiten zeigte, erkannte ich, wie edel und regelmäßig sein Gesicht war, wie sehr nicht nur die Hautfarbe, sondern auch das dunkelblonde, glatt zurückgestrichene Haar an einen Europäer erinnerten. Vom Mongolen oder Inder hatte dieser Fremde nichts an sich. Und seine ausdrucksvollen, ich möchte fast sagen klugen und seelenvollen Augen gaben mit ihrem Schimmer von Schwermut diesem Antlitz noch einen besonderen Reiz.
Wieder starrte er auf die Karte.
Wieder hob er den Blick, begann nun allerlei Zeichen mit den Händen, den Fingern zu machen, fuhr mit dem Zeigefinger die blaue Linie auf der Karte entlang und wies dann auf meine Füße, drückte selbst auch durch Beinbewegungen das Wort Gehen, Marschieren aus.
Endlich verstand ich ihn. Er wollte wissen, ob ich die Absicht habe, bis dorthin vorzudringen, wo die blaue Linie endete. – Ich nickte. Da ergriff er abermals meine Hand, führte sie an seine Brust und machte mir klar, ich solle ihn mitnehmen.
Wieder nickte ich. –
Und so wurde Gari Dingra mein Diener. –
Als ich mit ihm auf der Veranda des Rasthauses erschien und dort frühstückte, erregte Gari geradezu Aufsehen. Zwei Engländer kamen zu mir, stellten sich als Offiziere vor und fragten, wie ich zu diesem Diener gekommen sei, dessen Gesicht und Kleidung – er trug eine Art Jacke und enge Hosen aus reichbesticktem Wollstoff, hohe Ledersandalen und ein noch reicher gesticktes Hemd mit weichem Kragen – sie als gute Kenner der asiatischen Völker nirgends unterbringen könnten.
Da mir Gari Dingra inzwischen sowohl seinen Namen genannt, indem er auf sich selbst zeigte und das Gari Dingra mehrmals wiederholte, als auch weiter zu verstehen gegeben hatte, ich solle die Vorgänge des verflossenen Abends, also den an ihm verübten Mordversuch verschweigen, band ich den beiden Herren irgend ein Märchen auf.
Sie forschten dann Gari aus, gebrauchten alle möglichen Sprachen und Dialekte, schüttelten die Köpfe und meinten, der hübsche, stattliche Bursche – Gari war damals dreiundzwanzig Jahre alt – müsse einem ihnen und wohl überhaupt noch unbekannten Stamm angehören. –
Wir drei – ich, der Nepalese Bhimpedi und der neue Diener – brachen um sieben Uhr morgens auf, erreichten mittags nach einer außerordentlich ermüdenden Klettertour die Höhe des Chandraphiripasses und wurden hier für all die Strapazen wahrhaftig königlich belohnt, – wenigstens Gari und ich, denn Bhimpedi ließ das Bild vor uns recht kalt.
Die Nebel lichteten sich nämlich. Die Sonne kam.
Das, was ich dann sah, überwältigte mich.
Tief unter mir lag Khatmandu, die Hauptstadt des Königreiches Nepal, mit ihren vergoldeten Tempeln, ihren phantastischen Bauten, während im Hintergrund eine endlose Kette schneestarrender Berge sich vom lichten Blau des Horizontes abhob.
Das waren sie in ihrer ganzen, mit Worten nicht zu schildernden Majestät, – sie, die Bergriesen unseres Planeten, die höchsten Erhebungen des Himalaya, alle überragend der mächtige Gaurisankar, der „Strahlende“ – das Ziel meiner Sehnsucht!
Tief ergriffen stand ich da …
Ringsum tiefe Stille. Nur die Ponys, die das Gepäck trugen, scharrten mit den Hufen …
Neben mir ein leises Aufschluchzen plötzlich …
Gari Dingra hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte … weinte … –
Erst später erfuhr ich weshalb …
Damals hielt ich es für übergroße Ergriffenheit. –
Abends waren wir in Khatmandu. Ich stieg in einem Hotel dicht am Paradeplatz ab. Die Nepalesen sind ja begeisterte Soldaten. Das Heer des Königreichs ist ganz modern ausgebildet und bewaffnet.
Da ich gute Empfehlungsbriefe an den ersten Minister Maharadscha Bir Shum Shere besaß, erhielt ich ohne Schwierigkeiten die Erlaubnis, in den Vorbergen des Gaurisankar Wild jeder Art zu jagen. Meine wahren Absichten verschwieg ich nämlich, um nicht, falls mein Unternehmen mißlang, die Zahl derer öffentlich zu vermehren, die dem „Strahlenden“ umsonst Zeit, Geld und erfrorene Gliedmaßen oder gar das Leben geopfert hatten.
In aller Stille ergänzte ich meine Reiseausrüstung. Nebenher machte ich Ausflüge in die Umgegend der Hauptstadt und lernte so die Eigenart der Nepalesen und ihres Landes genügend kennen, besonders ihre geradezu widerwertige Unsauberkeit, die zum Beispiel die Innenhöfe ihrer quadratischen Häuser zu Düngerhaufen, Kinderspielplatz, Viehstall und … Speisezimmer macht.
Am dritten Tage besuchte ich den großen Buddhistentempel in dem nahen Bodnath, dessen Außenmauer eine Länge von über drei Kilometer hat. Als ich diese Mauer umschritt, in die vierzig Nischen mit je fünf Gebetmühlen eingelassen sind, rannten gerade einige dutzend Pilger um die Mauer herum und setzten dabei jede einzelne Mühle in Bewegung. Dies gilt für ein besonders gottgefälliges Werk.
Hier nun gesellte sich ein Amerikaner zu mir, einer jener reichen Nichtstuer, die überall und nirgends zu Hause sind und eine Art vornehmes Zigeunertum darstellen.
Master Allan Leakwoord war noch jung, etwa in meinem Alter. Wir kamen ins Plaudern, da wir uns gleichzeitig heimlich vor Lachen ausschütteten über die frommen Nepalesen, die wie die Verrückten um die Mauer herumgaloppierten, bei jeder Nische halt machten, die Mühlen drehten und weiter rasten.
Leakwoord wohnte in meinem Hotel, wie sich bald herausstellte. Wir schlossen uns enger aneinander an. Er glaubte nicht recht an meine Jagdexpedition, zumal ich allerlei Ausflüchte gebrauchte, als er mir seine Begleitung anbot. Und dann sagte er mir bald auf den Kopf zu, daß ich den Gaurisankar besteigen wolle, lächelte dabei und meinte, er begreife meinen Ehrgeiz nicht recht; er würde so etwas wohl aus sportlichem Interesse unternehmen, aber nie des Ruhmes wegen.
Schließlich einigten wir uns. Er wollte mitkommen, mir aber im Falle des Gelingens ganz allein die erhoffte Bewunderung der Welt gönnen, das heißt, seine Teilnahme an der Expedition verschweigen.
Als ich Gari Dingra, der erstaunlich schnell etwas Deutsch gelernt hatte, erklärte, Master Leakwoord würde uns begleiten, denn Gari wußte, wohin die Reise gehen sollte, schüttelte der sehr ernst den Kopf und radebrechte:
„Falsche Mann, Herre Doktor. Sehr falsche Mann.“
Diese Warnung machte mich recht stutzig, zumal Gari den Amerikaner bisher stets freundlich behandelt hatte. Garis Benehmen war überhaupt in vielem recht sonderbar. Er litt an Anfällen von Schwermut. Oft traf ich ihn mit tränenfeuchtem Gesicht an. Besondere Vorliebe zeigte er für meine Karte des Gaurisankar. Eines Tages wurde ich gewahr, daß er nördlich des „Strahlenden“ einen kleinen Kreis mit Bleistift eingezeichnet hatte. Als ich ihn fragte, weswegen er dies getan habe, wurde er sehr rot und verlegen. –
Erwähnen muß ich noch, daß Gari in der Mitte der Stirn dicht unter dem Haaransatz ein kleines Muttermal in Form eines vierzackigen Sterns hatte. Als ich es zuerst bemerkte und flüchtig darüber hinwegsah, ahnte ich nicht, welche seltsame Bedeutung es hatte. –
Vergebens verlangte ich von Gari Aufklärung über den Grund zu seiner Warnung vor Allan Leakwoord. Er tat, als verstünde er mich nicht. Aber an demselben Tage führte er mich in eine Opiumkneipe, die mir bis dahin ganz unbekannt war, und zeigte mir in einer der durch Decken verhangenen Kojen den in tiefem Opiumrausch daliegenden Amerikaner, der sehr unruhig zu träumen schien.
Sonst war die Kneipe leer. Zum Schein hatte ich für jeden von uns eine Opiumpfeife bezahlt und war daher auch ganz einverstanden, als Gari mir andeutete, ich solle mich in die Koje neben Leakwoord legen.
Gari verschwand. Was er beabsichtigte, war mir klar. Er wünschte, daß ich den Träumenden, der allerlei halblaut vor sich hinmurmelte, belauschte.
Ich hätte dies nun wohl für unter meiner Würde gehalten, wenn mich nicht sofort die flüsternde Stimme des Amerikaners an die des unruhigen Nachbars aus dem Rasthaus in Chitlong erinnert und wenn nicht Leakwoord deutlich das Wort Goldstange ausgesprochen hätte.
Ich bereute nicht, so den Lauscher zu spielen.
Zum Schein an der Opiumpfeife saugend, achtete ich auf jedes seiner Worte. Mein Mißtrauen war erwacht. Er hatte mir offenbar absichtlich verschwiegen, daß er ja in Chitlong im Rasthaus Station gemacht hatte.
Ich schob den Kopf sehr bald durch einen Riß, den ich in den unsere Kojen trennenden Vorhang geschnitten hatte, hindurch und versuchte bei ihm jenen Trick, durch den man gerade Opiumberauschte häufig zum Antworten auf bestimmte Fragen bewegen kann, ohne daß sie später ahnen, jemandem ihre Geheimnisse verraten zu haben.
Ich beugte den Kopf tief über den seinen, blies ihm auf die Stirn, raunte ihm dann recht energisch zu:
„Du warst in Chitlong? Im Rasthaus? Wann?“
Man merkte ihm an, daß selbst sein betäubtes Hirn sich sträubte, etwas zu erwidern. Er warf sich noch unruhiger hin und her. Sein Gesicht verzerrte sich geradezu schreckenerregend.
Ich wiederholte das Anblasen und die Fragen.
Und – da kams über seine Lippen, – röchelnd, widerwillig, stoßweise:
„Ich – war – dort – – am zweiten Mai …“
Ah – es stimmte! –
Ich wagte nun mehr. – Ich hatte nämlich inzwischen herausgemerkt, daß es mit seinem Reichtum nicht weit her sein könne und daß er offenbar auch Grund hatte, mit der Europäerkolonie in Khatmandu nicht in Berührung zu kommen.
„Du bist nicht reich, nicht wahr? Nicht Millionärssohn?“
Erst nach zweimaligem Anblasen dann ein heiseres:
„Nein …“
Und wieder eine andere Frage:
„Du suchst hier in Indien und Nepal nach Gold? Kennst du Fundstellen?“
Da – zu meiner namenlosen Überraschung die Antwort:
„Gari Dingra – – Gold – – viel Gold – – Stangen.“
Leider betraten jetzt zwei Chinesen die Kneipe. Ich stand daher auf und ging hinaus.
Daß irgend etwas mit diesem Allan Leakwoord nicht stimmte, wußte ich nun. Ich wäre ihn gern wieder losgeworden. Aber ich fand nur keinen rechten Grund, mit ihm zu brechen. – –
Acht Tage später waren wir zu vieren bereits mitten in der Eis- und Schneewüste der Vorhöhen des Gaurisankar.
Zu vieren: Leakwoord, ich, Gari Dingra und ein Nepalese namens Chatli Shen, ein erprobter Bergführer. – Den für vierzehn Tage berechneten Proviant trugen wir zum Teil in praktischen Rucksäcken, zum Teil war er fünf großen nepalesischen Hunden aufgeladen. Ich war recht stolz auf diesen Gedanken, Hunde als Tragtiere bei der Expedition zu verwenden. Niemand vor mir hatte hieran gedacht. Nicht minder stolz war ich auf die nach meinen Angaben hergestellten Bergsteigerschuhe für unsere Hunde. Diese Schuhe, innen weich gefüttert und mit scharfen Stacheln an der Sohle versehen, bewährten sich vorzüglich. Die Tiere gewöhnten sich sehr bald daran, nachdem sie erst ein paarmal unbeschuht ein paar schmerzhafte Rutschpartien gemacht hatten. Sie waren klug und anhänglich. Meinen Lieblingshund hatte ich Herkules getauft. Er allein schleppte auf dem Rücken gegen siebzig Pfund mit Leichtigkeit.
Zu unserer Ausrüstung gehörten auch ein doppelwandiges Zelt mit zusammenschiebbaren Zeltstöcken, ferner ein Kochapparat für Hartspiritus und vier Schlafsäcke.
Die ersten drei Tage im Gebiet des „Strahlenden“ verliefen ohne Zwischenfall. Wir drangen absichtlich recht langsam vorwärts, prüften erst das Vorgelände sehr genau stets zu zweien aneinandergeseilt, bevor wir uns endgültig weiter wagten.
Ich hatte mich mit der Begleitung Leakwoords inzwischen wieder völlig ausgesöhnt. Er schonte sich nicht. Er war fast zu waghalsig beim Prüfen trügerischer Schneebrücken, dabei ausdauernd und gewandt. Sein Verhältnis zu Gari Dingra blieb das gleiche, scheinbar beiderseits freundschaftlich und aufrichtig.
Am vierten Tage nach einem Nachtlager auf einem sanft geneigten Schneefeld fanden wir den bis dahin klaren Himmel mit dichtem Gewölk bedeckt. Ein eisiger Sturm umheulte die Berge und drohte unser Zelt mitzunehmen.
Chatli Shen, der Nepalese, machte ein sehr bedenkliches Gesicht. Er schlug vor, das Ende des Sturmes in einer geschützten Schlucht nördlich des Schneefeldes abzuwarten. Umtost von den Stößen eines wahren Orkans, der überall den losen Schnee zu hohen Wolken hochtrieb, und bei achtzehn Grad Kälte brachen wir das Zelt ab und beluden die braven Hunde und uns mit dem Gepäck. Dick vermummt in Pelze und Unterzeug aus feinster Wolle, strebten wir der Schlucht zu. Es waren etwa dreihundert Meter bis dahin. – Nur dreihundert Meter! – Aber – was bedeutet eine solche Strecke auf einem Boden, der tausend Tücken hat, und bei einem Sturm, der so und so oft die schwer bepackten Hunde umwarf, so daß wir sie wieder auf die Füße stellen mußten. Ohne Hilfe kamen sie nicht hoch.
Kaum hatten wir dann in der Schlucht das Zelt aufgestellt, als ein Schneetreiben begann, wie ich es bis dahin nicht erlebt hatte. Man sah nicht die Hand vor Augen. In zehn Minuten waren wir in unserem Zelt völlig begraben.
Chatli Shen, der am Gürtel neben dem kurzen breiten Dolch eine kleine Gebetmühle trug, hockte stumpfsinnig da und drehte unablässig die Mühle. Er betete für uns alle. Gari Dingra wieder saß wie immer zwischen den Hunden, die ihn mit ihren Liebesbeweisen auch jetzt fast erdrückten. Wenn das Wort zutrifft, daß der, der tierlieb, auch ein guter Mensch ist, so mußte Gari eine Seele von Mann sein. Selbst mein Herkules teilte seine Liebe stets zwischen Gari und mir. –
Er saß, von den Hunden umgeben, in einem Winkel und schien zu schlafen. Die kleine Öllampe, die an einem Draht von der Zeltdecke herabhing, ließ Einzelheiten nur undeutlich erkennen. –
Leakwoord war in seinen Schlafsack gekrochen und rauchte Zigaretten. Vorhin hatte er kurz gemeint: „Wenn dieser Schneesturm noch eine Stunde anhält, können wir unser Testament machen.“ Er war meist brutal offen. Aber es war nicht jene Offenheit, die starke Naturen lieben. Nein – seine grauen Augen, die in dem bartlosen Gesicht nur wie Schlitze lagen, widersprachen dieser Offenheit. Erst hier in der Eis- und Schneewüste war es mir aufgefallen, daß wenn er sie einmal öffnete, darin ein Ausdruck von lauernder Unaufrichtigkeit war. Doch, man soll sich ja durch solche Beobachtungen nicht beeinflussen lassen. Nicht jeder, der einen falschen Blick hat, ist falsch.
Ich selbst saß neben Gari Dingra und schrieb an meinem Tagebuch – mit erstarrten Fingern, denn im Zelt waren fünf Grad Kälte trotz des Spirituskochers, der in der Mitte stand und in dessen Aluminiumtopf die Reste einer gestern von mir erlegten Bergziege zusammen mit Reis kochten.
Das Brozeln im Topf, das Klappern der Gebetmühle, das schwere Atmen der schlafenden Hunde waren jetzt die einzigen Geräusche, die ich hörte. Die auf dem Zelt lagernden Schneemassen, die stetig wuchsen, hatten das Heulen des Sturmes immer undeutlicher gemacht und schließlich gänzlich verstummen lassen. Dann hörte ich noch etwas anderes: daß Gari dauernd leise murmelnd die Lippen bewegte. –
Dann sah ich auch, daß er in den im Schoß gefalteten Händen etwas Helles, Glitzerndes hielt, auf das er unverwandt hinstarrte. Ich beugte mich tiefer und erkannte, daß das Helle, Glitzernde ein sechszackiger Stern aus einer weißen Masse war, ein flacher Stern, auf dessen rundem Mittelstück ein Bild gemalt war, das mit Diamantsplittern ausgelegt sein mußte.
Also auch Dingra betete. – Zu wem? – Ich wußte ja noch immer nicht, zu welchem Volksstamm er gehörte. Ich hatte ihn verschiedentlich über seine Heimat ausforschen wollen. Dann hatte er seine Zuflucht zu dem einfachsten Mittel genommen, einer Antwort zu entgehen: er tat, als wüßte er nicht, was meine Fragen bedeuteten.
Das Essen war fertig. Wir aßen schweigend. Die Hunde hatten bereits vorher ihren Anteil an den Resten der mageren Bergziege erhalten.
Es war jetzt zwölf Uhr mittags. – Leakwoord schälte sich aus seinem Schlafrock heraus, band den dreifachen Vorhang vor dem Zelteingang an einer Seite los und suchte mit Hilfe der einzigen hölzernen Schneeschaufel, die wir mit hatten, ins Freie zu gelangen. Er arbeitete unverdrossen eine Stunde. Dann hatte er einen Canon im Schnee hergestellt, so daß wir hinaus konnten.
Die Sonne schien wieder. Und drüben winkte der Gaurisankar, jetzt in Wahrheit ein strahlender Berg, umflutet von den Lichtmassen des belebenden Tagesgestirns. Er winkte herüber; es sah so spielend leicht aus, ihn zu bezwingen … – und abermals schwor ich mir leise zu, mein Vorhaben unter keinen Umständen aufzugeben, sollte es auch mein Leben kosten.
Der Orkan hatte stellenweise geradezu ungeheure Schanzen aufgetürmt, anderswo wieder die vereisten Flächen glatt wie eine Tenne gefegt.
Wir brachen schleunigst auf. Heute war die Reihe an Leakwoord und Gari, die Pfadsucher zu spielen. Während wir das Zelt wegpackten, seilten sie sich an und verließen uns mit kurzem Gruß. Wir waren ja überhaupt eine recht schweigsame Gesellschaft. Viele Worte machten wir nicht. In dieser erhabenen Einöde verlernt man das Sprechen.
Was sich dann ereignete, hat Allan Leakwoord mir genau genug geschildert. –
Sie kamen bald an einen ungeheuren Schlund, der weithin den Weg sperrte, der sich nicht umgehen ließ. Nur an einer Stelle führte eine schmale Eisbrücke hinüber.
Gari Dingra als der leichtere von beiden kroch auf allen Vieren los, – sollte hinüberkriechen, kam aber nur bis zur Mitte des trügerischen, acht Meter langen Bogens.
Ein Knistern – ein gellender Aufschrei …
Die Eisbrücke war eingestürzt, und Gari hing an der Südwand des Schlundes sieben Meter tief an dem Seil, das Leakwoord hielt, der dann sofort den Verunglückten hochzuziehen suchte. Er hatte jedoch nicht mit den scharfen Kanten des Eises gerechnet, hatte wohl auch überhastet begonnen, an dem Strick zu ziehen, um Gari aus dem Schlund zu befreien. Das Seil scheuerte sich durch … Plötzlich fiel Allan Leakwoord nach hinten über; die Leine war gerissen, und mit dem in seinen Händen verbliebenen Stück stürzte er selbst in eine kleinere Kluft, schlug hart mit dem Kopf auf und verlor das Bewußtsein. –
Als die beiden Pfadsucher nach anderthalb Stunden noch immer nicht zurückgekehrt waren, wurden Chatli Shen und ich unruhig. Wir ließen die Hunde und das Gepäck zurück, seilten uns an und folgten ihren Spuren.
Wir fanden erst Leakwoord, holten ihn mühsam aus der Kluft heraus, brachten auch bald Leben in seine erstarrten Glieder. Er hatte nur eine kleine Beule an der Stirn. Es war wohl mehr der Schreck gewesen, der ihm die Besinnung geraubt. Er hatte auch großes Glück gehabt, war unten in eine tiefe, weiche Ansammlung von Neuschnee gefallen.
Dann erst sahen wir uns nach Dingras Leiche um. Mir ging sein jähes Ende sehr nahe. Wir legten uns am Rande des breiten Schlundes lang auf den Bauch und schauten hinab. In dem Dämmerlicht der furchtbaren Tiefe war schwer etwas zu unterscheiden.
Erst Chatli Shen mit seinen vorzüglichen Augen entdeckte ihn. Er lag auf einem Eisvorsprung etwa zehn Meter unter uns, halb begraben in nachgefallenem Schnee. Nur die Spitze eines Stiefels war zu sehen.
Leakwoord meinte, wir sollten die Leiche lassen, wo sie war. – „Tot ist er doch. Er wird das Rückgrat gebrochen haben,“ fügte er hinzu.
Chatli Shen und ich wollten uns jedoch um jeden Preis erst überzeugen, ob Dingra wirklich nicht mehr am Leben war. Der Nepalese wurde dann hinabgelassen, band Gari an das Seil, und Leakwoord und ich hißten den regungslosen Körper hoch, zogen dann auch Chatli Shen wieder empor.
Welche Freude: Gari atmete noch! – Ich verstand einiges von Medizin, untersuchte ihn. Er hatte zwei Rippen gebrochen.
Er lebte und würde genesen! – Aber – für mich bedeutete dieser Unfall das Scheitern der Expedition. Wir mußten ja bei dem Kranken bleiben, den wir weder vorwärts noch zurück transportieren konnten. – Wir trugen Gari zu den Hunden und dem Gepäck in die kleine Schlucht. Ich war so niedergeschlagen, daß ich kein Wort sprach. Ich merkte, daß Gari mich heimlich beobachtete.
Gleich darauf, als ich ihn sorgfältig bettete, ihm einen zweckmäßigen Verband anlegte, und wir allein miteinander waren, ergriff er meine Hand, machte mir verständlich, daß wir ihn hier in einer Schneehütte mit etwas Proviant und einem der Hunde zurücklassen sollten. Er würde sich nachher schon allein in die wärmeren Täler zurückfinden.
Dann tastete er nach seinem Hals, holte den an einer Elfenbeinkette von zierlichster Arbeit hängenden Stern hervor, sah sich scheu um, drückte ihn mir in die Hand.
„Gut verbergen … Vielleicht helfen …,“ flüsterte er, und seine wundervollen Augen strahlten in innigster Dankbarkeit mich an. „Auch Vorsicht vor … Leakwoord!“ fügte er hinzu. Sein Blick wurde dabei anders, – drohend, haßerfüllt.
Chatli Shen nahte. Ich steckte den Stern schnell in die Tasche meines Pelzrockes. –
Allan fand Garis Vorschlag durchaus vernünftig, meinte, wir könnten ihn ja in jedem Fall auf dem Rückweg abholen. – Wir blieben noch eine Nacht in der kleinen Schlucht, nahmen dann Abschied von Dingra. Ich ahnte nicht, daß es ein Abschied für immer war. –
Zwei Tage darauf erkletterten wir drei mit unseren vier Hunden einen Gletscher bei zweiundzwanzig Grad Kälte. Der Höhenmesser zeigte 7200 Meter an. Der Hauptgipfel des Gaurisankar war uns nun recht nahe gerückt. Ich hoffte bestimmt, daß wir in weiteren zwei Tagen am Ziele sein würden. Stiller Jubel erfüllte bereits meine Brust. –
Der Gletscher kam von einem Schneefeld herab, jenseits dessen wir mit bloßem Auge einen ungeheuren, steil abfallenden Eiswall bemerkten. Mittags rasteten wir, schlugen schnell das Zelt auf, bereiteten das Essen zu und brachen dann wieder zu zweien auf, – Chatli Shen und ich, um jenes riesige glitzernde Hindernis da vor uns näher zu erforschen. Zwei Stunden irrten wir am Fuße der vielleicht einhundertundfünfzig Meter hohen Eisbarriere entlang. Ganz mutlos kehrten wir schließlich um. Wir hatten eingesehen, daß wir das Hindernis umgehen müßten, was uns mindestens wieder zwei Tage aufhalten würde.
Und dann – kam uns Allan Leakwoord entgegengelaufen.
Eine neue Hiobsbotschaft! Er hätte uns folgen wollen, da wir so lange weggeblieben wären, hätte auch bereits die drei anderen Hunde außer meinem Herkules bepackt gehabt, als die drei Tiere dann plötzlich aus irgend einem ihm unbekannten Grund nach Süden zu auf unserer alten Fährte davongerannt und in einen Abgrund gestürzt seien. –
Wir standen am Rande dieses Abgrundes, in dessen Tiefen schwarze Nacht lagerte, standen und lauschten. Nichts war zu hören – nichts! Und wenn wir vielleicht auch ein paar klagende Laute der treuen vierbeinigen Gefährten aufgefangen hätten, – was hätte es uns genützt?! –
Heute gab es doch einen kleinen Wortwechsel zwischen Allan und mir. Ich machte ihn für dieses Unheil, für den Verlust des größten Teils des Proviants und für den Tod der Hunde verantwortlich; er hätte besser auf diese achtgeben müssen …
Gewiß – wir söhnten uns wieder aus. Er erklärte jedoch abends, er für seine Person würde jetzt umkehren; wir sollten ihm nur das Allernötigste für den Rückweg bewilligen; er habe die Sache satt.
Wir trennten uns wirklich am anderen Morgen. – Der Nepalese zauderte nicht einen Augenblick, wem er sich anschließen solle. Er blieb bei mir – zu seinem Unglück! –
Mittags hatten wir den abwärts wandernden Leakwoord aus den Augen verloren. Gegen zwei Uhr nachmittags entdeckten wir in der Eisbarriere zu unserem Erstaunen weit nach Westen zu eine schmale Öffnung, in der sich eine Geröllhalde nicht allzu steil aufwärts zog. Unser Erstaunen wuchs, als wir sahen, daß von den Eiswänden dieses Tunnels das Wasser herniedertropfte und kleine Rinnsale bildete. –
Wir befanden uns hier in 7780 Meter Höhe. So weit war noch keiner von all denen gekommen, die den Gaurisankar hatten erobern wollen. Mich hatte das Wetter in seltenem Maße begünstigt. Außerdem hatte ich aber auch eine Richtung gewählt, die bisher von all meinen Vorgängern als die scheinbar die meisten Schwierigkeiten bietende verschmäht worden war.
In dem Tunnel herrschte tiefe Finsternis. Die Lichtstrahlen unserer kleinen Zeltlampe wurden durch die glitzernden Eiswände hundertfach verstärkt. Der Anblick dieser ansteigenden, engen Eisgrotte mit ihren durch Schmelzwasser ausgewaschenen phantastischen Wandverzierungen war so prachtvoll, daß ich ein über das andere Mal in laute Rufe der Begeisterung ausbrach. –
Der Tunnel schien endlos zu sein, machte nur wenig Krümmungen und hatte bereits hundert Meter vom Eingang eine Lufttemperatur von Plus zwei Grad. – Ich begriff nicht, wo die Wärmequellen sich befinden konnten, die dieses Wunder zustande brachten.
Chatli Shen war mir jetzt einige zwanzig Schritt voraus, verschwand um eine Biegung.
Da – knurrte Herkules, der unter seiner Last neben mir her keuchte, so seltsam, als wittere er irgend eine Gefahr.
Und ich sah, wie sich auch seine Rückenmähne sträubte.
Vor mir jetzt ein gellender Schrei:
„Sahib – zu Hilfe …!“
Ich raste vorwärts, um die Biegung herum, hob die Laterne, stolperte fast über Chatli Shens Körper.
Er lag auf dem Steingeröll, halb auf den linken Arm gestützt. Und – in seinem Wams – in seiner Brust – den Pelzrock hatte er unterm Arm getragen – steckte das gefiederte Ende eines Pfeils …!
„Sahib – Vorsicht …!“ hauchte der Verwundete, als ich mich über ihn beugte. „Vorsicht …! Von dort kam der Pfeil …!“ Er deutete auf ein paar Felsblöcke weiter oben im Eistunnel.
Ich schaute scharf hin … Ich bemerkte nichts.
Abermals flüsterte der Nepalese, dessen Augen in den Höhlen immer tiefer zu sinken schienen und aus dessen Mundwinkeln feine Blutfäden zum Kinn hinabliefen:
„Sahib – – Allan Leakwoord – – ein Verräter – – das Seil Gari Dingras … mit dem Messer aufgerauht … die Hunde … weggejagt …“
Und in demselben Augenblick knurrte Herkules abermals …
Ich wollte aufspringen. Da war bereits etwas durch die Luft gezischt … Eine Schlinge legte sich um meinen Hals … Ein furchtbarer Ruck warf mich auf das Gesicht … Ich hörte noch meines braven Hundes jammervolle Sterbetöne, fühlte einen Schlag gegen die rechte Schläfe … Dann verlor ich die Besinnung.
Ich erwachte auf einer niederen Lagerstatt, auf einem mit Fellen bespannten Rahmen, auf kostbaren Decken. Unter meinem Kopf lag ein Polster; über mir hing ein ausgestopfter Pfau.
Das war das erste, was ich wahrnahm.
Meine Schläfe war verbunden. Ich fühlte die Kälte einer Kompresse. – Ich drehte den Kopf ein wenig, musterte das Gemach, die Einrichtungsgegenstände …
Alles, was ich sah, hätte für ein altgriechisches Schauspiel als Ausstattung gepaßt. Auch die alte Frau, die neben meinem Lager auf einem Schemel saß, ein faltiges Antlitz, graue Haarsträhnen, aber klassisch reine Linien und … wundervolle, dunkle, große Augen.
Die Alte schaute mich ernst an; fast mitleidig; reichte mir einen kostbar verzierten Becher; Gold, gediegenes Gold; schwer, als enthielte er flüssiges Blei. – Ich trank. Es schmeckte köstlich, schmeckte nach Honig, Orangen, Mandeln und doch auch wie leichter Wein. –
Fünf Tage sah ich niemand als diese alte, stumme Pflegerin, – stumm, denn jede Verständigung mit ihr war ausgeschlossen. Nur durch Zeichen deutete ich meine Wünsche an. Sie wurden sämtlich erfüllt.
Durch eine von einem schweren, golddurchwirkten Vorhang verdeckte Türöffnung gelangte man in einen mit weißem Marmor ausgelegten Baderaum. Die Wanne aus Marmor; die Bank aus Marmor; die Säule und die kleine Statue einer Nymphe an der Wand aus Marmor.
Aus meiner Zelle, deren einziges Fenster außen geschwungene Ziergitter hatte, führte eine Tür aus dunklem Holz mit großem Schloß in einen Flur. Das Türschloß – – reines Gold! Und Gold auch alles, was ich an Tafelgeräten sah – alles! – Ich mußte mich im Palast eines indischen Nabobs befinden … Nur seltsam, daß nur immer die Alte mich bediente, und daß mein Gemach stets verschlossen war; also – wars eine Zelle, und ich ein Gefangener! …
Wie ein Traum all das … Wie ein Traum auch der Ausblick durch das Fenster in einen Garten, der, von haushohen Marmormauern umschlossen, endlos weit sich hinzog; und über den Mauern der rechten Seite sah ich weit, weit ab weiße Bergketten schimmern.
So waren die ersten fünf Tage: Staunen, Grübeln, behagliche Ruhe, wachsende Langeweile, köstliche Speisen und Getränke, Bäder in harzduftendem, lauem Wasser …
In der Nacht vom fünften zum sechsten Tage dann ein Neues. Ich erwachte durch einen schwachen Lichtschein, war im Nu munter. Vor meinem Lager stand eine holde Mädchengestalt in weißen, fließenden Gewändern, im blonden Haar eine sonderbare Krone; um den Hals eine Kette von Edelsteinen, daran ein großer, sechszackiger Stern …
Lautlos glitt die Gestalt von dannen; ganz leise schloß sich die Tür …
Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn; fragte mich: „Nur ein Traum?“ – Doch nein – zu deutlich hatte ich alles geschaut! Und – in meiner Zelle war jetzt auch ein ganz feiner Duft zurückgeblieben; ein Wohlgeruch, mir bisher unbekannt.
Dieser Duft – schon vorgestern, gestern morgen spürte ich ihn. – Vielleicht war das holde Weib schon mehrmals heimlich bei mir gewesen, hatte den Schläfer betrachtet …
Ich konnte nicht mehr einschlafen, erhob mich, nahm den weißen Mantel um mit der goldenen Spange, – eine richtige altgriechische Toga; er diente mir als Hausanzug.
Ich trat an das Fenster; blickte in den Garten hinab. Bläulich-weißes Mondlicht ergoß sich über tropische Bäume und Blumen, über wundervolle Statuen, prächtige Marmorspringbrunnen; aber auch – – über die leise dahinschleichenden Tierkörper, gelb mit schwarzen Streifen, – Leiber, langgestreckt, schmal, mit pendelnden Schweifen: Tiger – – meine nächtlichen Wächter!
Der sechste Morgen kam. – Ich war längst wieder völlig genesen und im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte – – längst, und so sehr, daß ich bereits ganz wenig an … Flucht gedacht hatte, trotz des schönen Gefängnisses.
Die Alte brachte mir das Frühstück. Dann stieg ich wie immer ins Bad. Als ich in meiner Toga mein Wohn- und Schlafgemach wieder betrat, prallte ich zurück.
Drei Männer standen vor der Tür nach dem Flur, junge, stattliche Leute; klassisch geschnittene Gesichter; bewaffnet mit umgehängtem, kurzem Schwert und Lanze; auch sie erinnerten an die Zeiten, als noch in Althellas Athen der Mittelpunkt der kultivierten Welt war.
Ich hatte mir hier das Staunen bereits abgewöhnt oder – hätte es mir abgewöhnen sollen. Und doch, die drei prächtigen Jünglingsgestalten, kraftvoll, würdig, mit Augen, dunkel, klug, ausdrucksvoll, erinnerten mich so sehr an Gari Dingra, daß ich nicht recht wußte, wen ich mit Gari anreden sollte …
Ernst deutete der eine auf meinen Sportanzug aus dickem Wollstoff, auf meine langen Strümpfe, die derben Bergschnürstiefel. – Ich verstand. Und frohgemut kleidete ich mich an, ordnete mein Haar, – denn nun würde ich ja endlich erfahren, wo ich eigentlich weilte.
Die drei nahmen mich in die Mitte, führten mich den Flur hinab; Marmor ringsum; köstlich geschnitzte Türen; Marmortreppen mit Marmorgeländern in feinster Filigranarbeit; hinaus auf eine breite Straße in milde, erquickende Luft; vorüber an Häusern, Tempeln; alles griechischer Baustil; alles, als wäre das Altertum lebendig geworden; auch die Männer, Frauen und Kinder, die uns begegneten.
Dann öffnete sich vor uns ein endloser Platz; nur links im Bogen eingefaßt von Gebäuden; mitten darin … – ja – da, wars schon wieder, dieses ungläubige Staunen – –, mitten darin eine einzelne Wolke, ein lichtblaues, durchsichtiges Gewölk, das auf den Marmorplatten des Bodens lagerte …
Ein künstliches Gewölk allerdings; hergestellt aus Glas, das übermalt war; ein Kunstwerk; etwas, das nur eine überrege Phantasie und ein begnadeter Künstler geschaffen haben konnte.
Und in diesem Gewölk, vielleicht sechs Meter über dem Boden, schien ein Armsessel aus Elfenbein zu schweben; reich geschnitzt, mit Goldeinlagen. – Auf dem Sessel ein junges Weib in golddurchwirkten Gewändern, eine Krone aus Brillanten im Haar; an der Krone vorn eine segnend vorgestreckte Hand …
Ich erkannte die Frau an dieser Krone, an dem Blondhaar und an dem Elfenbeinstern auf der Brust; es war die, die in meinem Gemach den feinen Duft eines unbekannten Wohlgeruchs zurückgelassen hatte … –
Jetzt schritt ich tatsächlich wie ein Träumender weiter. All das war ja so unwirklich, so berückend, so sinnverwirrend phantastisch …
Tausende von Menschen erschienen, drängten uns nach, bildeten vor dem Wolkenthron einen Halbkreis, vor den sieben Elfenbeinsesseln, die am Fuße der Wolke auf erhöhter Rampe standen und sieben ehrwürdigen Greisen als Sitz dienten.
Sechs Stufen führten zu dieser Estrade empor. Nun machten meine Wächter halt – vier Schritt vor den Greisen, gerade gegenüber der Wolkenkönigin.
Als gebildeter Europäer hielt ich es für meine Pflicht, mich erst vor der hohen Frau, dann vor den regungslos dasitzenden Weißbärten zu verneigen.
Nur die Königin erwiderte den Gruß. –
Über dem weiten Platz, dessen Hintergrund so wirkungsvoll die fernen Schneegipfel gigantischer Berge bildeten, lautloseste Stille.
Der mittelste der Greise erhob sich. Seine Stimme war kraftvoll; er sprach das Englische wie einer, der es nur aus Büchern gelernt hat …
„Fremdling, wir haben aus den bei dir gefundenen Papieren gesehen, daß du Harald Dörcksen heißt.“ – So begann er, griff nun in seine Toga, holte einen Elfenbeinstern an einer Elfenbeinkette hervor, hielt ihn mir hin, fuhr fort:
„Daß du noch lebst, verdankst du diesem Stern, diesem Zeichen, das uns heilig! Wir müssen wissen, woher du es erhalten hast. – Sprich die Wahrheit! – Einer von uns, der in sündiger Liebe zu unserer Göttin und Königin entbrannt war, der sich erkühnte am heiligen Fest der Venus sich der Königin aufzudrängen und der dann floh aus Angst vor der Todesstrafe, – einer, den ich einst meinen Sohn nannte und den ich jetzt als Wortbrüchigen verfluche, trug diesen Stern auf der Brust. –
Fremdling – lüge nicht! Gib zu, daß du Gari Dingra ermordet hast! Er führte Gold bei sich, Gold in dicken Stangen! Es wird deine Habgier gereizt haben! – Lüge nicht, damit dein Tod ohne Qualen sei!“ –
So begann diese seltsame Gerichtssitzung. – Ich blieb die Antwort nicht schuldig. Ich fühlte mein Gewissen rein. Das machte meine Zunge beredt, meine Stimme klar und tönend. Ich berichtete mit allen Einzelheiten, wie der Stern in meinen Besitz gekommen war.
Als ich mit meiner Verteidigung zuende, neigten die Greise die Köpfe zusammen. Dann erhob der mittelste sich wieder, winkte, und das Volk drängte noch näher heran. – Der Greis redete zu der Menge; jetzt nicht in englischer Sprache. Nein – es war eine Mundart, die ebenfalls Anklänge an das Altgriechische hatte. Und jetzt merkte ich, auch Gari Dingra hatte sich dieses unbekannten Idioms bedient.
Er redete lange, wiederholte wohl meine Worte.
Kaum hatte er sich dann wieder gesetzt, als ein anderer der Greise, wohl der jüngste dieser Alten, schnell sich erhob, sich umwandte und in englischer Sprache der Königin zurief:
„Erhabene Göttin, hehre Königin Aspasia, – der Fremde lügt! Mit gewandter Zunge sucht er das Volk zu betören! Nicht den Gipfel der Welt, den Gaurisankar, hat er erobern wollen, – nein, die Goldgier hat ihn verlockt, den Zugang zu unserem Lande zu suchen! Gold fand er bei dem Verräter Gari Dingra, Gold wollte er hier finden! Wir wissen ja, wie das armselige Geschlecht derer, die die Erde tief unter uns bevölkern, das gleißende Gold begehrt, wie es sie zu Morden, Verbrechen, unerhörten Taten treibt! – Königin Aspasia – der Tod diesem Fremdling, der …“
Da erhob die Wolkenkönigin mit hoheitsvoller Gebärde den Elfenbeinstab mit der goldenen Eule darauf, – hob ihn, winkte …
Die Menge sank in die Knie, berührte mit der Stirn den Boden; die Greise waren aufgestanden, beugten gleichfalls die Häupter ganz tief.
Nur der eine, der mich einen Lügner genannt, zögerte; widerwillig senkte auch er dann schließlich den Kopf. Und über ihr Volk hin ließ die Wolkenkönigin ihre reine, weiche Stimme hinklingen, rief einige Worte, die ich nicht verstand, fügte auf englisch hinzu:
„Das Scherbengericht soll entscheiden!“
Ein seltsames Bild dann. Die Menge formte sich zur Reihe, schritt im Bogen einzeln vor dem erhöhten Platz der Greise vorüber. Und jeder hatte in der Linken eine dunkle Scherbe von Schiefer, in der Rechten eine von weißem Marmor; und jeder warf vor der Estrade eine dieser Scherben auf den sich schnell vergrößernden Scherbenberg.
Ich kannte diese Art Gericht; auch sie stammt aus Althellas. Und – mit einigem Herzklopfen verfolgte ich, ob der Scherbenhaufen mehr dunkle oder weiße Plättchen enthielt, ob das Volk für oder gegen mich stimmte.
Ich sah bald: Ich war gerettet! – Nur ganz vereinzelt flog ein dunkles Schieferstück zu Anfang auf den Haufen; zum Schluß nur noch weiße. – Dann, als der letzte Mann, ein Gelähmter auf Krücken, vorüber, verkündete der Sprecher der Greise, daß das Scherbengericht mich für unschuldig erklärt habe.
Abermals nun der Wolkenkönigin weiche Stimme.
„Harald Dörcksen, du bist frei! Nur – dieses Land darfst du nie mehr verlassen! Frei sollst du dich hier bewegen dürfen, sollst ein Bürger von Olympia werden, wenn du schwörst, daß du nie fliehen und nie in die Geheimnisse eindringen willst, die nur ich und der Rat der Alten kennen dürfen!“
Ich besann mich nicht einen Augenblick, hob die Rechte gen Himmel, wollte den Schwur leisten.
Da – sprang jener Greis vor, der mich hassen mußte, der mich für einen Lügner hielt, – sprang vor, rief in schlecht verhehltem Grimm:
„Volk der Olympier, Abkömmlinge derer, die nicht die Welt beherrschten, – ich warne euch! Ihr werdet es erleben, daß dieser verruchte Fremdling uns Unheil bringt, daß …“
Die anderen sechs Greise umringten ihn, hinderten ihn daran, die Ehrfurcht vor der Königin noch mehr zu verletzen.
Und ich schwor den Eid …
Die Menge aber, jetzt meine Mitbürger, klatschten Beifall, der in dem lauten Ruf ausklang:
„Heil unserer jungfräulichen Königin, heil der weisen Aspasia …!“
Das Wunderland, das da eingebettet lag zwischen den höchsten Gipfeln des Himalaya, das meilenweite Tal, unter dem, wie ich bald feststellte, ungeheure unterirdische Kohlenlager schwelen mußten und inmitten dieser eisigen Berge dem Boden und der Luft die nötigte, stets gleichmäßige Wärme zum Gedeihen von Menschen, Tieren und Pflanzen spendeten, – dieses Tal der Seligen hatte sich mir erschlossen.
Und erschlossen hatte sich mir auch noch an demselben Tag der Palast der Wolkenkönigin, deren Lehrer ich spielen sollte auf allen Gebieten europäischer Bildung und Kultur. Zwei Gemächer wurden mir zugewiesen, ein Diener, ein schlanker Knabe; dazu: zwei Reitpferde, ein Wagen, Stallknechte – kurz, ich war mit einem Schlage aus einem Gefangenen zu einer bevorzugten Persönlichkeit am Hofe der Königin und Göttin Aspasia geworden. –
Und am Abend dieses Tages war ich mit Aspasia zum ersten Mal allein. – Die Plattform eines Turmes des Palastes war in einen kleinen Garten verwandelt. Dort empfing die Wolkenkönigin mich, während die Sonne im Westen hinter den Schneebergen versank, die rosig schimmerten wie alles, was ihre Strahlen trafen. Rosig schimmerte auch Aspasias holdes Antlitz, rosig ihr weißes, loses Gewand. Und die Steine ihrer Krone blitzten und sprühten. Nie durfte sie diese Krone am Tage ablegen, nie den großen Elfenbeinstern auf ihrer Brust, der ihr eigenes Bildnis zeigte, wie sie auf dem Thronsessel in den Wolken schwebte.
Wir saßen in elfenbeinernen Armstühlen. Ich mußte von meiner Jugend, meinem Leben erzählen. – Ich merkte bald, mir, dem Europäer gegenüber, wollte sie nicht ledig Herrscherin sein. Sie gab sich zwanglos, natürlich, sprach ganz unaufgefordert über die Entstehungsgeschichte Olympias … –
Alexander der Große, der Welteroberer, der bis Indien mit seinem Heer vordrang, hatte auch eine Abteilung Griechen unter dem Feldherrn Naukratos angeworben. In Indien entzweite der stolze Naukratos sich mit dem jungen, noch stolzeren Herrscher, zog mit seinen Griechen und dem ganzen Heertroß von Wagen, Weibern und Kindern gen Norden, wurde von den eingeborenen Völkerschaften in schwere Kämpfe verwickelt und schließlich mit den Resten der Seinen in die Eiswildnis des Himalaya gedrängt, entdeckte hier auf dem Gaurisankar den einzigen Zugang zu dem großen, fruchtbaren, warmen Tal und gründete das Reich Olympia, das jetzt nach fast zweitausend Jahren noch immer bestand und einige zweihunderttausend Bewohner besaß … –
Aspasia und ich blieben bis Mitternacht zusammen. Wir sahen den Mond über den fernen Eisgipfeln auftauchen; wir standen nebeneinander an der Brüstung der Plattform und schauten hinweg über die Stadt, über die kleinen Dörfer und Siedlungen, über Wälder, wogende Felder, schillernde Bäche und weite Wiesen.
Wir fühlten damals schon, daß wir uns liebten. Später haben wir so oft über diesen ersten Abend gesprochen, an dem bereits unsere Seelen in harmonischem Klange sich vereinten.
Mein neues Leben als Bürger von Olympia begann. Es gab ein strenges Gesetz, das jeden mit dem Tod bedrohte, der auch nur den Wunsch aussprach, das geheimnisvolle Land zu verlassen. Ich erfuhr, daß der einzige Zugang zum Tal der Seligen, eben jener Eistunnel, ständig von Priestern bewacht wurde.
Aspasia war jetzt, wie schon ihr Vater es gewesen und dessen Urahn, der Heerführer Naukratos, oberste Gottheit des Landes. Als Herrscherin stand ihr der Rat der Alten zur Seite.
Ich lebte mich schnell ein in Olympia, lernte die Sprache, lernte alles kennen, – bis auf die Geheimnisse, die ich nie erfahren durfte. Mir waren sie gleichgültig. Ich fragte nicht danach. Ich schuf mir Freunde, stellte meine vielfachen Kenntnisse in den Dienst der Allgemeinheit, gewann an Ansehen.
Nur einen Feind hatte ich: Aribachos, den zweiten Oberpriester, der schon am Gerichtstag mich hatte verderben wollen. – Ich mied ihn. Offen zeigte er mir seine Abneigung nie. – –
Zwei Wochen waren vergangen. – Aspasia und ich wanderten eines Nachmittags durch den Park des Palastes. Wir blieben vor den Tigerzwingern stehen. Kein Mensch war in der Nähe.
Aspasia sprach von dem Fest der Venus, das in der nächsten Woche gefeiert würde; daß dieses Fest für Olympia die öffentliche Vermählung heimlich liebender Paare bedeute.
„Auch ich werde mir demnächst einen Gatten wählen müssen,“ sagte sie leise.
Ein jäher Schreck krampfte mein Herz zusammen. Ich wurde bleich, verwirrt, – wurde aber auch kühn, haschte nach ihrer Hand, stammelte:
„Aspasia, ich werde sterben, wenn du …“
Sie trat schnell zurück – aber mit einem süßen, rätselvollen Lächeln.
Und da – gerade da sah ich im nahen Gebüsch eine Gestalt, sah einen Mann durch die Zweige spähen, erkannte ihn sofort. Es war Alexandros, der Hauptmann der Leibwache der Königin.
Er verschwand blitzschnell …
Aspasia hatte nichts bemerkt. Und ganz leise flüsterte sie zurück:
„Du wirst nicht sterben … Warte …!“
Die Flammen übergroßer Seligkeit schlugen über mir zusammen. Ich stürzte vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Gewandes …
Das Fest der Venus!
Nie werde ich diesen Tag vergessen. Noch in meiner Sterbestunde werde ich den weiten Festplatz auf einer Wiese am Waldrand vor mir sehen, – all die frohen, geputzten Menschen, – und alles überragend vor einem uralten, immergrünen Baum das Riesenstandbild der Venus, dargestellt als sehnsüchtig nach dem Geliebten die Arme ausstreckendes Weib.
Jede Einzelheit zeigt mir mein Gedächtnis noch heute nach so vielen Jahren: den Festzug; die Sänfte, auf der Aspasia getragen wurde. Dicht dahinter das junge, unvermählte Volk; dann die Flötenspieler, die Bläser; die Priester, hohen Beamten und die unübersehbare Schlange des Volkes.
Und all das übergossen von dem Schein der Abendröte, denn das Venusfest begann stets erst nach Sonnenuntergang. – Bald flammten Fackeln überall auf; bunte Öllampen glühten im Gras, in den Zweigen der Bäume.
Vor dem Sockel der Venusstatue stand Aspasias Sessel. Und rechts und links am Waldrand entlang waren zierliche Hütten aus Zweigen gebaut, über und über geschmückt mit frischen Blumen; und Blumengebinde verdeckten auch die engen Eingänge.
In der Mitte dieser Hütten ein prächtiges Zelt: die Liebeshütte der Wolkenkönigin!
Ich wußte, dreimal war das Zelt bereits umsonst aufgebaut worden. – Aspasia hatte sich keinen Gefährten gewählt für die Nacht der Venus, die in Olympia die feierliche Eheschließung ersetzt. –
Kurz vor Mitternacht dann lauter Hörnerklang, der Ruf zum Liebesreigen! – Ein seltsamer Tanz. Im Kreis standen etwa dreißig Jünglinge, hielten sich an den Händen. Und in einem inneren Kreis, die Gesichter ihnen zugekehrt, genau dieselbe Anzahl Jungfrauen, nur bekleidet mit einem langen, um den Körper gewundenen Schleier; Blumen im Haar … – Die Musik spielte immer schneller, schwoll an. Die Bewegungen der Tanzenden, nur ein Wiegen und Biegen der Körper, ein getanztes Locken und Begehren, wurde immer schneller, wilder …
Dann – ein schmetternder Hornstoß …! – Im Nu lösten sich die Kreise auf; im Nu hatte jeder Jüngling die Erwählte seines Herzens ergriffen, trug sie davon – einer der Hütten zu – verschwand mit ihr im Innern … –
Ein Zufall wars, daß ich gerade neben Alexandros, dem Hauptmann der Leibwache, in der vordersten Reihe der Zuschauer stand. – Die Liebespaare hatte ein jubelndes Schmettern der Musik begleitet. –
Urplötzlich Stille. Aspasia hatte sich von ihrem Sessel erhoben. Ihre prächtigen Gewänder glitten zu Boden; nur noch in einen Schleier gehüllt schritt sie langsam vorwärts, auf Alexandros und mich zu. In der Rechten hielt sie eine Lilie … Jetzt war sie dicht vor uns und, – – jetzt zerbrach sie die Blume, warf mir – mir die Stücke leicht gegen die Brust.
Alexandros’ Hand fuhr nach dem Schwert. Sein Vater Aribachos zerrte ihn zurück …
Und unter dem brausenden Jubel des Volkes hob ich Aspasia empor und trug sie in das Venuszelt der Wolkenkönigin.
Der Zeltvorhang fiel hinter uns zu.
Aspasia lag an meiner Brust. Ich küßte sie wie ein Trunkener …
Über uns brannte eine Öllampe – eine mit Öl gefüllte Venusmuschel …
Ich kniete vor ihr nieder …
Und sie reckte den Arm hoch, drückte das Flämmchen der Lampe aus … –
Der Festplatz leerte sich. – In den Hütten am Waldrand aber feierte Frau Venus ihr wahres Fest. Die Bäume rauschten, und Geflüster der Liebe mischte sich darin …
Monate waren vergangen. Ich war Prinzgemahl, war der glücklichste Mensch unter all den Glücklichen Olympias.
Ich saß am Schmerzenslager meines jungen Weibes, und mit seligem Lächeln gab sie mir ihr Kind, unser Kind in die Arme, deutete dann auf die Stirn des zierlichen Püppchens, das wir Hella nennen würden – zur Erinnerung an Hellas, das alte Griechenland.
Und auf des Mägdeleins Stirn sah ich dasselbe Zeichen wie auf der meines Weibes: das Muttermal in Gestalt eines sechszackigen Sterns. – –
Jahre vergingen, Jahre desselben Glücks.
Und wieder verkündeten Posaunentöne von der Terrasse des Palasts die Geburt eines Kindes, diesmal eines Sohnes.
Eine ungeheure Menge sammelte sich vor dem Schloß an. Das Volk wollte den Thronfolger sehen. Und Aspasia schickte mich mit dem Neugeborenen hinaus auf die Terrasse. Ich hielt das Knäblein hoch, den zukünftigen König von Olympia. Auch er trug den Stern auf der Stirn, das heilige Zeichen …
Das Volk stürmte die Terrasse, bewunderte das Kind, sank in die Knie, beugte die Köpfe zur Erde.
Es war unser Kind, und ich war der glücklichste Mann in Olympia. – –
Abends schlief Aspasia tief und fest. Ich schlich in ihr Gemach, beugte mich über sie, küßte ihre Stirn.
Dann kehrte ich zu meinem Freunde Alexandros zurück. Er war mein Vertrauter geworden. Er hatte seine Liebe zu Aspasia längst vergessen. –
Wir saßen oben auf der Plattform des Turmes unter den blühenden Sträuchern im Abendrot. Wir feierten die Geburt des Thronfolgers. Ich wurde fast wieder Student vor Glück, wacker zechender Student. Und Alexandros sorgte mit einem Teufelslächeln, das mir entging, für die Umnebelung meines Hirns, begann wieder von den Gewölben des Palasts zu sprechen, von dem großen Geheimnis, das dort verborgen …
Ich war berauscht. Und der Verführer verstand sein Handwerk, behauptete, selbst nicht zu wissen, was die Gewölbe enthielten …
Es war Nacht geworden. Der Palast schlief. Der Verführer siegte.
Wir schlichen durch die Gänge, über Treppen, – tiefer – tiefer, bis in die untersten Gewölbe. Mir fiel es nicht auf, daß Alexandros alle Schlüssel zu den schweren Türen mit sich führte. Wir gelangten in eine natürliche Grotte. Unsere Lampen brannten trüber in der heißen Luft, die uns umwehte. Ich hörte ein fernes Zischen und Brausen …
Dann standen wir vor einer Felswand; aus einem Loch schoß ein dicker Strahl goldig glänzenden flüssigen Metalls hervor, verschwand in einem schmalen Abgrund. –
„Gold – reines Gold!“ flüsterte Alexandros. „Aus dem flüssigen Erdkern dringt’s hervor – – – reines Gold – Milliarden – Übermilliarden – Billionen, – nur zu schöpfen, nur erkalten zu lassen! So tuns auch die Mitglieder des Rates der Alten; verteilen die geformten Stangen gleichmäßig …“
Ich wurde plötzlich nüchtern. Wie ein Blitz überkam mich die Erkenntnis: „Was hast du getan?! – Du hast deinen Schwur gebrochen – und nur – nur dieses elenden Goldes wegen!“
Ich taumelte vor Entsetzen zurück, sank um, verlor das Bewußtsein.
Wieder erwachte ich wie vor Jahren in demselben Gemach, unter dessen Fenster nachts die Tiger umherschlichen. – Tage vergingen. Ich sah nur wieder die alte Frau. Sonst niemanden. Und die Frau blieb stumm.
Dann – wurde ich auf den weiten Platz geführt – – wie einst – zum Gericht! – Auf dem Wolkenthron saß mein Weib mit dicht verhülltem Antlitz.
Der Älteste des Rates der Alten klagte mich vor der Menge des Treuebruchs an. Ich durfte mich nicht verteidigen. – Und – wieder das Scherbengericht – – heute nur dunkle Schieferstückchen, – – der Scherbenberg war schwarz …
Der Älteste winkte. Man brachte mich fort …
Noch einmal drehte ich mich um, – sah Aspasia, wie sie sehnsüchtig die Arme nach mir ausstreckte, wie sie wie leblos zusammenbrach …
Ich wollte mich losreißen … Lanzen umstarrten mich …
Ich war wieder in meiner Zelle. Und die Alte kam mit einem goldenen Becher auf goldenem Teller …
Tränen entquollen ihren Augen. Sie liebte mich wie ihren Sohn.
Ich wußte, was der Becher enthielt: Gift!
Im alten Athen reichte man ja auch denen, die sterben sollten, den Schierlingsbecher … –
Ich war verloren. Mein letzter Gedanke noch: „Aspasia – – meine Kinder!“
Ich nahm den Becher; stürzte den Inhalt hinab … taumelte auf mein Lager … Noch einmal entquoll ein schmerzlicher Schrei meinen Lippen:
„Aspasia …!“
Dann – – nichts mehr, – das Ende …!
Ach – wärs nur das Ende gewesen …! –
Der Becher hatte kein Gift enthalten; nur ein starkes Betäubungsmittel. – Ich lebte noch. Ich kam zu mir – nach Tagen. Rieb mir die Augen …
Ja – war denn all das nur ein Traum gewesen, war ich nie in Olympia, war Aspasia nie mein Weib …?
Ich erkannte das Innere des Zeltes, das wir auf der Expedition nach dem Gaurisankar mitgenommen hatten … Ich sah die Lampe von den Zeltstangen herunterhängen, qualmen, trübe leuchten.
Ich lag in meinem Schlafsack …
Da – eine Stimme neben mir:
„Vater …!“
Ich schnellte hoch, sah … Hella, meine Hella dick in Pelze gehüllt auf einem Lager von Decken …
Und die kleine Hella hatte meinen Sohn im Arm, den wir Gari nennen wollten, – nach Aspasias Vater …
Im Nu war ich im Freien, schaute mich wild um …
Das Zelt stand auf einer Geröllhalde; geradeaus ein Wald, und – – hinter mir die weißen Himalayaketten – fern – so fern …!
Da wußte ich, wie man mich bestraft hatte: Man hatte mich und meine Kinder ausgestoßen aus dem Tal der Seligen …!
Ich schlug die Hände vor das Gesicht; Tränen rannen mir über die Wangen …
Eine kleine Hand zupfte mich am Rock. Hella wars.
„Vater – mich hungert!“
Da besann ich mich. Ich hatte Pflichten …! Ich war nicht nur der, der einem verlorenen Liebesglück nachtrauern durfte, – nein – ich war Vater …!
Im Zelt fand ich außer allerlei Lebensmitteln auch sechs dicke Stangen Gold. – –
Drei Jahre habe ich mit meinen Kindern in einem nepalesischen Dorf am Fuß des Gaurisankar gehaust. Dreimal war ich noch bis an jenen Eiswall vorgedrungen. Aber – den Eistunnel hatte man künstlich verschlossen. Ich entdeckte nicht einmal die Stelle, wo er sich einst hinaufzog zum Tal der Seligen. –
Die Sehnsucht nach Aspasia ließ mich dann zum Sonderling werden. Als ich eingesehen, daß das Land Olympia mir für immer verschlossen bleiben würde, kehrte ich nach Europa zurück.
Im Riesengebirge ließ ich mir eine Blockhütte an einer Stelle bauen, wo der Schnee nie wegschmolz, wo ich die Schneekoppe zwischen den dunklen Tannenwipfeln stets vor mir hatte. Der deutsche Berg sollte mir das weiße Rückgrat der Welt, den Himalaya, vortäuschen …
Ich bin ein gebrochener, müder Mann; meinen Kindern ein stiller, gütiger, aber nie lächelnder Vater.
Sie werden jetzt erfahren, weshalb das Lächeln mir für immer erstarb. – –
Wochen sind es her, seit ich den scharfen Diamant die letzten Worte dem Metall einritzen ließ.
Ich habe noch etwas hinzuzufügen …
Ich will sterben … für die Welt.
Und dieser Tote wird vielleicht wieder auferstehen, wird den Weg finden in das Land seiner Sehnsucht …
Vielleicht …! –
Es wird von mir abhängen, von meinem erfinderischen Geiste …
*
Hella Dörcksen schluchzte leise.
„Mahadur Mirat, – das ist die Liebesgeschichte meines Vaters,“ sagte sie leise. „Zugleich die Geschichte der Kinder der Wolkenkönigin. Aber diese Geschichte hat noch eine Fortsetzung …“
Eine Weile Grabesstille in der weiten Höhle, in der zwei junge Menschenkinder den Tod erwarteten.
Dann erzählte die Tochter der Göttin über den Wolken ein anderes Drama …
Der ernste, stille Mann mit dem grauen Spitzbart und den schwermütigen, klugen Augen, der jeden Sonnabend in dem kleinen Riesengebirgsstädtchen mit seinem Rucksack auf dem Rücken erschien, um für die nächste Woche seine Einkäufe zu erledigen, war bei Jung und Alt gleich bekannt. Nur vom Ansehen; denn eine Unterhaltung lehnte er stets höflich unter einem Vorwand ab, gleichgültig, wen er vor sich hatte. Er ging stets leicht gebückt, als lasteten schwere Sorgen oder trübe Erinnerungen auf seinen Schultern. Man nannte ihn allgemein den Einsiedler von Tannenhöh, weil er sich auf einer entlegenen Kuppe inmitten der Bergeinsamkeit ein Blockhaus hatte erbauen lassen und dort ganz allein hauste. Man wußte, daß dieser Doktor Harald Dörcksen Chemiker und Naturforscher war, daß er aus Indien gekommen, bevor er die Tannenhöhkuppe erwarb, daß seine beiden Kinder auswärts die Schule besuchten und nur zweimal im Jahr, in den großen und den Weihnachtsferien, den Vater besuchten. Dann ging noch ein Gerücht im Städtchen um, er habe seine Frau durch eine Katastrophe auf hoher See verloren; sie sei eine Inderin gewesen von einem Stamm mit sehr heller Hautfarbe. –
Was er sonst in seiner Einsamkeit trieb, darüber konnte niemand etwas angeben. Nur die Postbeamten wunderten sich, daß er so häufig Geld und dicke Briefe von Maschinenfabriken und chemischen Laboratorien erhielt. –
Beim Zigarrenhändler Schönecke am Markt kaufte der Einsiedler stets seine Zigarren ein, – regelmäßig jeden Sonnabend eine halbe Kiste von derselben Marke.
Auch heute an dem schönen warmen Maitag wars so. Der dürre Schönecke dienerte, machte ein essigsaures Gesicht, stöhnte:
„Herr Doktor – – der Krieg, der Krieg! Was hilft uns dieser Jammerfrieden! Kein Rohmaterial … Die Zigarren kosten wieder 80 Pfennig das Stück. – Glauben Sie mir, Herr Doktor, – ich wuchere nicht. Wirklich nicht, – ich kann …“
„Schon gut, Herr Schönecke … – ich habe nicht viel Zeit …“
Draußen fuhr ein Auto vor. Darin drei bartlose Gesichter; harte, kühle Augen: ein Chauffeur in tadellosem Lederanzug und zwei Herren in dicken Ulstern und weichen Mützen.
„Ah!“ machte der dürre Schönecke mit gerecktem Hals, „die Amerikaner sind’s, die in Hirschberg und Umgegend alles aufkaufen, was sie nur kriegen können, – Häuser, Maschinen – bis zu alten Möbeln hinab.“
Einer der beiden Herren stieg aus und betrat den Laden. Er mochte Mitte der Zwanzig sein. Sein regelmäßiges Gesicht und seine Bewegungen verrieten jene natürliche Gelassenheit, die nichts von Nerven weiß.
Schönecke dienerte und schob schnell die halbe Kiste dem Doktor in den Rucksack. – „Morgen, Herr Doktor, – auf Wiedersehen – habe die Ehre.“
Harald Dörcksen beachtete den Kraftwagen nicht, sah nicht, daß der andere Herr darin jetzt zusammenzuckte, ihm weit vorgebeugt nachstarrte. –
Der Doktor verschwand in einem Fleischgeschäft. Der Fremde aber war mit ein paar Sätzen in Schöneckes Laden, sagte zu seinem Sohn:
„Harry – auch zwei Päckchen Zigaretten …“ Dann zu dem dürren, katzbuckelnden Männchen: „Der Herr mit dem Rucksack, der soeben hier war, kam mir bekannt vor. Wohnt er hier?“
Schönecke war froh, seine Weisheit auskramen zu können. Doch der Amerikaner, dessen Schläfenhaar bereits einen weißen Schimmer zeigte, winkte bald ab. –
„Danke. Ein Doktor Dörcksen also … Der Name ist mir fremd.“
Sein Sohn sah ihn etwas erstaunt an. – Auf der Straße flüsterte Allan Leakwoord jedoch: „Harry – er ist’s! Nach zwanzig Jahren führt ein Zufall ihn mir in den Weg. Jetzt werde ich endlich erfahren, ob …“ Er starrte vor sich hin, überlegte. –
„Ich bleibe hier, Harry. Unsere Geschäfte haben Zeit. Dies hier ist wichtiger.“ –
Sie tauschten noch einige leise Bemerkungen aus. Dann fuhr das Auto mit Harry langsam dem kleinen Hotel am Markt zu. Allan Leakwoord aber schlenderte vor dem Fleischerladen auf und ab.
Doktor Dörcksen wanderte langsam, den Bergstock als Stütze benutzend, mit der schweren Bürde heimwärts. Das Städtchen verschwand jetzt hinter der Wegbiegung. Tannenwald nahm den Einsamen auf, der keine Veranlassung hatte, sich umzublicken. Hätte er es getan, würde er vielleicht Allan Leakwoord bemerkt haben, – vielleicht, denn dieser war vorsichtig und schritt zur Seite des Weges unter den Bäumen entlang.
Anderthalb Stunden ging Harald Dörcksen mit gleichmäßigen Schritten den Fahrweg entlang, bog dann in einen schmalen Pfad ein, den seine eigenen Füße geschaffen hatten. Immer höher stieg der Pfad, wand sich um Schluchten und steile Wände herum, lief über Schneeansammlungen hin, kletterte eine Schutthalde hoch, verlor sich in einem dichten Waldstück, hatte auf einer Kuppe sein Ende, die rings von hochragenden Tannen umgeben war. –
Auch hier noch tiefer Schnee; die Oberschichten vereist. Und hier stand das schlichte Blockhaus. Dahinter ein kleiner Stall. Alles sauber, freundlich.
Harald Dörcksen schloß die Haustür auf. Sofort von drinnen freudiges Gewinsel der beiden großen Doggen. Sie sprangen an dem Doktor hoch, rasten draußen ausgelassen umher. –
Allan Leakwoord stand am Rand der Waldblöße, trat schnell zurück. – „Verdammt – natürlich Hunde! Er liebte ja schon damals dies Viehzeug so sehr …“
Dörcksen rief die Doggen ins Haus zurück, legte den Rucksack in der Küche ab, machte es sich bequem. Dann holte er Brennholz aus dem Stall, warf es in den Kachelofen in seinem Arbeitszimmer auf die glühenden Kohlen; prasselnd lohten die Scheite auf. – Er trat ans Fenster und zog den Rollvorhang höher, gewahrte so den Fremden, der zögernd auf das Haus zukam. –
Jetzt erkannte er ihn. Leakwoord – Allan Leakwoord!
Ein leiser Freudenschein huschte über des Doktors Gesicht. Nie hatte er an die Verdächtigungen geglaubt, die der sterbende Nepalese damals im Eistunnel aussprach, nie! – Weshalb sollte Leakwoord den Tod Gari Dingras gewollt haben?!
Ein leiser Freudenschein – denn es war ja ein Gefährte aus jenen Tagen, auf die die Jahre des Traumglücks in Olympia folgten.
Dörcksen eilte hinaus, Leakwoord entgegen. –
Dann saßen die beiden in des Doktors Arbeitszimmer an einem schnell gedeckten Tisch bei kalten Speisen und einer Flasche Wein, aßen, tranken, tauschten Erinnerungen aus.
Leakwoord erzählte. – Er hatte sich damals glücklich zurückgefunden in die wärmeren Täler. Gari Dingras Schneehütte war jedoch leer gewesen. Wo Gari geblieben, wußte er nicht. –
„Ich habe dann zweimal den Versuch gemacht, wenigstens Ihre Leiche zu bergen, Doktor. Bin bis an den Eiswall vorgedrungen. Nirgends eine Spur von Ihnen. Ich hielt Sie für tot. Nach Jahren kehrte ich wieder nach Nepal zurück; und da erfuhr ich, daß ein Europäer mit zwei Kindern in einem Dorf am Fuße des Gaurisankar lange Zeit gehaust und häufiger in die Eiswüste des Berges allein sich hineingewagt, daß er in Khatmandu auch Gold verkauft habe … Sie scheinen also wohl damals so etwas wie Goldsucher gewesen zu sein …“
Dörcksen merkte nicht den lauernden, begehrlichen Blick.
„Leakwoord, – verlangen Sie nicht von mir Aufschluß über meine Erlebnisse. Ich darf darüber nicht sprechen,“ sagte er ernst und schwermütig. „Ich danke Ihnen, daß Sie nach mir gesucht haben. Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein Andenken an jene Tage überreiche, als wir über die Gletscher – und Schneefelder irrten. – Sie haben mir mitgeteilt, daß Sie nicht gerade reich, nur Angestellter einer New Yorker Firma sind. Vielleicht können Sie sich selbständig machen. Gold steht ja heute so riesenhoch im Preis.“
Er ging zu einem kleinen Panzerschrank, öffnete ihn, entnahm ihm zwei faustdicke, etwa dreißig Zentimeter lange, in Papier gehüllte Stangen, entfernte das Papier, legte die mattglänzenden Stangen vor Leakwoord auf den Tisch.
„Reines Gold, Leakwoord, – für mich nur eine Erinnerung an …“ Er trat schnell ans Fenster; ein Beben flog über seinen Körper hin.
Leakwoords Augen stierten auf das kostbare Edelmetall. Er dachte: „Hier heißt’s schlau sein …!“
Aber all seine Schlauheit nützte ihm nichts. Dörcksen ließ sich auch auf Umwegen nicht ausforschen, erklärte nur bei Gelegenheit: „Meine Kinder sollen die Wahrheit erfahren. Ich habe ihnen eine Urkunde hinterlassen, die kein Feuer zu zerstören vermag.“
Als Doktor Dörcksen am folgenden Sonnabend von seinen Einkäufen heimkehrte, fand er die Haustür erbrochen, im Flur die erschossenen Doggen; alle Räume waren durchwühlt, die Behältnisse, selbst der Stahlspind, aufgesprengt; Geld, Wertsachen, manche Reiseandenken waren gestohlen.
Der Landbriefträger, der kurz darauf die Postsachen brachte, versprach, sofort die Polizei zu benachrichtigen. Der Gendarm gab sich dann mit seinem Hund die vergeblichste Mühe, die Täter zu ermitteln, verfolgte die Spuren bis zum Fahrweg. Hier versagte der Hund. Nur eins fand er: Eine fettige Soldatenmütze und in deren Futter zwei Zigaretten, die schon völlig trocken waren. –
„Das waren Strolche, Herr Doktor,“ meinte der Gendarm. „Vielleicht gar aus Böhmen drüben. Da wird schwer etwas zu machen sein.“
Dörcksen hatte die Wohnung schon wieder leidlich in Ordnung gebracht, die Hunde begraben und auch bereits sich überlegt, wie er sein Eigentum zukünftig wirksam schützen konnte. – Die Verluste an Geld und Geldeswert, die er erlitten, gingen ihm nicht besonders nahe. Er besaß genug für sich und seine Kinder. Seine Erfindungen warfen so viel ab, daß sie drei behaglich leben konnten.
Am nächsten Vormittag erschien Allan Leakwoord, der sich durch eine kurze Depesche angemeldet hatte. Er spielte den teilnehmenden Freund, warnte Dörcksen, fernerhin hier in der Einsamkeit so allein zu hausen, riet ihm, nach dem Städtchen zu ziehen, meinte, derartige Diebstähle könnten sich wiederholen, und dem räuberischen Gesindel säßen heutzutage die Kugeln doch verdammt locker im Revolverlauf.
Doktor Dörcksen zuckte die Achseln. „Ich fürchte den Tod nicht, Leakwoord. Nein, für mich wäre er eine Erlösung. Und – mein Heim hier wird kein Unberufener mehr betreten! Ich habe da im Keller in meiner Werkstatt sehr starke Akkumulatoren. Ich werde Türen und Fenster mit Vorrichtungen versehen, die jeden tot niederstrecken, der hier irgendwie Gewalt anwendet.“
Leakwoord interessierte sich für die Art und Weise, wie man solche Sicherungen anbringt. Doch Dörcksen erklärte, das könne er nur einem technisch genügend Vorgebildeten erläutern. –
Das Gespräch wendete sich, durch den Amerikaner geleitet, der Diebesbeute zu. – „Du sprachst damals von einer Niederschrift für deine Kinder, Harald,“ sagte Leakwoord jetzt. Die alten Bekannten hatten sich auf das vertrautere du geeinigt. „Hoffentlich haben die Halunken sie dir nicht auch geraubt. Sie könnten davon irgendwie einen für dich vielleicht unangenehmen Gebrauch machen.“
Dörcksen erwiderte ruhig, so leicht fände niemand das Versteck, in dem sein metallenes Geheimnis liege. – Und die Unterhaltung ging nun auf Leakwoords Vergangenheit über.
„Ich habe dir bisher verschwiegen, Harald,“ sagte der unter anderem, „daß ich schon damals verheiratet war, als wir uns in Khatmandu kennen lernten. Mein … Stiefsohn Harry … Blunk ist bereits fünfundzwanzig Jahre alt. Ich hätte ihn dir gern vorgestellt. Er hält sich jedoch zur Zeit in Berlin auf, wohnt in dem Vorort Wannsee. Er ist ein wenig Naturschwärmer. Und Wannsee liegt ja sehr schön.“
„Ah – in Wannsee?! – Dort befindet sich auch meine Älteste, meine Hella, – in einem Töchterpensionat, freilich nur noch bis zum Juli. Dann will ich sie ganz zu mir nehmen.“
„Harald – in diese Einöde?! Ein junges Mädchen von achtzehn Jahren …?!“
„Du kennst sie nicht, Allan. Sie ist ganz meine Tochter. Sie freut sich darauf, von mir in die Geheimnisse der Technik und Chemie eingeführt zu werden … – Und – ob sie noch lange hier bei dem ernsten Vater wird ausharren müssen, glaube ich nicht recht … Ich … ich fürchte, ich werde bald sterben. Fürchte es nur deshalb, weil die Kinder dann so allein zurückbleiben. – Mehr noch, ich weiß bestimmt, daß meine Tage hier gezählt sind. Frage nicht weiter. Auch das hängt mit meinen Geheimnissen zusammen.“
Leakwoord begriff nicht, weshalb bei diesen letzten Sätzen Harald Dörcksens Gesicht sich so wunderbar belebt hatte, weshalb seine Augen strahlten – schwärmerisch und doch auch wie in verstärkter Willenskraft. –
„Du scheinst dich wirklich auf den Tod zu freuen, armer Harald,“ meinte er unsicher.
„Ja. Auf diesen Tod freue ich mich! Denn – ich hoffe auf ein neues Leben …!“ –
Als Leakwoord sich dann verabschiedete, sagte er scheinbar tief bewegt, daß es vielleicht ein Abschied für immer sei. – „Ich kehre nach Amerika zurück. Leb’ wohl, Harald! – Meine neue Adresse teile ich dir sofort mit …“
Harry Leakwoord betrat mit einem ganzen Bündel Zeitungen sein Hotelzimmer in Hirschberg, warf Hut und Stock auf das Sofa, setzte sich in den Korbsessel ans Fenster und begann die Blätter nach einer bestimmten Notiz zu durchsuchen. Erst in der dritten fand er folgendes und überflog mit einem ironischen Lächeln:
„Räuberisches Gesindel im Riesengebirge. Die Unsicherheit in den einsam liegenden Gehöften und Bauden nimmt zu. So hat gestern eine offenbar aus mehreren Personen bestehende Bande die Blockhütte des in Industriekreisen als Erfinder rühmlichst bekannten …“
Harry Leakwoord grinste jetzt, dachte: „Mein Alter ist in der Tat ein verteufelt schlauer Fuchs. Der Trick mit der Soldatenmütze und den beiden Zigaretten im Futter hat sich bewährt. – Nur schade, daß die ganze Geschichte umsonst war! Gerade das, worauf wir es abgesehen hatten, ist uns entgangen. – Na – der Alte ist ja wieder, um zu spionieren, bei ihm … Hoffentlich bringt er gute Nachricht mit.“ –
Eine Stunde später trat Allan Leakwoord ein.
„Junge,“ flüsterte er, „– dem schweigsamen Kunden ist nicht beizukommen. Aber – wir werden das Ziel doch erreichen – auf Umwegen!“
Er setzte sich in den anderen Korbsessel.
„Hör’ zu, Harry. – Die Sache steht so. – Er hat seine Niederschrift fraglos so gut versteckt, daß wir sie niemals finden werden. Aus Bemerkungen von ihm entnehme ich, daß er Selbstmord plant. Ihm scheint dieses Leben überdrüssig geworden zu sein. Er muß dort auf dem Gaurisankar nicht nur eine enorm reiche Goldfundstelle entdeckt, sondern auch noch Dinge erlebt haben, die ihm seelisch hart zusetzen. Diese Deutschen schleppen ja alle so einen lächerlichen Ballast sogenannten Gemüts mit sich herum. Jedenfalls, nach seinen Andeutungen lebt er nicht mehr lange. – Es wäre also am besten, du machst dich an seine Tochter heran. Ich habe ihm heute erzählt, mein … Stiefsohn Harry Blunk wohne in Wannsee. Ich wußte ja, daß diese Hella dort für die „feine Welt“ dressiert wird. Er wird sich also nicht weiter wundern, wenn Hella ihm eines Tages – recht bald – vielleicht mitteilt, sie habe da einen sehr liebenswürdigen … – – Du verstehst! – Was Dörcksen uns vorenthält, wird deine Braut oder Gattin dir anvertrauen …“
„Hm …! Und … Ellen Crosterbroux mit ihren Millionen, Pa?! Ich bin doch mit ihr heimlich versprochen. Den Widerstand des Platinkönigs werden wir schon klein kriegen. Ellen ist ja ein so verliebtes Schäfchen …“
Allan Leakwoord flüsterte, sich weit vorbeugend, auf seinen Sohn ein.
Harry runzelte etwas die Stirn. „Pa, – das, das wäre für meinen Geschmack denn doch eine zu große Gemeinheit.“
„Gemeinheit?! – Geschäftstrick, mein Junge, weiter nichts! Es handelt sich um Gold, vergiß das nicht, – fraglos um mehr, als das ganze Platinsyndikat wert ist.“
Der Garten des Pensionats der Frau Doktor Anna Würz zog sich bis zum Kleinen Wannsee hinab. Zwischen der hohen Ziegelmauer und dem Wasser lag nur noch ein schmaler Sandstreifen. In der westlichen Mauerecke stand ein offener Pavillon. Er war Hella Dörcksens Lieblingsplatz. Dort verträumte sie die freien Stunden, dort baute sie Luftschlösser, grübelte über Dinge nach, die ihre junge Seele wie rätselhafte Falter umschwirrten. Sie ahnte, daß es im Leben ihres gütigen, nie lächelnden Vaters Geheimnisse gab, die seltsamer Art sein mußten; sie merkte selbst, daß sie anders war als all ihre Altersgenossinnen hier; sie hatte keine Freundin; sie wollte auch keine haben; zwischen ihr und all diesen übermütigen, genußsüchtigen oder einfältig bescheidenen Mädchen erhob sich eine unsichtbare Scheidewand.
Man hielt sie für stolz, verschlossen, gefühllos. Gewiß – sie belächelte es im stillen, wenn ihre Pensionsschwestern in bisher zielloser Liebessehnsucht sich gegenseitig anschwärmten, küßten und allerlei Narrheiten trieben. Sie hatte in ihrer ernsten Frühreife ihr Herz, ihre Gefühle genügsam geprüft. Sie könnte nur einem geliebten Mann all das an Zärtlichkeiten geben, was sie zu verschenken hatte. Sie konnte diesen Mann überreich machen. Und – sie würde es tun! Eines Tages würde dieser Eine ihren Weg kreuzen. Davon war sie ganz fest überzeugt. Und dann würde sie das Glück festhalten, ein Glück, das märchenhaft sein sollte … –
Die Sonne glitzerte auf den Wassern des Sees. Drüben die weiße Villa, übergossen von Sonnenlicht, leuchtete auf inmitten der frischgrünen Bäume. Flinke Boote zogen über den See hin; ein kleiner Dampfer schnaubte vorüber.
Hella hatte soeben ihren Bruder Gari, den schlanken, bildhübschen Jungen, der in Lichterfelde bei einem Professor in Pension war und sie öfters besuchte, bis auf die Straße begleitet, kehrte nun nach dem Pavillon am Seeufer zurück, – ganz langsam; lächelte glücklich … Wohl sehr selten würden Geschwister sich so lieben wie sie und Gari.
Frau Doktor Würz und die anderen jungen Mädchen waren zu Fuß nach Potsdam gewandert. Der große Garten war leer. Nur der alte Kulicke, das Hausfaktotum, harkte die Wege.
Hella setzte sich auf die Brüstung des Pavillons, lehnte sich an den einen Holzpfeiler. – Sie und Gari …! Vielleicht liebten sie sich so zärtlich, weil sie beide das kleine Sternmal auf der Stirn trugen, das dem Vater fehlte. Man nannte es ja auch … Muttermal … –
Hella dachte anderes, an ihre Mutter, die sie nie gekannt hatte. – Wirklich nie?! – Sie starrte geradeaus in den lichtblauen Himmel über den Baumwipfeln, wo leichtes Gewölk entlang zog.
Wirklich nie …?! – Erschienen ihr im Traum nicht zuweilen verschwommene Bilder von einem prächtigen Marmorschloß, von einem endlosen Park, von einem weiten Platz – von einer Königin, die auf Wolken zu schweben schien …?
Sie starrte weltentrückt in die blaue, endlose Ferne, auf die zarten, duftigen Wolken … Und plötzlich tauchte das eine Traumbild jetzt selbst am Tage vor ihr auf – drüben über dem Wald – die Königin auf dem Thronsessel von Elfenbein … –
Hella lächelte plötzlich. Sie erkannte, daß nur ihre rege Phantasie das wundervolle Bild dort an den Himmel gezaubert hatte.
Ihr Lächeln erstarb jäh. Vom Wasser her ein Hilferuf … Sie fuhr hoch. Dort – ein kleines Boot war umgeschlagen; ein Mann klammerte sich daran fest …
Im Nu hatte sie die Mauerpforte erreicht, im Nu das Boot der Villa Würz von dem kleinen Holzsteg losgekettet. Sie ruderte vorzüglich, wie sie überhaupt Meisterin in jedem für Frauen geeigneten Sport war.
Dann hatte sie den Verunglückten erreicht, half ihm in ihr eigenes Boot. – Er war ein schlanker, gutgekleideter junger Mann mit recht sympathischem Gesicht. Nur die Kinnpartie störte etwas, war zu massig, zu grob.
„Miß, meinen aufrichtigen Dank,“ lächelte der Fremde ganz heiter. „Ich bin ein miserabler Schwimmer – leider, und eine miserable Wasserratte, hätte mich nie allein in ein Boot trauen sollen. – Miß, Sie gestatten: Ich heiße Blunk, Harry Blunk, bin Kaufmann und eigentlich Mexikaner, uneigentlich New Yorker …“
„Oh – Sie werden sich erkälten in den nassen Kleidern,“ meinte Hella. „Sie müssen unbedingt schleunigst trockene Sachen haben …“ – –
Der alte Kulicke nahm den jungen Herren in seine Stube, eilte dann nach dem nahen Fremdenheim „Seeblick“, holte für Harry Blunk trockene Wäsche und einen anderen Anzug.
In zehn Minuten stand Harry Blunk im Pavillon wieder vor Hella, streckte ihr kameradschaftlich die Hand hin. „Nochmals meinen herzlichsten Dank, Miß Dörcksen!“
Er gefiel ihr. Das Zwanglose seines Auftretens und die liebenswürdige Offenheit seines Wesens nahmen für ihn ein. Sie plauderten. Und nach einer halben Stunde sagte er dann plötzlich nachdenklich: „Dörcksen – Dörcksen, – der Name klingt mir so sehr bekannt. – Ah – richtig, mein Stiefvater hat ihn oft erwähnt – einen Doktor Harald Dörcksen …“
„Das kann dann nur mein Vater sein,“ meinte Hella eifrig. „Wie heißt Ihr Stiefvater, Master Blunk?“
„Allan Leakwoord …“
„Allan … Leakwoord …?“ Hella schüttelte den Kopf. „Nein – den Namen hat der Papa nie genannt. Bestimmt nicht …“
„Nun – es wird sich ja leicht feststellen lassen, ob unsere Väter alte Freunde sind …“ –
Nach einer weiteren halben Stunde verabschiedete Harry Blunk sich, nachdem Hella ihm erlaubt hatte, übermorgen wieder in den Pavillon zu kommen, denn dann war der „Gewürzladen“, wie das Töchterpensionat von den Nachbarn getauft worden war, in Berlin in der Nationalgalerie.
Hella fand so gar nichts dabei, Master Blunk dieses harmlose Stelldichein zu bewilligen. Gewiß, die Frau Doktor würde darüber in Ohnmacht fallen! Die tat ja überhaupt so, als ob jeder Mann unter Siebzig für ihre Zöglinge lebensgefährlich sei.
Hella wanderte der Villa zu. Der alte Kulicke begoß jetzt die Erdbeerbeete. Er rief Hella an.
„Fräulein Dörcksen, – hm, – was ich man so sagen wollte … Ich denk’, wir erzähln’ der Doktorn man lieber nischt von diesen Mister Blönk oder Blänk … Wissen Sie, die Doktorn, die würd’ Zeter und Mordio schreien, daß hier auf unser Jrundstück n’ Kerl in so’n jugendliches Alter sich rumjedrückt hat … Ne, wollen janz schweigen, Fräulein Hellachen … Sonst krieg’ ich nämlich noch wat zu hören – und nischt Feinet! Die Doktorn kann bei jewisse Umstände jrob werden wie ’n oller Feldwebel …“
Harry Blunk wurde wirklich unterschlagen. Und Hella hatte nun ihr kleines, romantisches Geheimnis und … freute sich auf übermorgen. Sie würde dann wieder Kopfschmerzen vorschützen …
Harry Blunk hatte inzwischen entschieden viel gelernt. Er ruderte heute tadellos, wie Hella vom Pavillon aus feststellte, – legte ebenso gewandt an dem kleinen Steg an, machte sein Ruderboot fest und stand nun vergnügt lachend vor ihr …
„Tag, Miß Dörcksen. – Prachtwetter heute, nicht wahr? – Übrigens, es stimmt, unsere Väter sind alte Bekannte von Indien her … – Aber – was machen Sie denn für ein ernstes Gesicht …?! Haben Sie Verdruß gehabt?“
Hella saß auf der Brüstung, hatte die Füße in den zierlichen Lackschuhen auf die Bank gestellt.
„Kulicke hat mich gewarnt,“ sagte sie widerwillig. „Sie dürfen nicht hierbleiben, müssen sofort wieder davonrudern. Frau Doktor Würz soll irgendwie erfahren haben, daß wir beide hier …“
Er lachte herzlich. „Aber – aber Miß Dörcksen! Sie sind doch kein Kind mehr, sind eine junge Dame! Wer will Ihnen verbieten, mich …“
„Oh – genau dasselbe habe ich mir auch schon gesagt. Was ist denn Schlimmes dabei, wenn wir hier am hellen Tage …“
„Na also!“ Er setzte sich auf die Bank. Sie lächelte zu ihm herab, meinte übermütig, – sie, die sonst so ernst und fast schwermütig war: „Ich lasse es darauf ankommen! Im Juli kehre ich ja doch endgültig heim …“
Zehn Minuten hatten sie geplaudert. Harry hatte ihr sogar eine Zigarette aufgeredet. Hella hustete; es schmeckte ihr gar nicht. Aber sie rauchte, weil er ihr sagte, sie sehe mit der Zigarette im Mund so fesch aus.
Hinter den Fliederbüschen neben dem Weg zum Pavillon regten sich Gestalten. Ein paar Mädchenköpfe tauchten auf, verschwanden wieder.
Und dann kam den Weg eine sehr lange, sehr dürre Dame, ganz in Grau gekleidet, entlang. Sie hielt das Lorgnon mit der Linken vor die Augen, schritt immer schneller aus.
Da blickte Hella auf, rief Harry leise zu:
„Das Gewitter naht!“
Der wandte den Kopf, stand auf, ging der hageren Frau Doktor die Stufen hinab entgegen, zog den Strohhut: „Harry Blunk, Kaufmann. – Mein Stiefvater und Hellas Vater sind Duzfreunde. Hella hat mir das Leben gerettet. – So – nun wissen Sie Bescheid, Mistreß Würz.“
Die Frau Doktor stand starr.
Und hinter ihr hatte sich der ganze „Gewürzladen“ hämisch lächelnd aufgebaut. Hella war hier nicht beliebt – oh nein!
„Mein Herr,“ sagte die grauhaarige Dame eisig, „Sie werden den Garten sofort verlassen – sofort!“
„Ich denke auch gar nicht daran,“ lächelte Harry Blunk liebenswürdig – frech. „Ich bin jetzt Gast der Miß Hella Dörcksen, die hier wohnt. – Wie dürfen Sie mich da wie einen Strolch fortweisen?!“
Hella kam die Treppe hinab. „Master Blunk, – bitte, gehen Sie. Sie sind mit deutschen Sitten und Gebräuchen nicht genügend vertraut. Frau Doktor Würz billigt Ihre Anwesenheit nicht, und unter diesen Umständen …“ Sie deutete nach der Wasserpforte.
„Wie Sie befehlen, Miß Dörcksen. Leben Sie wohl.“ Er reichte ihr die Hand.
Aber – bisher war ihm sein Plan erst halb geglückt. Er mußte hier sofort einen offenen Bruch zwischen Hella und der dürren Dame hervorrufen. Nur dann hatte er Gelegenheit, schnell über Hella die Macht zu gewinnen, auf die er es abgesehen hatte.
Und daher fügte er hinzu, als hätte er sich eines anderen besonnen: „Nein – nicht, leben Sie wohl! – Ein Vorschlag, Miß Hella, Sie steigen zu mir in mein Boot, und wir rudern ein wenig spazieren. Der See ist neutrales Gebiet. Und Sie – Sie sind doch eine junge Dame, kein unmündiges Kind …“
Frau Doktor Würz schnappte jetzt mit Recht förmlich nach Luft.
„Master Blunk,“ rief sie zornbebend, „ich … ich verbiete Ihnen, eines der mir anvertrauten jungen Mädchen in so schamloser …“
Hella sah die schadenfrohen Gesichter ihrer Pensionsschwestern. Sie warf den Kopf zurück. Etwas regte sich in ihr, was ihr bis dahin fremd gewesen, das Gefühl, daß sie, Harald Dörcksens Tochter, hier erniedrigt würde, daß sie etwas Besonderes sei …
Ihre Stimme war scharf, fast hochmütig, als sie nun mit einer unnachahmlich hoheitsvollen Handbewegung der Doktorin Schweigen gebot …
„Ich verlasse noch heute Ihr Pensionat, Frau Doktor Würz. Meinem Vater werde ich das Nötige mitteilen. Meine Sachen werden abgeholt werden … – Kommen Sie, Master Blunk …“
Sie bestiegen das Boot. Harry ruderte.
„Das haben Sie gut gemacht, Miß Hella,“ meinte er. „Wir werden Sie nachher im „Seeblick“ einquartieren. Und dann genießen wir ein paar Tage Ihre Freiheit, bevor Sie heimkehren …“ –
So geschah’s auch.
Am nächsten Morgen saß Hella auf dem zu ihrem Zimmer gehörenden Balkon. Sie hatte soeben gefrühstückt. Sie lehnte sich in den Korbsessel zurück und sog mit Behagen die erfrischende Luft ein, die der leichte Wind vom nahen See ihr zuführte.
Die Villa „Seeblick“ lag kaum zehn Meter vom Seeufer ab. Hella hatte freien Ausblick bis zur Brücke hin, die den Kanal zwischen dem Kleinen und Großen Wannsee überspannte. Dort drüben glitten weiße Jachten entlang; einer der großen Sterndampfer fuhr zum Schwedischen Pavillon hinüber.
Es war so schön hier. Und – sie war frei … frei …
Sie reckte die Arme hoch …: Frei! – Und sie dachte an Harry Blunk …
Gestern Abend waren sie in Berlin gewesen, in einem sehr eleganten Cafe. Da hatte eine Kapelle gespielt – wirklich künstlerisch … – Eine neue Welt hatte sich Hella aufgetan … –
Jetzt fiel ihr plötzlich der Brief an den Vater ein. Schnell schob sie Tasse und Teller zurück, holte ihre Schreibmappe, ihre Füllfeder …
„Mein inniggeliebter Papa!
Du wirst, so hoffe ich, den Schritt nicht mißbilligen, zu dem ich gestern halb und halb gezwungen wurde … – – –“
Sie schilderte mit allen Einzelheiten, wie es zwischen ihr und Frau Doktor Würz zum Bruch gekommen war.
„Harry Blunk ist ein sehr lieber, netter Mensch. Seine amerikanischen Ansichten über die Bewegungsfreiheit, auf die selbst junge Mädchen Anspruch haben, passen nicht ganz für hiesige Verhältnisse. Aber die Hauptsache, er ist Gentleman – in allem. Dabei hat er eine so imponierende Art des Auftretens …“
Sie schwärmte ein wenig vom ihm. – Als sie den Brief nochmals überlas, wollte sie ihn schon wieder zerreißen, dachte: „Der Papa wird annehmen, ich bin in Harry Blunk verliebt … – Und – das ist doch keineswegs der Fall … – Oder … oder doch …?!“ Sie wurde rot; das Blut schoß ihr zum Herzen; ein unbestimmtes Sehnen überkam sie …
Da – über ihr eine Stimme:
„Guten Morgen, Miß Langschläferin …!“ Harry beugte sich seitwärts über seinen Balkon. „Nun aber flink, – in einer halben Stunde geht unser Dampfer nach Werder ab. Den dürfen wir nicht versäumen …“ –
Sie verlebten den Tag in dem Obstparadies an der Havel, wandelten durch die Straßen des kleinen Städtchens, genossen die Aussicht von den hochgelegenen Wirtshäusern … – –
*
Als Doktor Harald Dörcksen zwei Tage darauf Hellas Brief erhielt, stand er gerade in Gedanken versunken vor dem schmalen Durchblick, den er nach der Schneekoppe zu durch die Tannen freigelegt hatte. –
Er las den Brief sofort, nickte zufrieden, schaute wieder hinüber nach dem deutschen Berg, der ihm den Gaurisankar vortäuschen sollte, murmelte leise: „Leakwoord wird sich ihrer annehmen – und Harry Blunk auch …“
Dann schrieb er Hella eine kurze, herzliche Antwort, er habe nichts dagegen, daß sie Berlin und Umgegend in Begleitung des Stiefsohnes seines Freundes genauer kennen lerne … – – –
Hella kehrte von einem Ausflug nach Buckow, der märkischen Schweiz, heim; fand in ihrem Zimmer diesen Brief, aber auch eine Depesche vor, die der Gendarm Rittlinger an sie abgesandt hatte:
„Bitte sofort kommen. Ihr Vater anscheinend verunglückt. – Gendarmeriewachtmeister Rittlinger.“ –
Hella faßte sich schnell, klopfte bei Blunk an, damit er ihr einen passenden Zug aus dem Kursbuch heraussuche. Blunk jedoch war nach Berlin gefahren. Das Stubenmädchen teilte Hella dies mit.
Sofort telephonierte Hella nach Lichterfelde an Professor Preil, bei dem Gari in Pension war.
Gari traf eine Stunde später im Auto ein. Und abends neun Uhr reisten die Geschwister zusammen nach Hause. Für Blunk hatte Hella nur ein paar Zeilen zurückgelassen – sehr herzlich gehaltene Abschiedsworte.
8. Kapitel
Wachtmeister Rittlinger, den Hella telegraphisch benachrichtigt hatte, holte die Geschwister mit einem Wagen von der Bahnstation ab. Er hatte gefürchtet, Hella würde in Tränen zerfließen. Er wunderte sich, wie ruhig sie blieb, wie klug und selbständig sie sich benahm. Er erzählte während der Wagenfahrt das wenige, daß man über Doktor Dörcksens Verschwinden wußte.
Touristen, die den Höllensteg, eine tiefe, von einem reißenden Bach durchströmte Schlucht, aufwärts gewandert waren, hatten von fern einen Herrn bemerkt, der am Rand der Schlucht kniete und mit einem Schmetterlingsnetz nach einem Falter zu haschen schien. Plötzlich hatte der Herr einen gellenden Schrei ausgestoßen und war anscheinend in den Abgrund gestürzt; der gerade da über vierzig Meter tief war. Sie hatten sofort Hilfe herbeigeholt. An jener Stelle, wo der Herr gekniet hatte, fand man einen Strohhut, der zweifellos Doktor Dörcksens Eigentum war. –
Der Wachtmeister hatte dann persönlich den Bach nach dem Abgestürzten durchsuchen lassen. Man entdeckte jedoch nichts. Nur das Schmetterlingsnetz wurde gefunden. Der Bach hatte verschiedene Kolke, – Löcher, die sich nach unten zu erweiterten. Man nahm an, daß die Leiche in einen solchen Kolk geraten sein könnte. –
Hella weinte jetzt leise. Auch Gari weinte. Eng umschlungen saßen sie da.
„Herr Rittlinger, seien Sie ganz ehrlich,“ meinte Hella dann. „Unser Vater ist tot. – Sind Sie davon nicht auch überzeugt.“
Der Wachtmeister nickte. „Leider … leider …“
Nachmittags standen Hella, Gari und Rittlinger an der Unfallstelle.
Die Geschwister schauten hinab in die Tiefe, hinab auf das brausende Wildwasser. Ihre Tränen flossen wieder. Dann sanken sie in die Knie, beteten ein Vaterunser. Auch der alte Gendarm Rittlinger hatte die Hände gefaltet. – Er geleitete die Geschwister heim in das einsame Haus zwischen den Tannen, versprach morgen wiederzukommen und Lebensmittel und anderes mitzubringen.
Es war Abend geworden. Rot glühte die Schneekoppe, rosig schimmerte der vereiste Schnee um das Blockhaus. Der ganze westliche Horizont erstrahlte in Rot – ein Abschiedsgruß der scheidenden Sonne.
Gari holte gerade Brennholz aus dem Stall. Denn es war kühl in den Stuben. Hella aber saß am Schreibtisch ihres Vaters und las dessen Testament, das sie soeben in der Mittelschieblade gefunden hatte.
„Ich hoffe ja noch einige Jahre im Interesse meiner Kinder zu leben,“ hieß es da. „Trotzdem will ich heute folgendes bestimmen: Vormund meiner Kinder soll mein Freund Allan Leakwoord werden …“
So weit war Hella gekommen. –
Von der Zimmertür her ein Geräusch; sie schaute auf …
„Hella – Hella – arme Hella!“ rief Harry Blunk leise und sehnsüchtig, streckte ihr die Hände entgegen …
Und – er hatte diesen Augenblick klug berechnet. – Hella sank aufschluchzend an seine Brust, weinte sich aus an seinem Herzen …
Und Harry Blunk dachte: „Du bist ein Schuft, Harry, – ein ganz gemeiner Lump …!“
Doch – es gab kein Zurück mehr für ihn … –
Hella beruhigte sich. Und sie wars, die ihn dann küßte, – sie war es, deren weiche Lippen sein Gewissen betäubten … – Er blieb als Gast auf der Einsiedelei und schlief mit Gari in einem Zimmer.
Bei Hella wechselten Stunden tiefsten Schmerzes über den Verlust des Vaters und Stunden bräutlicher Seligkeit wie Regen und Sonnenschein.
Aber nachts, wenn sie allein war, wenn sie wieder von der Königin, die auf Wolken schwebt, geträumt hatte und über diesen phantastischen Bildern in seltsamer Erregung erwachte, dann gab es Augenblicke, wo es ihr scheinen wollte, als sei Harry Blunk doch nicht der, über den sie rückhaltlos die ganze Zärtlichkeit ihres Herzens ausgießen könne wie die köstlichen Gaben eines Füllhorns … – –
Vier Tage drauf traf Allan Leakwoord auf Tannenhöh ein. – Er nahm die Nachforschungen nach Doktor Dörcksens Leiche nochmals auf. Sie blieben ebenso ergebnislos wie bisher. Dann setzte er bei den Gerichten die Todeserklärung Harald Dörcksens durch.
Er und Harry bewohnten nun in der Blockhütte eines der Hinterzimmer. Dieses stand mit des Doktors Arbeitsstube durch eine Tür in Verbindung.
Hella und Gari schliefen jenseits des das Haus teilenden Flurs.
Und jede Nacht geisterten lautlos zwei Gestalten in Harald Dörcksens Studierstube umher, – suchten – suchten, hofften das zu finden, was der Doktor für seine Kinder hinterlassen hatte: die Aufzeichnung über die Goldfundstelle!
Sie entdeckten wohl das Geheimfach, in dem die Metallwalze verborgen gewesen. Doch diese Walze selbst hatte Hella bereits da an sich genommen, als sie das Testament gelesen hatte … Die Walze lag jetzt in ihrem Stübchen zwischen Wäschestücken. Und wenn Gari nebenan fest schlief, dann holte Hella häufig auch die kleine Maschine aus dem Schrank hervor, setzte die Walze auf und ließ sich von der Stimme eines Toten das Märchen von der Königin Aspasia erzählen; weinte dann stets über das tragische Schicksal dessen, der Aspasias Gatte gewesen, obwohl sie das alles doch nur für ein Erzeugnis der Phantasie ihres Vaters hielt … – –
Harry sah sich gezwungen, mit aller Vorsicht seine Braut nach den vielbegehrten Aufzeichnungen auszuforschen. Er durfte Hellas Argwohn nicht erregen, und deshalb strebte er ganz allmählich durch allerlei Bemerkungen seinem Ziel zu, bereitete Hella so auf die Hauptfrage vor, die er dann einmal, als sie im Halbdunkel eng aneinander geschmiegt auf dem Sofa der Studierstube saßen, an sie richtete …
„Hella, dein Vater hat meinem Stiefvater gegenüber Andeutungen gemacht, daß er einst im Himalayagebirge eine reiche Goldader entdeckt und über die Stelle, wo sie zu suchen, etwas Schriftliches für euch, seine Kinder, hinterlassen hätte. – Weißt du hierüber irgend etwas, mein Liebling?“
Sie wollte schon erwidern: „Ja, – aber es ist wohl nur ein schönes Märchen …“ – Doch – da wars, als raune eine ferne Stimme ihr zu: „Das Märchen sei dir heilig! Schweige.“
Und – sie erklärte zögernd: „Ich weiß nichts darüber – nichts …!“
Harry hatte feine Ohren. Er hörte aus dieser Antwort heraus: Es war nicht die Wahrheit! – Und als er seinem Vater hiervon erzählte, bestätigte Allan Leakwoord ihm diesen Verdacht, fügte hinzu: „Verdammt – du wirst sie wirklich heiraten müssen! Dann erst wird sie sprechen …!“
So wurde dann mit Hellas Zustimmung alles für eine baldige standesamtliche Trauung durch Allan Leakwoord in die Wege geleitet. Von einer kirchlichen sollte zunächst abgesehen werden. –
Leakwoord verstand Hella nicht nur von aller Welt abzusondern, sondern in ihr auch den Glauben zu befestigten, er als ihr Vormund sei ihr treuester und bester Berater. Sie vertraute ihm blindlings, kümmerte sich um nichts.
Ein stürmischer, regnerischer Septembertag zog herauf. –
Um neun Uhr vormittags begaben sich Hella, Leakwoord und Harry Blunk nach herzlichem Abschied von Gari, der inzwischen das Haus hüten sollte, nach dem Fahrweg, wo bereits ein Auto wartete und sie dann in mehrstündiger Fahrt nach Hirschberg brachte.
Hier führte Leakwoord das Brautpaar in eine enge Seitengasse und in ein älteres, düsteres Haus.
„Ja, Kind, – man sieht’s diesem finsteren Steinkasten nicht gerade an, daß er schon viele liebende Paare vereint hat,“ meinte er scherzend auf der Treppe. „Man hätte das Standesamt wirklich in freundlicheren Räumen unterbringen können.“
Im ersten Stock in einem halb dunklen, kurzen Flur hing an einer Tür ein großes Pappschild. Darauf stand: „Standesamt. – Dienststunden 9 – 12, 3 – 5.“
Leakwoord deutete auf das Schild. – „Auch hier fehlt leider jede Poesie …“
Dann stieß er die Tür auf.
Ein Bürozimmer mit einem Aktenregal und zwei Tischen; davor zwei ältere Beamte.
„Sie wünschen?“ krähte der eine.
„Eheschließung Hella Dörcksen und Harry Blunk,“ erklärte Leakwoord feierlich.
Der Beamte blätterte in einem Aktenstück.
„Alles in Ordnung,“ knurrte er. „Bitte dort hinein.“ Er zeigte auf eine der Türen.
In diesem zweiten Zimmer stand nur ein langer Tisch, dessen Mitte einen altarähnlichen Aufsatz hatte mit einem Kruzifix als Schmuck. Am Fenster hatte ein würdiger Herr im Gehrock gelehnt, stellte sich mit vielen Bücklingen als Standesbeamter Müller vor, und begann dann sofort die Formalitäten zu erledigen.
Hella handelte wie im Traum. Als sie ihren Namen in das dicke Buch eintragen sollte, wars wieder, als käme von weit her eine Stimme: „Tu’s nicht – tu’s nicht …!“
Diesmal unterlag sie Harrys zärtlichem Flüstern:
„Liebling – bitte – so schreib doch!“
– und dann erklärte der würdige Herr, daß sie nun ein Ehepaar seien, gratulierte, lächelte süßlich, händigte Hella eine Urkunde mit verwischtem Stempel aus: Die Bestätigung der Eheschließung … –
Die drei verließen das düstere Haus. Hella war so seltsam beklommen zumute.
Vor dem Haus stand ein ärmlicher, blasser Mensch, streckte bittend die Hand aus. Hella wollte ihm ein Geldstück reichen. Aber Harry meinte: „So laß doch, Liebling … es sind ja doch alles nur Faulenzer …“
Fünf Schritt – da reute es Hella, dem Mann nichts geschenkt zu haben. Flink lief sie zurück, warf dem Bettler einen Fünfmarkschein in den Hut.
Warf … und stutzte, horchte auf:
„Vorsicht – Betrug!“
Gleichzeitig haschte der Bettler nach ihrer Hand, tat als wolle er aus Dankbarkeit ihren Handschuh küssen, drückte ihr einen Zettel in die Finger …
Und wieder hörte sie: „Vorsicht!“
Wie betäubt schloß sie sich nun wieder den beiden Herren an.
Harry faßte sie unter, meinte: „Liebling, – so blaß plötzlich?“
„Ach – die Zeremonie vor dem Standesbeamten hat mich doch sehr aufgeregt …“ –
Es war vorher vereinbart worden, daß das junge Paar von hier aus sofort für einige Tage nach Berlin reisen sollte. Doch der Zug ging erst nachmittags vier Uhr ab. Man besuchte also noch eine Weinstube, um zu Mittag zu essen. – Allan Leakwoord bestellte Sekt und eine erlesene Speisenfolge.
Hella hatte nur einen Wunsch: Gelegenheit zu finden, unbeachtet den Zettel lesen zu können.
Und – es gelang ihr auch, während sie scheinbar vor einem Spiegel in einer Ecke ihr Haar in Ordnung brachte.
Sie las – wurde totenbleich:
„Tochter der Königin über den Wolken! Du bist schändlich betrogen worden. In den Zimmern des angeblichen Standesamts haust ein übel berüchtigter Winkelkonsulent namens Tredowsky. Allan Leakwoord hat ihn bestochen. – Harry Blunk gibt es nicht. Harry ist Leakwoords richtiger Sohn. – Ein Freund.“
Und unter diese Zeilen war ein sechszackiger Stern gezeichnet, in dessen rundem Mittelstück eine auf Wolken schwebende Göttin zu erkennen war … –
Hella war ein starker Charakter. Blitzschnell überlegte sie …
Dann kehrte sie an den Tisch zu den beiden Herren zurück.
Doch sie setzte sich nicht. Sie beugte sich etwas vor, flüsterte Leakwoord dem Älteren zu:
„Wie viel haben Sie dem Winkelkonsulenten Tredowsky bezahlen müssen?“
Allan Leakwoord prallte zurück, wurde grüngelb im Gesicht, brachte kein Wort über die Lippen …
Auch Harry traten kalte Schweißperlen auf die Stirn.
Hella wußte genug.
„Herr Wirt,“ rief sie, „Herr Wirt, – sorgen Sie dafür, daß diese beiden Leute hier festgehalten werden. Ich eile zur Polizei. Man hat mir eine Eheschließung vorgetäuscht …“
Der Wirt schaute der davonhastenden jungen Dame kopfschüttelnd nach.
Leakwoord sprang auf. „Ihr nach, Harry! – Hier, Herr Wirt, mein Paß. Ich bin Amerikaner, bin Detektiv. Wir wollten diese gemeingefährliche Hochstaplerin überlisten.“
Der Wirt hatte vor Ententeangehörigen einen Heidenrespekt. – Die beiden Leakwoords taten, als ob sie Hella verfolgten, – entwischten so. –
Als Hella mit zwei Polizeibeamten eine Viertelstunde später die Weinstube betrat, waren die „Detektive“ längst anders wohin unterwegs.
Hella fand dann aber das düstere Haus wieder, in dem die standesamtliche Komödie sich abgespielt hatte. – Der Winkelkonsulent und seine Helfershelfer, die im ersten Zimmer die Büroschreiber vorgestellt hatten, wurden verhaftet.
Um sechs Uhr nachmittags fuhr Hella dann in einem ihr von der Polizei zur Verfügung gestellten Auto in Begleitung eines Kommissars heim. Dieser hoffte, die Leakwoords vielleicht noch in der Einsiedelei abzufassen, wo sich doch ihre Koffer und anderes befanden.
Um neun Uhr hielt der Kraftwagen an jener Stelle des Fahrweges, wo der Pfad nach Tannenhöh abzweigte. Es war bereits dunkel. Ein feiner, kalter Regen sprühte herab.
Das Blockhaus kam in Sicht … Die Haustür stand weit offen … In Garis Stube im Flur brannten die Lampen. Von Gari aber nirgends eine Spur – nirgends … –
Am nächsten Morgen half Wachtmeister Rittlinger nach Gari suchen. Verschiedenes deutete darauf hin, daß dieser mit Gewalt entführt worden war. –
Hella irrte wie eine Wahnsinnige umher. Das, was der gestrige Tag ihr gebracht, war zu viel für ihre Nerven. Sie drohte zusammenzubrechen. – Der alte Rittlinger tröstete sie, so gut er konnte. –
Es wurde Abend. Da erschienen in der Einsiedelei zwei Telegraphenarbeiter, die die Drähte der Leitung die Fahrstraße entlang nach dem Städtchen zu gestern nachgespannt und einen Kraftwagen beobachtet hatten, in dem zwischen zwei vermummten Herren ein blasser, junger Mensch mit geschlossenen Augen gesessen hatte. – Ihrer Beschreibung nach war dies Gari gewesen. –
Rittlinger blieb die Nacht über in der Einsiedelei; schlief in Garis Zimmer, also neben dem Hellas.
Mitten in der Nacht wachte er auf …
Er vernahm in der Stube des jungen Mädchens eine weiche, klangvolle Männerstimme. Er erhob sich argwöhnisch, lauschte an der Tür …
Ganz kalt überfiel es ihn, – denn er hörte einen Teil des Märchens mit an, das Hella sich zum Trost durch einen Toten von einer lebenden Maschine erzählen ließ …
Am Morgen erschien der Kommissar aus Hirschberg abermals. Rittlinger teilte ihm im Vertrauen mit, was er nachts erlauscht hatte, meinte: „Eine unheimliche Familie, alles in allem. Die Hella und der Gari haben dasselbe Muttermal auf der Stirn, von dem das Grammophon plapperte … Des Doktors Gattin soll auf hoher See umgekommen sein – – soll! Beweise fehlen. – Er selbst verschwindet spurlos. Und der Tochter stellen zwei Halunken nach, die jetzt doch fraglos auch den jungen Menschen erst betäubt und dann entführt haben …“
Der Kommissar nickte. „Sie haben so unrecht nicht …!“ – Nachher fragte er Hella, ob nicht vielleicht durch das Grammophon – der alte Rittlinger hätte nachts da so allerlei mit angehört – manches geklärt werden könnte …
Da wurden Hellas Augen kühl und abweisend. „Es handelt sich um ein Märchen, das mein Vater für uns Kinder erdacht hat. Das Märchen ist mir heilig.“ –
Der Kommissar fragte nicht wieder.
An demselben Tag erhielt man weitere Beweise dafür, daß zwei vermummte Herren Gari verschleppt hatten. Da machte Hella mit seltener Energie alles an Geld flüssig, was der Doktor noch bei seiner Bank gut hatte, und erklärte Rittlinger und dem Kommissar, sie würde selbst die Verfolgung der beiden Leakwoords aufnehmen. – „Ich werde sie finden, und wenn ich ihnen bis ans Ende der Welt nachspüren müßte …!“ sagte sie.
Am nächsten Abend kam Nachricht aus Hamburg, daß Harry Leakwoord dort gesehen worden sei. Sofort reiste Hella ab, nachdem sie die kleine Maschine und die Märchenwalze ganz heimlich in dem hohlen Stamm einer halb abgestorbenen, uralten Eiche verborgen hatte.
Die Jagd begann. Hella verlor so und so oft des jüngeren Leakwoords Spur, fand sie aber immer wieder. Die Überzeugung, durch Harry dorthin geführt zu werden, wohin Allan Leakwoord Gari verschleppt hatte, stählte ihre Zähigkeit. Sie eignete sich bald die Schlauheit und Unerschrockenheit einer Detektivin von Beruf an. Erwuchsen ihr irgendwie Schwierigkeiten, nahm sie ihre Schönheit zu Hilfe, lüftete den dichten Gesichtsschleier. Und ihre prachtvollen Augen zwangen alle, ihr dienstbar zu sein. Dabei wurde sie nie belästigt durch freche Zudringlichkeit: denn eine Würde, eine Höhe, entfernten die Vertraulichkeit …
Ein Jahr dauerte die Hetze. Und während dieser Monate, in denen Hella Dörcksen die halbe Welt kennen lernte, erhielt sie wiederholt Beweise, daß derselbe geheimnisvolle Beschützer, der durch den Zettel mit dem Stern darunter die Leakwoords entlarvt hatte, ihr dauernd nahe sein mußte und ihr half, die Fährte immer aufs neue zu finden. Nie aber bekam sie diesen Freund zu Gesicht.
Ein Jahr – und dann ereignete sich in Haidarabad das, was Hellas Leben eine neue Wendung geben sollte. Sie ließ sich durch eine Ähnlichkeit täuschen, verfolgte den Falschen, den jungen Radscha von Gohdwura, gelangte so in die alte Maharattenburg, in die Versammlung derer, die der Welt den wahren Frieden geben wollten, wurde von ihnen fast wie eine Göttin verehrt und jubelnd als Führerin begrüßt … –
Die Maharattenburg und die kleine Insel verschwanden im Heiligen See …
In den Tiefen der Erde aber erwarteten zwei Menschen den Tod, die ein Zufall – wirklich ein Zufall? – vereint hatte …
*
Die Öllampe war erloschen. – Tiefe Finsternis hüllte Hella und Mahadur Mirat ein. Sie saßen dicht nebeneinander. Er hielt ihre eisig kalten Hände in den seinen und suchte sie zu erwärmen.
Die Geschichte von Hellas Liebesglück war beendet.
Eine Weide schwieg der Radscha. Dann sagte er, und seine Stimme war durchweht von unendlichem Schmerz:
„Hella, Tochter der Wolkenkönigin, ein grausames Geschick hat über deinen Lebenspfad zu früh einen Abgrund gepflügt, der wie ein tödlicher Messerschnitt ist. Was hättest du mit Hilfe der Goldschätze des Landes auf den Höhen des Himalaya Gutes stiften, wie hättest du unsere edlen Zwecke fördern können …!“
Hella verlor sich nicht in phantastischen Unmöglichkeiten.
„Mahadur Mirat, wie hätte das wohl je sein sollen, wie hätte ich je meine Mutter wiedersehen, sie anflehen können, mir die gleißenden Mittel zu gewähren, damit ich euch beistehen könnte …?! Das Tal der Seligen, das Land Olympia, ist uns Sterblichen unerreichbar …“
Der Radscha preßte plötzlich ihre Hände. „Hella, aus allem, was ich jetzt weiß, entnehme ich, daß dein Vater lebt,“ rief er in wachsender Erregung. „Hella – er lebt, und er will zweifellos nichts anderes, als nochmals den Versuch machen, seine Gattin, das Land seiner Sehnsucht zu erreichen! – Hella – es ist so! Und wenn diese unerbittlichen Felsmassen uns nicht eingeschlossen, wenn wir deinen Vater gefunden hätten, so würdest du der Engel des Friedens für die ganze Welt, würdest du die Herrin der Erde und all ihrer Völker geworden sein …!“
Er sprang auf. „Du – du darfst nicht sterben, nein, du mußt leben …! Du mußt! Nochmals will ich nach einem Ausgang suchen …!“
Hella sah nichts, hörte nur, wie er seine Kleider in Stücke riß; dann zuckte das Flämmchen seines Feuerzeugs auf. Die aus Stoff gedrehte Fackel fing stinkend Feuer. Und mit einem: „Bete für uns!“ eilte er von dannen.
So schnell hatte sich das alles abgespielt, daß Hella zu spät ihm folgte, ihm nachrief … Doch er war bereits verschwunden.
Vor eisiger Kälte, die ihre Glieder langsam absterben ließ, verfiel sie in eine Art Betäubung …
Mahadur Mirat kehrte nicht zurück. Das war das letzte, was ihre trägen Gedanken als Gewißheit ihr sagten. Sie würde allein sterben … allein … –
Seltsame Visionen gebar ihr Hirn …
Helle Lichtfluten durchstrahlten die Höhle; Gewölk tauchte auf; und darauf schwebte der Elfenbeinstuhl mit der Königin Aspasia, ihrer Mutter … Und rechts von dem Thron stand ihr Vater, links aber ihr Bruder Gari … Und die drei Wiedervereinten lächelten, nickten ihr zu …
Sie sah auch den Rat der Alten; sah vor der Estrade in Ketten die beiden Leakwoords liegen; sah das Volk vorüberziehen und durch die Scherben richten – alles dunkle Schiefertäfelchen …
Der Scherbenberg wuchs höher und höher, erreichte Hella, bedeckte sie … – Zentnerlast drückte ihren Leib.
Noch ein gellender Schrei von kalten Lippen..
Dann – – nichts mehr … – –