Der Heilige See, fels- und urwaldumgürtelt, träumte regungslos im Vormittagssonnenschein. Eine gleißende Bahn zog das strahlende Tagesgestirn über das stille, einsame Gewässer …
Im Schatten eines Steinblocks saß ein einzelner Mann – klein, mager, längliches Gesicht, vorgebautes Kinn und dicke, blonde Brauen, unter denen ein paar klare, kühle Augen von unbestimmter Farbe tief in ihren Höhlen lagen, umdunkelt von den Schatten körperlicher Abspannung.
Der Mann starrte regungslos immer auf denselben Punkt, auf die Mitte des Sees, – dorthin, wo noch vor Stunden die phantastische Ruine der uralten Maharattenburg sich auf einem Felseiland hochgereckt hatte.
Burg und Eiland waren entschwunden. Und mit ihnen alle die, denen Stuart Burne seit Monaten nachspürte, all diese Männer, die da etwas neues ersonnen hatten, um die Völker Indiens wachzurütteln und aufzupeitschen zum Freiheitskampf gegen die britische Fremdherrschaft. – So argwöhnte jedenfalls Stuart Burne …
Etwas ganz Neues hatten sie ersonnen; etwas sehr Kluges, angepaßt dem Hang des Orientalen für geheimnisvolle Offenbarungen übernatürlicher Kräfte …
Politische Verschwörer! So glaubte die Regierung. Und deshalb war auch gerade Stuart Burne hinter ihnen und besonders hinter ihrem Anführer, dem Radscha Mahadur Mirat von Gohdwura, seit vielen Monaten wie ein Schweißhund her, – der „große“ Stuart Burne, Kriminalinspektor der politischen Abteilung der britisch-indischen Polizei, dem Fehlschläge in seinem Beruf fremd waren und der auch jetzt siegen wollte … –
So regungslos er auch dasaß, so matt sein Körper auch war, – sein Geist arbeitete unablässig. – Sollten all jene Männer, die er da in den Tiefen der unterirdischen Räume der Maharattenburg überrascht hatte und die sich und die Ruine dann durch eine ungeheure Explosion hatten verschwinden lassen, wirklich tot sein? – Er zweifelte daran. Er dachte an einen letzten Rettungsweg, den sie vielleicht bereit gehabt für die Stunde größter Gefahr, an einen Weg, hinwegführend unter den Wassern des Heiligen Sees und endigend irgendwo in der Wildnis – irgendwo … –
Seine Augen wurden schmal – ganz plötzlich. Zwischen den Spalten der Lider schoß ein scharfer Blick hinüber zum anderen Ufer.
Der See war klein. Und Stuart Burnes Augen besser als die einer Rothaut aus den Abhängen der Rocky Mountains.
Er erhob sich halb, rutschte auf allen Vieren rückwärts, hinein in das schützende Gestrüpp, richtete sich hier auf, schlich weiter mit den lautlosen geschmeidigen Bewegungen des Tigers, der das Wild an der Tränke anspringen will. –
Und das menschliche Wild drüben war ein Mann in grauem Lodenanzug; dem Gesicht nach ein Europäer, wenn auch das Profil etwas Fremdes an sich hatte, das nicht recht zu den Vertretern der heutigen Menschenrassen paßte; war eine schlanke, sehnige Gestalt, in deren ganzer Haltung eine edle Würde sich ausprägte.
Der Graue – seltsamer Geschmack, selbst den Leinenkragen, die Krawatte und den leichten, weichen Filzhut in Grau zu wählen – stand jetzt auf einem Felsen, der hoch über dem Wasserspiegel wie eine Kanzel hing. Auch er schaute unverwandt nach der Mitte des Sees hin. Dann blickte er nach rechts … Dort hatte ein Unwetter ein paar Urwaldriesen entwurzelt, und schwere, dicke Aststücke der beim Anprall auf das Felsufer zersplitterten Bäume lagen da weit verstreut.
Behende kletterte der Graue von seiner hohen Warte abwärts. Geschickt band er, im leichten Wasser stehend, lange Aststücke mit zähen Lianen zum Floß zusammen, suchte aus den Baumresten ein passendes Stück als Ruder heraus und trieb das plumpe Fahrzeug auf den See, bis er die Mitte erreicht hatte.
Seine Augen hatten ihn nicht getäuscht. Er stellte fest, daß die Trümmer der Maharattenburg kaum einen Meter unter der Oberfläche des Sees lagen. Er hatte sie hier an dieser Stelle wie dunklere Schatten im Wasser schimmern sehen …
Nun hielt sein Floß über diesem Punkt; und seine Blicke umwölbten sich in schwermütiger Trauer. Seine Lippen aber formten Worte, die bedeuteten:
„Zu spät – zu spät …! Ein Jahr lang hast du sie geschützt, hast du ihr geholfen … Und jetzt – jetzt bist du zu spät gekommen …! Die Wasser des Sees, die felsigen Gründe seiner Tiefe geben nicht mehr heraus, was sie verschlangen …“
Er nahm den grauen Filzhut ab; das weißgebleichte Haar wurde sichtbar; weißes Haar zu einem noch frischen, straffen Gesicht …
„Oh Göttin über den Wolken, du Herrin eines Heimatlosen, gib mir ein Zeichen, daß ich auf ein Wunder hoffen darf,“ murmelte er leise. „Ein Zeichen, daß Hella Dörcksen lebt …“
Starr grub er seine Blicke in die klare Flut ein; seine Augen weiteten sich; ein Ausdruck des Schreckens verwirrte seine Züge …
Drei Schlangenleiber waren plötzlich an der Oberfläche erschienen; drei tote Brillenschlangen. Ihre Heimat war die Ruine der Maharattenburg gewesen; die große Katastrophe war auch ihr Ende gewesen. Und nun hatte der Trümmerhaufen sie wieder ausgespieen wie etwas, das ihn entweihte … –
Der Graue nahm die gefleckten Leiber als schlechte Vordeutung. Müde, trostlos ruderte er wieder derselben Uferstelle zu, von der er die kurze Fahrt angetreten hatte …
Stuart Burne lag im Astgewirr des entwurzelten Baumriesen bereit.
Aber – es war nicht mehr der Stuart Burne, der nun um den See herum auf den Fremden zuschlich.
Burnes Beruf verlangte, daß er in fünf Minuten, wenn nötig, ein anderer wurde. Seine Joppe, seine Kniehosen, seine Wickelgamaschen, seine weiche Reisemütze waren von beiden Seiten zu tragen, hatten zwei Farben. Und in den Taschen trug Burne alles, was sonst noch dazu gehörte, einen Menschen äußerlich zu verwandeln.
Der Detektivinspektor war zum Gelehrten geworden mit Brille und halber Künstlermähne, mit verdächtig roter Nase und einem harmlosen Lächeln um den breitgezogenen Mund. Er ließ den Grauen das Ufer betreten, ließ ihn sich setzen, kroch näher, lauschte – – lauschte …
Der Graue stierte wieder auf den See hinaus.
Und Stuart Burne spitzte die Ohren; er kannte alle Sprachen der Welt; er war ein Genie auch darin; aber – diese Sprache kannte er nicht …
Zunächst kannte er sie nicht. Dann tauchten Schulerinnerungen in ihm auf … – Richtig: altgriechisch – wenigstens Anklänge daran … –
Burne würde jetzt den Kopf geschüttelt haben, wenn er eben nicht Stuart Burne gewesen wäre, der hier in Indien sich das Wundern längst abgewöhnt hatte. In Indien war alles möglich; da ließen die frommen Fakire sich die Fingernägel durch die seit Jahren zu Ehren Brahmas, der Weltseele, fest geballte Hand wachsen, da krochen andere ebenfalls zu Ehren des Gottes auf allen Vieren ihr Leben lang, da zwangen sich andere wieder durch dauernd fest geschlossene Lider zur Blindheit, bis die Entzündung der Lidränder diese zusammenwachsen ließ … – –
Der Graue saß und führte seine halblauten Selbstgespräche weiter …
„Hella Dörcksen, Tochter der Göttin über den Wolken, – weshalb mußte ich deine Spur verlieren?! Weshalb durfte ich dich …“
Da – sein Kopf schnellte hoch; seine Hand fuhr nach der Tasche …
Und er erblickte einen kleinen Mann mit goldener Brille, der eifrig die Pflanzen betrachtete, der die Blüten zerzupfte, die Staubgefäße zählte, die Wurzeln mit dem Messer säuberte und daran roch …
Ein Gelehrter, ein Botaniker nur …! – Er war beruhigt. Er stand auf. Der Gelehrte bemerkte ihn, schrak zusammen, musterte ihn mißtrauisch, grüßte dann, rief argwöhnisch, gleichzeitig die Mütze ziehend:
„Es ist doch erlaubt, hier diese seltene Urwaldflora ein wenig zu durchstöbern … – Sie gestatten: Professor Pinkerley, Howard Pinkerley …“
Der „große“ Burne war ein großer Schauspieler. Und der Graue zwar kein schlechter Menschenkenner; nur einem Stuart Burne nicht gewachsen.
„Hier kann jeder tun und lassen, was er will,“ meinte er. „Ihre Beschäftigung ist zudem noch so harmlos wie nur möglich, Herr Professor …“
„Ganz recht – ganz recht.“ Der angebliche Pinkerley kam näher. „Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er, abermals die Mütze ziehend.
„Odysseus Nemo,“ stellte der Fremde sich höflich vor.
Der Professor lächelte …
„Odysseus war der Mann, der ein Jahrzehnt brauchte, ehe er die Heimat wieder erreichte. Und Nemo heißt Niemand … – Alles in allem ein sonderbarer Name. – Sind Sie ebenfalls Botaniker oder dergleichen, Herr Nemo? Ich würde mich so sehr freuen, in Ihnen einen Kollegen begrüßen zu können. Ich habe da soeben ein ganz seltenes Exemplar der Riesenblume, der Rafflesia Arnoldi, drüben in einer Sumpflache gefunden, und …“
Der Fremde unterbrach ihn höflich. „Verzeihung, ich bin nicht Botaniker, Herr Professor. Ich bin ein Namenloser, ein Mann ohne Heimat, einer, der wie Ahasver, der ewige Jude, die Welt durchzieht und hofft …“
„Worauf hoffen Sie denn, Herr Nemo?“ – Stuart Burne hatte vorhin auf gut Glück die deutsche Sprache gewählt. Dieser Graue beherrschte sie gleichfalls vollkommen.
„Das ist ein Geheimnis, für diese Welt und ihre Bewohner unverständlich,“ entgegnete Odysseus Nemo ernst und düster.
„Oh – entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit,“ meinte Professor Pinkerley, den leicht Verlegenen spielend. „Ich bin alles in allem ein weltfremder Mensch, trage das Herz nur zu sehr auf der Zunge. – Wissen Sie, Herr Nemo, ich wurde heute in aller Frühe hier Zeuge seltsamer Geschehnisse. Ich hatte mich verirrt und mußte die Nacht in der Wildnis zubringen …“
„Genau so ist es mir ergangen,“ schaltete der Graue ein.
„Als es hell wurde, bemerkte ich Militär, das diesen kleinen See umstellt hatte. Ich sah drüben an anderen Ufer auch ein paar englische Offiziere. Damals ragte aus der Mitte des Sees noch …“
„Ganz recht, Herr Professor,“ fiel ihm Odysseus Nemo ins Wort. „– es gab da noch ein Felseninselchen und eine Ruine. Beide versanken plötzlich. Kurz vorher schwamm ein einzelner Europäer von dem Eiland nach dem Ufer …“
Stuart Burne dachte: „Wenn du meine Augen hättest, Freund Nemo, würdest du sehen, daß mein Anzug so aussieht, als ob er mir auf dem Leibe getrocknet ist …“ Laut aber erklärte er:
„Ich habe in der Nacht noch merkwürdigere Dinge beobachtet. Zahlreiche Männer wurden in einem Nachen nach der Ruine hinübergebracht.“
„Ah – dasselbe fiel auch mir auf …“
„Ob sie nun wohl bei der Katastrophe – vielleicht infolge eines kurzen Erdbebens – mit umgekommen sein mögen, diese Ärmsten? Mir machte es den Eindruck, als ob das Militär es auf diese Leute abgesehen hätte. Ich bin Irländer von Geburt, Herr Nemo. Und wir Iren sind zumeist nicht gerade Freunde der Briten … Ich möchte versuchen, irgendwie die versunkenen Ruinen zu durchforschen. Mich lockt so etwas. Ich finde an allem Außergewöhnlichen Gefallen …“
„Durchforschen? Herr Professor, wie sollte das sich wohl bewerkstelligen lassen …?“
„Doch – es ist möglich, sehr leicht sogar, – durch Tauchen …! – Wollen wir zusammen bleiben? Begleiten Sie mich doch … Ich habe Empfehlungsbriefe an die britisch-indischen Behörden bei mir, so daß man mir in allem nach Kräften entgegenkommt. – Brechen wir auf. Wir werden ein Eingeborenendorf finden, uns beritten machen, und dann werden wir … – Doch – das überlassen Sie nur mir.“
„Ich schließe mich Ihnen sehr gern an, Herr Professor,“ meinte Odysseus Nemo übereifrig. „Sehr gern … – Ja – eilen wir …! Vielleicht geschieht ein Wunder, und ich kann … wir können,“ verbesserte er sich hastig, „den Verunglückten vielleicht noch Hilfe bringen …“
Stuart Burne und der Namenlose drangen in den Urwald ein. Schweigend schritten sie dahin, jeder mit seinen besonderen Gedanken beschäftigt.
Burne war überzeugt, hier einen glänzenden Fang mit diesem Master Niemand gemacht zu haben. „Er gehört fraglos mit zu den Verschwörern,“ dachte er triumphierend. „Ich werde ihn mühelos für meine Zwecke ausnutzen können …“
Und der Namenlose wieder dachte an die einzige Frau, die dort in der von den Wassern des Sees verschlungenen Maharattenburg geweilt hatte, – an Hella Dörcksen, an die Tochter der Wolkenkönigin …
In derselben Wildnis, nur eine halbe Meile nördlich des Heiligen Sees, wanderten einige Stunden früher, als gerade die Sonne über die zackigen Konturen kahler Felsenhügel hinweglugte, zwei andere Männer in sinnendem Schweigen dahin. Auch sie trugen praktische Touristenanzüge. Der eine, der vor den Augen einen Hornkneifer und einen blonden, halblangen Bart, dazu ein mageres, durchgeistigtes Gesicht hatte, verlangsamte seine Schritte, sagte plötzlich, indem er stehen blieb und seinem Begleiter die Hand leicht auf den Arm legte:
„Freund Dixon, ich sorge mich um den Radscha und um das seltsame Mädchen. Wollen wir nicht besser umkehren und auf sie am Ausgang des Höhlenlabyrinths warten?“
„Freund Herbst,“ erwiderte der englische Reverend nickend, „Du spricht das aus, was mich seit zehn Minuten nicht mehr losläßt. Der Radscha hätte uns längst eingeholt haben müssen. Wir sind mehr geschlichen als gegangen.“
Sie kehrten um. Von einem Pfad, den sie verfolgten, war in dieser Steinöde, in der die Felsmassen kaum hie und da ein paar Disteln nährten, nichts zu sehen, wenigstens nicht für einen Uneingeweihten. Doch Dixon und Herbst gehörten zu denen, die eingeweiht waren. Es gab da an den Felsen in längeren oder kürzeren Abständen Wegmarken in Gestalt von helleren Steinen, die in den Spalten festgeklemmt waren. Verirren konnte sich niemand, der diese Zeichen kannte.
Sie schritten eiliger und eiliger dahin; achteten nicht der Hitze, die jetzt bereits in den noch vom Tage vorher durchhitzten Felsmauern herrschte. – –
*
Stuart Burne, der „große“ Burne, jetzt der harmlose – neugierige Professor Howard Pinkerley, und sein Begleiter Odysseus Nemo kamen von ungefähr in eine Schlucht, deren Südende sich in einem schroffen Hügel in Gestalt einer Grotte hineinzog.
„Wir haben uns gründlich verirrt,“ meinte Pinkerley ärgerlich. „Stunden haben wir in dieser verdammten kahlen Wildnis eingebüßt …“ Er wollte noch etwas hinzufügen, riß jetzt jedoch den Grauen rücksichtslos hinter einen einzelnen Felsblock.
„Still – keinen Laut!“ flüsterte er ihm zu. „Es geht vielleicht um unsere Sicherheit …!“
Der Namenlose schaute ihn überrascht an. Aber er schwieg.
Der „harmlose“ Professor lugte hinter dem Felsen hervor. Dort hinten vor der Grotte standen zwei Männer, redeten überhastet aufeinander ein, verschwanden dann wieder, nachdem sie in die kleine elektrische Taschenlampe des einen eine neue Trockenbatterie eingefügt hatten.
Burne wußte sofort Bescheid. – „Meine Vermutung trifft zu!“ dachte er. „Die Leute haben einen geheimen Ausgang aus den Gewölben der Ruine benutzt, wahrscheinlich eine Höhle, die sich von hier, von jener Grotte bis unter den Heiligen See hinzieht. – Aber was tun die beiden hier noch?! Sie müßten längst weit weg sein – längst …! Und – was tue ich, um sie festzunehmen, ohne dieses mir sehr wertvoll dünkenden Herrn Niemand Verdacht zu erregen …? – Stuart – hier heißt es schlau sein …!“
„Herr Nemo,“ wandte er sich an den Namenlosen, „ich fürchte, wir haben hier soeben zwei Spione überrascht, die den Männern nachstellen, die vielleicht der Katastrophe dort im kleinen See zum Opfer gefallen sind, vielleicht …! Wir wollen feststellen, ob dem so ist, und sie retten, falls es noch etwas zu retten gibt. – Herr Nemo, haben Sie eine Waffe bei sich? – Ah – sehr gut! Einen Revolver! Ich ebenfalls …! – Und – besitzen Sie genügend Unternehmungslust, diese eklen Spürnasen dort so ein wenig zu zwingen, von hier zu verschwinden?“
Der Graue hatte die Worte seinem Begleiter gespannt fast von den Lippen abgelesen. – „Mut,“ meinte er. „Mut – nicht nur Unternehmungslust besitze ich …! Vorwärts – heran an die Kerle …!“ Sein melancholisches Gesicht hatte sich gestrafft. „Sie werden sehen, daß Odysseus Nemo kein schlechter Schütze ist, wenn es nottut …!“
„Gemach – Gemach!“ warnte der angebliche Professor. „Sie scheinen ja einen wütenden Haß gegen alles zu hegen, was nach Polizeispionen riecht …! – Ich kann mich ja auch irren. Vielleicht sind es nur ganz gewöhnliche Leute – vielleicht Ingenieure, die hier nach Erzlagern suchen … – Kommen Sie.. Halten Sie aber Ihre Waffe bereit – für alle Fälle …“
Der Graue verstand sich aufs Anschleichen besser, als der „Professor Pinkerley“ je vermutet hätte. Ebenso wunderte Burne sich über die Veränderung, die mit den etwas weichlichen, träumerisch düsteren Gesichtszügen dieses Mannes vor sich gegangen war, der seltsamer Weise vorhin am Seeufer einer Sprache sich bedient hatte, die vielleicht einmal im alten Griechenland, in dem Hellas eines Demosthenes, Aristoteles und anderer Berühmtheiten des Altertums, verbreitet gewesen sein mochte.
Stuart Burne beglückwünschte sich abermals zu dieser Bekanntschaft. Er ahnte, daß Odysseus Nemo kein Durchschnittssterblicher war. –
Behutsam näherten sie sich der Grotte, in deren nachtschwarzem Hintergrund die beiden „Spione“ untergetaucht waren. Burne holte aus seinen zahllosen und unergründlichen Taschen eine winzige Laterne hervor, drehte an einer Schraube, an einer zweiten, und ein blendender Lichtkegel schoß vorwärts in die drohende Finsternis hinein. – „Amerikanisches Patent,“ flüsterte Burne dem Grauen zu. „Nicht elektrisch – irgend eine Gasmischung – ähnlich den Karbidlampen, nur sparsamer, weit sparsamer …“
Er huschte weiter. Der weiße Strahl tastete die Hinterwand der Grotte ab … und enthüllte dort nun neben einer schmalen Felsplatte, die wohl als Vorstelltür gedient hatte, ein meterhohes Loch mit zackigen Rändern.
Burne schlüpfte gebückt hinein. Auch ihn hatte jetzt eine Art Jagdfieber gepackt. – Der Graue blieb dicht hinter ihm. Der niedrige Felsschlund wurde nach wenigen Metern breiter, wurde zum bequem zu passierenden Gang.
Der leuchtende Klex der Laterne hüpfte bald hierhin und dann wieder dorthin – über den Boden, die Granitdecke, über die Wände, über Vorsprünge und Vertiefungen … Plötzlich schien er blitzschnell in die kleine Lampe sich zu verkriechen.
Nacht ringsum … Tiefste Stille …
Nein doch – dort in der Ferne sowohl ein helles, unruhiges Lichtpünktchen als auch einzelne Laute menschlicher Stimmen … –
„Schuhe aus!“ raunte der „harmlose“ Professor.
Dann gings weiter, Schritt für Schritt …
Der Namenlose wunderte sich jetzt doch ein wenig über des Botanikers merkwürdige Geschicklichkeit bei diesem gewagten Unternehmen. Aber – Howard Pinkerley hatte ja gesagt, daß er das Außergewöhnliche liebe …
„Warten Sie hier!“ flüsterte Burne wieder. Er wollte verhüten, daß der Graue etwas von dem erlauschte, was die beiden Männer dort vorn sprachen. –
Burne war auf allen Vieren weiter gekrochen. Jetzt befand er sich keine fünf Schritt hinter Dixon und Herbst. Und er sah nun endlich, weshalb die beiden immer wieder die Felstrümmer ableuchteten, die sich da vor ihnen bis zur Gangdecke auftürmten als schräge Bahn. Der Gang war eingestürzt!
Und er hörte – und sein Polizeiherz jubelte! –, wie der endlos lange, trockene Reverend mit dem glatten Gesicht eines Jünglings zu dem blondbärtigen Herbst sagte:
„Mir sträuben sich die Haare bei dem Gedanken, daß wir hier machtlos stehen und nicht helfen können! Denn den ungeheuren Steinblock, der die Hauptmasse der eingestürzten Decke ausmacht, müßte man sprengen …! Anders schafft man ihn nicht fort!“
Herbst starrte vor sich hin. Und Dixon fuhr fort: „Ja – wenn wir Hilfe herbeiholen, wenn wir nach der nächsten Stadt telegraphieren könnten, daß Leute herbeieilen sollen, die mit derlei Sprengarbeiten vertraut sind, – – dann könnten wir Hella Dörcksen und Mahadur Mirat retten! So aber …! Wo uns der Mund versiegelt bleiben muß …! – – Entsetzlich – entsetzlich …! Verhungern müssen die beiden …! Und gerade dieses – dieses Mädchen – – und er, der die Wolkenkönigin einst zwischen den Eisgipfeln der Himalayaketten schaute und die Lehre von der neuen Gottheit in aller Stille über die Lande trug …“
Er sank ganz vernichtet auf ein Felsstück, verharrte regungslos.
Kein Laut ringsum; nur die schweren, tiefen Atemzüge der beiden Männer, die ihr Herz in Sorge und Angst zermarterten …
Stuart Burne richtete sich auf …
„Nemo – Nemo, – hierher!“ rief er. Und die Felsen ließen seine Stimme zu ungeheuren Tonwellen anschwellen …
Herbst fuhr empor …
„Dixon – – Verrat …“ gurgelte er halb besinnungslos vor Schreck, denn er war an derlei Abenteuer nicht gewöhnt.
Da – abermals Burnes Stimme, der zugleich seine Laterne angedreht hatte: „Rühren Sie sich nicht vom Fleck …! Wir kennen keine Schonung …! Wir werden mit solchen Spionen wie Ihnen wohl fertig werden! – – Freund Nemo – durchsuchen Sie die beiden nach Waffen …!“
Dixon und Herbst blieben stumm, wagten keinen Widerstand. Sie begriffen nichts. Nichts! Ja – wenn der Mann in der Brille dort nicht den Ausdruck Spione gebraucht hätte …! – Spione?! – Wofür hielt man sie, – für Leute etwa, die hier denen nachspürten, zu denen sie ja selbst gehörten …?!
„Nichts zu finden außer diesen Damenrevolvern kleinsten Kalibers!“ meldete Odysseus Nemo, der mit größtem Eifer und blinder Energie des angeblichen Pinkerleys Befehl ausgeführt hatte.
„So, – stecken Sie die Dinger zu sich, Freund Nemo!“ kommandierte Burne weiter. „Dann binden Sie den beiden die Hände auf den Rücken mit ihren Taschentüchern! Werden Sies auch verstehen …?“
„Ich verstehe mehr, als Sie denken, Freund Professor,“ rief der Namenlose zurück. „Spione weiß ich zu behandeln …“
Burne beleuchtete fortgesetzt die Gruppe der drei Gestalten und hielt dabei in der Rechten den Revolver im Anschlag.
Odysseus Nemo nahm Herbst die elektrische Lampe ab, schaltete sie aus und schob sie in die Tasche. Er hatte Kraft, dieser Graue, und Dixon und Herbst bekamen es zu spüren. Er drehte die Tücher zusammen, und diesen Strick knotete er gewandt um die Handgelenke derer, die er bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hätte, wenn er den wahren Sachverhalt auch nur im entferntesten geahnt haben würde. Er knotete sie so fest, daß Dixon endlich den Mund auftat und empört rief:
„Wir sind doch keine Mörder …! – Herr – Sie sind ein brutaler …!“
„Maul halten!“ brüllte Burne. „Hier rede nur ich! Sonst knallts!“ Er fürchtete mit Recht, daß sein trügerisches Spiel durch eine Bemerkung der beiden entlarvt werden könnte …
Da raunte Herbst dem Freund zu: „Am besten, wir tun, als wären wir Spione … Die Wahrheit dürfen wir ja doch nicht …“
Stuart Burne war mit einem Satz zwischen ihnen, stieß Herbst zur Seite …
„Hier wird nicht getuschelt …! – Vorwärts nun – dem Ausgang zu …!“ – –
In der Schlucht mußten Dixon und Herbst es sich gefallen lassen, daß Burne ihre Taschen genau durchsuchte. Als er dabei – er ging wie immer sehr sorgfältig zu Werke – unter dem Hemd des langen englischen Geistlichen etwas wie einen flachen Stern fühlte, schickte er Odysseus Nemo zum Schein als Wache nach dem Eingang der Schlucht.
Nun war er mit den beiden Männern allein, nun riß er förmlich dem Reverend das Hemd vorn auf, nahm ihm einen an einer seidenen, starken Schnur hängenden sechszackigen Elfenbeinstern vom Hals, betrachtete ihn mit den Augen eines, der diesen Stein bereits einmal gesehen hat und nun vergleicht, ob beide in allen Einzelheiten übereinstimmen.
Der Stern zeigte im runden Mittelfeld in feinster Ausführung und zum Teil mit winzigen Brillanten ausgelegt das Bild eines Weibes, das auf einem auf Wolken schwebenden Sessel saß … –
Burne nickte befriedigt, steckte den Stern zu sich, fand dann bei Herbst genau denselben Stern, nahm ihn auch diesem ab und fragte Dixon nun:
„Wer sind Sie? – Aber keine Lügen!“ Er durchblätterte dabei den Inhalt der Brieftasche des langen Engländers.
„Reverend Edward Dixon aus Nottingham, England,“ entgegnete jener kurz. „Sie ersehen das ja …“ Er stockte, erinnerte sich an Herbst’ Vorschlag, daß sie Spione spielen wollten.
Burne hatte jetzt des anderen Papiere vor.
„Und Sie?“ fragte er barsch.
Herbst schwieg. Und Stuart Burne las einen polizeilichen Ausweis für den Professor Theodor Herbst von der Universität Berlin, – Professor der modernen Literatur …
Er forschte nicht weiter.
„Ich weiß, Sie beide sind Polizeispitzel oder Privatdetektive,“ lächelte er jetzt freundlich. „Ich rate Ihnen, auf dem Marsch zum nächsten Dorf den Mund zu halten. Ich kann sehr liebenswürdig, aber auch sehr rücksichtslos sein …“
Er stieß mit gekrümmtem Zeigefinger im Mund einen gellenden Pfiff aus. Odysseus Nemo kam herbei.
„Freund Niemand,“ meinte der „harmlose“ Howard Pinkerley, „wir haben da einen guten Fang gemacht. Die beiden streiten gar nicht ab, Spione zu sein … – Sehen wir zu, daß wir schleunigst ein Dorf erreichen …“ –
Dixon und Herbst mußten ihnen gefesselten Händen voran. Sprechen durften sie nicht. Das Grübeln aber konnte ihnen niemand verwehren. Niemand! Und sie hatten Zeit genug und noch mehr Grund dazu. –
Was bedeutete dieser Überfall in aller Welt nur?! Wer waren dieser Professor und dieser Nemo? Wer nur?! So viel war in deren Verhalten ihnen gegenüber … – So zermarterten sie sich das Hirn, während sie hintereinander zwischen dem vorausgehenden Mann mit der Brille und dem den kleinen Zug beschließenden Nemo herschritten – wieder durch die Steinwildnis mit den Gluthitze aushauchenden Felsen, wieder belastet mit bangen Sorgen und nervenaufreibender Angst um die, denen der Einsturz des Ganges den Hungertod, den Wahnsinn bringen mußte … – –
Der kleine Bahnhof tauchte auf. Zwischen Indigo- und Tabakfeldern, vorbei an einem armseligen Hindudorf glitt die lange Wagenreihe des Zuges. Über ein paar Weichen tanzten die Räder hinweg, drehten sich immer langsamer unter den angezogenen Bremsklötzen.
Der Zug stand. Ellen Crosterbroux’ geschmeidige Gestalt war mit leichtem Satz auf dem Tonziegelbelag des Bahnsteigs.
„Patrik – schnell heraus mit den Pferden aus dem Güterwagen!“ rief sie dem stiernackigen Stallmeister ihres Vaters zu, der im Nebenwagen gesessen hatte.
Zwei hagere englische Offiziere in Sportanzügen und Tropenhelmen waren ihr gefolgt, schleppten sich mit zwei Koffern.
„Da wären wir also!“ lachte Ellen munter. „Na, er wird seine Freude haben, wenn wir so plötzlich im Jagdlager erscheinen …“
Hauptmann Sinclair machte ein langes Gesicht. „Bezweifle ich, Miß, daß er sich freuen wird. Wir, Watstone und ich, werden es auszubaden haben …“
„Das einzige Kind Tom Crosterbroux’ will kein Zuckerpüppchen sein …!“ meinte Ellen und stampfte mit dem derben, hohen Schnürstiefel auf.
Leutnant Watstone verschlang sie schon wieder mit Blicken. War das nur ein entzückendes Weib! Dieses Temperament …! Nichts von englischer Langweiligkeit und Abgeklärtheit! Alles lebte an diesem Mädchen – alles, und die grauen, großen Augen sprühten doppeltes Leben …
„Watstone – helfen Sie lieber Patrik, die Gäule herauszuzerren … Sie sollen mich nicht so anstarren! Ich bin ja nur versehentlich als Mädchen auf die Welt gekommen …! Pa glaubt’s zwar nicht, daß ich nur Junge, nur Mann bin, will mich in den Glasschrank setzen …! – So eilen Sie doch, Watstone!“
Der Zug rollte weiter, ließ vier Weiße und fünf Pferde auf dem Bahnsteig zurück. –
Früh morgens … die Sonne am östlichen Horizont war noch in leichte Dunstschleier gehüllt.
„Ich werde einen eingeborenen Führer suchen,“ erklärte Hauptmann Sinclair. „Ich gehe voraus nach dem Dorf …“
Als die anderen mit den Pferden sich dort einfanden, stand Sinclair schon mit einem braunen Radschputen auf der Dorfgasse.
„Miß Crosterbroux, dieser Rowama Sing will uns in einem halben Tage ins Jagdlager des Obersten bringen,“ sagte er zu Ellen. „Er hat die Expedition ausziehen sehen, meint die Fährte auch jetzt noch finden zu können.“
Eine halbe Stunde darauf setzte Rowama Sing sich an die Spitze des Zuges. Der Stallmeister des Platinkönigs Crosterbroux ritt als letzter und führte das fünfte, das Packpferd, am Zügel.
Der Radschpute auf seinem zähen Pony legte einen leichten Trab vor. Bald hörten die kultivierten Felder auf. Ein Stück Dschungel wurde passiert, eine sandige Hochebene, dann wieder eine sumpfige Niederung.
Ellen Crosterbroux’ rotbraunes Haar wehte um ihre Stirn, um die leicht gebräunten Wangen. Quer überm Sattel – sie ritt im Herrensitz – hatte sie die Jagdbüchse liegen, obwohl Rowama Sing erklärte, um diese Tageszeit sei alles Wild tief in der Dickung …
„Ich werde etwas schießen!“ hatte sie entgegnet und den Kopf mit leichtem Ruck zurückgeworfen. „Mir zuliebe wird sich ein Wild zeigen – wetten?“
Sie blitzte Sinclair und den hoffnungslos verliebten Watstone übermütig an.
„Gut – was gilts?“ fragte der sehnige, kleine Leutnant.
Rowama Sing hatte sein Pony plötzlich zum Stehen gebracht.
„Leute!“ sagte er kurz und deutete nach halbrechts.
„Ah – vier Männer!“ rief Sinclair.
„Weiter, – was gehen uns die Männer denn an!“ meinte Ellen ungeduldig.
„Zwei sind gefesselt, Miß Crosterbroux,“ erklärte der Hauptmann, der schnell sein Jagdglas eingestellt hatte.
„Und der letzte trägt einen Revolver in der Hand,“ fügte der braune Führer hinzu.
Ellen kitzelte ihren Fuchs mit den Sporen. Sie jagte auf die vier Leute zu, die jetzt halt gemacht hatten. Und hinter ihr drein hetzten die beiden Offiziere. Es wurde ein Wettrennen. Gleichzeitig parierten sie dann ihre Gäule vor Stuart Burne und seinen drei Gefangenen, von denen freilich einer nicht wußte, daß ers gleichfalls war.
Burne faßte an die Mütze. „Mit wem habe ich die Ehre?“ wandte er sich an Sinclair, der der ältere der beiden Reiter zu sein schien.
„Hauptmann Sinclair,“ entgegnete dieser. Dann schaute er Burne schärfer an. „Ah – jetzt erkenne ich Sie erst, Master …“
Burne hatte ihm noch rechtzeitig heimlich zugewinkt.
„Ganz recht, ich bin Professor Pinkerley, Master Sinclair, mit dem Sie in Agra zusammen waren. – Auf ein Wort, bitte …“ Er ging etwas abseits. Sinclair sprang aus dem Sattel.
„Sie wissen, wer ich bin,“ meinte Stuart Burne hastig. „Halten Sie Ihre Begleiter von den dreien da fern. Keine Silbe dürfen sie mit jenen reden. Staatsinteressen stehen auf dem Spiel …“
Sinclair kannte die Macht des kleinen Inspektors. Stuart Burne hatte auch das Militär zu gehorchen. Dafür war er von der politischen Polizei.
Der Hauptmann wandte sich an Ellen Crosterbroux:
„Miß, bitte reiten Sie mit den anderen dort nach jenem Palmenwäldchen voraus … Ich bitte dringend darum. Es muß sein.“ Sein Ton war streng; er war nur noch der Hauptmann, nicht mehr der liebenswürdige Gesellschafter.
Ellen musterte ihn von oben bis unten. „Sind wir hier auf dem Exerzierplatz, Sinclair?! Es scheint fast so. Oder – – sind Sie mein Pa, der noch immer allerlei zwecklose Anstrengungen macht, mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, wobei er stets dieselbe Melodie spielt, – die des um mein kostbares Leben besorgten Vaters …! Deshalb durfte ich ja auch nicht mit auf die Jagd … Es hätte einem Tiger einfallen können, mir die Zähne und Pranken zu zeigen … – Nein, Sinclair, mit Ellen Crosterbroux muß man anders reden …!“
Sie drängte ihr Pferd an die beiden Gefesselten heran …
„Wer sind Sie? Weshalb hat man Ihnen die Hände gebunden? – Sie sehen wie Gentlemen aus, nicht wie …“
Da war Stuart Burne schon neben ihr, packte die Zügel ihres Fuchses …
„Miß, Sie werden dort nach dem Palmenwäldchen reiten!“ sagte er langsam und zwang das Pferd rückwärts.
Ellen wurde bleich. Ihre großen Augen flammten auf …
„Lassen Sie die Zügel los, oder …!“ Sie hob die Büchse …
Burne reckte sich lang, flüsterte: „Miß, ich bin der Detektivinspektor Stuart Burne. Wenn Sie nicht gehorchen, werden Sie mich kennen lernen …!“
Ellen wurde unsicher. Sinclair tauchte jetzt ebenfalls neben ihr auf. „Miß Crosterbroux seien Sie verständig …“ bat er.
Ellen lachte halb ärgerlich, halb verlegen auf.
„Weg frei!“ rief sie dann. Und im Galopp jagte sie davon. –
Sinclair und Burne steckten die Köpfe zusammen.
„Haben Sie von der neuen Gottheit etwas gehört, für die man hier in Indien Gläubige sucht?“ begann der Inspektor hastig. „Wissen Sie etwas von dem Raunen und Tuscheln, das durch die Millionen brauner Fanatiker dieses Landes geht?“ –
Sinclair zuckte die Achseln. „Gewiß, Master Burne. Gewiß! Aber wer gibt schon etwas auf derlei Geschwätz …?!“
„Kein Geschwätz! Eine ungeheure Gefahr! Wenn eine solche nicht vorläge, würde nicht Stuart Burne hinter denen her sein, die … – Doch – darüber später Näheres. – Master Sinclair, Sie müssen mir helfen. Die drei Männer dort, auch der nicht Gefesselte, sind Verschwörer. Zwei weitere, ein Weib und ein Mann, sind in einem Höhlenlabyrinth verschüttet worden, sind dort eingeschlossen. Diese beiden zu befreien, ist Ihre Aufgabe. Ich muß unbedingt der harmlose Professor Howard Pinkerley bleiben. Verstehen Sie? Unbedingt …“
Und er sprach weiter, knapp, klar, zielbewußt. –
Sinclair ritt nach dem Wäldchen hinüber.
„Miß Crosterbroux,“ sagte er jetzt sehr ernst, „so leid es mir tut, – wir müssen umkehren. Stuart Burne braucht mich und Watstone. Wir müssen …!“
Ellen nagte mit den Zähnen die Unterlippe.
„Gut,“ meinte sie dann, „Sie beide müssen …! Ich – reitet mit Patrik und dem Radschputen weiter … – Es bleibt dabei. – Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen in Agra.“
Sie gab ihrem Fuchs die Sporen … –
Leutnant Watstone seufzte. „Sie ist kein Weib – sie ist nur ein eigenwilliger, verwöhnter Junge … Sie wird nie jemand lieben …!“
Sinclair mußte lachen. „Watstone, Sie sind der Hundertste etwa, der sich in Ellen Crosterbroux vergafft hat und dann behauptet, ihr Herz sei aus Stein. Sie irren, Watstone …! Zufällig weiß ich, daß dieser kleine Sprühteufel heimlich verlobt ist! – So, – die Kur wird Sie wohl von Ihren Liebesschmerzen heilen …! – Kommen Sie – wir haben Wichtigeres vor …“
Der Stationsleiter des kleinen Bahnhofs, wo die Tochter des Platinkönigs den Zug verlassen hatte, saß in seinem Büro und döste in der erschlaffenden Hitze vor sich hin. Er war ein Inder, ein früherer Feldwebel vom sechsten Eingeborenenregiment. – Noch ein Zug kam vom Norden. Dann war sein Dienst bis zum Nachmittag beendet …
Die Tür ging auf. Hauptmann Sinclair trat ein, hinter ihm Stuart Burne, der nun dem Beamten seinen Ausweis zeigte. – Die Unterredung war kurz. Der Stationsleiter richtete eine kleine Kammer für die Gefangenen her. Ein Weichensteller, gleichfalls ein Hindu, übernahm deren Bewachung.
Dann depeschierte Sinclair nach Agra, wo es alles gab, was Burne brauchte.
„Sofort Sprengkommando zum Wegschaffen einer Felssperre senden. Hauptmann Sinclair.“ –
So lautete die Depesche.
Der Stationsleiter gab sie auf – wollte sie aufgeben. Es stellte sich heraus, daß die Leitung unterbrochen war.
Burne ließ eine Draisine fertig machen. Er und drei farbige Bahnbeamte fuhren die Strecke entlang. Doch erst am Spätnachmittag fanden sie in einem Urwald die schadhafte Stelle. Ein Baum war über die Drähte gefallen, dicht an einem der Telegraphenmasten.
Und abermals vergingen viele Stunden, ehe die Depesche glücklich bis Agra gelangte. – Am nächsten Abend trafen zwölf Mann und ein Unteroffizier auf der kleinen Station ein. Und am Morgen brach Stuart Burne mit dem Trupp nach der Schlucht auf, von der aus der Felsengang in die Tiefen der steinigen Hügelkette führte. Sinclair und Watstone begleiteten den Inspektor. Auch Odysseus Nemo hatte gebeten, mitreiten zu dürfen.
„Nein, Freund Niemand,“ hatte Burne jedoch erklärt. „Bleiben Sie hier. Sie müssen auf die beiden Gefangenen achtgeben. Diese könnten in unserer Abwesenheit ausplaudern, was wir vorhaben, – nämlich ein Weib und einen Mann zu retten, denen man sogar mit Militär nachgestellt hat. Denken Sie an die Umzingelung des kleinen Sees! – Bisher habe ich Sinclair und Watstone, ganz nette Kerle, wenn sie auch nicht gerade das Pulver erfunden haben, sowohl über die Gefangenen als auch über die zu Rettenden zu täuschen gewußt. Dixon und Herbst hält der Hauptmann für Spione eines fremden Staates, die hier Erhebungen über die Stärke der britisch-indischen Armee anstellen sollten. Sie wissen, wie mundgerecht ich ihm diesen Unsinn gemacht habe. – Nein, Freund Odysseus, Sie sind hier nötiger als anderswo. Passen Sie scharf auf! Lassen Sie keinen Menschen zu den beiden, sei es, wer es sei …“ – So hatte Stuart Burne mit jener vertraulichen Liebenswürdigkeit gesprochen, die ihre Wirkung nie verfehlte, wenn er jemand „einwickeln“ wollte. – – –
In der einsamen Schlucht in der Felsenwildnis stampften Pferde, rupften Lastkamele das spärliche Gras ab. Neben dem Eingang des langgestreckten Kessels waren im Nu Leinenzelte erstanden, ein ganzes Lager. Soldaten eilten hin und her, schleppten allerlei Geräte in den verschütteten Höhlengang, bohrten Sprenglöcher in den enormen Steinblock, der das Haupthindernis bildete. Die Einsturzstelle war jetzt der ständige Aufenthalt Stuart Burnes. Er gönnte sich keinen Schlaf, der kleine Inspektor mit der großen Berühmtheit; er sah den Erfolg monatelanger Arbeit deutlich vor sich; denn viele Monate bereits spürte er dem Radscha Mahadur Mirat nach; dann endlich hatte er ihm diesmal auf den Fersen bleiben können, hatte so die alte Maharattenburg entdeckt, die Verschworenen auch überrascht und vieles gesehen, was überaus wertvoll war; aber das Wertvollste hatte er dann mitgenommen aus den unterirdischen Räumen, als er fliehen mußte, als die Verschwörer zwischen sich und ihm ein unüberwindliches Hindernis in Gestalt des plötzlich sich hebenden Bodens der verborgenen Halle aufgerichtet hatten, das Wertvollste: ein Filmband von einem Vorführungsapparat, den die Verschwörer bei ihrem dunklen Treiben benutzt hatten.
Stuart Burne wußte viel … Und was er von diesen Dingen, die er ergründen wollte, noch nicht wußte, würden ihm die Gefangenen sagen – sagen müssen, entweder Dixon oder Herbst oder dieser rätselhafte graue Niemand, ganz besonders aber der Radscha und auch das blonde Weib, von der ihm nun durch Nemos Selbstgespräche bekannt war, daß sie Hella Dörcksen hieß … –
Die Arbeit ging dem kleinen Inspektor viel zu langsam voran. Immer wieder trieb er die Leute des Sprengkommandos zu doppeltem Eifer an, versprach ihnen Belohnungen … – – –
*
Ellen Crosterbroux stieg aus dem Sattel, sagte zu dem Radschputen Rowama Sing: „Wozu leugnest du? Du hast die Fährte der Jagdexpedition verloren …! Wir irren auf gut Glück umher. Meinst du, ich habe das in diesen vier Tagen nicht gemerkt? – Es schadet nichts … Ich finde dieses Leben ganz interessant. Nur belogen will ich nicht sein …! Ich hasse die Lüge. Ich bin ehrlich – in jeder Kleinigkeit. Nur …“ Und sie dachte an ihre heimliche Verlobung mit dem Mann, den ihr ehrgeiziger Vater als Schwiegersohn nie hinnehmen würde, ihr Vater mit den ungezählten Millionen und den Lordträumen …
Rowama Sing hatte den Kopf gesenkt. „Herrin, es ist so. Ich habe der Fährte nicht folgen können … Es gab da jenseits des Heiligen Sees, wie wir ihn nennen, weite Strecken eines Grasbrandes. Und das Feuer und die Asche haben alles gleich gemacht, wie du selbst sahst …“
Es war jetzt um die Mittagszeit. Ringsum nichts als steinige Hügel, tiefe Schlünde, phantastische Naturburgen aus kahlem Fels. Die drei Reiter befanden sich in einem Felsenkessel, der wenigstens geringe Spuren von Vegetation aufwies. Ein paar armselige Bergfichten wuchsen hier, Disteln, Dornen und gelbe, nach Wasser lechzende Gräser.
„Errichtet das Zelt für mich,“ befahl Ellen dem Stallmeister Patrik Smith und dem Inder. „Ich werde mir inzwischen etwas Bewegung machen …“ Sie nahm die Büchse in den Arm und schlenderte davon. Die Gluthitze des Mittags tat ihr nichts an. Sie war sportgestählt, sehr zum Mißvergnügen Thomas Crosterbroux’, der stets fürchtete, sie könnte einmal irgendwie zu Schaden kommen. Westwärts des Tales zog sich ein enger Canon in eine tiefe, düstere Schlucht hinab. Ellen fand sie romantisch. Sie hatte einst in Deutschland, in Berlin, als sie dort noch in einem Pensionat für die Töchter der Reichsten erzogen wurde, Webers Freischütz gesehen … Und die Kugelgußszene in der Teufelsschlucht stand noch so lebendig in ihrem Gedächtnis. –
Sie hatte sich auf einen Stein gesetzt … Von der deutschen Oper, von dem Wildschützen eilten ihre Gedanken in die jüngste Vergangenheit zurück … – Stuart Burnes Gefangene kamen ihr in den Sinn … Und der lange Sinclair, der dem kleinen Detektivinspektor gehorcht hatte, als hätte er seinen Oberst vor sich …
Plötzlich hob sie lauschend den Kopf … Ihre Mienen nahmen den Ausdruck höchster Spannung an … – Kein Zweifel – aus den Tiefen des Felsbodens da vor ihr drang ein dumpfes Pochen hervor …
Sie stand auf, ging gebückt weiter, bis sie die Stelle mit dem Gehör festgestellt hatte, wo das Klopfen am deutlichsten war. – Ein Bergwerk hier …?! – Wohl ausgeschlossen … Wenn ja, dann würde der Radschpute es wissen …
Sie kehrte um, schritt dem Canon zu, blieb zwischen den Felsmauern stehen, genoß nochmals den Anblick ihrer Teufelsschlucht, von der nur der eine Rand in gleißendem Streifen von der Sonne getroffen wurde.
Schon wollte sie weiter …
Da – mitten in der Schlucht flog mit dumpfem Krach der Boden hoch … Die Erde öffnete sich, spie Steine und Felstrümmer aus … Ein Regen von verderblichen Geschossen kam herab. Und Ellen duckte sich eng unter einem Vorsprung zusammen. Um sie herum klatschten und prasselten die Felsstücke, die eine enorme Kraft hochgeschleudert hatte …
Im Boden der Schlucht aber gähnte ein Loch, eine längliche Öffnung. – Ellen Crosterbroux starrte hinüber. Das Loch im Felsboden dort war wie ein Magnet. Sie wehrte sich gegen die Neugier, die sie vorwärts treiben wollte. Sie unterlag doch …! Eine neue Explosion konnte erfolgen … Trotzdem wagte sie sich bis an den Rand der Öffnung. Nach links hin sah sie die meterdicke Decke einer schmalen Höhle; rechts zog sich eine schräge Steinschutthalde hinab, aus der die Umrisse eines riesigen Granitblocks hervorragten …
Kein lebendes Wesen war da unten … Ellen hatte sich tief gebückt. Ihre Augen spähten in das Halbdunkel des Felsenganges hinein … – – –
Und auf der anderen Seite des Riesenblockes standen die, die ihn hatten durch Sprengschüsse zerstören wollen, damit sie der entstandenen Öffnung dann selbst zu Leibe rücken könnten.
Burne fluchte. „Ein netter Erfolg …! Noch mehr Steintrümmer sind nachgestürzt …! Nun beginnt die Arbeit von neuem …! – Vorwärts, Leute, – vorwärts …! Es ist keine Zeit zu verlieren …!“
Und abermals begann das emsige Treiben. Burne, Sinclair und Watstone griffen selbst mit zu. Sie ahnten nicht, daß sie sich die Mühe hätten sparen können, wenn sie nur die Hügelkette erstiegen haben würden, die diese Schlucht von der südlicheren, von Ellens Teufelsschlucht, trennte … – – –
„Ihr seid erbärmliche Feiglinge!“ schalt Ellen Crosterbroux Patrik Smith und den Radschputen. „Wenn Ihr nicht mitmacht, wage ichs allein …!“
Sie nahm ein Handbeil und hieb von ein paar trockenen Fichten dicke Äste ab. Das Holz war überaus harzig gewesen. Weißliche Krusten klebten noch auf der Rinde. Es mußte vorzügliche Fackeln abgeben.
Patrik kratzte sich den Kopf. „Miß Crosterbroux, einen Feigling hat mich noch niemand genannt …! Aber – in so’n Loch hineinsteigen, das so ohne sichtbare Ursache entstanden ist, das gehört nicht zu meinen Obliegenheiten. Doch – den Feigling lasse ich nicht auf mir sitzen! Her mit dem Beil, Miß, – bei mir geht’s schneller …“
Der Radschpute blieb bei den Pferden. Ellen und Patrik schulterten die Aststücke, wandten sich dem Canon zu. Ellen kletterte voran die Schutthalde abwärts …
Patrik rieb sein Feuerzeug an. Die Fackeln lohten auf; hinein gings in die Tiefen der Erde, in endlose Höhlenräume. Die Luft hier war kühl und trocken. Dann versperrte ein unterirdischer See den Weg. Ellen hob die Fackel höher …
Das flackernde Licht fiel auf eine menschliche Gestalt, auf einen Mann, der regungslos am Ufer des dunklen Gewässers lag …
„Ein Mensch!“ rief Ellen …
Dann beugten sie sich über den bewußtlosen Radscha Mahadur Mirat …
„Er lebt,“ meinte Patrik. „Ich fühle den Puls, wenn auch schwach …“
Patrik Smith ohne Fläschchen mit einer kleinen Herzstärkung war nicht denkbar. Und Patrik war großmütig. Der Alkohol rann dem Radscha die Kehle hinab …
Ellen feuchtete ihr Taschentuch an, rieb ihm die Schläfen …
Der junge Fürst von Gohdwura schlug endlich die Augen auf. Und seine Lippen murmelten sofort bleiern schwer:
„Hella … rettet … Hella … – Dort … Nebengrotte …“
Ellen und Patrik begannen zu suchen. Und sie fanden Hella Dörcksen in einer kleineren Seitenhöhle …
Ellen Crosterbroux rief unwillkürlich: „Wie schön sie ist …!“
„Besser, sie lebt!“ brummte Patrik und tastete nach der Hand der Regungslosen. „Alles in Ordnung, Miß!“ sagte er dann. „Mein Lebenswecker wird auch hier helfen.“ Und das Fläschchen gab abermals etwas von seinem Inhalt her …
Hella Dörcksen regte sich. Ellen kniete jetzt neben ihr. – „Wer sind Sie?“ fragte sie …
Hellas Augen schlossen sich wieder.
„Fast verhungert sind sie …!“ knurrte Patrik. „Die Ausfragerei hat Zeit, Miß … – Tragen wir erst das Mädchen hier ins Freie …!“ – –
Hella und der Radscha lagen auf Decken in Ellens Wohnzelt, dessen Vorhang weit zurückgeschlagen war. Ellen spielte die Pflegerin, flößte ihnen Fleischbrühe ein, die Patrik schnell aus Konservenfleisch hatte herstellen müssen.
Die Geretteten waren todesmatt; schliefen zumeist; den Schlaf der Genesung. –
Ellen nahm ihre Büchse. „Ich werde eine Bergziege zu schießen versuchen,“ meinte sie zu Patrik. „Unser Proviant ist knapp …“
Sie kletterte in die Hügel hinein. Drei Uhr nachmittags wars jetzt. – „Was haben die letzten Stunden alles gebracht!“ dachte Ellen. „Wie seltsam … Ein Inder, dem man die vornehme Herkunft an der hellen Hautfarbe, dem europäischen Touristenanzug von feinstem Stoff und an den gepflegten Händen ansieht, dort in Höhlen eingeschlossen gewesen zusammen mit einer Weißen, einem blonden Weib von bezauberndem Liebreiz …! Wer sind die beiden – wer nur?! Wenn sie nur erst Rede und Antwort stehen könnten …!“
Ah – das war ja Hauptmann Sinclair …! Wahrhaftig – – dort auch der kleine, unhöfliche Inspektor Burne …
Was taten sie hier? Was wohl …?! – – Ellen trat zurück; sie wollte sich nicht sehen lassen, denn jäh war in ihrem Hirn eine Gedankenverbindung aufgetaucht …
Soldaten eilten dort unten hin und her … Ellen kannte die Abzeichen: Genietruppen aus Agra …! Pioniere! Und … die Explosion …! Vielleicht eine Sprengung … –
Ellens gute Augen spähten abermals in die Schlucht hinab. Dunkle Drähte liefen durch die Schlucht am Boden lang, endeten an einem polierten Kasten unweit der Zelte …
Elektrische Zündung für Sprengschüsse …! – Ah – Ellen Crosterbroux war klug; sie hatte vieles kennen gelernt … –
Sie schlich weiter, stets in Deckung bleibend, bis sie nun auch die Südseite der Schlucht und die Grotte vor sich hatte. Der kleine Inspektor verschwand gerade darin.
Ellen wußte Bescheid …! Also deshalb hatte dieser Burne ihr Sinclair und Watstone entführt, deshalb! Er hatte die beiden aus den Tiefen der Erde herausholen wollen, die sie selbst nun gerettet hatte: Hella, das blonde Mädchen, und den Inder mit dem edelgeschnittenen Gesicht …! – Und – hatte nicht Burne sie von den beiden gefesselten Männern weggedrängt, die wie Gentlemen aussahen, hatte er nicht getan, als seien es die wichtigsten Staatsgefangenen? Hatte er dann nicht Sinclair und Watstone mit sich genommen, war er jetzt nicht hier wieder aufgetaucht …?! – Ja – es gab nur eine Deutung: Zwischen den beiden Gefesselten und diesen Vorgängen hier, in deren Mittelpunkt der hellhäutige Inder und diese Hella standen, mußte es irgend einen Zusammenhang geben …! – – –
Ellen kehrte hastig zu ihrem Lagerplatz zurück. Ihr Entschluß war gefaßt. Sie wollte die beiden, die sie gerettet, gesund pflegen. Und dann sollte dieser Burne erleben, daß Ellen Crosterbroux ihm über war …! Schützen wollte sie die nicht, denen der Inspektor auf der Spur war, – nein, denn es mußten wohl arge Übeltäter sein trotz ihres harmlosen Äußeren, sonst hätte Sinclair nicht sofort Stuart Burne sich angeschlossen …! Aber – eine große Sensation sollte es geben, wenn Ellen Crosterbroux mit ihren Gefangenen erschien …! Das war so recht nach Ellens Geschmack … – –
Patrik und der Radschpute mußten aus Fichtenästen in aller Eile Tragbahren herstellen. Eine davon, auf der der Inder lag, wurde zwischen den Reitpferden Ellens und Patriks befestigt; die zweite schleppten die beiden Männer.
So verschwand der Zug nach Süden, bis man fruchtbaren Boden erreichte. In einem Gehölz auf einer Lichtung entstand ein neues Lager. Ellens Zelt diente den beiden Frauen zur Wohnung; für die drei Männer wurden Zweighütten gebaut … –
Ellen triumphierte … Die Zeitungen würden Ellen Crosterbroux feiern, die dem berühmten Burne diesen Streich gespielt hatte …
Endlich, drei Tage nach den ersten Sprengschüssen war der Granitblock beseitigt. Risse klafften überall, und mühelos konnte man die Stücke entfernen …
„Hurra – ein Lichtschimmer!“ brüllte Sinclair. „Master Burne – da, eine Öffnung …!“
Die beiden standen hoch oben auf dem Steinschutt.
„Verdammt!“ war Burnes Antwort. „Drüben ein Loch in der Felsdecke …!“ Er riß weitere Trümmer herab, zwängte den Kopf in die Öffnung … –
Und dann suchten sie – suchten mit stiller Wut der Enttäuschung, diese Männer, die schließlich nichts fanden als einen weißen Schleier in einer Seitengrotte des weiten Höhlengebiets …
„Ihr Schleier!“ knirschte Burne. „Sie trug einen dunklen Lackhut und diesen Schleier …! Sie sind uns entwischt …!“ –
Aber Stuart Burne gab seine Sache noch nicht verloren.
„Suchen wir auf der Oberwelt weiter!“ meinte er. „Ich muß die beiden haben – muß …!“
„Spuren – Fährten?!“ Sinclair zuckte die Achseln. „Gestern das Gewitter, der Regenguß …! Und ringsum nur steinige Hügel …! – Das wird ein schweres Stück Arbeit, Master Burne …“
Burne überlegte. „Zurück nach der Station!“ befahl er dann. „Der Telegraph muß spielen … Ich werde eine menschliche Meute mobil machen, die den Teufel versteckt mitten in einem Müllhaufen aufstöbern würde …“
„Na na!“ meinte Sinclair. „Alle Achtung vor unserer Polizei … Aber es ist doch nicht jeder Beamte ein Stuart Burne …“
„Danke für die faustdicke Schmeichelei, Hauptmann. – Wer spricht von Polizei?! Gewiß – mithelfen soll sie auch. Aber die Hauptarbeit wird wohl eine andere, nicht gerade staatliche Einrichtung leisten.“
„Da bin ich neugierig …“
„Oh – ein Wort genügt: Scharmagri!“
„Scharmagri, die Gewesenen?! – Ist denn wirklich wahr, Inspektor, was man über sie erzählt? Ich habe all das zum größeren Teil für Märchen gehalten.“
„All das?!“ Burne lachte leise auf. „Dabei ist’s in Wirklichkeit um die Hälfte mehr, als die Gerüchte besagen …!“
„Bitte – erzählen Sie, bester Burne. Sie können sich denken, daß ich …“
„Vielleicht später einmal. Jetzt muß ich nach der Station und an Ragindo depeschieren, den dreimal Gewesenen …“ – – –
*
An demselben Tag hatte Odysseus Nemo wieder einmal den Raum besucht, in dem die beiden Gefangenen, die angeblichen Spione, untergebracht waren.
Der Namenlose fühlte sich jetzt seltsam hingezogen zu diesen Männern, die ohne Murren in ihrem engen Gelaß mit dem kleinen, stark vergitterten Fenster – es war die Gepäckkammer für kostbare Sendungen – ausharrten und die so hartnäckig stumm blieben, mochte man sie auch fragen, was man wollte. –
Nemos anfängliche stille Feindseligkeit gegen Dixon und Herbst war schnell geschwunden, als erst Stuart Burne die Station verlassen und als er nicht mehr Gelegenheit hatte, durch andauernde giftige Bemerkungen gegen die „verdammten Schleicher und Unheilstifter“ des Namenlosen klaren Blick und kühle Urteilsfähigkeit zu trüben. Der Inspektor hatte in dieser Hinsicht einen weit stärkeren Einfluß auf Nemo ausgeübt, als dieser selbst gemerkt hatte. Kaum war Burne mit den Offizieren und dem Sprengkommando abgerückt, da begannen auch schon des Namenlosen Gedanken die Vorgänge der letzten Tage kritisch zu prüfen. Zeit genug hatte er dazu. Er war hier ganz auf sich allein angewiesen. Die nächste Stadt, in der Europäer wohnten, lag acht Eisenbahnstunden entfernt.
So manches stieß Odysseus Nemo jetzt auf, was er bis dahin nicht beachtet hatte. Er entdeckte kleine Widersprüche in des angeblichen Professors Verhalten, die, allein genommen und gewogen, nichts bedeuteten, die zusammen aber die Person dieses Howard Pinkerley in ein recht zweifelhaftes Licht rückten.
Die Stunde kam, wo der Namenlose merkte, daß der leise Argwohn gegen den harmlosen, aber so abenteuerlustigen Botaniker zum Mißtrauen geworden war, und wo er sich vornahm, all diese Widersprüche zu klären. Am meisten hatte ihn der Umstand stutzig gemacht, daß Pinkerley ihm nie die Papiere, die er den beiden abgenommen, gezeigt und auch nie etwas davon erwähnt hatte, was es gewesen, daß er damals in der Schlucht Dixon und Herbst halb gewaltsam vom Halse gerissen.
Odysseus Nemo traute dem liebenswürdigen Bekannten nicht mehr. Er fühlte geradezu, daß dieser ihn getäuscht haben mußte. Und er sah nur eine Möglichkeit, in diese Dinge Klarheit zu bringen. Er besuchte die Gefangenen daher mehrmals am Tage; er wollte ganz ohne Voreingenommenheit ein richtiges Bild der Charaktere dieser Männer durch längere Gespräche gewinnen. Aber – sie schwiegen hartnäckig. Sie wollten lieber das Schwerste erdulden, als ihre Geheimnisse preisgeben, die ihnen heilig. –
Ein Gewitter zog auf, als Nemo jetzt die Zelle betrat. Während in der Ferne der Donner grollte und die schwarze Wolkenwand das Tageslicht immer mehr in ein unheilschwangeres Halbdunkel verwandelte, saß der Namenlose auf einem Bambusstuhl Dixon und Herbst gegenüber, die mit ihren unrasierten Gesichtern jetzt nicht mehr ganz wie Gentlemen aussahen. Nemo wollte abermals diese Stummen durch Freundlichkeit gefügig machen. Jeder Erfolg auch heute wie stets: eisiges Schweigen oder nur ein unwilliges „Bedaure, darüber nichts sagen zu können …“
Da tat Nemo ein letztes. Er wurde rückhaltlos ehrlich! Er erzählte, wie er Pinkerleys Bekanntschaft am Seeufer gemacht hätte, was weiter dann geschehen. Nur über sich selbst sagte er nur so viel, daß er Weltenbummler sei, nicht etwa aus Abenteuerlust und Unrast, sondern auf Grund einer Schicksalsfügung.
Dixon und Herbst ließen ihn sprechen. Seine letzten Worte wurden halb von einem furchtbaren Donnerschlag verschlungen, dem ein prasselnder Regenguß folgte.
Die beiden Gefangenen flüsterten miteinander. Dann erklärte der hagere Reverend: „Herr Nemo, Sie wollen wissen, was dieser Professor uns raubte – außer unseren Brieftaschen … – Wir müßten darüber schweigen, wenn diese kleinen Gegenstände jetzt nicht doch im Besitz eines Uneingeweihten wären. – Eine Frage vorher: Hat Howard Pinkerley ohne langes Verhandeln Beistand bei den Offizieren Sinclair und Watstone gefunden?“
„Ja – sogar überraschend schnell! Es schien, als ob Sinclair ihn kannte, ihn geradezu mit Respekt behandelte …“
„So … Das genügt! – Dann rate ich Ihnen, von dem Stationsleiter die Herausgabe unserer Brieftaschen und der kleinen Gegenstände zu verlangen. Pinkerley hat sie ihm zur Aufbewahrung übergeben, uns selbst mit dem Hinzufügen erklärt, unser Eigentum sei in dem Eisenspind der Station in guter Hut.“
Nemo überlegte. „Der Stationsleiter wird sich weigern,“ meinte er. „Ganz bestimmt wird er die Herausgabe ablehnen, selbst wenn ich einen Vorwand gebrauche.“
„Sie mögen recht haben. Dann gibt es nur ein Mittel: Gewalt!“
Ein neuer Blitz zuckte herab. Blendend hell leuchtete das kleine Fenster auf … In demselben Augenblick hatte der Namenlose ohne Absicht sich das gebleichte Haar aus der Stirn gestrichen …
Ein Zufall wars, daß Dixon und Herbst gleichzeitig im Blitzschein unter dem Haaransatz in der Mitte der Stirn Odysseus Nemos ein Muttermal in Gestalt eines kleinen vierzackigen Sternes gewahrten …
„Das Mal – – – das Mal!“ riefen sie gleichzeitig.
Die Zelle war wieder in Dunkel getaucht.
Die drei Männer waren aufgesprungen. Nur undeutlich sahen sie einander; sahen nicht, daß ihre Gesichter dieselbe Erregung ausdrückten.
„Weshalb … weshalb dieses Wort?“ fragte der Namenlose unsicher.
Dixon und Herbst tauschten hastig ein paar ganz leise Bemerkungen aus. Dann – hätte Dixon geantwortet. Aber von draußen pochte jemand laut an die Tür.
Es war der Stationsleiter. – „Master Nemo – der Blitz hat den Lagerschuppen drüben getroffen … Ich muß hin. Bitte sehen Sie hier nach dem Rechten … Vertreten Sie mich im Büro. Falls depeschiert wird, rufen Sie mich …“
Nemo stand vor dem Stationsgebäude. Der Regen hatte aufgehört. Drüben jenseits der Schienenstränge brannte der langgestreckte Schuppen lichterloh.
Der Stationsleiter rannte über die Geleise davon. Der rote Flammenschein beleuchtete ihn so deutlich, beleuchtete auch die anderen Beamten, die aus dem nahen Wohnhaus gleichfalls hinüberhasteten.
Der Namenlose dachte: „Ein Wink des Himmels!“ wandte sich um, betrat schnell das Büro, in dem zwei Petroleumlampen brannten …
Dort stand das Tischchen mit den Telegraphenapparaten; dort am Fenster der Arbeitstisch des Herrn der kleinen Station; dort rechts an der Wand der veraltete Stahlschrank mit dem Holzunterbau.
Nemo schaute sich prüfend um. Über dem Stuhl vor dem Schreibtisch lag des Stationsleiters Leinenkittel; der Mann war in Hemdsärmeln zur Brandstelle geeilt.
Ein Gedanke … – Vielleicht …
Nemo schüttelte den Kittel. Er hatte ja so oft gesehen, wie der Stationsleiter das Schlüsselbund in die Jackentasche steckte … –
Er schüttelte … Und – – es klirrte metallisch … – Es waren die Schlüssel.
Bald hatte Nemo den einen herausgesucht, der zu dem Eisenspind paßte. Er schloß auf, nahm die Stehlampe vom Schreibtisch, leuchtete hinein. Links unten im Fach lag ein versiegeltes Päckchen. Darauf stand mit Tinte: Eigentum Professor Howard Pinkerley.
Der Namenlose hatte im Nu die Umhüllung entfernt. Zwei Brieftaschen; Börsen; zwei kleine Revolver, zwei Taschenmesser enthielt der große Pappbogen.
Noch etwas … – eingehüllt in weiches Papier …
Nemo faltete es auseinander …
Ein Ruck ging durch seinen Körper … Dann sank er langsam in die Knie, drückte die Stirn auf die auf den Boden gelegten Hände …
„Aspasia, Göttin über den Wolken …!“ Wie ein Stöhnen waren diese Worte …
Und des Namenlosen Lippen küßten inbrünstig den einen der Elfenbeinsterne, auf dem die hehre Frau auf ihrem Thronsessel sichtbar …
Er erhob sich; er verschloß den Stahlschrank; er nahm Dixons und Herbsts Eigentum mit sich. Seine Bewegungen waren belebt, zielbewußt … In seinen Augen brannte ein düsteres Feuer …
Die verlorene Heimat mit all ihrem Reiz war jäh wieder in seiner Erinnerung erstanden, als sein Mund den Stern berührte; für Sekunden glaubte er wieder daheim zu sein, daheim – im Lande der Seligen … –
Dixon und Herbst standen am Fenster und beobachteten die letzten Entladungen des davonziehenden Gewitters …
Hinter ihnen ein Geräusch. Sie drehten sich um. Auf der Schwelle eine Gestalt … Und Nemo hielt in der Rechten hoch erhoben die beiden Elfenbeinsterne …
Wieder ein Blitz … Der aufflammende Lichtschein traf die glitzernden Brillanten des Bildes der Wolkengöttin …
„Sagt mir die Wahrheit!“ Ernst, schwer und feierlich waren des Namenlosen Worte. „Woher habt Ihr diese Sterne? – Belügt mich nicht …! – Woher habt Ihr sie? – Wißt denn, sie ähneln dem, den ich selbst einmal trug …! Ich trug ihn mit Recht! Er war nur wenig verschieden von diesen … – Was – was aber gibt Euch ein Recht, dieses Zeichen auf der Brust zu tragen …?“
Dixon trat schnell näher.
„Wer bist du?“ fragte er hastig.
Nemo senkte langsam den Kopf. „Ein … Niemand – ein Ausgestoßener …“ sagte er leise und wehmütig. Dann schaute er Dixon fest an, fuhr fort: „Jedenfalls aber einer, der verlangen darf, daß Ihr ehrlich seid! – Woher die Elfenbeinsterne?“
Dixon zauderte. Da mischte Herbst sich ein.
„Wir müssen vorsichtig sein. Ein Schwur verschließt unsere Lippen jedem Uneingeweihten gegenüber. Wenn du selbst den Stern getragen hast, wirst du auch wissen, was jenes Mädchen, das Pinkerley angeblich retten will, mit der Frau, die der Elfenbeinstern zeigt, gemeinsam hat …“
Die schwarze Wolke hatte gerade die Sonne wieder freigegeben. Freundliche Lichtfluten flossen durch das vergitterte Fenster in den kleinen Raum hinein, enthüllten jeden Zug des klassisch geschnittenen Antlitzes des Namenlosen.
„Darüber weiß ich weit mehr als Ihr,“ erwiderte Nemo mit gewissem Stolz. „Eins genüge euch, des Mädchens Gesicht gleicht dem der Wolkengöttin Linie um Linie …!“
Dixon und Herbst tauschten einen Blick des Einverständnisses.
„Ja – das genügt! – Höre denn, wir tragen den Stern, weil wir Anhänger einer neuen Religion sind, die der Welt den Frieden, die wahre Glückseligkeit bringen soll … Wir hatten uns in der Ruine der Maharattenburg damals nachts versammelt, um zu beraten, wie wir die neue Lehre über die ganze Erde ausbreiten wollten. Da führte einer der Unsrigen, der Radscha Mahadur Mirat von Gohdwura, ein Mädchen in unseren Kreis, die er zufällig in derselben Nacht getroffen und vor sicherer Gefangennahme durch eine Jagdgesellschaft bewahrt und die niemand von uns bis dahin gesehen hatte. Nur eins sahen wir alle sofort, die sprechende Ähnlichkeit mit der Göttin, die sich zuweilen zwischen den Schneegipfeln der Himalayaberge Auserlesenen zeigt und die wir die Wolkengöttin nennen, da ihr Thron auf zarten Wölkchen schwebt. Und weiter sahen wir, daß dieses Mädchen auf der Stirn unter dem Blondhaar ein Muttermal in Form eines sechszackigen Sterns hatte. Genau dasselbe Mal aber besitzt auch die Göttin über den Wolken. Mahadur Mirat wars, der Unsummen opferte und insgeheim an einem verborgenen Ort in den Vorbergen des Gaurisankar, des Königs der Berge des Himalaya, ein Riesenfernrohr aufstellte, so daß er, als die Wolkengöttin sich ihm abermals zeigte, mit Hilfe dieses Fernrohrs jede Einzelheit ihrer Erscheinung wahrnahm, – mehr noch, daß es ihm gelang, das Zauberbild zwischen den Schneebergen auf einem Film photographisch festzuhalten …
Und diese haarscharfen Photographien waren die Veranlassung, daß wir Eingeweihten uns als Erkennungszeichen diese Elfenbeinsterne nach dem Muster eines gleichen Sternes anfertigen ließen, den die Göttin über den Wolken auf der Brust trägt … – Jenes Mädchen aber, die sich Hella …“
„… Dörcksen nennt,“ vollendete der Namenlose schnell.
„Ja – Hella Dörcksen nennt, und der Radscha wurden von einem Mann verfolgt, der ein Polizeibeamter ist, – Inspektor Stuart Burne, und der dir sich als Howard Pinkerley näherte, der uns durch seine Verkleidung täuschte, da wir ihn in der unterirdischen Halle der Ruine nur ganz undeutlich sahen … – Du weißt nun alles. – Wer bist du? Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit …!“
„Ich werde es tun, wenn wir in Sicherheit sind … – Folgt mir! Wir sind von diesem Augenblick an Freunde. – Vorwärts … retten wir uns und unsere Geheimnisse vor Stuart Burne …!“
Hauptmann Sinclair und der kleine Inspektor, die große Berühmtheit, ritten dem der Station zustrebenden Zug voran. Burne war still und insichgekehrt. Er kam so leicht nicht darüber hinweg, daß der Radscha und das Mädchen ihm entwischt waren.
Man bog jetzt aus einem Wäldchen in eine Grassteppe ein. – Sinclair reckte sich im Sattel hoch …
„He, Inspektor, – da drüben ein langer Menschentroß!“ rief er und deutete nach rechts. „Auch Elefanten dabei, – sechs – neun Stück … – ah – gerade neun! – Burne, ich will nicht Sinclair heißen, wenn das nicht die Jagdgesellschaft des Obersten Jafferson ist. Neun Elefanten nahmen sie mit, – er, der Platinkönig und Leutnant Baalk … Jetzt sehe ich auch Uniformen. Es sind die Soldaten, die als Treiber dienen sollten …“
Burne gab schon seinem Pferd die Sporen. Sinclair blieb neben ihm …
Dann parierten sie vor den drei Herren, die die Spitze des Zuges bildeten und die tadellos beritten waren, ihre Pferde …
„Wahrhaftig, – – Sinclair …! – Wo kommen Sie denn …“
Der Hauptmann fiel dem Platinkönig Thomas Crosterbroux ins Wort …
„Und Miß Ellen, Ihre Tochter? – Sie wollte Ihnen in Begleitung Patriks und eines eingeborenen Führers nach …“
Der Generaldirektor des Platinsyndikats stieß eine halblaute Verwünschung aus …
„Das Mädel ist verrückt …! Ich hatte ihr die Bitte, uns begleiten zu dürfen …“
Abermals rief Sinclair dazwischen: „Master Crosterbroux, ich bin jetzt in ernsterer Sorge um Miß Ellen. Vor sechs Tagen trennten wir uns …“
Oberst Jafferson sprang aus dem Sattel. „Meine Herren, – das will in Ruhe besprochen sein …“ –
Thomas Crosterbroux war sehr bleich. Sein hartes, bartloses Gesicht veränderte beständig den Ausdruck: Ärger, Angst, halbe Verzweiflung zerwühlten sein Inneres.
Dann entlud er seinen Groll über den armen Sinclair …
„Wie konnten Sie Ellen nur noch in diesen verrückten Ideen dadurch bestärken, daß Sie und Watstone …“
„Gestatten Sie, Ihre Tochter wäre sonst mit Patrik allein abgereist – Ihnen nach! Da war es wohl besser, daß wir …“
„Entschuldigen Sie, Sinclair … – ich könnte platzen vor Wut …! Dieses Mädel … diese … diese eigenwillige Kröte …! – – Burne – bester Inspektor, helfen Sie, raten Sie …! Wir müssen Ellen suchen … Ich … ich verliere den Verstand …! Mein einziges Kind, mein Augapfel … Und jetzt …“
Es war eine seltsame Szene, diese Herren da inmitten des Kreises der übrigen Jagdteilnehmer, – diese Männer, denen allen die Sorge um Ellen auf dem Gesicht geschrieben stand …
Auch die Elefanten waren im Halbkreis aufmarschiert, pendelten mit den Rüsseln hin und her, rissen ganze Grashaufen aus … Und die Mahuts auf ihren Rücken, die farbigen Lenker, blickten so gleichmütig vor sich hin … – Jagdhunde drängten sich, in Koppeln an langen Lederriemen geführt, zwischen den grauen Kolossen, keuchten in der glühenden Sonne mit hängenden Zungen …
Stuart Burne entgegnete jetzt dem Platinkönig:
„Tut mir leid, Master Crosterbroux. Kann Ihnen nicht suchen helfen. Dienst – – Dienst, der keinen Aufschub duldet, zwingt mich, nach der Station zu eilen … – Dort im Nordosten steht ein Gewitter. Ich möchte vor dem Regen unter Dach und Fach sein. – Auf Wiedersehen, meine Herren …!“ Und er fegte im Galopp davon, achtete nicht auf Crosterbroux’ Zurufe …
„Verdammt!“ schrie der Platinkönig. „Weshalb hat ers so eilig …“
Sinclair erzählte kurz.
„Ah – also dieses junge Weib!“ rief der Oberst, als Hella Dörcksen erwähnt wurde. „Diese kleine Bestie, die den Dschungel anzündete, daß wir beinahe verbrannt wären …“
„Und die mich so fein hineinlegte,“ ergänzte Thomas Crosterbroux. „Die die Frechheit hatte, sich als eine Agentin des Syndikats mir vorzustellen … – Doch – genug von diesem Weib! Freund Jafferson, wir müssen diese Gegend durchstöbern bis in den entlegensten Winkel …! Herr Gott – wenn Ellen etwas zugestoßen sein sollte, dann … dann …“
Sinclair schlug vor, kleine Trupps von vier bis fünf Leuten zu bilden und in ganz weiter Kette in der Richtung nach dem Heiligen See zu das Gelände abzusuchen. „Wir können so eine Linie von einer Meile herstellen, können uns durch Schüsse verständigen … Wir haben ja auch die Hunde mit …“
Der Menschen- und Tiertroß löste sich langsam auf, zerstreute sich, begann die Suche … – – –
Die Palmen rauschten; die Blätter der Sträucher wisperten; die Gräser raunten sich allerlei zu, neigten sich dichter, flüsterten von den Menschen, die jetzt die kleine Waldlichtung bewohnten …
Hella und Mahadur Mirat saßen nebeneinander im Schatten eines riesigen Baumes mit tief herabhängenden Zweigen …
„Hella,“ sagte der Radscha leise. „Es wird Zeit, daß wir fliehen … Länger läßt sich der Betrug nicht durchführen, daß wir noch zu schwach sind, um allein ein paar Schritte gehen zu können. – Hella, fühlen Sie sich kräftig genug, sich auf einem ungesattelten Pferd festhalten zu können?“
„Ja, Mahadur Mirat, – ja! Ich kann alles, was ich will – alles …!“
„Gut denn. Ich habe die Flucht vorbereitet, habe ein paar Konserven beiseite geschafft, weiß, wo Patriks Revolver und Büchse in seiner Laubhütte liegen. Ellen Crosterbroux ist vorhin dort nach Süden in den Busch gegangen – auf die Jagd. Patrik schläft drüben unter den Sträuchern. Der Radschpute wird nichts sehen und hören. Er ist ein Inder. Er weiß jetzt, wer ich bin … – Wir nehmen auch die beiden anderen Pferde mit … Dann ist eine Verfolgung durch Patrik und Ellen unmöglich.“
Links von ihnen stand das Leinenzelt, das jetzt Hella und Crosterbroux’ Tochter gemeinsam bewohnten, noch weiter links am Rande der Lichtung die Zweighütten Patriks und des Radschputen. Die Pferde waren gerade gegenüber unter den Bäumen angepflockt.
Der Radscha erhob sich. „Ich hole die Waffen …“
Er kehrte sofort zurück. „So – das wäre erledigt. Nun vorwärts, Hella, – fort von hier …“
Sie schlichen unter den Bäumen im Bogen entlang. Mahadur Mirat koppelte die Pferde los, half Hella auf den Rücken des Packpferdes, das am frommsten war …
Im Schritt ritten sie davon. Der Radscha hatte die beiden anderen Gäule an der Leine. Unbemerkt erreichten sie offenes Gelände, die Sandsteppe …
„Halten Sie sich gut fest, Hella …!“ – Sie trabten, galoppierten … – Nach zehn Minuten, in einem sumpfigen Waldstreifen, gab der Radscha den beiden mitgenommenen Tieren die Freiheit.
Weiter gings. Jetzt im Schritt …
„Hella – Sie sehen erschöpft aus,“ meinte Mahadur Mirat ängstlich.
„Keine Sorge …!“
Wieder eine Grasebene mit mannshohen Halmen – ein Grasmeer, nur vom Pferderücken aus zu überschauen …
Weit im Nordosten drohte eine schwarze Gewitterwolke.
„Ein Unwetter … Noch eine halbe Stunde, dann haben wir das Gewitter hier,“ sagte der Radscha. „Suchen wir einen Lagerplatz für die Nacht, Hella. Der Abend naht ohnedies. – Ich sehe dort eine bewaldete Kuppe vor uns, einzelne Felsen ringsum. Halten wir darauf zu …“
Sie hatten den Hügel bald erreicht. Es gab da am Fuße der Anhöhe ein paar Steinblöcke, die eine Art Gruppe bildeten. Mahadur Mirat nahm einen trockenen Baumast, zündete ihn an, warf ihn in die flache Höhle hinein und Gräser darauf, so das sich starker Qualm entwickelte, der grauschwarz und träge dann in der völligen Windstille in dicker Säule emporstieg.
„Es könnten Schlangen dort hausen, Hella. Das Gewürm liebt solche Schlupfwinkel,“ erklärte der Radscha sein Tun.
Hella nickte nur zerstreut. Sie hatte ganz von selbst die Pferde abgesattelt und die Tiere dann dicht neben dem Unterschlupf angebunden. Sie saß jetzt auf einem bankartigen Vorsprung eines der Felsen und beobachtete den jungen Fürsten, der die Grotte mit Gras auszupolstern begann und für Hella eine bequeme Lagerstatt schuf. –
„Sie werden hier sehr gut ruhen, Hella,“ meinte er nun, ihr zulächelnd. „Das Bewußtsein, die Freiheit wiedergewonnen zu haben, wird Ihren Schlaf tief und gesund machen.“
Ihre Blicke begegneten sich. Hella hatte den linken Arm auf die Knie und die Hand leicht unter das Kinn gestützt. In ihren Augen war eine warme, dankbare Zärtlichkeit, als sie jetzt sagte: „Sie sind ein guter Mensch, Mahadur Mirat …“
Er trat vor sie hin. Seine Blicke ließen die ihren nicht los. Sein Gesicht hatte einen anderen Ausdruck angenommen. Wie ein heftiger Kampf malte es sich in den edlen Linien seines nur leicht ins Bräunliche spielenden Antlitzes.
„Hella, ich wünschte, Sie ständen nicht so unendlich hoch über mir, so unerreichbar für irdische Wünsche, wären nicht die Tochter der Königin über den Wolken, der neuen Gottheit … Daß Sie es sind, weiß ich jetzt ja! Sie tragen das heilige Zeichen auf der Stirn, das sechszackige Mal; Sie ähneln Ihrer Mutter, wie man dies selten findet … – Hella, Hella, – – weshalb mußten Sie meinen Weg kreuzen und mich, den armen Sterblichen, in einen Orkan von Empfindungen werfen, die doch niemals …“ –
Er brach plötzlich ab. Seine Sprache war immer leidenschaftlicher geworden. Dann schien es, als ob er erwache. In sein Gesicht trat ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Und in ganz anderem, fast demütig bittendem Ton fuhr er fort:
„Hella – verzeihen Sie mir … Ich habe mich hinreißen lassen … Ich war ein Tor …“
Sie winkte ihm freundlich zu, erhob sich schnell.
„Mahadur Mirat,“ sagte sie, und ihre Augen strahlten nur Güte und Dankbarkeit aus. „In den Stunden, die wir dort unten in den Höhlen als Todgeweihte zubrachten, kam das trauliche Du wie zwischen Bruder und Schwester ganz von selbst über unsere Lippen … Oder – sollte auch diese Vertraulichkeit nur ein Teil meiner Visionen gewesen sein? – Jedenfalls habe ich in Dir den Bruder gesehen … – So soll es bleiben, Mahadur Mirat, – nicht wahr?“ Sie streckte ihm die Hand hin, die er zögernd ergriff. Und sie legte nun auch ihre Linke auf diese in einander verschlungenen Hände. „Du weißt, mein Bruder, was mich seit vielen Monaten durch die Welt treibt. Ich muß den finden, der mir neben meinem Vater das Liebste auf Erden ist: meinen Bruder, den mir ein elender Schurke entführt hat zu dunklen Zwecken, derselbe Mann, der mir ein Liebesglück vortäuschte und den ich jetzt hasse – hasse wie nur … ein Weib hassen kann, das so erbärmlich betrogen und so brutal beraubt wurde … – Wenn dieses Gelübde erfüllt ist, das ich feierlich vor meiner eigenen schmerzzerissenen und enttäuschten Seele damals ablegte, wenn ich Gari gefunden und den bestraft habe, der sich Harry Blunk nannte und der jetzt wieder sich Harry Leakwoord nennt, – dann … dann, Mahadur Mirat, … dann …“ – Ihre Blicke wanderten wie verzückt gen Norden und schienen irgend ein wundervolles Bild zu sehen – „sollst du mir helfen, meiner Mutter geheimnisvolles Reich zu suchen, und dann wird auch vielleicht … irdischen Wünschen Erfüllung werden …“
Ein verträumtes Lächeln umspielte ihren Mund …
Der Radscha beugte plötzlich das Knie, preßte Hellas Hände gegen seine Schläfen: „Ich werde dich nie verlassen. Hella, meine Schwester, nie, obwohl die Kraft eines Gottes dazu gehört, neben dir nur …“
Er sprang auf, eilte hastig von dannen …
Die endlose Menschen- und Tierkette, die nach Ellen Crosterbroux suchte, schob sich trotz der nahenden Abenddämmerung immer weiter vor. Thomas Crosterbroux und Oberst Jafferson saßen etwa in der Mitte der Linie in dem Tragkorb eines der zur Tigerjagd abgerichteten Elefanten.
Der Platinkönig ließ das Fernglas kaum von den Augen. Sein bartloses, wulstiges Schauspielergesicht zeigte um den breiten, lüsternen Mund graue Schatten banger Sorge. Dieser rücksichtslose Geschäftsmann, der jedem, den er neu kennen lernte, schon nach der ersten Viertelstunde erzählte, daß er als Kohlenschipper in New York seine Laufbahn begonnen habe, dieser geniale, kühle Kopf, dieser Vernichter unzähliger anderer Existenzen, die ihm bei seinem schnellen Aufwärtsstreben hinderlich gewesen, hatte nach dem Tode seines vergötterten Weibes, die er als Wäschermädel geheiratet, nur noch eins, an dem sein Herz hing, sein Kind, seine Ellen …
„Ich verdammter Schafskopf!“ rief er jetzt so unvermittelt, daß der Oberst fragte: „Was soll diese Selbsteinschätzung, Freund Crosterbroux, he?!“
„Besser in New York Börsenmakler sein, als ein Mädel erziehen!“ meinte der Platinkönig. „Ich blinder Narr! Daß ich nicht längst gemerkt habe, wie sehr Ellen meinen eigenwilligen Schädel geerbt hat …! Zum Teufel, – – daß die Hexe diese Geschichten …“
„Hallo, Sahib, – da vorn eine Rauchsäule – dort zwischen den Hügeln!“ rief der braune Mahut dazwischen.
Crosterbroux schnellte auf …
„Eine dicke Qualmwolke, Jafferson … Sieht aber nicht nach einem Lagerfeuer aus …! Trotzdem – vorwärts – drauf zu …!“
Der Mahut sang gellend seine Befehle dem grauen Riesentier, das sich gehorsam in schaukelnden Trab setzte und halb in eine Art Galopp überging. Crosterbroux und Jafferson flogen fast aus dem Korb heraus …
Der Elefant durchpflügte das mannshohe harte Gras wie eine tote Maschine. Auch die Trupps rechts und links waren in schnelleres Tempo geraten. Sinclair und Leutnant Watstone jagten zu Pferd herbei …
Man brüllte sich das Beobachtete zu. Inzwischen war aber die Rauchsäule wieder verschwunden. Thomas Crosterbroux’ leise Hoffnung zerflatterte … – –
Der junge Fürst hatte planlos einen der höchsten Felsbrocken in der Nähe erklettert; er hatte allein mit seinen Gedanken, seinen glühenden, vorläufig unerfüllbaren Wünschen sein wollen …
Er setzte sich, das Gesicht nach Norden gekehrt, auf den harten Stein … – Hella – – Hella Dörcksen …! Er dachte an das, was Hella ihm über ihres Vaters und ihre eigene Liebesgeschichte erzählt hatte … Vieles davon waren wie Ausgeburten der krankhaft gesteigerten Phantasie eines Opiumberauschten gewesen, wie holde oder schauerliche Märchen … – Das Land der Seligen, das Land zwischen den Eisgletschern der höchsten Himalayaspitzen, – – sollte es wirklich existieren …?! – Er dachte weiter an das, was er selbst vor einem Jahr etwa geschaut, nachdem die umwohnenden Nepalesen längst von einer Gottheit geraunt hatten, die zuweilen zwischen den weißen Bergen erschiene …
Unwillkürlich hob er den gesenkten Kopf … Das Träumerische in seinen Zügen verlor sich blitzschnell; ein jäher Schreck weitete seine Augen, die nun hinglitten in angstvollem Prüfen über die zahlreichen Menschen und Tiere, die da in langer Linie in dem Schatten der Dämmerung über die Grassteppe nahten …
Er glitt herab von dem Felsen …
„Hella – – Gefahr!!“
Und im Nu saßen die beiden Flüchtlinge wieder zu Pferde …
Fort gings in rasendem Galopp … Der Radscha wählte nur solchen Weg, wo Gesträuch sich zwischen sie und den Feind schob.
„Hella – das gilt uns …! Ein ganzes Aufgebot von Mann und Tier …“ – Sie durchquerten einen lichten Wald …
Hinter ihnen jetzt das Kläffen einer Hundemeute.
„Ah – doch erspäht …!“ keuchte der Radscha … wandte den Kopf …
Hella war verschwunden – spurlos, obwohl sie jetzt auf armseligem Sandboden dahinsprengten, der nur wenige Distel- und Dornengestrüpphaufen zeigte. – Mahadur Mirat riß sein Pferd herum, jagte zurück, jagte dicht an einer großen Tigerfanggrube vorbei, deren Knüppeldecke unter der Last der Pferdehufe eingebrochen war … riß das Pferd zurück
Hellas Reittier hatte sich die in den Boden der Fanggrube eingerammten, zugespitzten, dünnen Pfähle tief in den Leib gejagt …
Aber sie selbst war unverletzt. Das Pferd stöhnte kläglich. Der Radscha half Hella heraus, sprang wieder auf sein Roß, zog Hella vor sich auf den Hals des Tieres, hielt sie umschlungen …
„Noch zehn Minuten, Hella, – dann ist’s dunkel …“ machte er ihr Mut … „Wenn nur unser Tier uns so lange trägt …“
„Ich werde seine Kraft verdreifachen,“ flüsterte sie, und ihre Stimme war nicht erregter als die des Mannes.
Ein winziges Kästchen holte sie aus der Tasche ihres Lodenrockes hervor. Es enthielt eine ebenso winzige Nickelspritze und zwei Röhrchen.
„Anhaltend, Mahadur!“ befahl sie kurz.
Dreimal füllte sie die Spritze aus einem der Röhrchen; dreimal stieß sie die dünne, lange Spitze in die Halshaut des Tieres, drückte das trügerische, belebende Gift hinein.
„Morphium und …,“ sagte sie leise. „Ohne diese Spritze hätte ich dem Verhaßten nie bis hierher auf den Fersen bleiben können …“
Weiter gings abermals … Die große Dosis des Giftes half. Das Pferd wurde leichtfüßiger …
Und ringsum senkten sich die Schleier der Nacht immer tiefer … –
Eine Stunde darauf wuchs vor ihnen ein Erdwall auf. Das Licht des soeben erschienenen Mondes blinkte in blanken Eisenbahnschienen …
„Hella,“ meinte der Radscha, „die Bahn hat hier eine starke Neigung nach Westen hin zu überwinden. Ein Güterzug wird hier sehr langsam aufwärts keuchen. – Hella – wir müssen es wagen, – wir müssen uns auf den Zug schwingen … Einer kommt sicherlich im Lauf der Nacht vorüber …“
Sie setzten sich am Rande der Böschung nieder und warteten …
Odysseus Nemo wußte auf der kleinen Station gut Bescheid. Zeit genug hatte er ja gehabt, sich überall umzusehen.
„Folgt mir!“ sagte er nochmals zu Dixon und Herbst. „Dort nach Westen zu steht eine Wellblechbude, in die ein totes Gleis hineinläuft und wo wir eine Draisine finden werden …“
Sie schlichen hinaus durch die Hintertür des Stationsgebäudes, hinaus in die blutige Röte des brennenden Lagerschuppens, duckten sich tief, glitten weiter … –
Der Schuppen war vorn offen, ohne Tür. Die Draisine mit den vier Hebelstangen lief in Kugellagern.
Die drei Männer begannen an den Hebelstangen zu arbeiten, schneller und schneller … Der kleine Wagen kam in Schwung, schoß über die richtig gestellten Weichen auf den Hauptstrang hinaus – hinein in das schützende Dunkel – ganz unbemerkt …
Eine wilde Freude bemächtigte sich der drei Gefährten …
„Die Wolkenkönigin steht uns bei!“ rief Dixon frohlockend. „Nun mag Burne uns nachher suchen … Wir werden in der nächsten Stadt zu braunen Eingeborenen werden …“
„Das können wir schon früher,“ meinte der Namenlose. „Ich kenne Wurzeln, die die Haut dauerhaft färben, kenne die Blätter der schwarzen Giftkirsche, die das helle Haar schwärzen, daß es wie echtes glänzt, wie straffes Inderhaar …“
Die Draisine raste … Die Männer standen aufrecht und drückten die Stangen herab, die wie die Kolben von Dampfzylindern auf und nieder flogen.
Professor Herbst äugte zuweilen den Schienenstrang entlang. Der Mond war aufgegangen …
„Ein Mann …!“ rief der Deutsche plötzlich. „Dort vor uns – zwischen den Gleisen …!“
Reverend Dixon lachte hart auf. „Überlast ihn mir …! Ich schieße sicher …!“
Radscha Mahadur Mirat hielt die Büchse Patriks bereit …
„Hella!“ – Und die lang auf der Böschung Liegende hob den Kopf. „Hella – wir müssen diese Draisine haben! Es werden Bahnarbeiter sein … Feuere aber nicht eher, bis ich den ersten Schuß abgegeben habe, und … nur nach den Beinen zielen …!“
Das Rollen des kleinen Wagens näherte sich schnell; die Umrisse der drei Gestalten wurden klarer; nur zwei trieben das Gefährt noch vorwärts; der dritte wollte den Gegner beseitigen …
„Platz gemacht!“ brüllte der lange Geistliche drohend. „Platz gemacht …!“
Mahadur bemerkte den erhobenen Arm, das metallische Blinken in der vorgereckten Hand …
Es galt die Freiheit …! – Er drückte ab … Blitzschnell hatte er die Büchse hochgerissen, kaum gezielt …
Aber ebenso blitzschnell entfuhr der Mündung des Revolvers der helle Strahl …
Der Radscha zuckte zusammen, taumelte; sein Fuß stolperte über die eine Schiene; er rollte den Bahndamm hinab …
Und auf der weiterjagenden Draisine lag Dixon und ließ sich von Herbst den Oberschenkel verbinden.
„Nur ein Streifschuß,“ meinte der deutsche Gelehrte. „Du hasts dem Burschen heimgezahlt …!“
Der Namenlose hatte rückwärts den Schienenweg entlang geschaut … – Er hörte mit der Arbeit des Stangenbewegens auf, zog die Bremse an, da der Wagen hier bei dieser Steigung sonst allein zurückgerollt wäre.
„Freunde,“ sagte er und beugte sich zu dem Verwundeten und dem Pfleger hinab. „Freunde, meine Augen sind gut … Ich kann mich nicht getäuscht haben. Es war ein Weib, das den Gegner dort hinten aufnahm und abseits schleppte, – ein Weib, gekleidet wie eine Europäerin, mit einem Hut, wie ihn die trug, der ich …“
Herbst richtete sich auf. „Mein Gott, Freund Nemo,“ unterbrach er den Heimatlosen, „sollten wir etwa …“ Er vollendete den Satz nicht … Und er und Nemo stierten nun von bangen Zweifeln gequält dort hinüber, wo das Dämmerlicht der Mondnacht nicht mehr genügte, irgend etwas zu erkennen …
Auch Dixon hatte sich auf die Arme gestützt, reckte den Hals …
„Ah – was bedeutet das …?! – Seht – – Fackeln da hinten – – viele glühende, flirrende Pünktchen …“ stieß er rauh hervor.
Nemo kurbelte die Bremse bereits frei …
„Zurück …! Ich begreift alles … Verfolger sind’s … Und … wir haben Hella Dörcksen und den Radscha …“ Er kreischte fast, verschluckte das letzte Wort, biß die Zähne zusammen, stieß die Hebelstange abwärts … Abwärts … Seine Gedanken waren dem dahinsausenden Wagen weit voraus … Hella und der Radscha mußten gerettet werden … Und wenn er sein Leben dabei einbüßte …
Die Zugluft benahm den beiden arbeitenden Männern den Atem … Selbst der Reverend half jetzt im Sitzen, so gut ers vermochte …
Die Fackeln da vorn glänzten deutlicher; die Qualmstreifen zogen hinter ihnen her wie schwarze Streifen … Reiter waren es … und graue Elefantenleiber tauchten auf …
„Zu spät!“ rief da Dixon mit entstellter Stimme. „Zu spät … Haltet ein, Freunde, – die beiden sind bereits umringt … Und uns hat man auch schon bemerkt …“
Zwei Reiter kamen auf dem Bahnsteig der Draisine entgegen, die jetzt wieder die Steigung hinanrollte …
Zwei Reiter, deren Tiere hier bergan flinker waren als der von Menschenkraft bewegte Wagen.
Einen Wettlauf gabs auf den Schienen, einen verzweifelten Kampf zwischen Pferdebeinen und Menschenarmen …
Hauptmann Sinclair war Watstone ein Stück voraus.
„Anhalten!“ brüllte er jetzt. Nur noch zwanzig Meter waren es …
„Anhalten …!“ – Nur noch zehn waren es …
Dixon zielte auf die Pferdebrust … Sechs dünne Knalle des Revolvers …
Sinclairs Gaul tat einen Satz zur Seite, bäumte hoch …
Und Watstones Rappe preschte gegen das verwundete Pferd, das nun die Böschung hinabrutschte. Aber da war durch den gewaltigen Zusammenstoß auch der Rappe gestürzt …
Der Reverend lachte hart …: „Die wären erledigt, Freunde …“
„Und die Spitze der Steigung haben wir hinter uns,“ fügte der keuchende Professor hinzu.
Mit schwachem Gefälle lief der Schienenstrang weiter; mit unheimlicher Eile raste die Draisine davon …
Die drei Männer wurden ruhiger.
„Wir müssen Hella und den Fürsten aus den Klauen der Feinde befreien,“ sagte der Reverend ernst. „Die beiden werden für immer in einem Gefängnis verschwinden, wenn wir nicht rechtzeitig ihnen Hilfe bringen …“
Stuart Burne ritt einsam und allein der kleinen Station zu. Seit Minuten beobachtete er vor sich den Feuerschein eines größeren Brandes. Von dem Platzregen des Gewitters hatte er nur gerade so viel abbekommen, daß sein Pferd, durch das Bad neu belebt, eiliger ausgriff.
Im Trab näherte er sich dem brennenden Lagerschuppen. Nun bemerkte er den Stationsleiter in einer Gruppe von erregten Menschen. Taghell war die Umgebung erleuchtet; die Lichtquelle des Brandes ließ die Gesichter der eingeborenen Bahnbeamten wie blankes Kupfer erscheinen …
„Was machen die Gefangenen?“ rief er dem Stationsleiter zu.
„Sind in guter Hut …“
Burne atmete auf, trieb sein Pferd über die Geleise auf das Hauptgebäude zu. Da – seine nimmermüden Augen hatten die davonrollende Draisine erspäht … Er stutzte … Ob etwa …? – Doch nein! „In guter Hut!“ hatte der Mann ihm ja Bescheid gegeben.
Trotzdem sprang Burne eilig aus dem Sattel, schritt direkt nach der vergitterten Kammer hin, riß die … unverschlossene Tür auf …
Leer – leer –! Und – die Draisine!
Ein Fluch – und der kleine Inspektor rannte auf den Bahnsteig zurück … Der Rappe erhielt die Sporen immer wieder, raste der Draisine nach …
Dann … Fackeln … Menschen … Tiere …
Burne ahnte das Richtige; jetzt hatte er die Stelle erreicht, wo sich neben dem Bahndamm ein weiter Kreis von Fackelträgern gebildet hatte.
Er glitt aus dem Sattel, drängte sich zwischen den Leibern zweier Elefanten hindurch, stand nun vor Jafferson, Crosterbroux und …!
Ah – das Weib da …! Und der Körper dort im Gras …! Das waren die, die er haben wollte …
„Meinen Gruß, die Herren!“ sagte er laut, faßte an die Mütze.
„Zum Donner, – Inspektor, wo kommen Sie plötzlich wieder her?“ rief Jafferson.
„Tot?“ fragte Burne und beugte sich über Mahadur Mirat, dessen Kopf die am Boden hockende Hella im Schoß hatte.
„Nur betäubt,“ brummte Crosterbroux. „Herzprellschuß … Wird bald wieder munter sein …“
„Muß auch leben bleiben!“ meinte Burne ruhig. „Muß …! Brauche den Radscha …!“
„Nun zu Ihnen, Miß,“ sagte er zu Hella. „Im Namen des Vizekönigs von Indien: Sie sind hiermit verhaftet!“
Hella regte sich nicht.
„Stehen Sie auf!“ befahl der Inspektor kurz.
Sie ließ des Radschas Kopf sanft auf die Erde gleiten, erhob sich mit den Bewegungen einer Traumwandlerin.
„Herr Oberst,“ wandte Burne sich an Jafferson, „ich bitte um einen Ihrer Elefanten zum Transport meiner Gefangenen nach der Station … Es wäre mir lieb, wenn Ihre Leute um diesen Elefanten einen engen Kreis schließen wollten. Weder dem Radscha noch Miß Dörcksen ist zu trauen … Ich will jeden Fluchtversuch von vornherein unmöglich machen …“
Der eine Mahut hieß seinen grauen Koloß sich legen. Man schaffte den Radscha in den Tragkorb; Hella mußte gleichfalls hinein; und Stuart Burne wurde der dritte in dem schwankenden Weidengeflecht, hielt den Revolver in der Rechten und ließ kein Auge von dem blonden Weib.
Der Kreis von Fackeln, Menschen und Tieren strebte der Station zu …
„Hoffentlich erwischen Sinclair und Watstone die Draisine noch,“ meinte Jafferson zu Crosterbroux, die sich wieder von ihrem Elefanten tragen ließen.
„Hoffentlich … – Na – jedenfalls haben wir jetzt dieses Weib und den braunen Hochverräter fest … Die Hunde haben sich glänzend bewährt, Jafferson. Nasen haben die Bestien, – Nasen …! Wünschte nur, sie spürten meine Ellen auf …!“ – –
Aber – Ellen Crosterbroux blieb verschwunden. Nur der Radschpute Rowama Sing und Patrik fanden sich zwei Tage drauf in der Station ein und brachten die Nachricht, daß Ellen vorgestern von einem Pirschgang gegen Abend nicht zurückgekehrt sei. – Thomas Crosterbroux suchte mit Jafferson und dem ganzen Troß noch weitere vier Tage. Dann gab er es vorläufig auf, wollte von Agra berittene Polizisten aussenden … –
Inzwischen waren Hella Dörcksen und Mahadur Mirat längst in Agra im Eisenbahnabteil unter Burnes Bewachung eingetroffen und ins Gefängnis eingeliefert worden.
Agra, die Hauptstadt der gleichnamigen Division der britisch-indischen Nordwestprovinzen, ist eine der saubersten und interessantesten Städte des ungeheuren Kolonialreiches der Engländer, Kaiserreich Indien genannt. Am Ufer des Flusses Dschamna gelegen, besitzt es außer modernen, großartigen Regierungsgebäuden alte Prachtbauten rein maurischen Stils, wie kein anderer Ort Indiens sie aufzuweisen hat, außerdem ein Eingeborenenviertel, das zwar genug winklige Gäßchen und armselige Lehmhütten, dabei aber ebenso viele malerische Winkel hat und weit reinlicher ist als anderswo.
Im westlichen Teil der Eingeborenenstadt, in der neben rund hunderttausend Hindu etwa fünfzigtausend Mohammedaner hausen, liegen inmitten kleiner Gärten schmucke Steinhütten reicherer Hindu, die zumeist in den Basarstraßen ihre Kaufläden haben. –
Der Abend zog herauf, das Sonnenrot des verschwindenden Feuerballes tauchte die weithin sichtbare Kuppel und die vier Minarette des Tadsch Mahal, des Kleinods von Agra, in rosigen Schein …
Auf einer Anhöhe der Straße standen zwei Eingeborene, die in ihrer ärmlichen Tracht niemandem auffielen. Sie standen und staunten …
„Das also ist der berühmte „Traum in Marmor“, flüsterte Herbst jetzt Odysseus Nemo zu. „Ich gebe zu, mir fehlen die Worte, um den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die mich beim Anblick dieses Filigranwerkes aus weißem Marmor bestürmen, dieses Mausoleums, das Schah Yehan seiner Lieblingsgattin errichten ließ. Die Schönheit ist wirklich überwältigend, und ich …“
„Freund, wir müssen weiter,“ unterbrach der Namenlose den Gefährten. „Vergiß nicht, daß Dixon mit dem Mädchen allein in dem Versteck zurückgeblieben ist …“
Sie bogen in einen Seitenweg ein. Unter dunkelgrünen Zypressen und weitschattenden Laubbäumen wanderten sie noch zehn Minuten entlang, fragten dann abermals ein paar nackte, spielende Kinder nach dem Haus des Schuhmachers Cheffri Ragindo. Die braune, kleine Gesellschaft stob angstvoll auseinander. Nur zwei schlanke Knaben blieben stehen – mohammedanische Jungen, für die der Name Ragindo nichts Abschreckendes hatte. Sie wiesen die verkleideten Freunde nach einem Häuschen, das hinter einer hohen Dornenhecke lag und sich mit der Rückwand an einen Felsabhang anlehnte. Sie betraten den Vorgarten. Überall hier fast betäubender Rosenduft. Agra ist die Stadt der Rosen und der feinsten, gestickten Schuhe …
Ein in graues Leinen gehüllter Inder von entsetzlicher Magerkeit sammelte abgefallene Rosenblätter zwischen den Beeten ein. Als er die beiden Fremden erblickte, rief er sofort:
„Geht – geht – – ein Gewesener wohnt hier!“
Doch Herbst, jetzt ohne Bart und braungefärbt völlig unkenntlich, ging ruhig auf das wandelnde Skelett zu, flüsterte nun: „Ich grüße dich, Bruder …!“ Dabei öffnete er die rechte geballte Hand und hielt dem Inder den sechszackigen Elfenbeinstern hin …
„Du bist Bruder Cheffri, der dreimal Gewesene,“ fuhr der deutsche Gelehrte ebenso leise fort. „Wir bitten um Unterkunft. Wir haben Wichtiges zu besprechen.“
Der Gewesene nickte, wandte sich um und ging dem Haus zu, führte die Freunde durch einen Vorraum in seine Werkstatt, schob hier einen großen Holzschrank auf, in dem auf den Querbrettern zahlreiche halbfertige Schuhe standen, öffnete die Rückwand samt den Querbrettern wie eine zweite Tür und legte so die Felswand frei, die hier auch nur aus einer dünnen, in Gelenken beweglichen Steinplatte bestand. Dahinter führte eine Treppe in die Tiefe, dann wieder eine zweite in die Höhe bis in eine wohnlich ausgestattete Höhle von etwa acht Meter im Geviert.
Cheffri Ragindo zündete eine große Öllampe an.
„Macht es euch bequem, Brüder und Anhänger der Wolkengöttin,“ sagte er ernst. „Mein Haus ist das eure. Ich werde sofort für Speise und Trank sorgen.“
„Später, Bruder,“ entgegnete Herbst jedoch. „Setz’ dich zu uns. Unsere Sache duldet keinen Aufschub. Wir sind zu dir gekommen, um …“
„Ich weiß alles,“ fiel ihm der dreimal Gewesene ins Wort. „Als wir nach der letzten Zusammenkunft in der Ruine im Heiligen See fliehen mußten, sind Mahadur Mirat, der unser Haupt ist, und das blonde Mädchen nachher in die Gewalt Burnes, des Detektivinspektors geraten. Bruder Dixon und Bruder Herbst aber entgingen ihm, ebenso ein dritter, der …“
„… jetzt dein Gast ist wie ich,“ vollendete Herbst. „Ich staune, daß du so vortrefflich von allem …“
Cheffri machte eine kurze Handbewegung. „Bruder – ich bin der Oberste der Gewesenen, der Scharmagri, die den Scheiterhaufen sahen, wiederauflebten, weil sie nur scheintot waren, und nun ausgestoßen sind aus dem Kreis der Lebenden, weil die Hindureligion sie für Verfluchte hält, die die Götter verschmähen. Dreimal bin ich durch die Flammen des Scheiterhaufens wieder erweckt worden; dreimal war ich scheintot. Und deshalb bin ich jetzt Ragindo, der Oberste der Scharmagri, die verflucht und doch mächtiger sind selbst als die Polizei, da ein enges Band sie alle verbindet, da unsere Beziehungen überallhin reichen …“
Das wandelnde Skelett sprach diese Sätze im Tonfall eines, der sich seiner Macht bewußt ist …
„Bruder Cheffri,“ sagte der Deutsche, „– nicht alles ist dir bekannt. Höre denn! Als wir drei auf der Draisine entkommen waren, verwandelten wir uns noch in derselben Nacht in Inder, umschlichen dann die Station dort im Westen, hofften das Mädchen und den Radscha befreien zu können. Es gelang uns nicht. Aber … wir fingen ein anderes Weib ein, haben es verborgen gehalten, hierher gebracht, wollen es dazu benutzen, für die beiden Gefangenen die Freiheit zu erwirken …“ Er berichtete noch einige Einzelheiten. –
Eine halbe Stunde drauf machte Cheffri Ragindo seinen zweirädrigen Wagen zurecht, spannte sein struppiges Pony davor und fuhr die Straße nach Westen zu bis an einen einsamen, halb verfallenen Bungalow.
Es war längst völlig finster geworden. Der Gewesene führte den Wagen ins Gebüsch, entfernte vom Wagenkasten die Decke und ließ Odysseus Nemo heraus. Nur der Mond schaute durch die Baumkronen dem Treiben der beiden Männer zu, die nun nach dem Bungalow schlichen, eines der hinteren Zimmer betraten und von hier den hinkenden Dixon und ein Weib, dem die Hände lose gefesselt waren, abholten.
Das Weib trug über dem Kopf ein schweres, großes Tuch. Schluchzende Laute drangen darunter hervor … Aber die Männer blieben hart, hoben die Frau in den Wagenkasten, wo auch Dixon, gleichfalls zum Inder geworden, unter der Plane Platz nahm und kehrten nach Cheffris Gehöft zurück, wo das verhüllte Weib in einer zweiten, kleineren Höhle untergebracht wurde.
Stuart Burne hatte in dem im Regierungsviertel von Agra liegenden palastähnlichen Wohnhaus des Platinkönigs Unterkunft gefunden und bewohnte hier drei Zimmer, deren Fenster nach dem Park hinausgingen.
Der Inspektor wollte so lange in Agra bleiben, bis vor dem dortigen Obersten Gerichtshof der Prozeß gegen den Radscha wegen Anzettelung einer politischen Verschwörung sowie gegen Hella Dörcksen wegen desselben Verbrechens und wegen noch anderer Straftaten beendet war. Ihn ließ die Angst nicht los, die beiden Gefangenen könnten mit Hilfe ihrer Genossen irgendwie befreit werden. Außer diesem Wächteramt, das er freiwillig ausübte und das ihn in allerlei Verkleidungen stets das Zentralgefängnis, dessen nähere Umgebung und auch die Aufseher beobachten ließ, die mit den Untersuchungsgefangenen auf Nr. 3 und Nr. 21 zu tun hatten, war er auch nach Kräften bestrebt, dem die Voruntersuchung führenden Richter dabei behilflich zu sein, Mahadur Mirat und das blonde Mädchen zu einem Geständnis zu bewegen. Vorläufig freilich waren alle diese Bemühungen umsonst gewesen. Es gab keine verstockteren Häftlinge als diese beiden, die zudem noch jeder List Stuart Burnes zu trotzen wußten und lediglich bisher zu Protokoll gegeben hatten, daß die Versammlung damals in der Ruine der Maharattenburg nichts mit Politik zu schaffen gehabt hätte, daß sie weitergehende Aussagen aber verweigern müßten.
Nur was die anderen gegen Hella Dörcksen erhobenen Anschuldigungen betraf, war die Untersuchung bereits beendet, da die vernommenen Zeugen – Oberst Jafferson, Crosterbroux und Leutnant Baalk – übereinstimmend bekundet hatten, daß das blonde, junge Weib, als Burne sie auf dem Weg nach der Maharattenburg angehalten und mit nach dem Jagdlager Jaffersons genommen hatte, dort nicht nur das Wohnzelt des Obersten und die darin befindlichen Männer durch Feuer zu vernichten gesucht hätte, sondern daß von ihr auch auf ihrer kühnen Flucht nachher weite Dschungelstrecken in Brand gesteckt worden wären, und dies ebenfalls in der Absicht, ihre Verfolger in dem vom Wind vorwärts getriebenen Glutmeer umkommen zu lassen. –
Hella Dörcksens Sache stand schlecht. Mochte sie auch fernerhin die Beteiligung an einem hochverräterischen Unternehmen abstreiten, – ihre Verurteilung der anderen Vergehen wegen war gewiß.
Dies hatte ihr soeben auch wieder Stuart Burne in freundlich überredender Weise bei einem neuen Verhör klar gemacht und hinzugefügt, daß sie ihre Lage durch ihr zweckloses Schweigen nur verschlechterte.
Der kleine Inspektor war heute geradezu entsetzt über die Veränderung, die mit Hellas Äußerem vor sich gegangen war. Nie hatte er geglaubt, daß durch eine Untersuchungshaft besonders veranlagte Menschen in kurzem körperlich so vollständig verfallen könnten. Dann aber hatte er sich an die winzige Nickelspritze erinnert, die man dem blonden Weib abgenommen hatte. Als Hella nun wieder von dem Gefängnisaufseher nach der Frauenabteilung zurückgeführt wurde, sprach er mit dem Untersuchungsrichter Master Austin Samsfork über diesen ihm sehr bedrohlich erscheinenden Zustand der Gefangenen und meinte, man solle dieser unbedingt geringe Dosen des Nervenreizmittels gewähren, an das sie offenbar zu sehr gewöhnt sei, um es völlig entbehren zu können. Samsfork, ein noch junger Mann, stimmte sofort zu, da auch er bereits durch dieses Schwinden der Körperkräfte und die fast stumpfsinnige Gleichgültigkeit des jungen Weibes ängstlich geworden war.
Burne verabschiedete sich, verließ das Gerichtsgebäude, das mit dem Zentralgefängnis in Verbindung stand, nahm eine Rikscha und ließ sich nach Crosterbroux’ Palast zurückfahren. Der Rikschakuli trottete in gleichmäßigem Trab durch die Straßen, die jetzt am Spätnachmittag, wo die Hitze etwas nachgelassen hatte, sehr belebt waren. Gerade an der Einmündung der Hauptverkehrsstraße in den Villenweg, an dem auch des Platinkönigs fürstliche Behausung lag, bemerkte der kleine Inspektor eine ihm wohlbekannte Gestalt, ließ halten, warf dem Rikschamann eine Münze zu und sprach den abschreckend mageren, in Grauleinen gehüllten Inder an.
Der dreimal Gewesene verbeugte sich unterwürfig. „Sahib,“ erwiderte er, „wir suchen noch immer. Du kannst gewiß sein, daß alles geschehen wird, was in unserer Macht liegt, um die drei Männer zu fangen. Fünftausend Rupien verdienen wir gern … Bisher freilich hat noch keiner von denen, die mir blindlings gehorchen, irgend etwas gemeldet …“
Burne schüttelte unzufrieden den Kopf. „Sie sind wie von der Erde verschluckt, diese drei … Aber – ich muß sie finden. Also, Freund Cheffri, laß in deinem Eifer nicht nach …“ Er nickte Ragindo zu und schritt dann weiter die Villenstraße entlang.
Der dreimal Gewesene blickte ihm nach. In seinem Totenkopfgesicht zeigte sich keine Veränderung. Nur die schwarzen, großen Augen leuchteten jetzt in düsterem Feuer, und die Rechte hob sich unwillkürlich, ballte sich zur drohenden Faust. –
Burne machte es sich in seinen Gastzimmern bequem und setzte sich mit den neuesten Zeitungen auf den Balkon vor seinem Wohngemach. Das Zeltdach über dem Balkon troff ständig vor Nässe. Ein feiner Sprühregen stäubte aus zwei großen Brausen dauernd über das Leinen hinweg und kühlte die Luft angenehm ab.
Burne blätterte in der Kalkutta-Morning-Post. Ein Lächeln flog über sein bartloses charaktervolles Gesicht, dem so deutlich der Stempel hoher Intelligenz aufgedrückt war, – ein Lächeln geschmeichelter Eitelkeit. Ein wenig eitel war er ja, der „große“ Inspektor; aber noch weit ehrgeiziger, als die meisten glaubten. Für ihn gab es keine andere Leidenschaft als nur seinen Beruf. Rauchen, Trinken, Spielen, Sport, – alles belächelte er als Schwächen. Nur – ja, nur … die Weiber …! In diesem Punkt versagte selbst die Energie dieses Mannes, der es fertig brachte, achtundvierzig Stunden ohne Schlaf, ohne Essen und Trinken auszukommen.
Die Weiber …! Und jetzt von diesen verdammten Geschöpften, die er haßte, weil sie ihn beherrschten, – jetzt diese Hella Dörcksen … Gerade diese …! –
Burnes Lächeln wurde ironisch. Da hatte der Zeitungsmensch den Artikel überschrieben:
„Stuart Burne, der Sieger“
Las sich ganz hübsch als Titel für die Geschichte der Sprengung der Verschwörerversammlung in der Ruine und der Gefangennahme des Radscha und Hellas! Ganz hübsch … Stimmte nur nicht … – Sieger?! Sieger …?!
Burne seufzte und dachte: „Ich bin verrannt in das blonde Weib …! Der Tintenklexer sollte nur ahnen, wie sehr …! Ich könnte geradezu Dummheiten begehen, wenn ich hoffen dürfte …“ – Er verscheuchte diese Gedanken, las den langen Artikel, nickte zuweilen … Da stand unter anderem:
„Man darf nicht übersehen, daß nach diesem entsetzlichen Menschenmorden in Europa auch heute noch ein Sehnen durch die Völker des Erdballs nach einer überirdischen Macht geht, die in der Lage wäre, den Haß der Nationen aufzulösen in andere Gefühle, die einen dauernden Frieden der Welt garantieren. Gerade der Weltkrieg mit seinen traurigen Folgeerscheinungen hat in den breitesten Massen, sei es, wo es sei, nunmehr die Erkenntnis ausreifen lassen, daß nur ein Wesen mit gottähnlichen Eigenschaften jenen Zustand von Glückseligkeit herbeiführen könnte, der mit einem völligen Aufgeben der jetzigen Machtpolitik der Großmächte und durch einen Verzicht auf die Beherrschung fremder Völker zu erzielen wäre. Insofern ist ja auch dieses von einer Anzahl intelligenter Männer schlau erfundene Märchen von der neuen Gottheit, von dieser auf Wolken thronenden Göttin, als eine ungeheure Gefahr für den Bestand des indischen Kaiserreiches und ebenso für die jetzige Verteilung der Machtbereiche der Kulturstaaten zu betrachten. Unwillkürlich muß eine neue, über die ganze Erde sich verbreitende Religion einen Freiheitstaumel überall da zur Folge haben, wo …“
Und an anderer Stelle hieß es wieder:
„Kluge Berechnung ist hier am Werk … Gerade das Himalayagebirge, das höchste der Welt, haben diese Verschwörer für ihren Schwindel sich auserwählt und behaupten, daß dort die Göttin sich leibhaftig zeige. Es war die höchste Zeit, daß ein Stuart Burne diesem Treiben ein Ende machte und …“
„Schwindel …?! – Ich weiß nicht, obs ein solcher ist …! Und ich fürchte fast, es ist keiner …! Ich habe ja das Filmband, das ich aus den Gewölben der Maharattenburg rettete, durch einen Vorführungsapparat laufen lassen und mit eigenen Augen gesehen, daß es sich hier um eine in der Natur gemachte Aufnahme handelt … Ich wünschte, diese ganze Geschichte wäre weniger rätselhaft, als sie es in Wahrheit ist …! – Stuart Burne, der Sieger …! – Oh – von einem Sieg bin ich noch weit entfernt … – Zu weit, besonders da … diese Hella mitbeteiligt ist …“
Thomas Crosterbroux saß zur selben Zeit in seinem Arbeitszimmer in einem tiefen Klubsessel, hatte die Beine weit von sich gestreckt und sah die Briefe durch, die der Diener ihm soeben gebracht hatte.
Eines der Schreiben veranlaßte ihn dann, die Beine mit einem Ruck anzuziehen …
Ah – eine nette Überraschung! In der Tat …! Ellen, diese kleine Heuchlerin, heimlich verlobt … Also deshalb spielte sie hier in Agra stets die Unnahbare, die Eisigkühle …! Und – er als Vater hatte keine Ahnung von alledem …!
Er überflog nochmals folgende Sätze:
„… aus den Zeitungen zu meinem größten Schreck erfahren, ist Ellen noch immer nicht gefunden. Ich darf mir diese vertrauliche Bezeichnung erlauben, Master Crosterbroux, da ich mit Ihrer Tochter seit zwei Jahren etwa heimlich verlobt bin. Ich lernte sie in Deutschland, in Berlin, kennen, als sie dort in einem Pensionat weilte … – Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen morgen meinen Besuch mache, Master Crosterbroux. Ich bin von Benares eiligst herübergekommen, um mich persönlich an den Nachforschungen nach Ellens Verbleib zu beteiligen. – Ihr … sehr ergebener Harry Leakwoord.“
Crosterbroux legte den Brief auf den Tisch, grübelte vor sich hin, dachte: „Man sagt ja, die Liebe überwinde alle Hindernisse … Vielleicht findet dieser Leakwoord mein Kind … – Wenn ja, soll er meinen Segen haben … Denn diese Ungewißheit über Ellens Schicksal bringt mich langsam ins Grab …“
Er öffnete den nächsten Brief. Die Adresse auf dem Umschlag und der Brief selbst Maschinenschrift … Kein Name darunter, wie er auf den ersten Blick sah … Merkwürdig …!
Er las, sprang auf, – las stehend weiter …
„Master Crosterbroux! Ihre Tochter ist in unserer Gewalt. Sie werden sie nur wiedersehen, wenn Sie bedingungslos auf unsere Vorschläge eingehen. Wir warnen Sie, ein Wort des Verrats, und wir senden Ihnen Ellens abgeschnittenen Kopf zu. Wir scherzen nie! – Wir müssen Hella Dörcksen befreien. Und dabei sollen Sie helfen. Wie – das teilen wir Ihnen mit, sobald Sie sich einverstanden erklärt haben. Dies geschieht in der Weise, daß Sie heute Abend um sieben Uhr auf die Veranda vor Ihrem Arbeitszimmer hinaustreten und ein Taschentuch in der Luft schwenken. – Drehen Sie diesen Briefbogen um. Es wird genügen.“
Crosterbroux tats. Und … auf der Rückseite stand mit Bleistift geschrieben:
„Lieber Pa! Gehorche, oder sie töten mich. – Deine Ellen.“
Des Platinkönigs massige Gestalt sank wie vernichtet in den Sessel zurück … Er überlegte … Aber – was blieb ihm übrig, als blindlings zu tun, was man von ihm verlangte …
Er zog die Uhr, ließ den Deckel springen …
Genau sieben … genau …!
Mit hastigen Schritten eilte er hinaus, zog das Taschentuch, schwenkte es eine Weile hin und her, wartete, schwenkte wieder … –
Stuart Burne aber stand links davon auf dem Balkon des ersten Stockwerks halb verborgen hinter ein paar Palmenkübeln und beobachtete kopfschüttelnd den Multimillionär, dem viele sogar eine Milliarde nachsagten …
Plötzlich glitt der Inspektor in sein Zimmer zurück, holte sein Fernglas, stellte es ein und lugte hinüber nach dem Wald, der jenseits der Parkmauer eine Anhöhe bedeckte.
Burnes vorzügliche Augen entdeckten auch wirklich etwas … Im runden Sehfeld des Glases erschien eine riesige Platane, und von dieser schwang sich jetzt ein Mann gewandt zur Erde, verschwand im Schatten der Bäume …
Stuart Burne war überzeugt, daß Crosterbroux’ Taschentuchsignal diesem Eingeborenen gegolten hatte. Welcher Art mochten wohl die Geheimnisse sein, die den Platinkönig veranlaßten, eine solche Art der Verständigung mit anderen Leuten zu wählen?! Sicher doch recht wichtige Geheimnisse …!
Mißtrauen gehörte zum Beruf des Detektivs. Und gerade Stuart Burnes Argwohn schlief nie …
„Passen wir fortan schärfer auf, was Crosterbroux treibt …!“ sagte der Inspektor leise. „Ich kann nicht vorsichtig genug sein …!“
Der Platinkönig war ebenfalls vorsichtig. Kaum hatte er die Veranda wieder verlassen, als er auch schon den Brief des Unbekannten in seinem Arbeitszimmer über einer Kerze verbrannte und die Asche zerrieb. Von sorgenden Gedanken gequält, durchquerte er dann unermüdlich das Zimmer, blieb zuweilen stehen, – immer nur an sein Kind denkend, das in Lebensgefahr schwebte …
Ein Diener schlug den Türvorhang zurück, reichte ihm auf silberner Platte einen soeben von einem Knaben überbrachten versiegelten Brief.
Maschinenschrift …! – Crosterbroux ahnte, was das Schreiben enthielt … – Und – er irrte sich nicht! Diese Leute, die Ellens Haupt ihm zusenden wollten, arbeiteten unheimlich schnell …! –
Der Brief gab ihm bis ins einzelne fein ausgeklügelte Anweisungen, wie Hella Dörcksen befreit und Ellen in das Haus ihres Vaters zurückkehren sollte. Der Schlußsatz lautete:
„… Wenn Sie dem Inspektor diesen Vorschlag in geschickter Weise unterbreiten, wird er zweifellos darauf eingehen.“
Kaum hatte der Platinkönig das Schreiben nochmals gelesen und es dann gleichfalls verbrannt, als es klopfte und Burne vom Flur aus eintrat.
Sie hatten sich heute noch nicht gesehen, diese beiden Männer, die jetzt so unerwartet Gegner geworden waren. Ihre Begrüßung war zwanglos. Burne erzählte, daß Hella Dörcksen noch immer hartnäckig über Einzelheiten jener Verschwörerversammlung schwieg und daß kaum noch Hoffnung vorhanden, aus ihr oder dem Radscha etwas herauszulocken …
Crosterbroux kam dieses Gespräch wie gerufen. Ihm, dem geriebenen Geschäftsmann, der oft gegen eine ganze Phalanx von Widersachern gekämpft und sie doch niedergerungen hatte, fiel es nicht schwer, in ganz unverfänglicher Weise im Sinne derer zu handeln, die Ellen gefangen hatten.
Er zündete sich an einem Rauchtischchen eine Zigarre an und sagte zu dem hinter ihm in einem der Sessel sitzenden Inspektor wie beiläufig:
„Burne, mir ist da gestern nacht, als ich nicht einschlafen konnte, eine etwas wunderliche Idee gekommen, wie man vielleicht dieses blonde Teufelsweib durch eine Überrumpelung zum Reden bringen könnte. Sie haben doch weder ihr noch dem Radscha bisher verraten, daß Sie damals das Filmband aus dem Gewölbe der Ruine im Heiligen See mitnahmen. Wie wärs, wenn wir versuchten, Hella Dörcksen durch völlig unerwartetes Zeigen dieses Filmbildes seelisch so zu erschüttern, daß sie jeden weiteren Widerstand aufgibt? – Gewiß – mein Vorschlag mag reichlich phantastisch sein, aber … – Na – hören Sie ihn sich mal erst an …“
Burne lauschte gespannt, lauschte ahnungslos …
Crosterbroux hatte noch nie so überzeugend für etwas gesprochen wie heute …
„Es ist doch klar, daß der Film bei diesem ganzen Wolkengöttin-Schwindel eine große Rolle spielt, Burne … Wie muß es da auf Hella Dörcksen wirken, wenn so gänzlich unvermutet auf der weißen Marmorwand meines Festsaales die Schneegipfel und alles andere auftauchen, wenn …“
Burnes gesenkter Kopf hob sich. „Genug, Crosterbroux, – die Idee ist vorzüglich …! Wird gemacht – und morgen schon, ganz wie Sie vorschlagen, morgen Abend …“
Am nächsten Vormittag punkt neun Uhr stand Crosterbroux wieder auf der Veranda und schwenkte das Taschentuch … – Das hieß für die Absender der Briefe: „Ich habe Burnes Einverständnis …!“
Der dreimal Gewesene kletterte von der Platane herab und begab sich in die Stadt zu einem anderen Gewesenen, der seines Zeichens Schneider war, nahm ihn mit nach seinem Haus und führte ihn durch die Geheimtür des Schrankes in die Grotte und von dieser wieder durch eine zweite, ebenso gut verborgene Tür in eine kleinere, gleichfalls wohnlich ausgestattete Höhle, in der an einem Tisch Ellen Crosterbroux saß und in einem Buch las.
Der Schneider mußte Ellen Maß nehmen zu einem Lodenkostüm, das in Farbe und Machart genau dem entsprach, das Hella Dörcksen trug und das Dixon und Herbst ihrem Freund Ragindo bis ins einzelne genau beschrieben hatten. –
Nachher beschaffte Cheffri auch noch einen weichen Lackhut und einen schwarzen Schleier, damit der beabsichtigte Betrug nicht etwa an kleinen Unstimmigkeiten scheiterte. – – –
Die Sonne versank … In Rot getaucht träumte der Wunderbau des Tatsch Mahall inmitten der Zypressen …
Hella Dörcksen stand am vergitterten Fenster ihrer Zelle auf dem Stuhl und sah das Tagesgestirn abermals hinter den Wäldern und Hügeln untertauchen …
Burne war vorhin mit dem Untersuchungsrichter bei ihr gewesen und hatte ihr mitgeteilt, daß sie abends für eine Stunde anders wohin gebracht werden würde …
Nichts weiter hatte er gesagt … – Und nun bestürmte die Angst das junge Weib, Burne könnte etwas Neues ersonnen haben, um ihr beharrliches Schweigen zu brechen …
Die Zellentür tat sich auf. Hella hörte das Geräusch. Es war Burne …
Er reichte ihr die Hand, half ihr beim Hinabsteigen von ihrem erhöhten Standort …
Er sah, daß sie wieder frisch und schön geworden durch das Gift, das man ihr gewährt hatte. Und seine Blicke fraßen sich fest in diesem holden Antlitz, das seine Wünsche ins ungemessene steigen ließ … Seine Hand zitterte … Schnell trat er zurück.
Armer Burne …! Du – und Sieger …?! …
Er gab Hella den langen, schwarzen Schleier; half ihr auch in die Kostümjacke … – Fast grob befahl er jetzt, was sie tun sollte …
Dicht verhüllt, ganz unkenntlich, folgte sie ihm dann zu dem Auto, das im Gefängnishof wartete. Es fuhr davon, gefolgt von einem zweiten … Burne war vorsichtig!
Vor einer prunkvollen Marmorhalle mußte Hella aussteigen. Nicht ein Wort hatte Burne während der Fahrt mit ihr gesprochen; desto mehr gedacht und Mühe gehabt; dies Alleinsein in dem geschlossenen Kraftwagen nicht zu einer nie wieder gut zu machenden Torheit auszunutzen …
Crosterbroux hatte mehrere höhere Beamte und Offiziere Agras für diesen Abend zu sich gebeten. Die acht Herren, darunter auch Oberst Jafferson, versammelten sich im sogenannten Marmorsaal des Palastes. Dann erschien noch ein anderer Gast, den der Platinkönig den Anwesenden als „Master Harry Leakwoord, ein Freund meiner Familie“ vorstellte.
Leakwoord war eine recht ansprechende Erscheinung. Sein frisches, bartloses Gesicht mit der etwas vorgebauten Kinnpartie machte es verständlich, daß er Glück bei Frauen hatte. –
Jafferson wollte durchaus wissen, weshalb Crosterbroux diese Einladungen für heute Abend hatte ergehen lassen. Der Platinkönig meinte ernst: „Geduld …! Es wird sich schon herausstellen, wozu man Sie hier braucht, meine Herren. Sie sollen das Geheimnisvolle eines bestimmten Vorganges durch Ihre Anwesenheit erhöhen helfen …“
Crosterbroux wurde es schwer, seine Erregung zu unterdrücken. Das Schauspielern war ihm noch nie so sauer geworden wie heute … Und als moderner Geschäftsmann verstand er sich doch auch darauf …
Kein Wunder, daß sich der in dem Prachtsaal Versammelten eine starke Spannung bemächtigte. Sie sahen ja, daß etwa in der Mitte zwölf Stühle aufgereiht waren, davor ein einzelner Lehnsessel …
Abermals ein neuer Ankömmling, der Untersuchungsrichter Samsfork … – Gleich darauf … eine tief verschleierte Frau, hinter ihr Inspektor Burne und ein zweiter Polizeibeamter … –
Burne flüsterte Hella zu: „Setzen Sie sich dort in den Sessel …“
Doch Hella schien nicht zu hören, was er sagte. Sie hatte einen der Herren erkannt … Es war Harry Leakwoord, der etwas abseits vor einem Gemälde stand und sich jetzt neugierig halb umgewandt hatte. Auch er wußte nicht, was hier vorgehen sollte. Aber … ihm waren Gang und Haltung des verschleierten Weibes sofort aufgefallen. Er schaute schärfer hin … Die Bewegungen der Frau dort – so unheimlich bekannt kamen sie ihm vor … Und der fußfreie Lodenrock … – und jetzt noch dieses Stutzen der Verschleierten, dieses regungslose Hinstarren nach ihm …
Mit einem Ruck drehte er sich um …
Doch – Hella war bereits neben ihm, vertrat ihm den Weg … Gellend durchschnitt ihre anklagende Stimme den weiten Saal …
„Schurke, endlich – endlich habe ich dich gefunden, endlich wirst du mir Rede und Antwort stehen müssen! Wohin hast du meinen Bruder Gari verschleppt …? Weshalb suchtest du mich damals vor mehr denn einem Jahr zu deinem Weib zu machen – durch einen teuflischen Betrug, der dir auch geglückt wäre, wenn nicht ein unbekannter Warner mir noch im letzten Augenblick die Wahrheit enthüllt hätte …! – Harry Blunk – oder wie du wirklich heißt – Harry Leakwoord – wo ist mein Bruder Gari, – wo hälst du ihn verborgen?“
Die Anwesenden umdrängten jetzt die beiden.
„Was heißt das alles?!“ fragte Burne ärgerlich. „Sie als Untersuchungsgefangene führen hier eine große Szene auf, Miß Dörcksen? Bitte, erklären Sie genauer, was das bedeuten soll …“
„Eine Verrückte,“ sagte Leakwoord gelassen. „Wer ist sie denn eigentlich?“
Crosterbroux hatte den heimlich Verlobten seiner Tochter von Anfang an scharf beobachtet. Ihm war dessen jähes Erbleichen nicht entgangen. Leakwoord hatte sich jedoch so rasch wieder gefaßt, daß der schnell erwachte Argwohn verflog.
Burne, der hier von Seiten Hellas nur irgend eine raffinierte List vermutete, um irgendwie ihre spätere Freilassung einzuleiten, fuhr sie jetzt energisch an:
„Sie haben zu gehorchen …! Nochmals – setzen Sie sich dort in den Sessel!“ – Es wurde ihm schwer, einen so groben Ton anzuschlagen. Aber es mußte sein …! Sonst mißlang vielleicht gar diese klug ersonnene Überrumpelung …
Hella reckte sich höher. Ihre Stimme war ruhig und klar, als sie Burne nun erwiderte:
„Verhaften Sie diesen Mann, Master Burne …! Er ist ein Verbrecher, den die deutsche Polizei sucht. – Bisher habe ich mich geweigert, Näheres über meine Person anzugeben. Jetzt tue ich es, damit dieser Elende hier mein Los teilt – auch ins Gefängnis wandert …! Ich bin die Tochter des Ingenieurs und Chemikers Doktor Harald Dörcksen, zuletzt wohnhaft im Riesengebirge auf der sogenannten Tannenhöh-Einsiedelei. Mein Vater verunglückte in einem Gebirgsbach; seine Leiche wurde nie gefunden. Seit einem Jahr suche ich meinen Bruder Gari, den dieser Mensch da entführt hat! – Master Burne, fragen Sie telegraphisch in der Stadt Hirschberg in Schlesien an … Alles wird von der dortigen Polizei …“
Harry Leakwoord fiel ihr hier ins Wort: „Miß – eine Zwischenbemerkung … – Ich kenne Sie nicht. Ich bin bereit, das jederzeit zu beschwören. Es kann sich bei Ihnen nur um eine augenblickliche Geistesstörung handeln. Der Ingenieur Dörcksen war der beste Freund meines Vaters. Ich bin mit seiner Tochter sehr häufig zusammen gewesen. – Sie sind Hella Dörcksen jedenfalls nicht.“
Crosterbroux mischte sich ein. „Bester Burne, ich erinnere nur an damals, als dieses Mädchen sich mir gegenüber im Jagdlager Jaffersons als Agentin des Platinsyndikats ausgab und nachher entfloh. Ich stehe für Master Leakwoord ein. Damit die Herren es wissen, er ist der Verlobte meiner Tochter …!“
Burne nahm Hella jetzt rücksichtslos bei der Hand, zerrte sie halb mit sich fort, sagte ebenso rücksichtslos: „Sie schweigen jetzt – verstanden! Stuart Burne läßt mit sich nicht scherzen …!“
Hella gab ihre Sache verloren. Ein letzter Blick traf Leakwoord – ein Blick, der ausdrückte: Wir sehen uns wieder …!
Dann saß sie auf dem Sessel … Zwei Schritt hinter ihr standen die Stühle für die Herren …
Stille im dem strahlend erleuchteten Saal. Jene Stille, die die Nerven mehr erregt als der tosenste Lärm; denn der Geist arbeitete … Was würde sich ereignen – – was – was wohl …?
Die wenigsten der Anwesenden wußten ja, worum es sich hier handelte. – Crosterbroux betupfte sich die Stirn mit dem Taschentuch. Die Entscheidung nahte … Und – nach der Entscheidung noch der Kampf mit Burne, der belogen, getäuscht werden mußte … –
Hinter der Stuhlreihe hantierte Burne mit einem Kinoapparat. Nun ein Wink von ihm nach einem der Diener hin, der neben dem elektrischen Schalter am Haupteingang stand.
Die Kristallkrone, die Seitenlampen erloschen …
Tiefste Dunkelheit … – Dann urplötzlich an der weißen Saalwand ein heller Kreis; dann das leise Klappern des abrollenden Films …
Schneeberge tauchten auf … eisstarrende, im Sonnenlicht glitzernde Berggipfel – zwei, – und zwischen ihnen ziehendes Gewölk, langsam davonsegelnd; nun abermals zarte Wolken … Und über ihnen, allmählich schärfer werdend, ein Thronsessel, darauf ein Weib … die Wolkengöttin … –
Bevor die Zuschauer noch Einzelheiten dieses wunderbaren Bildes richtig erfaßt hatten, erlosch das Gemälde an der Wand …
Wieder Dunkelheit …
Burne rief: „Der elektrische Strom muß unterbrochen worden sein. Die Lampe des Apparates versagt. Die Saalbeleuchtung einschalten – sofort!“
Das Dunkel blieb … – Wieder brüllte Burne dem Diener denselben Befehl zu … Seine Taschenlampe blitzte auf; ihr dünner Strahl fand gerade noch zwei Gestalten, die aus der Saaltür schlüpften …
„Sie flieht! Ihr nach …!“ kreischte der kleine Inspektor, raste vorwärts, stolperte über den Körper des Dieners, den ein Schlag mit einem Sandsack niedergestreckt hatte …
Burne sprang hoch, eilte weiter … eilte der großen Treppe zu … Dicht hinter ihm als Eifrigster Harry Leakwoord … – Unten stand die breite Eingangstür weit offen … Burne sah im Licht der Abenddämmerung ein Auto halten, in das gerade die Verschleierte hineingezerrt wurde …
Der kleine Inspektor riß Hella zurück … Da fuhr auch schon der Kraftwagen an … verschwand …
Leakwoord hatte Hella gleichfalls gepackt. Hinauf gings wieder in den Saal; die Herren folgten. Crosterbroux als letzter. Und – – Thomas Crosterbroux lächelte … „Tadellos geglückt – besser als ich dachte …!“
Oben im dem jetzt wieder strahlend hellen Prunksaal rief Burne giftig der Verschleierten zu:
„Miß Dörcksen, – Ihre Freunde haben nicht mit Stuart Burnes flinken Beinen gerechnet …! Nun ein zweites Mal sollen Sie …“
Die Verschleierte schluchzte laut auf …
„Oh – – ich bin … ja … Ellen Crosterbroux …!“
Dann flog sie ihrem Vater an die Brust …
Burne prallte zurück … – Ellen hatte den Schleier hochgeschlagen …
Es war wirklich die Tochter des Platinkönigs. –
Dann begann Ellen – und wie gut sie wieder zu schluchzen wußte – zu erzählen … Daß sie von drei Indern gefangen genommen worden sei, als sie sich von Patrik und dem Radschputen für kurze Zeit getrennt hatte, um einen Antilopenbock zu schießen … Daß man sie zuletzt in einer kleinen Felsgrotte eingesperrt gehalten hätte … Daß sie heute Abend ein Lodenkostüm habe anziehen und sich verschleiern müssen … Dann hätte man sie in ein Auto getragen … Und plötzlich wäre ihr das schwere Tuch vom Kopf gezogen worden; da sei sie gewahr geworden, daß sie vor dem Portal des väterlichen Hauses hielten … Man habe sie zum Aussteigen gezwungen, aber festgehalten … Dann sei eine verschleierte Frau aus der Tür des Palastes nach einem anderen Auto gestürzt – eine Frau und ein Inder, und dann habe Master Burne sie den Händen der drei Männer glücklich entrissen …
„Master Burne – wie soll ich Ihnen nur danken!“ fügte Ellen hinzu und lächelte ihn an. „Sie sind mein Retter …! Nie vergesse ich …“
„Ich vergesse auch nicht!“ fiel ihr der kleine Inspektor ingrimmig ins Wort. „Nämlich das nicht, daß es Hella Dörcksens Freunden wirklich gelungen ist, Stuart Burne hereinzulegen …! – Master Crosterbroux, wir haben unsere Vorbereitungen für diesen Abend doch nicht geheim genug gehalten …!“
„Leider nicht – leider! Ich begreife einfach nicht, wie etwas derartiges …“
„Oh – Sie sehen eben, daß diese Verschwörer, diese Anbeter der Wolkenkönigin, bereits mächtiger sind, als selbst ich ahnte …!“ –
Thomas Crosterbroux atmete auf. Die Gefahr war vorüber. Stuart Burne hatte keinerlei Verdacht geschöpft …
Hella lehnte in den Polstern des Kraftwagens …
„Frei – frei …!“ jubelte es in ihr. Befreit auf eine Weise, die sie selbst kaum noch richtig durchschaute …
„Folgen Sie mir – im Namen Aspasias, der Wolkenkönigin …“
Willenlos hatte sie sich leise erhoben … willenlos hastete sie die Treppe hinab …
Und jetzt … Frei – frei …!
Der Inder neben Hella entfernte den falschen, langen Bart. Cheffri Ragindos Gesicht wars jetzt …
„Miß,“ sagte er leise, „auch den Radscha werden wir dem Stuart Burne entführen …!“
„Wer – wer bist du,“ fragte Hella und tastete nach der Hand des mageren Mannes.
„Der dreimal Gewesene, Miß … Das Haupt der Scharmagri, derer, die starben und nicht mehr zu den Lebenden rechnen, da die Götter ihre Seele verschmähten.“
*
In Zimmer des Untersuchungsrichters saßen am folgenden Vormittag Stuart Burne und Master Austin Samsfork; vor ihnen stand Mahadur Mirat, der Radscha von Gohdwura.
Der kleine Inspektor hielt ihm den sechszackigen Elfenbeinstern hin, den man bei ihm gefunden hatte.
„Radscha Mahadur, dies ist das Erkennungszeichen der Verschwörer,“ sagte Burne eindringlich. „Zwei gleiche Sterne nahm ich dem Professor Herbst und dem Reverend Dixon ab … – Radscha, Sie werden den Rest Ihres Lebens hinter Zuchthausmauern zubringen, wenn Sie nicht endlich …“
Da wurde die Tür aufgerissen. Cheffri Ragindo trat hastig ein …
„Sahib Burne, eine sehr wichtige Meldung!“
Er streifte den Radscha, drückte ihm blitzschnell einen zusammengerollten Zettel in die Hand.
Burne winkte den dreimal Gewesenen in den Flur hinaus.
„Sahib,“ flüsterte Cheffri, „– endlich Nachricht über die drei Entflohenen … Ein Gewesener hat sie gestern im nahen Dorf Mirakrima gesehen … Ich habe sofort zehn von uns hingeschickt … – Sie hatten ein Auto, die drei, und vielleicht fangen wir sie nun …“
Stuart Burne begann zu hofften … Wenigstens eine Spur wars …! – Er mahnte Cheffri, alles zu tun, um der Flüchtlinge habhaft zu werden …
Der Radscha war wieder allein in seiner Zelle; stand am Fenster; entrollte den Zettel. Darin lag ein schwarzes Kügelchen …! –
Und auf dem Zettel stand:
„Nimms – stirb – werde frei und lebe! Im Namen der Wolkenkönigin. – Ein Freund.“ – –
Am Morgen fand der Aufseher den Gefangenen leblos auf dem Bett liegend. Auf den Tisch aber hatte der Radscha mit einem Stück Mörtel undeutlich geschrieben:
„Ich ziehe den Tod dem Zuchthaus vor. Meine Leiche ist den Priestern des Großen Tempels zur Feuerbestattung zu übergeben. Mahadur Mirat.“
Burne traf dieser zweite Schlag, diese Selbstentleibung des Radschas, noch vernichtender als Hellas Flucht. Der Fürst hatte Gift genommen, wie man schon an dem blauschwarz verfärbten Gesicht sah. Der Gefängnisarzt konnte nur den Tod bestätigen.
Die Bekenner Brahmas lassen sich verbrennen und ihre Asche wenn irgend möglich in den heiligen Ganges streuen.
Der Verbrennungsort der Hindu in Agra liegt am Ufer des Flusses in einem herrlichen Zypressenhain. Zwei Tage nach Mahadur Mirats Tod war der hohe Scheiterhaufen aus Sandelholz und anderen wohlriechenden Holzarten fertig.
Cheffri Ragindo hatte inzwischen mit den Priestern des Großen Tempels insgeheim verhandelt, hatte alles erreicht, was er wollte.
Der Scheiterhaufen war an einer Stelle des Haines errichtet worden, wo einst ein kleines Heiligtum gestanden hatte. Gerade über einer Steinplatte erhob er sich, ein mächtiger, viereckiger Holzstoß, reich mit grünen Zweigen und Blumen geschmückt. –
Die Strahlen der eben erst erschienenen Sonne huschten durch die Baumwipfel … In feierlichem Zug wurde des Fürsten Leiche zum Hain getragen … Trotzdem hatten sich nur wenige Neugierige eingefunden, darunter auch Stuart Burne und der Untersuchungsrichter.
„Master Samsfork, mein Mißtrauen ist stets wach,“ flüsterte Burne. „Lassen Sie die Decke entfernen, damit wir sehen, obs auch der Radscha ist, den man einäschern wird.“
Die Bahre senkte sich von den Schultern der Träger zur Erde. Man zog die Decke weg … – Es war Mahadur Mirat … Und der kleine Inspektor war vorläufig beruhigt.
Leitern lehnte man an den Scheiterhaufen; hob den Toten hinauf, der nun unter einem Meer von Blumen verborgen war … Fackeln lohten auf, wurden zwischen die Hölzer geschoben; ihre Glut fraß langsam weiter … Dicker Qualm verhüllte alles …
Stuart Burne umkreiste den Scheiterhaufen, bis dieser ein einziges Flammenmeer bildete. Da erst wußte der Inspektor, daß hier nicht etwa ein freches Gaukelspiel getrieben wurde … – –
Die Steinplatte, über der das Viereck der sorgfältig geschichteten Hölzer sich hochreckte, hatte sich längst nach unten aufgetan; ein Mann war gewandt, umweht von Rauch, hochgeklettert, hatte den Radscha verschwinden lassen und den Körper eines gestern verstorbenen armen Hindu dann hinaufgeschleppt – alles im Innern des Scheiterhaufens, der nach desselben Mannes Angaben entstanden war.
Cheffri, der dreimal Gewesen, flößte dem Fürsten in dem Gewölbe unter der Steinplatte einen besonderen Trank ein … – Zwei Stunden drauf war der Tote lebendig. Und als die Nacht den Hain deckte, entstiegen der Unterwelt zwei Männer, die man bereits auf der Straße mit einem Wagen erwartete … – –
Hella Dörcksen harrte in derselben kleinen Höhle, die auch Ellen Crosterbroux beherbergt hatte, auf Mahadur Mirat.
Und er kam; gestützt auf Cheffri Ragindo trat er ein … Sie eilte ihm entgegen … Beide Hände streckte sie ihm hin …
Hand in Hand standen sie eine Weile wortlos …
In der Geheimtür erschienen drei „Farbige“: Dixon, Herbst und Odysseus Nemo, der Namenlosen.
Hellas Blick musterte die drei … Dann machte der Namenlose einen Schritt auf das blonde Mädchen zu, warf sich zur Erde, legte die Stirn auf die flachen Hände. So verharrte er Sekunden; hob nun den Kopf, sprach feierlich:
„Hella Dörcksen, leibhaftige Tochter der Wolkenkönigin, ich huldige dir – ich, ein Bewohner des Landes der Seligen, in dem deine Mutter als Herrscherin und Göttin gebietet … Gari Dingra heiße ich; ein Ausgestoßener bin ich, – der, der als geheimnisvoller Beschützer über dir wachte … –
Wisse denn, dein Vater lebt! Ich selbst beobachtete, daß er nur scheinbar im Felsenbach des Riesengebirges ertrank … Wo er allerdings geblieben, weiß ich nicht … Wir werden ihn finden, denn – die Sehnsucht wird ihn hintreiben nach den Schneewüsten und Eisriesen des Himalaya, in denen sein Weib wohnt … Auch wir werden dorthin eilen, werden uns Zutritt verschaffen zu dem unbekannten, warmen Tal mit ewigem Frühling inmitten des Eishauches der Himalayahöhen …“
Hella neigte sich zu Gari Dingra hinab.
„Freund, Gefährte meines Vaters, steh auf …! – Ich danke dir …! Du hast mehr als einmal deine schützende Hand über mir gehalten … – Verlange jetzt jedoch nicht, daß ich Agra verlassen soll. Harry Leakwoord weilt hier … Und nur er kann uns dorthin führen, wo er meinen Bruder verborgen hält …“
Der Namenlose hatte sich erhoben. „Tochter Aspasias, – es sei! Suchen wir deinen Bruder!“
Hella starrte wie entrückt in eine endlose Ferne. Und halb unbewußt sagte sie leise:
„In den Höhlen unter dem Heiligen See hatte ich eine seltsame Vision … Ich sah meiner Mutter Wolkenthron, und neben ihr standen mein Vater und Gari …“
Eine Weile lautlose Stille.
Dann Cheffris Stimme: „Herrin, der Bund der Gewesenen reicht bis hin zu den Gestaden anderer Länder, ferner Inseln. – Einer von uns, der mühsam als Perlenfischer sein Brot verdient, teilte mir vor einem Monde mit, daß er merkwürdige Dinge auf einem Eiland der brandungsumrauschten Lakkadiven beobachtet habe … Vielleicht – – vielleicht ist es dein Vater, der dort in der Verborgenheit haust und der in dunklen Nächten als riesiges Ungeheuer das Inselchen in den Lüften umkreist …“
Er sprach weiter … Und als er geendet, sagte Hella Dörcksen mit glücklichen Augen:
„Auch ich glaube jetzt, daß der Einsame mein Vater ist … Ihn werden wir finden! Und vorher wird Harry Leakwoord mir den Bruder herausgeben müssen …“
Reverend Dixon nahm den Elfenbeinstern vom Hals, hielt ihn hoch, gelobte:
„Tochter Aspasias, wir helfen dir! Wir sind deine Diener, deine Freunde!“
Und es war, als wüchse das Bild der Göttin auf dem Elfenbeinbilde immer mehr, bis es die ganze Höhle erfüllte, bis diese verschwand und an ihrer Stelle nur noch zartes Gewölk lagerte, auf dem der Thronsessel der Wolkenkönigin stand … Und die neue Gottheit streckte segnend die Hand aus über die, die der Welt den wahren Frieden bringen wollten … –
In derselben Minute sagte Stuart Burne zu Master Austin Samsfork, dem Untersuchungsrichter:
„Ich bin ein Besiegter … Aber – so war ich Stuart Burne heiße, dieser Crosterbroux hat die Befreiung Hella Dörcksens unterstützt! Er … wird mich kennen lernen …!“