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Drittes Buch: Auf den Lakkadiven

Drittes Buch

Auf den Lakkadiven

 

Erster Teil

Die Flucht aus Agra

 

1. Kapitel

Thomas Crosterbroux’ Gäste verabschiedeten sich. Sie fühlten, daß sie jetzt hier überflüssig waren, wo soeben des Platinkönigs einziges Kind so unerwartet in das väterliche Haus zurückgekehrt war.

Fast zwei Wochen hatte der reichste Mann Agras, einer der schönsten und saubersten Städte des britisch-indischen Kaiserreiches, mit allen erdenklichen Mitteln nach seiner verschwundenen Tochter suchen lassen. Nun war sie ganz plötzlich wieder aufgetaucht, unter Umständen, für die die Bezeichnung romantisch oder abenteuerlich noch recht bescheiden genannt werden mußte.

Drei Personen blieben in dem strahlend erleuchteten Marmorfestsaal des Crosterbrouxschen Palastes zurück: der Platinkönig, seine kleine, verwöhnte Wildkatze Ellen und Harry Leakwoord, deren Verlobter.

Die atembeklemmende Erregung der letzten Viertelstunde zitterte in diesen drei Menschen noch immer nervenaufpeitschend nach. Zu frisch noch war die Erinnerung an die ungewöhnlichen sich überstürzenden Szenen, die mit der Flucht des seltsamen Weibes verknüpft gewesen.

Ellen Crosterbroux saß in demselben Lehnsessel, den vorhin jene Hella Dörcksen eingenommen hatte, die dann auf eine so kühne, raffinierte Art durch geheimnisvolle Helfer dem sie überwachenden Detektivinspektor Stuart Burne entführt worden war.

Dicht vor Ellen stand der schlanke, sehnige Leakwoord, hielt ihre Hände in den seinen und suchte nach Worten, die seiner Freude über das Wiedersehen mit der Geliebten Ausdruck geben sollten.

Ellen war nach all den Anstrengungen zum Sterben matt. Sie hörte kaum hin auf das, was Harry wie ein guter Schauspieler sprach … Sie hatte den, der seit zwei Jahren ihr heimlich Verlobter war, seit Monaten nicht gesehen. Und – sie merkte jetzt trotz all ihrer geistigen und körperlichen Abspannung das Eine nur zu deutlich, daß sie keine Freude empfand über dieses Zusammentreffen, – auch darüber nicht, daß ihr Vater nun endlich von diesem Verlöbnis erfahren und seine Einwilligung zu dieser Verbindung gegeben hatte, die seinen ehrgeizigen Plänen sonst kaum genügt hätte …

Nein – sie hörte auf das Wortgeplätscher des Mannes, der sie zu lieben vorgab, ebensowenig hin wie sie seine zärtlichen Händedrücke erwiderte … Sie hatte nur einen Wunsch, mit ihrem Vater allein zu sein, damit sie sich zwanglos aussprechen könnten … –

Die Ringkämpfergestalt des Platinkönigs lehnte an einem der Saalfenster; und dieses klugen, menschenkundigen Geschäftsmannes kühle Augen beobachteten kritisch die kleine Gruppe dort vor ihm: Sein Kind und den, den sie zum Lebensgefährten erwählte …

Er sah das Matte, Gleichgültige in Ellens Zügen; er sah, daß hier von einer großen Leidenschaft kaum die Rede sein könne … Mehr noch, er fühlte geradezu, daß Ellen jetzt die Gegenwart Harrys nur peinvoll war.

Langsam schritt er auf die beiden zu, blieb stehen.

„Lieber Leakwoord,“ sagte er, und legte dem zukünftigen Schwiegersohn die Hand schwer auf die Schulter, „ich denke, wir gönnen dem Kind jetzt erst einmal ein paar Tage Ruhe. Vergessen Sie nicht, daß Ellen eine ganze Woche gefangen gehalten wurde und daß selbst die widerstandsfähigste Natur einem solchen Abenteuer nicht gewachsen ist …“

Ellen hob müde den Kopf, nickte dem Vater schwach zu.

„Du hast recht, Pa … Schlafen möchte ich – tagelang, – und wenn ich aufwache, möchte ich an nichts von alledem mehr erinnert sein …“

Ihr Blick mied Leakwoords Gesicht. Ihr Kopf sank wieder tiefer …

Harry Leakwoord ahnte, daß sie ihm entglitt, daß er hier sein Ziel nie erreichen würde. – Nie …?! – Oh – das blieb wohl doch abzuwarten …! Ellen mußte sein werden, – Ellen, Thomas Crosterbroux’ Einzige, die Erbin von einer Milliarde mindestens … – So schützte er den Platinkönig, den Generaldirektor des Platinsyndikats, zum wenigsten ein.

„Klug sein …! Hier hast du es mit einer anderen Art Weib zu tun als damals in Deutschland, als du jene Hella Dörcksen … – Weg mit den Gedanken …!“

Und er beugte sich tief über Ellens Hand, küßte ihr die Fingerspitzen, sagte zärtlich:

„Darling, ich verabschiede mich … Ich werde mich übermorgen persönlich nach deinem Befinden erkundigen kommen und hoffe, daß du dann deine frühere Munterkeit wieder erlangt hast.“

Crosterbroux wollte nach einem Diener klingeln, der Leakwoord hinausgeleiten sollte.

„Danke, Master Crosterbroux … Ich finde mich schon allein zurecht …“ meinte Harry jedoch, verbeugte sich nochmals vor Ellen, die ihm kaum merklich zunickte und verließ den Prunksaal … –

Draußen in dem breiten, läuferbelegten Flur ging er immer langsamer weiter. Mit jedem Schritt nahmen seine Gedanken an Klarheit zu. Er, der von seinem Vater frühzeitig gelernt hatte, jeden Vorteil gewissenlos auszunutzen und mehr zu bemerken als gewöhnliche Sterbliche, – er, der einer jener modernen, verwegenen Abenteurer war, die nur einem Ziel zustreben – unermeßlichem Reichtum!, – er mußte notwendig über Fähigkeiten verfügen, die höchstens noch denen eigen sind, die berufsmäßig den Kampf gegen das Verbrechen und somit auch gegen Leute seines Schlages führen.

Hella Dörcksens merkwürdiger Flucht hatte er vorhin beigewohnt; hatte miterlebt, wie selbst der „große“ Burne durch die gleiche Kleidung zweier Frauengestalten sich hatte täuschen lassen; wie dann das blonde Weib, diese wegen politischer Umtriebe Verhaftete, entschlüpfte und der Detektivinspektor die falsche – eben Ellen – erwischte …

Merkwürdig war vieles an dieser Flucht und an diesem gleichzeitigen Wiederauftauchen einer seit Tagen spurlos Verschwundenen. Sollte es hier nicht Zusammenhänge geben, die Thomas Crosterbroux als mitschuldig an Hella Dörcksens Entweichen erscheinen ließen …? Sollte es nicht vielleicht möglich sein, gerade durch diese Zusammenhänge, die er schon noch klären würde, das zu verhüten, was seiner innersten Überzeugung nach sehr bald eintreten würde: Die Aufhebung dieses Verlöbnisses … –?!

Immer langsamer wurden seine Schritte … Plötzlich stand er still, den Kopf tief gesenkt, die Augen halb zugekniffen, das brutale Kinn unwillkürlich noch weiter vorschiebend …

Ein Wagnis, dieser Gedanke …! Ein Spiel, das alles verderben konnte …! – Sekunden des Zögerns …

Dann war er einig mit sich; dann flogen seine Augen mißtrauisch umher; dann eilte er lautlos einer Seitentreppe zu.

Er wußte, im Hochparterre nach dem Park hinaus lagen die Wohnräume von Vater und Tochter dicht beieinander …

 

2. Kapitel

Thomas Crosterbroux legte den Arm um seine Tochter und führte sie hinab in den kleinen Salon neben ihrem Schlafzimmer. Dann klingelte er nach Ellens Lieblingszofe Mandra.

Das braune, zierliche Mädchen trat ein, stürzte sofort der geliebten Gebieterin zu Füßen …

„Herrin, – drei Wochen sah ich dich nicht!“ schluchzte sie unter Freudentränen. „Ich habe täglich zu den Göttern gebetet, sie möchten dich schützen und zurückführen in …“

„Schon gut, Mandra …!“ Ellen, die auf einem Diwan lag, streichelte der vertrauten Dienerin das Gesicht. „Schon gut …! Beruhige dich nur … Die Götter haben dein Gebet ja erhört … – Jetzt bring mich zu Bett, Mandra … Vorher noch ein Bad … Und recht viel Tannenduft und Veilchen hinein, Mandra … – – – Du, Pa, – wenn ich im Bett bin, dann kommst du noch zu mir … Ich werde dann frischer sein … Ich – wir haben genug zu besprechen. Ich könnte doch nicht einschlafen, Pa, bevor ich nicht … – Also du kommst, nicht wahr …?“ –

Ellen Crosterbroux’ Schlafgemach war ein Gedicht von Marmor, Seide, kostbarsten Teppichen und mit Gold ausgelegten wertvollen alten Möbeln.

In üppiger Fülle hing Ellens rotbraunes, nach dem Bad erst halbtrockenes Haar um das pikante Gesichtchen mit dem etwas hochmütig eigenwilligen Zug um den vollippigen Mund.

Ellen hatte die leichte Seidenbettdecke bis zur Brust hochgezogen. Die dünne Verhüllung schmiegte sich jedoch so eng an den jungen, schlanken Körper an, daß dessen Linien deutlich zu verfolgen waren. Sie hatte den nackten, rechten Arm gestützt und den Kopf in die Hand geschmiegt; die linke spielte mit einem Ichneumon, jener Marderart, die zahmer als Hunde und in Indien als bester Schutz gegen Giftschlangen gehalten wird.

Thomas Crosterbroux saß auf einem Elfenbeinschemel neben dem Lager seines Kindes und rauchte eine dicke Importe …

Der Marmorspringbrunnen in der Mitte des Gemachs mit seinen zahllosen dünnen Strahlen kühlte die Hitze angenehm ab. Außerdem schwangen auch noch über Ellens Bett zwei Punkas gleichmäßig hin und her.

„Nein, Kind – keine Ahnung habe ich, wer die Leute sind, die mir die beiden mit Schreibmaschine getippten Briefe schickten, deren Inhalt sich auf deine Befreiung bezog,“ meinte der Platinkönig achselzuckend. „Jedenfalls ist’s eine schlaue Bande …! Denn diesen Trick auszuklügeln, euch beide sozusagen gegeneinander auszutauschen, dich und jene Hella Dörcksen, – das war ein Meisterstück!“

Ellen kraulte dem Ichneumon das Fell, lächelte ihren Vater spitzbübisch an und erwiderte: „Aber ich weiß, wer an diesem Meisterstück mitbeteiligt ist … – Oh – Burne sollte das ahnen …! – Denk dir, Pa, – niemand anders als die drei Leute, auf deren Ergreifung fünftausend Rupien Belohnung ausgesetzt sind, also: Reverend Dixon, Professor Herbst und der Geheimnisvolle, der Odysseus Nemo … – Das ist so, Pa! Sie waren’s, die als Eingeborene verkleidet mich auf dem Pirschgang gefangen nahmen und wegschleppten; sie sah ich dann in jener kleinen Felsgrotte wieder, die mich zuletzt beherbergte …!“

Crosterbroux schüttelte zweifelnd den Kopf. „Kind, du wirst dich getäuscht haben …“

„Ausgeschlossen, Pa! Dixon und Herbst trugen ja um den Hals an einer Seidenschnur den bewußten Elfenbeinstern, das Erkennungszeichen der Anbeter der neuen Gottheit. Zufällig bemerkte ich diese Sterne an ihnen, als sie mich einmal eine Strecke durch einen Sumpf trugen und ihr Gewand sich am Hals beim Bücken bauschte … – Und – auch ihr Gesichtsschnitt, ihr Englisch und ihr ganzes Benehmen verrieten die Europäer.“

Der Platinkönig nickte ernst vor sich hin. „Ja, Kind, – all das wäre dir erspart geblieben, wenn du nicht so auf eigene Faust unserer Jagdexpedition nachgereist wärest und …“

Ellen richtete sich schnell auf, hielt ihm den Mund zu.

„Pa – nicht schelten! Und nie wieder deine Wildkatze wie ein Marzipanpüppchen in den Glasschrank stellen …! – Pa – ich bin ja gar kein Mädel; ich bin nur versehentlich als Weib auf die Welt gekommen …! – Sieh mal, jetzt auch diese … diese Verlobung mit Harry Leakwoord …“

Weder Ellen noch Crosterbroux achteten auf den schweren, golddurchwirkten Vorhang, der die Türöffnung nach dem kleinen Salon hin bedeckte. Soeben hatte er sich ein wenig bewegt …

„Pa – diese Verlobung war … ein sehr unüberlegter Streich, nichts weiter. Als ich damals vor zwei Jahren in Wannsee bei Berlin in dem Pensionat der Frau Doktor Würz mich so entsetzlich langweilte, als ich jeden Tag nahe daran war, regelrecht auszukneifen, da lernte ich Harry Leakwoord im Vorortzug kennen … Die heimlichen Stelldicheins mit ihm machten mir eigentlich nur deshalb Spaß, weil so viel Gefahr dabei war. Die Frau Doktor hätte sich ja sämtliche Haare ausgerauft, wenn’s herausgekommen wäre, daß … – Kurz, Pa, – so richtig verliebt war ich nie in Harry – niemals! Wir kennen uns ja auch kaum … Wir waren stets nur kurze Zeit zusammen. Vier Wochen, nachdem er mir seine Liebe erklärt hatte, holtest du mich unerwartet aus dem Pensionat ab. Seitdem sahen Harry und ich uns nur noch ein einziges Mal vor fünf Monaten in Kalkutta ganz flüchtig, als du dort geschäftlich zu tun und mich mitgenommen hattest. Auch unser Briefwechsel war nicht allzu rege, wenigstens von meiner Seite. Harry schrieb mir ja stets mindestens fünf Seiten, die sich wie aus einem Liebesroman entnommen lasen … Mich ließen diese Schwüre, diese Sehnsuchtsbeteuerungen kalt … – Männer lassen mich überhaupt kalt, Pa, – wirklich! Ich tauge nicht für die Liebe … – übrigens, Pa, – sind während meiner Gefangenschaft Briefe eingetroffen für mich?“

„Gewiß. Auch einer von deiner Intimsten, von Geraldine von Lietzenberg …“

„Ah – von Gerdi … – Pa, den muß ich lesen – sofort lesen … Bitte, hole ihn mir …“

Crosterbroux ging hinüber in sein Arbeitszimmer, wo er die Briefe weggeschlossen hatte. Kurz darauf war er wieder in Ellens Schlafgemach.

„Da, Kind … – Der Brief scheint ja schon mehr ein Buch zu sein …“

Er reichte Ellen einen kleinen Dolch zum Aufschneiden des Umschlages …

„Ah – Bilder – Photographien …!“ rief Crosterbroux’ Einzige erfreut. „Gerdi ist ja Amateurin … – Da, Pa, – schau dir die Bilder an … Ich überfliege den Brief …“ –

Ellen las unter anderem folgendes:

„Ich schrieb dir schon, Liebes, daß bald nach deiner Abreise von hier eine neue Pensionärin eingezogen war. Ob ich dir damals auch den Namen mitteilte, weiß ich nicht. Ich hole dies jetzt aus bestimmten Gründen nach. Die neue heißt Hella Dörcksen …“

Ellens Lippen entschlüpfte ein leiser Schrei.

„Was gibt’s denn, Kind?“ fragte Crosterbroux, der eines der Bilder soeben unter der elektrischen Deckenlampe stehend sehr eingehend betrachtet hatte.

„Hör’ nur zu, Pa,“ meinte Ellen. „Sehr interessant …“

„… Ich bin mit dieser Hella Dörcksen“ – schrieb Geraldine von Lietzenberg – „nur noch zwei Wochen zusammen gewesen. Dann verließ auch ich den „Gewürzladen“ der Frau Doktor. Aber ich blieb mit ein paar Pensionsschwestern immer noch in Verbindung. Und eine von diesen schickte mir nun vor etwa vierzehn Monaten eine selbstgeknipste Aufnahme zu, die ich hier ebenfalls beigefügt habe … Du siehst darauf den kleinen Pavillon an der Seemauer des Pensionats und auf der Treppe jene Hella Dörcksen und einen Herrn, mit dem es folgende ganz besondere Bewandtnis hat. –

Ich habe ja Deinen damaligen Courmacher nie gesehen, wußte zunächst nur, daß er Harry mit Vornamen hieß … Und – – Hella Dörcksens Verehrer heißt nun auch Harry! Mehr noch, vor zwei Monaten fand ich in einer älteren Zeitschrift zufällig die Schilderung einer Ehebetrugskomödie, die in Hirschberg in Schlesien sich abgespielt hat. –

Inzwischen hattest Du mir Deine Verlobung mit Harry Leakwoord gebeichtet. Ich halte es jetzt für meine Pflicht, Dir mitzuteilen, daß der Mann, der Hella Dörcksen vor einem falschen Standesbeamten zu seinem Weib machen wollte, sich Harry Blunk …“

„Der Schurke …!“ rief Crosterbroux jetzt dazwischen. „Dieser … dieser Schuft …!“

„Still, Pa …! Mich läßt das alles kalt … – Also weiter:

„… Harry Blunk nannte; sein wahrer Name aber war oder ist nach den Feststellungen der hiesigen Kriminalpolizei Harry Leakwoord. –

Das Momentbild des Pavillons mit den beiden Personen auf der Treppe macht es Dir leicht, zu vergleichen, ob etwa … – Du verstehst mich! –

Schließlich noch etwas: Derselbe Harry hat nachher Hella Dörcksens einzigen Bruder Gari entführt und verschleppt. Man will wissen, daß Hella nun seit einem Jahr hinter dem Entführer ihres Bruders her ist …“

„Der … der Halunke!“ stieß Crosterbroux wütend hervor. „Hier – hier ist das Bild, Kind … Der Kerl auf der Treppe ist tatsächlich dieser freche Schuft, der es gewagt hat, sich dir abermals zu nähern …“

Ellen riß ihm das Bild förmlich aus der Hand.

„Ja – – er ist’s …!“ – Sie lachte plötzlich wie befreit auf. „Ach, Pa, – nun bin ich ihn los, Gott sei Dank!“

Crosterbroux starrte sie sprachlos an.

„He, he – das muß ich sagen, – viel kannst du für ihn allerdings nicht übrig gehabt haben!“ knurrte er dann. „Aber – recht hast du! Gott sei Dank – er ist für uns erledigt …!“

„Er wäre auch ohne Gerdis Brief erledigt gewesen, Pa,“ erklärte Ellen und blickte auf den Teppich. „Wenn ich heiraten würde, Pa, dann … dann müßte es schon ein Fürst sein …“

„Na nun, – ein Fürst?! Wie kommst du denn darauf?! Ich denke, du bist gar kein Weib …“

„Vielleicht doch … – Ach, Pa, – Gattin eines Radschas zu werden, denke ich mir recht schön und …“

„Himmel – was soll das nun wieder, – Radscha …?“

„Ja, Pa … Radscha! Dein Wildkätzchen hat doch, wie du weißt, Hella Dörcksen und den Fürsten Mahadur Mirat tagelang vor Stuart Burne verborgen gehalten … Und dort in der Einsamkeit unseres Waldlagers … Hm, da … da habe ich mich so ein wenig … verliebt in den armen Radscha, der nun hier in Agra im Gefängnis schmachtet und seiner Verurteilung wegen Teilnahme an jener Verschwörerversammlung in der Maharattenburg im Heiligen See entgegensieht …“

„Gott steh’ mir bei – – verliebt ist das Mädel jetzt ausgerechnet in diesen hellbraunen Volksaufwiegler, der mit Hilfe dieser sogenannten neuen Gottheit …“

Er schwieg plötzlich, fuhr dann leise und gespannt lauschend fort:

„Still … hörtest du nicht auch nebenan …“ – Mit ein paar Sätzen war er an dem Vorhang, riß ihn hoch, eilte in den Salon, schaltete hier schnell das Licht ein …

Er fand nichts Verdächtiges. Und mit den Worten: „Der eine Fensterflügel wird vom Wind bewegt worden sein,“ beruhigte er sich und Ellen …

 

3. Kapitel

Als er diese Worte sprach, schlich eine Gestalt lautlos durch den Park, hielt sich stets in den engsten Gängen im Schatten der Bäume, schwang sich dann über die Mauer und schritt nun die Villenstraße entlang dem Mittelpunkt des Europäerviertels von Agra zu, wo auch das moderne Hotel „Imperial“ mit seiner Prachtfront inmitten wundervoller Gartenanlagen sich erhob.

Der nächtliche Wanderer war Harry Leakwoord.

In seinem Hotelzimmer warf er sich in den Korbsessel; rauchte im Dunkeln eine Zigarette nach der anderen; überlegte, wie er sich für Ellen Crosterbroux neue Fesseln schmieden könnte; klügelte zwei Schreiben aus, die er dem Platinkönig ohne Unterschrift zusenden wollte; lächelte befriedigt über seine eigene Erfindungsgabe. – Oh – einen Harry Leakwoord wurde man nicht so leicht los …!

Am Morgen erhielt Thomas Crosterbroux einen mit Schreibmaschine geschriebenen Brief:

„Wir, die Hella Dörcksen befreit haben, verdanken den Plan, die beiden vermummten Frauen gegeneinander auszutauschen, dem Verlobten Ihrer Tochter. Ihn und uns binden im übrigen gegenseitige Eide zu voller Verschwiegenheit. Gleichzeitig warnen wir Sie vor einem Mann, der bereits mehrfach seine Ähnlichkeit mit Harry Leakwoord zu Betrügereien ausgenutzt hat und der seit vorgestern verkleidet in Agra weilt. Wir sind mächtig genug, Sie zu schützen, raten aber doch zur Vorsicht.“

Crosterbroux gab Ellen den Brief. „Kind, – was nun? Dieses Schreiben gibt zu denken. Vielleicht ist’s Leakwoords hier erwähnter Doppelgänger gewesen, der die Dörcksen damals in Hirschberg …“

„Pa, das ist alles sehr gleichgültig – sehr!“ unterbrach seine Tochter ihn. „Ich löse dieses Verlöbnis unter allen Umständen. Am besten ist, wir verreisen in aller Stille …“

„Nicht schlecht! – Nur – wir dürfen nichts übereilen! Wenn Burne auch nur den geringsten Verdacht gegen uns schöpft, sind wir verloren … Das Zuchthaus droht mir wegen Beihilfe zur Befreiung einer politischen Gefangenen …“

In Crosterbroux’ wulstigem Gesicht war ein Ausdruck von versteckter Angst zu bemerken … – –

Leakwoord schickte in den nächsten zwei Tagen Rosen und innige Begleitzeilen an Ellen. Ihre Antworten waren kurz und kühl, wenn auch nicht gerade ablehnend. Sie schrieb, es gehe ihr etwas besser; sie müsse sich noch einige Zeit schonen, der Arzt rate zu einer Luftveränderung … –

Agra erlebte die zweite Riesensensation; erst die Flucht Hella Dörcksens; nun – hatte der Radscha Mahadur Mirat sich im Gefängnis vergiftet, und seine Leiche war in aller Stille nach Hinduart verbrannt worden.

Stuart Burne, als buckliger Hindu verkleidet, durchstreifte nach der Einäscherung des Toten das Inderviertel Agras, lauschte, horchte, beobachtete, gesellte sich den überall umherstehenden Gruppen aufgeregt durcheinander sprechender Farbiger zu, hörte, wie immer wieder die Namen Hella Dörcksen, Mahadur Mirat und die Bezeichnung Göttin über den Wolken in einem Atem über die Lippen dieser braunen Fanatiker kamen, sah in den schwarzen Augen stets dasselbe unsichere Hoffen auf irgend eine große Wandlung, die die neue Gottheit vielleicht hervorrufen würde …

Burne fühlte seine Ohnmacht. Er erkannte, daß die Dinge ihren Lauf nahmen; er merkte die ersten Wellen, die der kommende Sturm hochwarf. Vielleicht vergingen noch Monate, bevor der Orkan losbrach, bevor die Flut brauner Leiber der Millionenvölker Indiens hochbrandete …, – Monate …! Und dann …?! Was dann …?!

Ihm graute vor diesem dann … Und aus der Sorge und Angst um den Bestand des Indischen Kaiserreiches wuchs eine stille Feindseligkeit gegen den Platinkönig hervor, aus dessen Palast Hella Dörcksen entwichen. Dieses Gefühl verstärkte sich zu rachsüchtigem Haß. Er, Stuart Burne, hatte eine Schlappe erlitten. Und dieser Crosterbroux mußte in diese Dinge eingeweiht gewesen sein … mußte! Ohne dessen Hilfe wäre die Befreiung des blonden Weibes unmöglich gewesen …! –

Der kleine Inspektor dachte weiter – dachte an Harry Leakwoord … Auch den hielt er für mitschuldig. Nur – Beweise mußte er haben – Beweise! Aber – woher sie nehmen? – Er lächelte drohend … Stuart Burne fand stets, was er suchte … stets!

Seine in sich gekehrten Blicke wanderten zerstreut aufwärts, wo gerade hoch in der Luft eines der riesigen Passagierflugzeuge dahinzog, das dem Verkehr mit Bombay diente. Dieser Flugdienst, seit einem Jahr eingerichtet, warf den Unternehmern riesigen Nutzen ab. Eine Absturzgefahr für die Riesenmaschinen, die zwanzig Fahrgäste außer den Monteuren trugen, bestand kaum mehr. Nachdem der Erfindungsgeist eines Deutschen die selbsttätige Balanziervorrichtung für Flugzeuge derart vervollkommnet hatte, daß Unfälle in der Luft jetzt nicht häufiger als bei Eisenbahnen waren, wurde dieses neue Verkehrsmittel sehr viel in Anspruch genommen.

Burne war stehen geblieben. Er freute sich, wie elegant die Riesenmaschine drüben auf dem Platz in ruhigem Gleitflug landete, wie sie hinter dem die Aussicht dorthin sperrenden Baumwipfeln verschwand wie ein Vogel, der noch vor Abend sein Nest aufsucht. –

Er liebte die moderne Zeit mit ihren modernen Erfindungen, der berühmte Inspektor … Er war ein echtes Kind dieser Zeit. Für seinen rastlosen Geist wurde sogar viel zu wenig und viel zu langsam erfunden … –

Er wandte sich nun dem Polizeigebäude zu, wo er sich wieder in den kleinen, unscheinbaren Europäer zurückverwandeln wollte.

 

4. Kapitel

Crosterbroux und seine Tochter saßen zu derselben Zeit auf der großen Park Terrasse und besprachen das, was jetzt ganz Agra in Atem hielt: Die Einäscherung des jungen Radschas, über dessen Tod Ellen ein paar Tränen geweint hatte – nicht allzu viele. Vielleicht wäre ihr Schmerz stärker zum Ausdruck gekommen, wenn ihr Vater sie jetzt nicht beständig mit seiner Angst vor Stuart Burne gequält hätte. Der Platinkönig war seit Hella Dörcksens Flucht nervös geworden, sah überall Spione, redete Ellen eindringlich zu, Harry Leakwoord gegenüber vorläufig noch unverändert zu bleiben. Er steckte seine Tochter mit dieser Überängstlichkeit förmlich an, und auch jetzt erörterte er wieder die Frage, ob nicht vielleicht Mahadur Mirats Tod die Gesamtlage für sie beide verschlechtert haben könne. –

Ein Diener erschien und meldete Stuart Burne.

Crosterbroux stand auf und ging dem Besucher entgegen.

„Aber bester Burne, wozu diese Förmlichkeiten!“ sagte er etwas zu liebenswürdig für seine sonstige kurzangebundene Art. „Sie sind jetzt doch hier zu Hause … Ellen geht es bereits wieder so gut, daß sie morgen einen Frühritt mit ihrem Verlobten unternehmen will. Auf das Mädel brauchen Sie also keine Rücksicht zu nehmen …“

Burne saß nun in einem Rohrsessel am gleichen Tisch mit Vater und Tochter. Man unterhielt sich über … – natürlich ebenfalls wieder über die Einäscherung des Radscha. Burne erzählte, daß er dabei gewesen wäre.

„Seit Hella Dörcksens Verschwinden bin ich mißtrauisch gegen alles und jeden geworden,“ fügte er hinzu. „Man sagt mir vier Augen nach, vier Ohren und ein Gehirn von doppeltem Durchschnittsgewicht … Ich wünschte, ich besäße all das!“

Der Platinkönig krampfte die Rechte zusammen und drückte die Nägel ins Fleisch … – Was bedeutete diese Bemerkung Burnes von dem Mißtrauen gegen alles und gegen jeden? Hatte der Inspektor etwa Verdacht geschöpft …?!

Crosterbroux konnte es nicht hindern, daß ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn traten.

Wieder eine Unterbrechung, wieder derselbe Diener, jetzt mit silbernem Teller; darauf ein Brief; Anschrift getippt …

Crosterbroux ahnte: Ein neues Schreiben von Hellas Befreiern …! – Ihm wurde noch heißer, noch ungemütlicher in Gesellschaft dieses kleinen, bartlosen Menschen, der Indiens bester Detektiv war.

„Sie gestatten, lieber Burne …,“ meinte er und schnitt den Umschlag auf.

Ellen war klug! Sie suchte den Inspektor durch verschiedene Fragen über die Verbrennung der Leiche des Fürsten zu fesseln. Scheinbar gelang es ihr.

Der Platinkönig las folgendes: „Unsere Verbindungen reichen weit. Burne argwöhnt, daß Harry Leakwoord nicht mit Ihrer Tochter verlobt, sondern lediglich einer unserer Helfershelfer ist. Sie beseitigen am besten jeden derartigen Verdacht durch schleunige Bekanntgabe des Vermählungstages. Befolgen Sie diesen Rat! Sollte eine dringende Gefahr vorliegen, warnen wir Sie rechtzeitig.“

Crosterbroux verfärbte sich, ließ den Brief absichtlich auf den Boden flattern, bückte sich schnell danach … So konnte er seine Bestürzung am besten verbergen.

Auch Burne war eifrig aufgesprungen, um den zusammengefalteten Briefbogen aufzuheben, stolperte dabei über den einen Fuß seines Sessels und … schlug lang hin, riß dabei den Tisch um, der samt den Karaffen mit Eislimonade, den Gläsern, den Aschenschalen und Zigarettenbehältern über ihn hinwegstürzte …

Crosterbroux erwischte den Brief nicht mehr. Burne lag mit dem Leib darauf, rief nun leise aufstöhnend:

„Ich … muß mich innerlich verletzt haben … Ich habe starke Schmerzen … Bitte lassen Sie mich in mein Zimmer tragen …“

Crosterbroux läutete nach den Dienern, wollte dann den auf dem Bauch liegenden Inspektor aufrichten, nachdem er den Tisch entfernt hatte …

Die ganze Szene hatte sich so blitzschnell abgespielt, daß der Platinkönig gar nicht recht zur Besinnung kam.

Burne bat, ihn zunächst nicht anzurühren … „Die Schmerzen sind arg …,“ stöhnte er. Als die Diener erschienen, spielte er die Komödie ebenso glänzend weiter …

In seiner fest geballten Linken hielt er den Brief, auf den er es lediglich abgesehen gehabt hatte.

„Öffnen Sie mir die Faust mit Gewalt,“ meinte er jetzt, als die Diener ihn vorsichtig auf den Rücken legten und ihm Kissen unter den Kopf schoben. „Der linke Arm ist wie gelähmt … Es muß ein Krampf sein, der meine Finger so eng geschlossen hält …“

Crosterbroux versuchte umsonst, die Hand zur Freigabe des Briefes zu zwingen … Nur große Fetzen riß er von dem Papier ab …

„Sie tun mir weh..,“ rief Burne leise. Und so blieb dann der Papierrest in seiner Faust.

Man trug den Inspektor in sein Zimmer im ersten Stock. –

Zehn Minuten darauf erschien Crosterbroux wieder bei Ellen auf der Terrasse, ließ sich erschöpft in den Korbsessel fallen …

„Gott sei Dank, Kind …!“ flüsterte er. „Ich habe auch den Rest des Briefes wieder. Endlich löste sich der Krampf. Burne hat das Schreiben also nicht gelesen …“

Ellen hatte sich weit vorgebeugt. „Pa – ob er uns nicht soeben nur einen Beweis seiner Verschlagenheit gegeben hat?“

„Mag sein … Jedenfalls ist ihm seine Absicht dann nicht geglückt. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen …“

„Auch nicht einen Moment?“

„Vielleicht einen Minute, – nein, nicht mal, – als er mich bat, ihm aus seinem Schlafzimmer seine Nerventropfen zu holen … – Jetzt befindet er sich bereits besser, dieser … dieser … ekelhafte Schnüffler! – Ach, Kind, – all die Aufregungen kommen auf dein Konto …! Da – lies mal, – eine Nachricht habe ich erhalten … – Mir sträuben sich die Haare!“

Ellen überflog den verstümmelten Briefbogen, von dem nur ein paar Worte fehlten …

„Pa, – wir müssen gehorchen,“ raunte sie ihrem verstörten Vater eifrig zu. „Gehorchen – wenn auch nur zum Schein …! Also – laß Einladungen drucken … – In vier Wochen ist die Hochzeit …! – Vier Wochen …! Inzwischen kann sich viel ereignen.“ –

Bei Stuart Burne weilte der Polizeiarzt Doktor Mysterlary, den Crosterbroux telephonisch gerufen hatte.

„Doktor,“ flüsterte Burne, „verordnen Sie mir bis morgen früh Bettruhe und ein harmloses Tränklein dazu. Morgen wird dann Agra die dritte große Sensation erleben, die Verhaftung zweier hochangesehener Einwohner und eines anderen Europäers, der recht viel auf dem Kerbholz zu haben scheint …“

 

5. Kapitel

Ellens und Leakwoords Pferde standen bereit. Der Stallmeister Crosterbroux’, der behäbige Ire Patrick Smith, hielt die Tiere am Zügel.

Aus dem Marmorportal des Palastes traten die Verlobten heraus. Ellen, die im Herrensattel zu reiten gewohnt war, im geteilten Reitrock, darunter seidene Kniehosen und hohe Lackstiefel.

Das Paar ritt dann die Straße nach Nordwesten entlang. – Der Morgen erschien angenehm kühl, denn in der Nacht war ein Gewitter mit starkem Regen herniedergegangen.

Ellen war heute etwas zärtlicher, neckte Leakwoord und erklärte plötzlich, sie habe das lange Verlobtsein satt; sie sei ganz einverstanden damit, wenn man mit dem Vater über die Hochzeit spräche …

Leakwoord spielte jetzt den Überglücklichen, froh Überraschten mit ebenso viel Geschick … –

Der Weg war eine jener Prachtstraßen, die die Engländer in den dichter bevölkerten Teilen Indiens überall angelegt haben. Langsam kletterte der Weg, eingefaßt von grünen Urwaldmauern, höher und höher, senkte sich dann wieder in ein fruchtbares Tal hinab. Die Straße war zunächst noch recht belebt. Dann wurde es einsamer und einsamer ringsum.

Vor den beiden Reitern fuhren zwei leichte, mit Ponys bespannte und mit Früchten beladene Wagen, auf denen je drei Personen saßen. Die Wagen verstanden es, zwischen sich und den Reitern stets dieselbe Entfernung einzuhalten, ohne daß dies dem Brautpaar irgendwie auffiel. –

Stuart Burne hatte bereits gegen sechs Uhr morgens den Palast verlassen und sich nach dem Polizeigebäude begeben. Detektive überbrachten ihm dann die Nachricht, wohin Ellen und Leakwoord sich gewandt hatten. Er ließ ein Auto bereitmachen, nahm noch seinen Agraer Kollegen Tompkins mit und fuhr hinter den beiden drein. Der geschlossene Kraftwagen rollte nun dieselbe Straße entlang.

„Wir müssen sie in aller Stille verhaften,“ meinte Burne nochmals zu Tompkins, indem er sein Fernglas einstellte und den Weg vor ihnen musterte. „Verdammt – die Wagen dort vor den Reitern sind mir unbequem. Na – wir haben ja Zeit … Warten wir, bis die Straße frei ist …“

Der Weg schlängelte sich jetzt durch einige Schluchten in vielfachen Windungen hindurch. Als der Kraftwagen fünf Minuten drauf diese passiert hatte, lag die Straße schnurgerade vor Burne und dem ebenso eifrig Ausschau haltenden Tompkins. Aber … die Reiter waren verschwunden …

Burne fluchte … Dann – er packte des Kollegen Arm. „Tompkins, die Wagen sind noch da … Aber … nur ein einzelner Eingeborener führt die beiden Gefährte … Wo sind die übrigen fünf Leute? Sechs waren’s im ganzen … – – Chauffeur – Höchstgeschwindigkeit …! Bei den Wagen halten!“ brüllte er dem farbigen Lenker zu. –

Das Auto begann zu rasen. Burne spähte nach allen Seiten aus …

Plötzlich öffnete sich das Gebüsch rechts und gab den Ausblick auf eine sandige Ebene frei, auf den Exerzierplatz von Agra … Und – – dort grasten am Rand des Gebüsches zwei gesattelte Pferde …

„Halt!“ kreischte Burne förmlich. „Halt …! Eine Teufelei, Tompkins …! Dort – dort – – sehen Sie … Das Passagierflugzeug … drüben auf dem Exerzierplatz … – Ah – zu spät …! Die Leute sind schon in der Kabine … Es rollt an – es steigt …“

Er riß die Tür auf, sprang hinaus, eilte mit langen Sätzen den beiden Wagen nach, die kaum fünfzig Meter entfernt gemächlich im Schritt dahinschlichen.

Der hintere Wagen war an den vorderen angebunden. Der Kutscher, ein älterer Hindu, schlenderte nebenher.

Burne stellte ihn, fragte ihn aus.

Der Mann blieb ganz ruhig. „Es waren vier fremde Mohammedaner, Sahib, und ein verschleiertes Weib,“ erklärte er. „Sie baten mich, ein Stück mitfahren zu dürfen. Fünf Rupien erhielt ich dafür. Ich habe eine Gärtnerei dort drüben in jenem Dorf. Ich konnte nicht alle Früchte in Agra loswerden, Sahib … Man verdient gern fünf Rupien …“

Der Gärtner schien so harmlos … –

Burne ließ umkehren. Das Auto raste nach dem Flugplatz der Luftverkehrsgesellschaft in Agra. Burne eilte in das Büro. Einer der Beamten konnte ihm genau Bescheid geben, berichtete folgendes: Gestern Abend sei ein Inder mit einem Brief erschienen, dem dreitausend Rupien beigefügt gewesen wären. Ein im Hotel „Imperial“ wohnender Tourist, ein reicher Mohammedaner aus Bombay, habe das Flugzeug für sich und vier Bekannte zu einer Fahrt nach Bombay gemietet, aber verlangt, daß es heute früh auf dem Exerzierplatz bereit stehen müsse, da er dort in der Nähe sich noch schnell ein verkäufliches Gelände ansehen wolle.

Burne ließ sich den Brief zeigen. Dieser war getippt und trug eine unleserliche Unterschrift. Aus ihm war nichts zu ersehen – gar nichts …

Inzwischen waren Burne doch allerlei Bedenken gekommen, ob der Gärtner mit den beiden Wagen wirklich so harmlos gewesen. Abermals glitt das Auto daher dieselbe Straße entlang. – Und der Erfolg – –: in dem Dörfchen, auf das der Gärtner gedeutet hatte, gab es überhaupt keine Gärtnerei. Und die Wagen waren nirgends zu finden …

 

6. Kapitel

Ellen hatte plötzlich ihrem Pferd die Sporen gegeben, als Leakwoord sich mit zärtlichen Ausdrücken und mit Beteuerungen seiner Liebe gar nicht genug tun konnte. Ein Gefühl so heftigen Widerwillens war ganz unvermittelt in ihr gegen diesen Mann aufgestiegen, daß sie fürchtete, ihr Gesichtsausdruck könnte sie verraten.

Leakwoord, ein sehr mäßiger Reiter, hatte Mühe, sie einzuholen. Er sah, daß sie neben den beiden Gemüsewagen hielt, die stehen geblieben waren und dies an einer Stelle, die dicht vor der geraden Talstrecke der Straße lag. Er sah noch mehr. Fünf der Wageninsassen hatten Ellen umringt. Er vermutete irgend eine unverschämte Bettelei, drängte nun sein Pferd dicht neben Ellens Braunen und … prallte vor Schreck derart zurück, daß sein Pferd vorn hochstieg …

Sein Schreck war berechtigt. Zwei der gutgekleideten Farbigen hatten ihre Revolver auf ihn gerichtet …

Und jetzt, ehe er sich’s noch versah, wurde er rücksichtslos aus dem Sattel gezerrt.

„Keinen Widerstand!“ drohte der eine Inder. „Folgen Sie nicht gutwillig, schießen wir Sie sofort nieder …“

Man packte ihn, man bog ihn hintenüber … Eine Messerklinge öffnete ihm die widerstrebenden Zahnreihen; man flößte ihm aus einem Fläschchen eine dunkle Flüssigkeit ein; er spie sie aus, wehrte sich verzweifelt, fühlte plötzlich, wie seine Sinne sich verwirrten, wie alle Kraft von ihm wich, wie er schnell hinweggeführt wurde …

„Miß Crosterbroux,“ sagte jetzt der eine der Männer zu Ellen, „Sie werden mich bereits wiedererkannt haben. Wir hatten Sie schon einmal in unserer Gewalt. Damals sollte uns Ihr Vater helfen, ein anderes Weib zu befreien …“

Ellens Blick suchte unwillkürlich die verschleierte Frau.

„Jetzt aber liegen die Dinge anders,“ fuhr der verkleidete Reverend Dixon fort. „Jetzt wollen wir Sie vor Burne schützen. Seit gestern Abend, nachdem der Polizeiarzt von dem Besuch bei Burne zurückgekehrt war, wird der Palast Ihres Vaters bewacht. Der Inspektor hat Verdacht geschöpft. Er ist heute früh bereits gegen sechs Uhr nach dem Polizeigebäude geeilt. Beamte haben Sie und Leakwoord beobachtet. Aber Ihr Vater ist durch uns gewarnt. – Kommen Sie, Miß! Sie sind jetzt bei uns sicherer als anderswo …“

Ellen gehorchte wie im Traum. In ihrer vergehenden Angst vor Stuart Burne, vor dem Zuchthaus, das vielleicht auch ihr drohte, war sie willenlos …

Hastig ging’s über den Sandboden des Exerzierplatzes dahin. Die beiden Monteure des wartenden Flugzeuges erhielten jeder zweihundert Rupien, damit sie auch die neuen Fahrgäste mitnähmen. Leakwoord, von Professor Herbst und Nemo geführt, machte den Eindruck eines Kranken.

Die Gondelkabine der Riesenmaschine nahm die Flüchtlinge gerade noch zur rechten Zeit auf.

Denn drüben in der Buschlücke hielt jetzt ein Auto auf der Straße.

Die Männer starrten dorthin … Ihre Pulse flogen … Sollte noch in letzter Minute ihr Plan vereitelt werden …?!

Die Räder des Flugzeuges begannen zu rollen, glitten schneller und schneller über den Sand … verließen den Boden … Und schon schwebte die Maschine … –

Leakwoord kam wieder zu sich; seine Gedanken klärten sich; seine Augen vermochten zu unterscheiden, was um ihn herum vorging …

Die bequemen Sessel in der Kabine standen in zwei Reihen. Er saß links; rechts von ihm eine verschleierte Eingeborene, – also eine Mohammedanerin …

Jetzt hob sie den Gesichtsschleier …

„Hella Dörcksen …!“ – Wie ein Angstschrei klang’s. Und Leakwoords Kopf sank kraftlos auf die Brust.

„Ja – Hella Dörcksen, die du zu deinem Weib machen wolltest – durch schändlichen Betrug!“ tönte ihm der blonden Deutschen Stimme ins Ohr. „Der du den Bruder entführtest …! Meinen Bruder Gari! – Wo ist er – wo? Du hältst ihn verborgen … Nenne mir den Ort …! Weigerst du dich, so werden wir dich zwingen, werden deine Zunge lösen. – Führst du uns hin zu ihm, so sollst du frei sein …!“

Der Abenteurer überlegte … Und je länger er nachdachte, desto mehr erkannte er, daß alle seine Pläne jetzt zu scheitern drohten … – alle …! Ellen war für ihn verloren … Und auch das andere, was er beabsichtigt, das noch bald großzügigere Projekt, würde in nichts zerfließen, wenn er Gari Dörcksen ausliefern mußte …

Eine sinnlose Wut packte ihn … „Niemals!“ brüllte er. „Niemals wirst du von mir …“

Weiter kam er nicht. Die Männer wußten, was sie im Fall seiner Weigerung zu tun hatten.

Abermals packten sie ihm; abermals rannen die braunen Tropfen in seinen Mund … Er wurde willenlos, schwach, halb betäubt …

Ellen Crosterbroux saß neben einem Inder mit langem Bart, dessen Gesicht ihr gleich so merkwürdig bekannt erschienen war.

Trotz ihrer verzweifelten Stimmung, trotz der furchtbaren Angst um ihren Vater, der vielleicht nicht rechtzeitig geflohen und Stuart Burne in die Hände geraten war, suchte sie doch immer wieder in ihrer Erinnerung nach einem Ereignis, bei dem sie diesem Inder bereits begegnet sein könnte und das wichtig genug gewesen, um dieses edelgeschnittene Profil nicht zu vergessen …

Der Mann fühlte die prüfenden Blicke, wandte den Kopf, sagte: „Miß Crosterbroux, – ich bin Mahadur Mirat …“

„Radscha … Mahadur … Mirat …“ Ellens Zunge gehorchte kaum. „Sie … Sie … sind also nicht …“

„Nein – nicht tot, nicht eingeäschert, Miß, wie Sie sehen. Ich habe noch eine große Aufgabe zu erfüllen hier auf dieser Erde … Ich durfte nicht lebendig begraben werden hinter Kerkermauern.“ –

Auch die Monteure der Riesenmaschine erlebten bald eine peinliche Überraschung. Die Reisenden zwangen sie, eine andere Richtung einzuschlagen. Am Spätnachmittag ging der ungeheure Vogel unweit des kleinen Hafens Kumpta auf einem Feld nieder.

 

 

Zweiter Teil

Zwischen den Riffen

 

1. Kapitel

Auch in Kumpta hausten die Scharmagri, die „Gewesenen“ vor der Stadt in einem besonderen Viertel; auch hier zeichneten sich ihre Gehöfte durch Sauberkeit und ein gefälliges Äußere vor den übrigen Eingeborenenwohnungen aus.

Sagritala, das Oberhaupt der fünf Scharmagri-Familien in Kumpta, war Kunsttischler. Der ehrwürdige Greis mit den schwermütigen Augen hatte vor einigen Tagen ganz unerwartet Besuch erhalten, einen anderen Gewesenen aus der südlicheren Hafenstadt Kalikut. Sagritalas Gast war ein armer Perlenfischer. Er hatte von dem Obersten des Bundes der Gewesenen aus Agra ein Schreiben und eine größere Geldsumme mitgebracht. Der Brief Cheffri Ragindos aus Agra gab dem Tischler genaue Anweisungen über den schleunigen Ankauf eines seetüchtigen, kleinen Schoners, über die Beschaffung von Proviant, Trinkwasser und anderes. Sagritala erledigte alles in kurzem und begab sich dann am bestimmten Tag mit dem Perlenfischer nach einer Ebene nordöstlich des Städtchens, wo beide abwechselnd und andauernd mit einem Fernglas den Horizont absuchten.

Die Ebene, nur wenig bebaut, größtenteils aber Weideland, lag am Nachmittag einsam und verlassen da. Die Eingeborenen waren von der Feldarbeit wieder in ihre nahen Dörfer zurückgekehrt. –

Sagritala und der Perlenfischer zündeten jetzt ein stark qualmendes Riesenfeuer an, dessen Rauchsäule weithin sich bemerkbar machen mußte. Dann erschien, als die Sonne bereits im Westen in den Fluten des Indischen Ozeans versank, das Passagierflugzeug und landete glatt unweit des Feuers auf einer sandigen Fläche, um die herum Tabakfelder sich hinzogen.

Die beiden Monteure der Riesenmaschine mußten sofort wieder aufsteigen. Sagritala und der Perlenfischer hielten sich abseits, bis das Flugzeug im Abenddunst gen Norden verschwunden war. Sie durften sich vor den Monteuren nicht sehen lassen, um später nicht wegen Unterstützung der Flüchtlinge Ungelegenheiten zu haben.

Nach kurzer Verständigung setzte sich der jetzt aus zehn Personen bestehende Zug in Bewegung und erreichte bei Dunkelwerden eine kleine Bucht an der Meeresküste, wo der Schoner mit seinen nur drei Mann Besatzung bereit lag. Diese drei Leute wurden jetzt fortgeschickt, erhielten aber vorher noch ein reichlich bemessenes Schweigegeld und hatten auch versprochen, die Veräußerung des kleinen Fahrzeuges zu verheimlichen.

Mit Ausnahme Sagritalas schifften sich sofort alle ein. Der vielseitige Odysseus Nemo, in Wahrheit ja ein ehemaliger Bewohner des unbekannten Landes der Wolkengöttin namens Gari Dingra, übernahm den Befehl über den Schoner und fand besonders in dem Radscha und Dixon verständnisvolle Matrosen.

Der günstige Nachtwind blähte die beiden Segel des schlanken Schiffes und führte es in schneller Fahrt nach Südwest davon … – –

Zwei Tage später gegen Morgen …

Seit Mitternacht tobte einer jener Orkane, die die Meeresgegend um die Inselgruppe der der Westküste Vorderindiens vorgelagerten Lakkadiven so überaus gefährlich machen, zumal diese niederen Eilande von ebenso berüchtigten Riffen förmlich eingeschlossen sind.

Der anbrechende Tag hatte kein Abflauen des Sturmes gebracht. Der Schoner trieb nur noch als halbes Wrack mit einem Mast und zerfetzten Segeln inmitten der Wogenmauern, die jeden Augenblick das kleine Fahrzeug unter sich zu begraben drohten.

Düstere Stimmung herrschte unter den Menschen, die sich den trügerischen Planken des kleinen Fahrzeuges in der Hoffnung anvertraut hatten, daß es sie wohlbehalten dorthin bringen würde, wo Hella Dörcksen ihren Vater wiederzufinden hoffte.

Die Stöße der Windsbraut fegten den Gischt immer wieder den vier Menschen ins Gesicht, die, angeseilt an Mast und Reling, um nicht fortgewaschen zu werden, den Elementen auf Deck zu trotzen wagten. Ihre Kleider troffen vor Nässe; ihre tiefliegenden Augen verfolgten in stummer Verzweiflung jeden neu heranrollenden Wellenberg; und Hella Dörcksens aufgelöstes Haar flatterte um ihr bleiches Gesicht wie ein mutwilliger Schleier.

Neben ihr am Vordermast stand der arme Perlenfischer. Er benutzte jetzt eine Atempause des Sturmes, um Hella zuzurufen: „Dort muß es sein – dort jenseits jener haushohen Brandung, wo ich des nachts den seltsamen Flugdrachen das Eiland umkreisen sah und einmal auch das bärtige Gesicht eines Europäers zwischen den Felsen des steilen Granitturmes gewahrte …“

Hella Dörcksen wandte den Kopf … In der Fahrtrichtung des windschnell dahinjagenden Schoners erblickte sie einen förmlichen Wall von schneeweißem Sprühwasser und Schaum; dort brachen die Wogen sich an einer langgestreckten Riffbarriere; dort … mußte der kleine Segler den Untergang finden, – gerade dort, wo zuweilen, wenn die Gischtschleier des Walles etwas zusammensanken, ein dunkles Etwas sich zeigte – etwas wie ein ungeheurer steiler Felsblock mit flacher, glatter Kuppe … –

Hella schaute wie hilfesuchend nach Dixon und Herbst hinüber, die den wracken Schoner so gut es ging zu lenken suchten. Aber die beiden Männer am Steuer mit ihren vom Salzwasser entzündeten, halb geblendeten Augen bemerkten nichts von den trostlosen Blicken des jungen Weibes, für das sie noch mehr gewagt hätten als nur diese Todesfahrt ins Ungewisse.

Das Heulen des Orkans, das Brausen der heranstürmenden Wellenkämme wurde bald übertönt von der ohrenbetäubenden Musik des weißen Walles, dem der Schoner nun unaufhaltsam sich näherte. Zu allem Unheil zog jetzt noch eine schwarze Gewitterwolke von Osten her mit dem Orkan auf; im Nu sperrte sie die wie zum Hohn über dem Wasserchaos hellstrahlende Sonne ab; die Finsternis wurde nachtgleich; Blitzbündel zerrissen die schwarzen Vorhänge nur für Sekunden …

Das Brüllen der Brandung wuchs. Eine Verständigung war selbst aus nächster Nähe nicht mehr möglich. Das Ohr war erfüllt von entsetzlichen Lauten, die wie das gellende Lachen tausender Teufel klangen.

Mahadur Mirat kroch auf allen Vieren nach der Tür der kleinen Deckkajüte. Das Aufbäumen des dem Untergang geweihten Schoners, dieses steile Sichaufrichten, dieses blitzschnelle Hinabschießen in ein Wellental hatte die Insassen der Kajüte längst wie wehrlose Bündel zu Boden geworfen. Lang auf den Planken lagen sie, die Tochter des Platinkönigs, der deutsche Professor Herbst, Gari Dingra, der von dem stürzenden Mast eine schwere Kopfwunde erhalten hatte, und der Abenteurer Harry Leakwoord, – lagen da und klammerten sich in besinnungslosem Grauen aneinander fest …

Der junge Fürst von Gohdwura vermochte kaum die Tür festzuhalten. Eine Woge rollte über das Deck hinweg; ein Schwall Wasser ergoß sich in den kleinen Raum …

Ellen Crosterbroux schrie laut auf; sie glaubte, der Schoner sinke bereits …

Der Radscha brüllte mit aller Lungenkraft:

„Auf Deck alle … – Auf Deck …! Kriechen … Festhalten …!“

Abermals eine Wasserflut, glucksend, gurgelnd … Die Kajüte schwamm … Und einzeln kamen sie nun mit vor Todesgrauen verzerrten Gesichtern an Deck, hinaus in die Gewitternacht … Kamen gerade noch im letzten Augenblick ins Freie …

Ein Stoß erschütterte den Schoner, als hätte dessen Bodenplanken der Hammer eines Riesen getroffen; das Holz splitterte … Der andere Mast ging über Bord …

Noch ein Stoß … Ringsum Gischt, Sprühregen, die gierige Flut … Dann glitt das hoch auf einer Klippe hängende Fahrzeug wie ein Schlitten abwärts, tauchte ein in die mörderische See … Tauchte wieder auf …

Und das Deck war leer … Nur die Stricke, die die vier Angeseilten schnell durchgeschnitten hatten, lagen da wie nasse, braune Schlangen …

 

2. Kapitel

Es war Abend, und der Orkan vorüber … Gegenwind war aufgekommen, beruhigte die empörte See.

Riffumgürtelt stand der einsame, fünfeckige Granitkoloß da, der aus einem flachen Koralleneiland herauswuchs wie der Kopf eines seltsamen Hutes aus der Krempe: steil, glatt, unersteigbar, – wohl sechzig Meter hoch.

Auf dem niederen, etwa zwanzig Meter breiten Uferstreifen nach Norden zu lagen die Reste des Schoners, kaum mehr einem Schiff gleichend. Nur die Kajüte war leidlich unversehrt; das Rohr des kleinen eisernen Kochofens ragte schief aus dem gewölbten Dach hervor. Aber … feiner Rauch entquoll dem engen Schornstein. Und drinnen vor dem Herd hockte Harry Leakwoord matt und mit schmerzenden Gliedern und wartete darauf, daß der Rotwein im Kessel heiß würde.

Wie Eisesschauer ging es durch seinen Körper – immer wieder. Er fühlte, ein schweres Nervenfieber war im Anzug; nur eins konnte noch helfen: Alkohol – viel Alkohol …! – Er kannte sich ja. Schon einmal hatte er eine solche Krisis durchgemacht …

Den heißen, würzig duftenden Wein stürzte er dann hinab wie harmloses Wasser – immer mehr. Immer, wenn der Kessel zu dampfen begann, folgte Glas auf Glas … – Siedehitze trieb ihm jetzt den Schweiß aus allen Poren. Sein Kopf wurde klarer. Wie in wohligem Halbschlaf saß er auf den Bodenplanken der kleinen Kajüte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt …

Ein triumphierendes Kichern kam aus dem höhnisch verzogenen Mund.

„Tot alle – alle – – ertrunken wie die Ratten …! Nur ich lebe – ich! Und warum? Weil ich als letzter auf Deck kroch, weil der erste Stoß mich wieder dort in den Winkel schleuderte … mich betäubte …“ – Er lallte wie ein Trunkener. Und doch war er Herr seiner Sinne; nur die Zunge gehorchte nicht ganz …

Er schlief ein … Seltsame Traumgesichte gebar das von Alkohol überhitzte Hirn …

Hella Dörcksen und er, wandelnd unter den dunklen schwermütigen Tannen des Riesengebirges … Und Hella so vertrauensvoll, so ahnungslos … Und doch so verschwiegen – zu verschwiegen …! Nichts offenbarte sie von den Geheimnissen ihres Vaters – nichts! – Wertvolle Geheimnisse mußten es sein … Jahrelang war ja Harald Dörcksen verschwunden gewesen. Damals nach der mißglückten Ersteigung des Gaurisankar … Plötzlich erschien er wieder dort oben in Nepal am Fuße des „Strahlenden“, – erschien mit zwei Kindern, von denen das eine noch ein Säugling war; und Stangen puren Goldes, dick wie ein Arm, brachte er mit …

… Hella Dörcksen tauchte in der Tür der Kajüte auf … Mit triefenden, zerrissenen Kleidern; Seetang im gelösten Haar; halb taumelnd …

Der Lichtschein aus der halb offenen Tür des Eisenherdes traf sie mit zuckender Röte; schwer lehnte sie sich an den Türrahmen; ihr Blick irrte umher; blieb auf dem Schläfer haften …

Der streckte wie abwehrend den rechten Arm hoch, lallte im Traum … „Weg – weg! Du bist tot! Du – hast hier auf Erden … ausgespielt …!“

Die kühlere Luft strich von der Tür her über sein Gesicht. Der Traum zerflatterte, wurde zur ungewissen Wirklichkeit … –

Leakwoord regte sich, riß die Augen auf, stierte der Erscheinung entgegen. – Er war kein Feigling, dieser Mann …

Er langte nach ein paar Holzstücken, stieß die Ofentür vollends auf, warf das Holz hinein in die ersterbende Glut. Es lohte auf; Lichtgarben schossen in das Dunkel der Kajüte hinein, umspielten die blonde, todmatte Frau an der Tür …!

„Ah, sieh da – wirklich mein Liebchen!“ lachte Leakwoord und erhob sich. „Also hat das Meer dich nicht gemocht, Hella …! – Oder … es hat uns vereinen wollen in dieser Wasserwüste …? Die Hochzeitsnacht sollten wir nachholen, vielleicht …“

Er trat näher, musterte sie von oben bis unten.

„Viel hast du nicht mehr an, blonde Hella … Gott Neptun hat dich wohl näher betrachten wollen … Bist ja auch schön, kleine Feindin … Und … bist ja eigentlich mein Weib, wenn auch … der Standesbeamte damals ein Betrüger war …“

Hella konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten; sank langsam in die Knie …

„Ah!“ höhnte Leakwoord weiter, „nun kommt die Angst; nun kommt das Winseln um Schonung und Erbarmen …“

Hella sank immer mehr zusammen, lag regungslos zu seinen Füßen.

„Hm,“ brummte er, „werde die Hochzeit verschieben müssen, – ist zu schwach, zu … naß … Kein Bräutchen nach meinem Geschmack …!“

Er hob sie auf, trug sie auf das untere der beiden übereinanderstehenden Kastenbetten, deckte sie zu mit den schmutzigen Wolldecken, flößte ihr den Rest des warmen Rotweins ein.

Dann steckte er die Pendellampe an der Decke an, deren Bassin mit Petroleum genügend gefüllt war.

Und abermals suchte er der Bewußtlosen etwas Wein in den Mund zu gießen, massierte den Hals, daß sie schlucken mußte. –

Für einen Augenblick kam sie zu sich … Ihre vor Mattigkeit stumpfen Blicke ruhten auf seinem Verrätergesicht; und mühsam quälte sie die Worte hervor:

„Ellen – Crosterbroux – – draußen – – auf dem Riff …“

Dann umfing bereits wieder tiefe Ohnmacht ihre Sinne.

Leakwoord wiederholte halblaut: „Ellen – Crosterbroux …? – Ellen …?!“ Er ging und zog einen der plumpen Stühle neben den Ofen, setzte sich, starrte in die züngelnden Flammen …

„Ellen?! – Was soll ich hier mit ihr?!“ dachte er. „Sie … ist wertlos geworden … Ihr Vater wird ins Zuchthaus wandern … Mag das Riff sie behalten … Sie wird auch bereits tot sein …“

Er starrte weiter in die Glut; sprang auf mit einem Fluch: „Verdammtes Gewissen …!“ Verließ die Kajüte …

 

3. Kapitel

Auf Deck ein Trümmerhaufen geborstener Planken; nasse Ballen Seetang hingen dazwischen; Riesenquallen, schlüpfrige Meeresbewohner, lagen wie bunte Glasteller herum …

Und über alledem stand die volle Scheibe des Mondes am sternenklaren Firmament … –

Leakwoord wandte den Kopf nach dem Granitfelsen hin, hob den Blick bis zur flachen Spitze …

„Und hier – hier soll Harald Dörcksen hausen?!“ Er lachte leise auf. „Welch unsinnige Idee von meinem blonden Liebchen …! Welch Unsinn überhaupt, einem armseligen Perlenfischer zu glauben, der hier ein Ungeheuer den Felsen umkreisen gesehen haben will …! Und – weshalb sollte dieser Einsiedler gerade der Doktor sein, der große Erfinder …?! Welch törichtes Hoffen von Hella, von meiner zähen Verfolgerin …!“ Wieder das kurze heisere Lachen … „Verfolgerin …! Das Blatt hat sich gewendet, Hella …! Du bist mein …!“

Leakwoord drehte sich langsam dem offenen Meer zu. Dort drüben war die endlose Riffbarriere … Und dort – wahrhaftig! – Dort ragten einzelne Korallenfelsen aus der schwach bewegten Flut hervor …

Er schaute scharf hinüber … Keine hundert Meter waren’s. Und – auf der einen Riffbank sah er etwas Langes, Dunkles, – einen menschlichen Körper …

Ellen Crosterbroux …! Ganz sicher Ellen Crosterbroux …!

Leakwoord zauderte; seine Augen prüften den Weg dorthin. Vom Strand des Eilandes gings, wie eine eng punktierte Linie nach jenem Felsen; fast trockenen Fußes konnte man jetzt hinübergelangen …

Konnte …!

Leakwoords Lippen preßten sich zusammen. Er stampfte mit dem Stiefel auf, zischte fast: „Ich – ich will nicht …! Ich – – habe nichts gesehen …! Bis morgen früh ist die Ebbe vorüber; und das Hochwasser spült das Weib hinweg …“

Er ging zurück in die Kajüte, ging ganz leise, schuldbewußt. – Hella lag da und atmete tief und ruhig. Er beugte sich über sie …

„Sie ist schön … so schön!“ flüsterte er. „Und – wie scharf sich heute das seltsame Mal auf ihrer Stirn abzeichnet, dieser sechszackige Stern …“

Er beugte sich noch tiefer … Seine Arme reckten sich herab; die Gier war über ihn gekommen; er wollte sie an sich reißen …

Sekunden währte der innerer Kampf.

Er bezwang sich. Achselzuckend trat er zurück.

„Ich habe ja Zeit!“ murmelte er. „Mein wird sie doch …!“

Er kniete nieder und hob die Falltür auf, die in den Proviantraum des Schoners hinabführte. Eine kurze Treppe stieg er abwärts, mit dem Bassin der Pendellampe in der Hand …

Wohlgefüllt war der kleine Raum. Hier gab es alles, was man brauchte, um Monate sorgenlos leben zu können. Wild lagen freilich Fässer und Kisten durcheinander. –

Er begann damit Ordnung zu schaffen … Er arbeitete in behaglicher Stimmung. Was fehlte ihm hier? Nichts – nichts …! Sogar … Flitterwochen würde er hier feiern können …! Nur – verdammtes Gewissen! – Aber die Gedanken an Ellen wurde er nicht los, die jetzt dort draußen auf der Riffbank dem Tod entgegendämmerte, falls – sie überhaupt noch lebte …

Und gerade diese Gedanken formten seine Lippen unwillkürlich, zu halblauten Sätzen. –

Hella war erwacht, als Leakwoord die Lampe aus der Pendelvorrichtung herausnahm und dann die Treppe hinabkletterte …

Sie hatte den Oberkörper etwas angehoben, hatte ihrem Todfeind nachgeschaut, wartete nun, lauschte, – hörte ihn mit den Kisten und Fässern rumoren, wußte, daß sie für einige Zeit sicher war …

Sie richtete sich vollends auf, warf die Decken ab, schlich nach der Falltür hin …

Die Glut im Eisenherd war dem Erlöschen nahe. Nur zuweilen zuckten noch ein paar höhere Flämmchen auf … Dann zeichnete sich ihre tief zusammengeduckte Gestalt wie ein dunkles Etwas dicht vor der Falltür ab mit klaren Umrissen … –

„Mag sie sterben …!“ brummte Leakwoord unten und stellte eines der Wasserfässer aufrecht. „Ich kann mir hier doch keinen Harem zulegen …! Habe an einem Schätzchen ganz genug …! Hella genügt, die süße, blonde Hella, die schöne Schlange, die immer hinter mir her war all die Monate … Und jetzt – soll sie mich entschädigen für diese Jagd, bei der ich das Wild war … voll entschädigen … durch ihres Leibes Schönheit …!“ Sein lüsternes Kichern gellte der Lauschenden förmlich in den Ohren … –

Hella kannte die Innenräume des Schoners ganz genau. Die kleine Proviantkammer dort unten hatte nur diesen Ausgang nach der Kajüte; und ihre Wände waren dicke, feste Balken jenes Holzes, das jedes Axthiebes spottet …

Hella kroch um die Öffnung herum, packte die bewegliche, zurückgelehnte Falltür, – – warf sie krachend zu. Zwei starke Eisenriegel, durch Vorlegeschlösser zu verschließen, griffen in die Eisenbügel ein …

Leakwoord war gefangen … –

Hella horchte … – Jetzt seine Stimme – ein heiserer Wutschrei – dann:

„Öffne – sofort! Weib, Du sollst mich kennen lernen, wenn du nicht gehorchst …!“

Sie achtete nicht weiter darauf. Nochmals prüfte sie die Zuverlässigkeit der Riegel … –

Die Mondnacht draußen war noch heller geworden. Dort, wo Ellen Crosterbroux auf den Riffen lag, kreischten ein paar Möven. Gerade diese Riffbank war ihr Nistplatz; in den Spalten des Korallenfelsens nach Süden zu, geschützt vor dem Ansturm der Wogen, ruhten ihre Nester … Jetzt war dort ein Störenfried, der sie verscheuchte; ganz dicht strichen sie über das leblose Menschenweib hin, kreischten wütend, kreischten zwecklos … –

Hella kletterte über die zertrümmerte Bordwand auf das sandige Ufer, tappte weiter bis zu der Riffreihe, tappte jetzt zum zweiten Mal auf den schlüpfrigen Felsen entlang, denn auch sie hatte der gütige Ozean vorhin auf eine der Korallenbauten geworfen und so vor dem Ertrinken gerettet …

Von Fels zu Fels schwang sie sich; oft glitt sie aus, netzte ihre zerfetzten Kleider … Der Nachtwind wühlte in ihrem blonden Haar; der Mond beschien das freigelegte Mal auf ihrer Stirn, den sechszackigen Stern … –

Sie war am Ziel … Sie hob Ellens Kopf ein wenig empor; fühlte nach dem Puls … Er schlug schwach, unregelmäßig … Aber er pochte – und sein Pochen bedeutete Hoffnung … –

Hella versuchte die Besinnungslose in die Arme zu nehmen. Ihre Kräfte genügten nicht. Wie nur konnte sie die schwere Bürde nach dem Wrack schaffen, wie nur …?

Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt … Und diese beiden reglosen Frauengestalten dort auf der Spitze der Korallenbank waren jetzt wie eine phantastische Gruppe, ausgehauen aus seltenem Stein … Bläulichweiß lagerte des Mondes mildes Licht über dem Meer, dem Riff, den Mädchen … Graziös schwebten die großen Vögel in weiten Kreisen und Schleifen über sie hin …

Hella sah die Zeit verrinnen, sah die Wasser des Ozeans höher klettern … Die Ebbe war vorüber. Die Flut kam. Und stieg diese nur um die Hälfte eines Meters höher, dann waren die Riffe verschwunden, die jetzt noch den Weg zum Eiland drüben bildeten.

Hellas Augen suchten die Höhe des ungeheuren Steinblocks, dieses glatten, steilen Würfels … Hier – hier hatte sie den Vater zu finden gehofft; eine innere Stimme hatte ihr zugeflüstert: „Dorthin ist er geflüchtet – dort suche ihn!“ – Damals, als Cheffri Ragindo, das Haupt der Gewesenen, ihr die Mär des Perlenfischers weiterberichtet … Und dieser inneren Stimme war sie blindlings gefolgt …

Sie schaute hinüber nach dem kahlen, steilen Würfel … Nichts … nichts regte sich dort …! – Trügerische Hoffnung …! Allzu trügerisch …! Allzu verderblich …! Kostbare Menschenleben hatte das blinde Vertrauen auf dieses Flüstern ihrer Seele gekostet. Sie alle waren nun tot, jene Männer, die an die neue Gottheit geglaubt hatten, die der Welt eine wahre Glückseligkeit hatte schenken wollen: Dixon, Herbst, Gari Dingra, der Heimatlose, ihr Beschützer, und ebenso der arme Perlenfischer … Und dann auch Mahadur Mirat, ihr Bruder, ihr Freund, ihr Leidensgefährte, – Mahadur Mirat, den sie liebte …! –

Daß es so war, daß dies jenes unsterbliche Empfinden sein mußte, besungen in Tausenden von Liedern, kündete ihr jetzt das eigene Herz mit aller Gewißheit, – jetzt, wo er … für sie gestorben …

Hella fühlte heiße Tränen über ihre Wangen rinnen.

„Tot – tot!“ schluchzte ihre Seele, ihre Sehnsucht …

„Nein – nein – nein …!“ schienen die Möven über ihrem Haupt zu rufen …

Hella ließ die Tränen strömen … Das furchtbare Gefühl gänzlichen Verlassenseins wuchs in ihr bis zu müder, verzweifelter Gleichgültigkeit …

Ihre Rechte tastete nach der tiefen Tasche ihres zerfetzten Lodenrockes – nach dem Tüchlein, das Gesicht zu trocknen …

Tastete und … fühlte das kleine Kästchen mit der winzigen Nickelspritze und den kleinen Röhrchen, das man ihr im Gefängnis in Agra wieder ausgehändigt hatte, damit sie nicht durch das Entbehren des Nervengiftes völlig zusammenbreche …

Leben kam in sie; ihre Bewegungen wurden kurz, bestimmt …

Und die Spitze des kleinen Nickelinstruments tauchte in die weiße Haut ihres linken Unterarmes …

Minuten noch … dann rann es durch ihre Adern wie ein feuriger Strom; dann erstarkte ihre Willenskraft; dann war sie wieder Hella Dörcksen, die über ein Jahr die Fährte dessen verfolgt hatte, der ihren Bruder irgendwo gefangen hielt – irgendwo … –

Jetzt war ihr die menschliche Last nicht so schwer; jetzt nahm sie Ellen in die Arme, begann den gefährlichen Weg zurück über den schlüpfrigen Korallenpfad …

Wollte ihn beginnen … wollte …!

Wie Lots Weib erstarrte sie zur Bildsäule …

Von der Höhe des Granitwürfels war urplötzlich eine gleißende Lichtbahn aufgezuckt, glitt weit über das Meer hin … Ein Scheinwerfer von enormer Leuchtkraft mußte es sein …

Und gleich darauf hatte ein pfeifendes Surren eingesetzt, – das Geräusch von Propellern, die die Luft pfeilschnell durchschneiden … Und nun glitt über den Rand des Riesenfelsens ein Etwas hinweg, das einem gewaltigen Käfer mit rundem Leib und kurzen Flügeln glich …

Eine Flugmaschine – ein Luftschiff – –, jedenfalls aber das Ungeheuer, das der Perlenfischer beobachtet hatte … –

Hella wußte nicht, was sie tat …

„Vater – Vater!“ rief sie dem Ungetüm entgegen, das pfeilschnell über sie hinweg in die Ferne glitt … und …

„Vater – Vater …!“ rief sie immer noch, als es nur noch ein winziger Punkt am südlichen Firmament … –

Hella kam wieder zu sich. Sie lächelte jetzt über ihre zwecklosen Rufe; sie lächelte froh. Die innere Stimme hatte doch nicht getrogen …!

Eilig stieg sie von Fels zu Fels; wohlbehalten langte sie mit ihrer Last in der kleinen Kajüte an.

Leakwoord tobte jetzt von neuem, als er über sich Hellas Schritte hörte … Er drohte, fluchte, hämmerte mit den Fäusten gegen die Falltür … –

Hella bemühte sich um Ellen. Dort standen noch zwei volle Rotweinflaschen auf dem Tischchen unter den winzigen Fenstern; dort lag noch Leakwoords Taschenmesser mit dem Korkenzieher.

Sie flößte Ellen den roten Trank ein; sie rieb ihre Schläfen, knetete die eiskalten Füße; nichts versäumte sie, nichts … Und ein glückliches Leuchten ging über ihr Gesicht, als des Platinkönigs Tochter endlich die Lider bewegte, als der Körper sich reckte, als den Lippen der erste Seufzer entfloh …

Noch Minuten … dann flüsterte Ellen:

„Mandra, lege mir das Spitzenkleid zurecht … Heute Abend ist Ball bei Oberst Jafferson … Du weißt es ja … Der kleine Leutnant Watstone wird mir wieder … – Ach – Mandra, ich bin noch so müde. Ich will noch schlafen … Also das Spitzenkleid … – Mandra, du hast dich heute nicht frisiert … Du siehst so unordentlich aus … – Wenn Pa von der Jagdexpedition heimkehrt, soll er Stuart Burne erschießen …“ Sie gähnte, schloß die Augen wieder …

Hellas Lächeln war erstorben …

Mein Gott – was bedeuteten diese wirren Reden …?! Sollte etwa die furchtbare Katastrophe des Schoners dort auf dem Barriereriff den Verstand der Unglücklichen getrübt haben …?

Hella saß mit gefalteten Händen auf dem Rand des Kastenbettes; saß da und schaute angstvoll in das jetzt wieder sanft gerötete Gesicht Ellen Crosterbroux’; saß und dachte: „Vielleicht eine Wahnsinnige …! Und du hier allein mit ihr und dem Feind da unten, der alles aufbieten wird, seinen Kerker zu sprengen …!“

Sie dachte weiter … – „Das runde, fliegende Ungeheuer würde wiederkehren nach seinem Horst dort oben; und ihr Vater würde ihm entsteigen und ihr helfen …!“ – Sie war nicht mehr mutlos, nicht verzagt … Sie fühlte sich nicht mehr allein …

Es mußte ja ihr Vater sein, der hier in der Einsamkeit dieses merkwürdige Luftschiff erbaut hatte – mußte! Ihr Herz sagte ihr: Er ist’s!

 

4. Kapitel

Leakwoord verlegte sich jetzt aufs Unterhandeln; gab sein Ehrenwort, daß er Hella nicht anrühren, daß er ihr den Ort nennen würde, wo er Gari Dörcksen gefangen hielt; schwor bei dem Andenken an seine Mutter, schwor bei der Liebe zu der, die er allein geliebt, – zu Hella! …

Da rief sie ihm angeekelt durch die Planken der Falltür hinab: „Schweig, Schurke! Ich denke, wir beide kennen uns …!“

„Vergiß nicht, daß du verhungern mußt,“ brüllte er zurück. „Weder Proviant noch Trinkwasser besitzt du …! Ich rate dir, mich herauszulassen, sonst …!“

Hella spürte schon jetzt Hunger und Durst. Wollte sie nicht ganz von Kräften kommen, mußte sie handeln …

In der linken aufgenähten Tasche ihres Lodenrockes steckte der kleine Revolver. Sie trat auf das Deck hinaus, gab einen Schuß in die Luft ab …

Sie war beruhigt. Die Patronen hatten durch die Nässe nicht gelitten … –

Leakwoord hatte den Knall sehr wohl gehört; hörte nun wieder der blonden Feindin Stimme über sich:

„Ich will die Falltür öffnen – gut! Aber – ich warne dich! Gehorchst du nicht, so hast du auf Schonung nicht zu rechnen! – Du wirst, sobald die Falltür offen ist, mit hochgereckten Armen nur so weit emporsteigen, daß deine Hände über die Dielen hinwegragen! Wagst du dich höher, so feuere ich …!“ –

Der Lichtschein des Ofens war noch immer die einzige Beleuchtung für die Kajüte. Hella suchte in einem der Wandspinde nach einer Leine, fand sie auch, machte eine Schlinge, die sich leicht zuziehen ließ, schob die beiden Riegel zurück und warf die Falltür auf …

Leakwoords Hände erschienen über dem Rand des quadratischen Ausschnitts; die Schlinge glitt darüber hin, wurde enger; und die Leine vollendete das Werk der Fesselung; ihr loses Ende band Hella um den Fuß des am Boden festgeschraubten Tischchens, so daß Leakwoord nur wenig Bewegungsfreiheit hatte.

„Komm jetzt herauf!“ befahl Hella. „So – nun setzt dich dort auf den Stuhl neben den Tisch. Bei der ersten verdächtigen …“

Das Wort erstarb ihr im Mund …

Sie stand dicht vor den beiden Kastenbetten; sie hatte nicht bemerkt, daß Ellen Crosterbroux jetzt aufrecht dasaß, daß diese dem Abenteurer zuwinkte, daß …

Sie fühlte sich von hinten umschlungen …

Der Wahnsinn verlieh Ellen Riesenkräfte … Hella vermochte die Arme nicht zu bewegen, konnte nur rufen …:

„Miß Crosterbroux, Sie verderben uns beide …! Geben Sie mich frei, bevor …“

Zu spät jedoch – zudem auch unnötig all diese Worte gegenüber dem verwirrten Geist der Tochter des Platinkönigs.

Leakwoord hatte geschickt die Fesseln abgestreift, riß Hella den Revolver aus der Hand.

„Darling,“ sagte er dann zärtlich zu der armen Wahnsinnigen, „Darling, laß sie jetzt los … sie ist ungefährlich …“

Ellens Arme sanken herab. Und Hella Dörcksen sah sich dem auf sie gerichteten Revolver gegenüber.

„Hol die Lampe herauf, Ellen,“ bat Leakwoord abermals ganz sanft. – Sie gehorchte.

„Und du, Hella Dörcksen, du wirst es dir jetzt gefallen lassen müssen, daß ich Gleiches mit Gleichem vergelte, dich fessele …!“

„Niemals!“ fuhr Hella auf. „Niemals …! Schieß, wenn du es wagst, mich, eine Wehrlose, niederzuknallen! Tu’s doch! – Aber – in deine Gewalt bekommst du mich nie …“

Halb zusammengeduckt stand sie da, … sprungbereit …

Er betrachtete sie lächelnd, verbeugte sich dann leicht, schob den Revolver in die Tasche.

„Hella, wir wollen Frieden schließen! Ich verspreche dir, daß ich …“

In der Falltüröffnung tauchte Ellen auf; gellend durchschnitt ihre Stimme Leakwoords Heuchlerrede:

„Ah – also so steht ihr beide miteinander – so! Mandra, du Falsche, du …“

Sie trat auf der obersten Stufe fehl; glitt aus; ließ die Lampe fallen, um sich am Rand des Dielenausschnitts festzuhalten …

Klirrend zerschellte das Glasbassin … Unten im Proviantraum leckten die qualmenden Flämmchen des brennenden Petroleums hoch … erfaßten sofort ein mit Maisstroh umwundenes Faß, schossen höher …

Leakwoord war mit einem Satz auf der Treppe, packte Ellen, schleuderte sie in die Kajüte, sprang tiefer, wollte die Flammen mit seiner Jacke ersticken …

Nur Sekunden versuchte er es … Das Feuer hatte den Haufen Brennholz gefunden, der unter der Treppe aufgeschichtet war …

Leakwoord mußte der Glut weichen, warf die Falltür zu.

Hohnlachend drehte er sich nach Hella um:

„So – nun werden wir hier zusammen verhungern, wir beide …!“

Und zu Ellen, wieder zärtlich und mild: „Liebling, bitte halte oben auf Deck Wache … Geh, – es muß sein …!“

Ellen nickte, öffnete die Tür, die Leakwoord hinter ihr verriegelte.

Ein Sprung dann, und er hatte Hella umschlungen.

„So!“ keuchte er. „Nun werde ich mein Gattenrecht geltend machen, du … du blonder Satan …!“

Er drängte sie nach den Betten hin …

In der halbdunklen Kajüte entspann sich ein verzweifelter Kampf.

Und in sinnloser Angst gellte plötzlich Hellas Stimme durch den kleinen Raum.

„Vater – – Vater – – zu Hilfe …!“

Leakwoords Hohnlachen antwortete …

„Schrei nur, mein Blondchen. – Schrei nur … – Du sollst sehr bald …“ Eine brutale Gemeinheit folgte.

Hella wehrte sich … Bald schien ihre Kraft erschöpft, – schien …! – Er ließ sich täuschen …

Dann – hatte sie plötzlich den Revolver in der Hand, hatte ihn Leakwoord gewandt aus der Tasche gezogen, feuerte …

Die Kugel streifte seine Schläfe, ließ eine blutige Furche zurück; er taumelte, schlug lang hin … –

Aus den Ritzen der Falltür stieg dicker Qualm hoch. Beizender Dunst füllte die Kajüte …

Und Hella fesselte geschwind dem halb Besinnungslosen die Arme auf dem Rücken … Flämmchen leckten durch die Fugen hoch; die Hitze wurde unerträglich; kleine Explosionen erfolgten im Proviantraum; Flaschen, Fässer, Konservenbüchsen barsten in der Glut …

Hella überlegte. Was tat sie mit Ellen Crosterbroux, die sie offenbar in ihrer Geistesverwirrung mit einer anderen Person verwechselte?! Was nur …?! Gewalt anzuwenden gegenüber dem armen Geschöpf, widerstrebte ihr … – Dann ein Gedanke … Vielleicht ließ sich mit List erreichen, daß Ellen ihr beistand. Diese „Mandra“ war doch fraglos eine Dienerin der Tochter des Platinkönigs.

Sie schob den Riegel der Kajütentür zurück, öffnete und lugte hinaus; schlich auf das Deck, schaute sich um … – Nichts von Ellen, nichts; selbst der mondbeschienene Strandstreifen war leer.

Hella sorgte sich um die Kranke. Zunächst aber mußte sie Leakwoord irgendwo sicher unterbringen. Dann erst wollte sie nach Ellen suchen. – Der Abenteurer war wieder bei voller Besinnung. Mit der blutigen, linken Gesichtshälfte, mit den vor Wut verzerrten Zügen wirkte er mehr als abschreckend. Hella zwang ihn aufzustehen; er mußte über die Trümmer auf das Ufer klettern; sie stützte ihn, der ja die Arme nicht gebrauchen konnte.

Geifernd flossen Schmähreden, Drohungen, Gemeinheiten in einem fort von seinen Lippen; alles Gute – wenig genug wars gewesen! – hatte die unbefriedigte Gier nach Hellas Besitz in ihm erstickt. Die dünne Schicht feinerer Bildung blätterte ab; was darunter jetzt hervorgrinste, war das menschliche Tier mit all seinen ungeläuterten brutalen Instinkten … –

Der ungeheure Steinwürfel, der so steil aus dem Koralleneiland herauswuchs, hatte in seinem untersten Teil zahllose Risse und Spalten, einige davon meterbreit und nach hinten sanft ansteigend zu trockenen Grotten. Unweit des Wracks, dem Qualmschwaden immer stärker entstiegen, fand Hella auf einem mit spärlichem Pflanzenwuchs bedeckten Hügel, dessen Rückseite in eine dieser Grotten überging, den geeigneten Platz zur Unterbringung ihres Gefangenen. Vorsorglich hatte sie von dem Schoner sowohl zwei Leinen als auch die dünne Ankerkette mitgenommen.

Auf dem Hügel zwang sie Leakwoord zum Hinlegen, umschlang seine Fußgelenke mit der Kette, wand sie ihm weiter um den Leib, zerrte ihn in den Eingang der Spalte hinein und befestigte die Kette so an einem pflogähnlichen Felsvorsprung, daß der Abenteurer ohne fremde Hilfe sich nicht befreien konnte. Dann reinigte sie seine Wunde, verband sie mit einem Streifen ihrer Wäsche … –

Leakwoord war verstummt. Matt lehnte er an dem kahlen Gestein; der Blutverlust hatte ihn so geschwächt, daß seine Sinne von halber Ohnmacht umfangen waren. Hella erkannte, daß er fürs erste ungefährlich war. Sie eilte nach dem Wrack zurück, drang kühn in die verqualmte Kajüte ein, riß die Decken von den beiden Betten, wagte sich abermals in den Gluthauch und barg auch die Rotweinflaschen, zwei Kochnäpfe, ein paar Teller …

Dann barst der Boden der Kajüte mit dumpfem Knall. Funkenregen schossen durch die Tür und die gesprungenen Fenster, Stichflammen kamen hinterdrein; und im Augenblick brannte das ganze Wrack lichterloh … Rötlicher, flackernder Schein umspielte weithin das Meer und die kleine Insel mit dem seltsamen Naturturm, umspielte auch die Gestalt des kraftlos dahockenden gefesselten Mannes …

 

5. Kapitel

Hella wandte sich um und schritt wieder dem Hügel zu. Ihr Gang wurde unsicher; die Wirkung des Nervengiftes ließ nach, sie taumelte vor Müdigkeit; das Hungergefühl wurde zu körperlichem Schmerz … –

Abermals ein Knall, der auch den Mann in Ketten zusammenschrecken ließ … Das Wrack war vollends auseinander geborsten, rutschte in tieferes Wasser. Ohrenbetäubendes Zischen folgte; weiße Dämpfe schwebten hoch; das eingedrungene Wasser bekämpfte das Feuer und … siegte … Schwarzer Qualm wehte träge über die See … Der Feuerschein erlosch. Tiefes Dunkel folgte, denn auch das Nachtgestirn hatte plötzlich sein Antlitz hinter dickem Gewölk verhüllt … –

Die Dunkelheit war jetzt Hellas schlimmster Feind. Sie vermochte nicht mehr zu erkennen, was Leakwoord trieb, ob er noch immer in halber Ohnmacht dahindämmerte oder vielleicht schon insgeheim an seiner Befreiung arbeitete. Sie hatte sich aus den Decken ein Lager auf demselben Hügel bereitet. Aber zu schlafen wagte sie nicht. Sie kämpfte gegen die Erschöpfung, riß immer wieder die müden Augen auf … Keine vier Schritt vor ihr lauerte vielleicht der jetzt noch wehrlose Feind auf eine Gelegenheit, sich ihrer von neuem zu bemächtigen. Dieser Gedanke genügte schon, sie munter zu halten. – Doch wie lange noch …?

Sie fühlte, daß ihre Sinne sich bereits vor völliger Abspannung für Sekunden verwirrten; sie sah ein, sie mußte schlafen, um wieder Kräfte zu sammeln …

Da – ein rettender Gedanke …! – Sie erhob sich; tastete in der Dunkelheit nach den beiden Weinflaschen; näherte sich Leakwoord, fragte, ihn leicht rüttelnd: „Hast du Durst?“

Er fuhr hoch aus dem Halbschlaf, fluchte …

„Gönnst du mir nicht einmal …“

„Ob du Durst hast, frage ich..,“ unterbrach sie ihn. „Wasser kann ich dir nicht geben, aber Rotwein …“

„Her damit …! – Du bist ja verteufelt großmütig, Radschaliebchen,“ höhnte er.

Hella setzte ihm das gefüllte Kochgefäß an die Lippen. Er trank es leer. Und so hatte er jetzt ein Schlafmittel im Leib, von dem Hella sich viel versprach … –

Der Mond erschien wieder. Hella wartete auf ihrem Lager. Jetzt Leakwoords erste rasselnde Atemzüge … Bald schnarchte er ununterbrochen, murmelte im Schlaf allerlei vor sich hin …

Hella streckte sich lang. Sie lag so, daß sie gerade nach Norden blickte. Und bevor ihr Bewußtsein hinüberglitt in die dunklen Tiefen der Traumwelt, dachte sie noch an die Frau dort zwischen den Eisgipfeln der Himalayaberge, die ihre Mutter, die dort in weiter, weiter Ferne im Tal, im Land der Seligen Herrscherin und Göttin war. Und unwillkürlich formten ihre Lippen die Worte:

„Mutter – Mutter, schütze mich …!“

Ein Wunder dann? Oder bereits ein Traumgesicht?

Am nördlichen Horizont tauchte ein Komet mit feurigem Schweif auf, eine strahlende Kugel von der Größe des Mondes … Langsam zog sie am nächtlichen Firmament dahin, zerplatzte plötzlich zu einem ungeheuren Sternschnuppenregen, zu einem Naturfeuerwerk von so großartiger Schönheit, wie ihre Augen es bis dahin nie geschaut … –

Der junge Tag kam; die Morgendämmerung kroch über das Meer; der Mond verblaßte; die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten die Spitze des Turmfelsens. Die Möven, die Albatrosse wurden lebendig; ihr Kreischen erfüllte die Luft, störte das träumerische Brandungsgeräusch des heute friedfertigen Ozeans …

Hella erwachte; war sofort völlig munter. Gerade diese Nacht in freier Luft hatte sie wunderbar gekräftigt. – Ihr erster Blick galt Leakwoord. Der hockte regungslos mit hängendem Kopf da, atmete tief, atmete gleichmäßig …

Hella schlich davon den Resten des Wracks zu.

Eine Weile stand sie am Ufer und schaute sehnsüchtig auf die geschwärzten Trümmer, dachte an den Proviant, der nun dort im Wasser ruhte und von dem das Feuer noch nicht alles zerstört haben konnte …

Sie begann nach Möveneiern zu suchen. Sie mußte waghalsige Kletterpartien an dem Granitkoloß unternehmen, um ein Dutzend einzusammeln. Vier waren angebrütet, die anderen trank sie aus … – Dann suchte sie weiter, umrandete dabei den Turmfelsen, gelangte bald an dessen Südseite.

Plötzlich fuhr sie zurück … Sie war gerade um eine Ecke des ungeheuren Naturbauwerks gebogen, bekam so ganz unerwartet kaum fünf Schritt weiter ein Bild zu Gesicht, – ein Bild, ein Gemälde: Hero an der Leiche ihres Geliebten Leander …

Denn dort saß Ellen Crosterbroux im Sand, und der Mann, dessen Kopf sie im Schoß hielt, dessen Mund sie unter strömenden Tränen wieder und wieder küßte, – dieser Mann mit dem edlen Profil war … Mahadur Mirat, der junge Radscha von Gohdwura …

Hella stand und starrte … starrte …

Ellen – – Ellen küßte den Radscha …! – Liebte sie ihn etwa …? Hatte etwa erst der Wahnsinn diese Liebe in ihr geweckt …? Oder hatte etwa diese Neigung bereits damals begonnen, als des Platinkönigs Tochter die beiden aus dem Höhlenlabyrinth Geretteten vor Stuart Burne zunächst verborgen hatte …? Und – war der Radscha tot …? –

Hella wartete … – Ellens Tränen versiegten. Langsam erhob sie sich, sammelte grüne Algen am Ufer, wand daraus einen Kranz, drückte ihn dem Mann auf das Haupt, der still mit geschlossenen Augen auf dem Strand ruhte … –

Ellen Crosterbroux’ ganzes Verhalten zeigte, daß es sich gestern bei ihr nicht etwa um eine augenblickliche Geistesverwirrung gehandelt hatte. –

Jetzt setzte sie sich auf einen nahen Felsblock, blickte den Radscha unverwandt an, lächelte selig und … sang halblaut eines jener schwermütigen indischen Lieder, die mit ihrer seltsamen Melodie so sehr an die Zigeunerweisen erinnern, wie sie sich bei diesem unsteten Volk von Generation zu Generation weitervererbt haben.

Hella Dörcksen wagte die Wahnsinnige nicht zu stören … Noch immer verharrte sie an derselben Stelle, beobachtete des Platinkönigs unglückliches Kind und hätte doch so gern eiligst sich überzeugt, ob Mahadur Mirat vielleicht noch ein Fünkchen Leben in sich habe …

Sie konnte sich nicht länger bezwingen; trat vor, ging auf den Fürsten zu. Da hob Ellen den Kopf … Und sie nickte Hella mit leerem Lächeln zu …

„Mandra,“ flüsterte sie, „er schläft nur … Morgen feiern wir Hochzeit. Stuart Burne ist tot. Er wird uns nicht mehr schaden, Mandra … Da – da liegt er …!“ – Sie deutete hinter einen Haufen Seetang.

Was da lag, war des armen Perlenfischers von den Korallenzacken zerfetzte Leiche, also die eines der Unglücklichen, die für Hella den Tod gefunden hatten … –

Hella betrachtete die Tochter Crosterbroux’ genauer. In deren Augen flackerte der Wahnsinn; das Gesicht war schmal und siech geworden; die vom Seewasser zerfressene Haut blätterte überall ab; das rotbraune, lange Haar hing ihr auf den nackten Schultern wirr herab; ihre Bekleidung hatte noch weit mehr gelitten als die Hellas.

Diese kniete jetzt neben dem Fürsten nieder, sagte dabei, ganz die Rolle der Dienerin spielend:

„Herrin, wir werden ihn in den Schatten tragen. Die Sonne wird ihn sonst wecken …“

Sie fühlte nach dem Puls; er schlug schwach, aber regelmäßig. Ein namenloses Glücksgefühl durchzitterte Hella da … – Er lebte ja – er lebte …! – Und abermals fühlte sie mit aller Deutlichkeit, daß ihr Herz diesem Mann gehörte, mit dem jene seltsame Nacht damals am Heiligen See sie zusammengeführt hatte.

Ellen war plötzlich in einen Zustand dumpfem Vorsichhinbrütens verfallen. Sie antwortete nicht, regte sich kaum …

Hella fand die Kraft, den Radscha allein in eine nahe Spalte des Felskolosses zu schleppen, wo sie sofort alles tat, den Fürsten wieder ins Leben zurückzurufen. Es gelang … Mahadur Mirat schlug die Augen auf; in seine Blicke kam Verständnis; er erkannte Hella; ein Leuchten glitt über seine Züge …

„Du – du … gerettet …!“ Wie ein Hauch nur waren die Worte. – Bald durfte Hella es wagen, ihm zu berichten, in welcher Lage sie sich hier befanden. Sie erzählte auch von dem seltsamen Flugapparat, den sie – ihre Seele flüsterte ihr das zu! – nur für eine Erfindung ihres Vaters halten könne.

„Mahadur Mirat, mein Freund, mein Bruder, – er wird zurückkehren, der hier in die Verborgenheit geflüchtet war, – er, mein Vater … Und dann wird er uns helfen, all dies Schreckliche zu überstehen, dieses enge Zusammenleben mit einer armen Wahnsinnigen und jenem Elenden, dessen ich mich kaum erwehren konnte, den ich niederschießen wollte und doch nur leicht verletzte …“

Des Radschas Gesicht verzerrte sich … Das heiße, leidenschaftliche Blut des Orientalen schwemmte für einen Augenblick die abendländische Gesittung hinweg.

„Kaum erwehren …!“ wiederholte er, und seine Lippen zitterten. „Er soll es büßen …! Die Sonne soll ihn fressen – so, wie meine Väter es mit Treulosen taten …!“ Seine Augen sprühten Todesdrohungen …

„Still, Mahadur Mirat, – still!“ Hella legte ihm die Hand auf die Stirn. „Ich werde jetzt zusehen, daß ich noch einige Möveneier finde … Versuche zu schlafen …!“

Sie ging zu Ellen Crosterbroux hinüber …

Ein seelenloser Blick traf sie. – „Ich habe Hunger,“ wimmerte die Kranke. „Mandra, bestelle mir beim Koch ein Frühstück. Sofort, Mandra, sofort …! Er soll sich beeilen … Etwas Gebackenes wünsche ich …“

„Ja, Herrin, du sollst ein Frühstück haben. Gedulde dich eine Viertelstunde.“

Ellen deutete wieder auf die Leiche des Perlenfischers.

„Stuart Burne ist’s in einer Verkleidung, Mandra … Morgen feiere ich Hochzeit … Oberst Jafferson wird auch dabei sein …“ Ihr Geplapper wurde immer ungereimter.

Hella schlich von dannen, suchte abermals nach Vogeleiern. Diesmal umrundeten sie den Felsen nach der anderen Seite. Aber sie hatte wenig Glück. In einer halben Stunde sammelte sie gerade dreizehn Eier aus Spalten und Klüften zusammen. Und – wie mühevoll war diese Arbeit …! Wie gefährlich …!

Jetzt näherte sie sich der Stelle, wo Harry Leakwoord gefesselt saß. Er war wach; schaute ihr scheu entgegen; empfing sie mit den Worten:

„Ich fürchtete schon, du würdest mich hier verschmachten lassen … Gib mir Wasser; nur einen Schluck … – Ah – Vogeleier hast du in deinem Lackhut … – Hella, sei barmherzig, – gewähre mir einige davon …“

Hella traute ihm nicht. Sie hatte den Hut mit den kostbaren weißen, punktierten Eiern im linken Arm, in der rechten Hand aber den gespannten Revolver. Sie setzte den Hut vorsichtig auf den Boden, näherte sich Leakwoord noch mehr, prüfte mit den Augen die Kette und die Leine, die seine Glieder umschlang …

Sie glaubte, er sei noch wehrlos, entspannte die Waffe, steckte sie ein. Dann beugte sie sich über ihn, wollte den Verband von seiner Stirn entfernen und nach der Wunde sehen.

Leakwoords Augen schlossen sich halb. Dabei weiteten sich aber seine Pupillen unter der Anspannung all seiner Willenskraft, die jetzt nur auf ein einziges Ziel gerichtet war. Plötzlich fuhren die eng gewordenen Lider auseinander; plötzlich hatte er die Arme mit ein paar blitzartigen Drehungen frei; und diese Arme umschlangen Hella, hoben sie hoch, schleuderten sie mit Riesenkraft von dem flachen Hügel hinab auf die Steintrümmer am Fuß des Granitwürfels …

Leakwoord sprang sofort hinterdrein, stand nun vor der regungslos Daliegenden, die mit dem Hinterkopf hart aufgeschlagen war und das Bewußtsein verloren hatte.

„Siehst du, Liebchen, – so macht mans mit Weiberbrut!“ rief er halblaut und hohnvoll. „Nun werden wir ja wohl bald einig werden, wir beide, – ganz einig …! Es wird doch Flitterwochen geben hier in der Einsamkeit des Ozeans …!“

Er reckte und streckte sich; nahm dann Hella den Revolver aus der Tasche; ging nach dem Wrack hinüber, das jetzt, wo wieder Ebbe herrschte, nicht allzu tief im Wasser lag. Er watete bis zu den halbverkohlten Resten des Schoners, tauchte kühn hinab in die Tiefe, in die Proviantkammer, holte durch geduldiges Abtasten der dort wild durcheinander liegenden Gegenstände sowohl eine Menge Konservenbüchsen als auch ein paar noch unversehrte Flaschen Wein herauf, schaffte alles nach der Felsspalte und dem Steinblock und begann nun erst Hellas blutende Hinterhauptwunde zu kühlen.

Hella kam wieder zu sich. Sie fand sich mit gebundenen Händen in halbsitzender Stellung auf den Decken wieder. Zwei Schritt weiter saß Leakwoord. Er nickte ihr mit frechem Grinsen zu. –

„Du siehst, wie gut mir dieses Büchsenfleisch mundet. – Einen süßen Kuß, Hella … Dann teile ich mit dir, wie es sich für einen Ehemann geziemt …!“

„Schuft!“ sagte sie mit eisiger Verachtung. Und ihre Augen hatten einen Ausdruck, der ihn für einen Moment verwirrte. Aber ebenso schnell quoll auch die Wut in ihm hoch. –

Ein heiseres Gelächter … Er erhob sich. Sein bereits unsicherer Fuß stieß die beiden soeben von ihm geleerten Weinflaschen um; sein Blut wurde noch heißer vor Gier; und das tierische Verlangen, Hella zu demütigen, machte ihn zu einer rasenden, brünstigen Bestie.

Er stürzte sich auf die Wehrlose …

Ein Schrei – ein letzter Hilferuf von Hellas Lippen:

„Mahadur Mirat … Mahadur Mirat …!“

 

 

Dritter Teil

Der Mann am Felsen

 

1. Kapitel

Ellen Crosterbroux hockte neben dem Radscha, hielt seine Rechte in ihren heißen Fingern, wimmerte kläglich:

„Mandra sollte mir Frühstück bestellen; sie ist schon so lange fort … Ich habe Hunger … Mandra sorgt nicht für mich …“ Ihr leerer Blick eilte aus der Felsspalte hinaus in den Sonnenglast – über den schillernden Ozean … „Leakwoord war gestern Abend bei uns,“ flüsterte sie … „Er ist ein Betrüger … Ich liebe nur dich, Mahadur Mirat … Morgen ist unsere Hochzeit … Im Marmorsaal wird Reverend Dixon uns trauen …“ Sie lächelte verschämt. „Dann fahren wir nach deinem Schloß in Gohdwura, Geliebter … Du weißt – im Flugzeug … – – Ich habe Hunger … Ich werde Mandra wegjagen … Auch den Koch … Der Pa wird mir recht geben; sie sind nachlässig …“

Der junge Fürst richtete sich auf. „Warte. Ich gehe Mandra suchen. Aber bleibe hier … Du versprichst es mir …?“

Sie nickte strahlend, umschlang ihn, küßte ihn …

Er hielt still … – „Die Ärmste!“ dachte er. „Besser tot, als so weiterleben müssen, so …!“

Die ersten Schritte tat er unsicher wie ein Kind bei frühen Gehversuchen. Aber die Sorge und Angst waren wie geheime Kräfte, die seine Muskeln stählten. Wenn es dem Schurken Leakwoord gelungen war, sich von seinen Banden zu befreien, konnte Hella vielleicht in größter Bedrängnis sein …! –

Mahadur Mirat begann zu laufen; stolperte; raffte sich auf … Nur vorwärts – vorwärts! – Abermals wollten ihm die Beine den Dienst versagen; er bückte sich, schöpfte Wasser auf die halb entblößte Brust …

Weiter – weiter …! Und wieder siegte der Wille über den erschöpften Körper; wieder umrundete er eine der Ecken des mächtigen Turmfelsens …

Von fern ein halb verwehter Ruf …

Wars Täuschung? Wars Hellas Stimme gewesen? Wars nur ein heiserer Mövenschrei …?

Jetzt hatte er freien Ausblick über den nördlichsten Strandstreifen; sah den Verzweiflungskampf des Weibes gegen den halbtrunkenen Lüstling … Stürmte dahin über den weißen Sand, die zerriebenen Muschelteilchen, die Haufen von Seepflanzen, die der letzte Orkan angetrieben … Kam gerade zur rechten Zeit; riß den Abenteurer, der wie von Sinnen schien, weg von seinem Opfer, raffte einen Steinklotz auf …

„Rühr dich, und dir fliegt dieser Felsbrocken an den Schädel!“ drohte er, und sein Gesicht war entstellt von Grimm.

Hella war aufgesprungen; ihr bleiches Antlitz hatte nichts Mädchenhaftes an sich; ihre Nasenflügel zitterten; auf ihrer Stirn stand eine tiefe Falte …

Sie sprang auf Leakwoord ein, packte seinen rechten Arm, griff ihm ebenso geschwind in die Jackentasche, aus der die Mündung des Revolvers herausschaute. Mit der Waffe in der Hand trat sie zurück.

„Mahadur Mirat, binde ihn!“ sagte sie mit unnatürlicher Ruhe. „Hält er nicht still, stirbt er …! – Er wird mir hier sofort den Ort nennen, wo Gari gefangen ist – sofort!“

Der Radscha sah das höhnische Lächeln um des Abenteurers herabgezogene Mundwinkel. Die Leine schnürte er ihm um die Handgelenke so fest, daß die gepreßte Haut Blutstropfen hergab … Die Kette wand er ihm um Arme und Oberleib, als gelte es, einen wilden Elefanten gefügig zu machen.

Und Leakwoord lächelte weiter; er war ein großer Verbrecher mit hochfliegenden Plänen; eine Memme war er nicht …

„Quält mich nur …!“ meinte er mit überlegener Ironie. „Peinigt mich noch mehr! Desto weniger werdet Ihr erfahren, wo Gari Dörcksen weilt! Tötet mich, Ihr Narren! Dann erfahrt Ihrs nie …!“

Der Radscha blickte ihn starr an.

„Harry Leakwoord, wir werden dich zum Sprechen bringen,“ sagte er langsam, und jedes Wort war wie ein Hammerschlag. „Kennst du die altgriechische Sage von Prometheus, der dem Göttervater Zeus das Feuer stahl und es den Menschen brachte, den Zeus dann zur Strafe an einen Felsen schmiedete und einen Adler sandte, der dem Wehrlosen täglich die nachts wieder wachsende Leber aushackte …? – Du wirst um Gnade winseln lernen, du elendster aller Elenden, wirst die Strafe kennen lernen, die meine Väter für die ersannen, die mit Verrat Wohltaten lohnten …“

Er wandte sich Hella zu. „Ich werde dort aus dem verbrannten Gebälk des Wracks lange Schiffsnägel lösen … Und dann wird Harry Leakwoord an der Südseite im prallen Sonnenbrand ein Lager von hartem Stein erhalten …“

Er ging zum Strand hinab. Hella aber fühlte jetzt den Rückschlag nach den furchtbaren Minuten des Kampfes gegen brutale Männergier. Ein Schluchzen stieg in der Kehle hoch; Tränen verschleierten ihre Blicke; eine namenlose Scham trieb ihr das Blut in die Wangen …

Auch das verebbte. Bei ihr noch schneller als bei einer anderen Frau, denn hinter ihr lag ein Jahr, in dem sie oft genug Dinge erlebte, die ihre Seele langsam panzerten gegen weiche Mädchenempfindlichkeit.

Der Radscha kehrte zurück. Acht Nägel brachte er mit, rotbraun vom Feuer durchglüht …

„Gehen wir, Hella,“ meinte er, und sein Blick streichelte sie, um ihre Verlegenheit zu bannen. – „Vorwärts, heimtückischer Betrüger!“ fuhr er Leakwoord an. „Vorwärts! Ich werde dich strafen, wie vielleicht noch nie ein Mensch gestraft wurde …“

Der Abenteurer wußte, was ihm bevorstand. Er war schlau. Er wollte abermals täuschen, Lügen ersinnen. Aber – nicht jetzt schon durfte er den Willfährigen spielen …

Zum Schein sträubte er sich. Der Radscha stieß ihn brutal in die Seite, hielt das hängende Ende der Kette in der Hand.

So umschritten die drei den Felskoloß nach Westen zu; gelangten in den gleißenden Sonnenglanz, in die Hitzewellen, die über Sand und Stein lagerten trotz der frühen Stunde; gelangten an eine Korallenbank, die aus dem Ufersand wie ein nach Südwest geneigter Tisch herausragte.

Mahadur Mirat trieb die Nägel mit einem Naturhammer, einem Felsstück, in die Ritzen des Korallenbaus; vier für die Arme; vier für die Füße …

Die hellen Schläge des Hammers auf dem Metall ließen Leakwoord doch zusammenzucken. Trotzdem behielt er das freche Lächeln bei; es gehörte zu seiner Rolle … –

„Hella, laß uns jetzt bitte allein,“ sagte der Radscha ernst. „Die Sonne soll ihn treffen, wie sie Prometheus traf – – nackt!“

Hella entfernte sich ein paar Schritt, setzte sich abgewandt auf einen Stein …

Mahadur Mirat riß und schnitt Leakwoord die Kleider vom Leib, band ihm nur einen Streifen des Hemdes wieder um die Lenden …

Der Abenteurer wehrte sich dann; jetzt nicht nur zum Schein; jäh war die Angst gekommen, daß er bei den beiden kein Erbarmen finden würde, die er um ihr Liebesglück hatte betrügen wollen …

Mahadur Mirat warf ihm die Kette um die Beine, riß ihn zu Boden, schleppte ihn auf die Korallenplatte. Aber Leakwoord hielt nicht still; wußte stets zu vereiteln, daß der Radscha ihm die Arme ausgebreitet an den Felsen fesselte … Bis dann Hella aufsprang und an das lose Ende der Leine einen schweren Stein band, dessen Gewicht selbst der Abenteurer nicht zu meistern vermochte. Der Stein hing ein Stück den Rand der Platte hinab; hielt nun erst den linken Arm fest, bis der rechte zwischen den Nägeln, mit der Kette umschlungen, gefangen war. –

Das Werk war vollbracht; der Abenteurer zum Prometheus geworden; genagelt an den rissigen, harten Stein, ausgesetzt den Strahlen der Sonne, den Spritzern der brandenden Wogen, dem Wind, der Kühle der Nacht …

Mit geschlossenen Augen lag Leakwoord da. Schräg über ihm stand am blauen Äther das Tagesgestirn; durchhitzt war die Korallenplatte wie heißes Eisen; und dem mit der langen Ankerkette Gefesselten brannte Rücken und Leib, krochen trotzdem die kalten Schweißperlen der Todesfurcht über Stirn und Gesicht …

„Zwei Tage … Dann werde ich dich fragen, wo Gari Dörcksen verborgen ist,“ sagte der Radscha, prüfte nochmals die Fesselung und schritt neben Hella davon …

 

2. Kapitel

Sie waren allein, diese beiden Menschen, die sich liebten …

Hella ging gesenkten Kopfes neben Mahadur Mirat her. Wieder hatte die Scham ihr Gesicht gerötet … Und so schwer kamen ihr die Dankesworte über die Lippen:

„Wärest du nicht erschienen, Mahadur Mirat, wäre ich jetzt … tot …“

Er verstand sie; blieb stehen, schaute sie an …

„Hella, weshalb sucht dein Blick den Boden? Sind wir nicht längst mehr als Bruder und Schwester? Sind wir nicht ein Ganzes geworden in dem Moment, als wir dasselbe Ziel vor uns sahen? Sind wir nicht die einzigen, die außer deinem Vater das große Geheimnis kennen, das die eisstarrenden Berge dort im Norden verhüllen? – Hella, vergiß diese letzte halbe Stunde … Oder – vergiß sie nicht, denn sie gab uns ein Recht, jedes Mitleid in uns zu töten mit jenem Elenden, der nur noch …“

Hella hatte den Kopf gehoben; ein feines Lächeln umspielte ihren Mund; eine große Sehnsucht sprach daraus, sprach aus dem Blick, der des Radschas Augen suchte. Sie lehnte sich leicht an ihn, schaute zu ihm auf … Sie war nur Weib jetzt … Ihre roten Lippen warteten …

„Hella … Hella …!“ Und Mahadur Mirat ließ den Jubelruf nur halb verklingen, riß sie an seine Brust, küßte sie … – –

Sie gingen weiter, eng umschlungen …

„Was tun wir mit der armen Ellen, Mirat?“ meinte Hella und kehrte so wieder in die rauhe Wirklichkeit nach dem kurzen Glücksrausch zurück. „Es wird schwer sein, mit ihr ohne Zwanganwendung hier zusammenzuleben. Sehr schwer … – Sie liebt dich. Und die Liebe einer Irren ist gefährlich.“

Er nickte. „Das wohl. Aber du rechnetest ja auf die Rückkunft deines Vaters, du meine Sonne … Vielleicht daß er, der doch dort oben auf der Plattform des Felsens …“

„Nein Mirat, – nein, ich hoffe nicht mehr auf ihn,“ fiel Hella ihm ins Wort. „Ich bin zu einer anderen Überzeugung gelangt. Ich nehme jetzt an, daß mein Vater für immer diesen seinen Schlupfwinkel verlassen hat. Wir, die Schiffbrüchigen, werden ihn vertrieben haben. Sein Luftfahrzeug mag fertig gewesen sein. Und deshalb wird er vielleicht jetzt versucht haben, auf dem Luftweg das Ziel seiner steten Sehnsucht zu erreichen: das geheimnisvolle Land seiner Gattin, der Wolkenkönigin, meiner und Garis Mutter …“

Der Radscha löste seinen Arm von dem Leib der Geliebten, behielt nur ihre Rechte in der seinen.

„Du glaubst wirklich, daß er …“ Unsicheres Staunen zeigte sein Gesicht.

„Ich glaube, daß er auf dem Weg nach dem Tal der Seligen, nach dem Lande Olympia ist,“ erklärte Hella mit sehnsüchtig verträumtem, in die Ferne gerichtetem Blick. „Olympia …! So nannte er’s in seinem Tagebuch, in seiner metallnen Beichte, jener Grammophonwalze, die ich daheim im Riesengebirge sorgfältig verbarg, bevor ich Leakwoords Verfolgung begann. Und – damals, als ich den Tod im Höhlenlabyrinth am Heiligen See nahen fühlte, als mein todesmattes Hirn Visionen gebar, da … da schaute ich das Bild meiner Mutter, schaute ich sie auf ihrem Wolkenthron, und neben ihr standen … der Vater und Gari …“ Sie sprach immer leiser. „Mahadur Mirat, wir werden die, die ich liebe, dort vereint finden, wenn … wenn es uns gelingt, vorzudringen bis an den Eiswall, der das Tal der Seligen absperrt gegen jeden Sterblichen, – wenn es uns glückt, den einzigen Zugang zu entdecken, der …“

Dicht neben ihnen ein lauter Knall …

Steinsplitter sausten an ihnen vorüber, ritzten ihre Haut.

Sie waren auseinander gefahren …

„Ein Felsblock muß sich oben am Rand des Granitwürfels gelöst haben,“ sagte der bleichgewordene Radscha und zog Hella von der gefährlichen Stelle fort. „Es muß ein Stück von Zentnerschwere gewesen sein … Sieh dort die Reste.. Zwei Meter weiter rechts, Hella, – und einer von uns lebte nicht mehr …“

Hella blickte empor. Ihre Miene drückte Unruhe aus. „Mirat, mir schien’s, als sähe ich soeben dort oben eine Hand – eine Hand, deren Arm ein Blusenärmel umschloß … Wenn … Ellen Crosterbroux nicht mehr hier unten zu finden ist, dann … dann …“

Der Radscha eilte schon weiter. Sie suchten nach Ellen … Aber die Kranke war verschwunden. Sie suchten jede Kluft ab, jede Vertiefung. Ellen war nicht mehr am flachen Strand der Insel, – Ellen mußte irgendwie auf die Plattform des Granitkolosses gelangt sein. –

Mahadur Mirat und Hella saßen in der Spalte am Nordufer und hielten eine hastige Mahlzeit: Konservenfleisch, einen Schluck Wein dazu. – Dann begannen sie die Suche aufs neue; jetzt nicht nach Ellen, sondern nach dem geheimen Weg, den es zur Höhe des Turmfelsens geben mußte. Vorsichtig sich stets gegen Steingeschosse deckend, die abermals sie bedrohen könnten, ließen sie nichts ungetan, was sie auf die Spur dieses Zuganges bringen konnte. Nichts ungetan – nichts! Denn Ellen Crosterbroux in Freiheit bedeutete eine ständige Bedrohung für sie … –

Stunden vergingen. Alles Mühen war umsonst.

„Unbegreiflich!“ meinte der Radscha, der bereits genau so erschöpft wie Hella war. „Was wir mit gesunden Sinneswerkzeugen nicht finden, kann also nur ein plumper Zufall der Geisteskranken verraten haben …“

„Und wenn die Nacht, die Dunkelheit kommt, werden wir nun zu sorgen haben, daß Ellen nicht etwa Leakwoord befreit,“ fügte Hella hinzu. „Sie wird gesehen haben, daß … wir uns küßten, Mirat … Daher der Stein von oben …“

Sie standen jetzt dicht an der hier überhängenden Wand des Würfelkolosses.

Der Radscha zog Hella an sich. „Weil wir uns küßten …! Ja …! – Wir haben uns so lange nicht geküßt, du meine Sonne …“

Sie wehrte ihm nicht; sie wurde Weib, nur wieder Weib, die Tochter der Wolkengöttin … Sie wurde es so gern … Und Seevögelgeschrei und Wellenrauschen war die Musik, die den Liebenden in die Ohren klang …

Noch eines kam dazu …

Gleichzeitig vernahmen sie es … Die heißen Lippen trennten sich …

„Hörtest du, Mirat …?“

„Ja … Leakwoord nur kann’s gewesen sein … Seine Haut wird versengt sein … Die Marter hat begonnen. Werden wir nicht schwach, Hella! – Wenn wir jetzt schon zeigen, daß wir Mitleid fühlen, dann lügt er, dann bleibt dein Bruder ein Gefangener …“

Hellas Augen verdunkelten sich. „Mitleid?! – Nein, Mirat, – er soll büßen! Er soll lernen, um Gnade zu winseln. Dann erst …“

Wieder von fern der gellende Schrei …

„Entsetzlich!“ flüsterte Hella. „Gehen wir anders wo hin, Mirat … Ich … ich ertrage diese Stimme doch nicht …“

Der Radscha hatte nach Westen zu den Strand entlang gespäht, bog plötzlich den Oberkörper wieder zurück …

„Ellen!“ flüsterte er. „Ellen – dort …! Sie geht nach der Korallenplatte hin … Und … sie hat eine Büchse in der Hand …! – Hella, du weißt, welch vorzügliche Schützin sie ist …! Das Unheil ist schon da …! Was nun …?!“

„Warte hier …! Es gibt nur ein Mittel, die Kranke unschädlich zu machen, Mirat … – Überlaß sie mir. Du würdest alles verderben …“

Sie eilte davon. Der Radscha schaute sich um, kroch dann auf allen Vieren hinter ihr drein. Die überall umherliegenden Felsstücke boten gute Deckung …

 

3. Kapitel

Agra hatte seine dritte Sensation. Thomas Crosterbroux war verhaftet worden! Der allmächtige Platinkönig sollte der blonden Gefangenen Stuart Burnes damals zur Flucht verholfen haben, als in seinem Palast ein Filmband das Bild der Wolkenkönigin auf die weiße Marmorwand geworfen hatte …

Und mit ihm verhaftet war der nicht minder mächtige Cheffri Ragindo, das Haupt der Gewesenen, der Scharmagri …! – Der Palast, von den Detektiven umstellt, war Ragindo, der als Warner zu Crosterbroux kam, zur Falle geworden. Die Beamten hatten den Platinkönig gerade überrascht, als Cheffri ihm das Gesicht braun färbte, damit er verkleidet entfliehen könnte.

Im Polizeigebäude in Agra hatte noch nie eine solche Aufregung geherrscht wie heute. Ein Mann von der Bedeutung des Platinkönigs als Gefangener, – das hätte niemand sich träumen lassen! Am wenigsten der Untersuchungsrichter Austin Samsfork, der bei Crosterbroux soundso oft zu Gast gewesen und der nun auf Burnes Drängen die beiden Häftlinge sofort vernehmen mußte.

Stuart Burne stand am Fenster, die Hände in den Beinkleidertaschen. Samsfork saß an seinem Schreibtisch; links von ihm der Protokollführer. Vor dem Tisch hinter der Holzschranke, bewacht von drei Detektiven, standen Crosterbroux und die Skelettfigur des Hauptes der Gewesenen.

Der kleine „große“ Inspektor hatte die Fäuste in den Taschen geballt. – Ah – wie schlau die beiden Schufte sich herauszureden suchten! Natürlich alles vorher genau vereinbart … alles!

Burne wurde nervös. Dieser Samsfork war ein Kamel, kein Untersuchungsrichter! Keine Ahnung hatte der Mensch, wie man Angeschuldigte zum Reden brachte …

Stuart Burne mischte sich ein. „Master Crosterbroux, Ihr Leugnen hilft Ihnen gar nichts! Sie verschlimmern Ihre Lage nur. Kein Mensch glaubt Ihnen, daß Sie lediglich in Begleitung Ragindos ein Eingeborenendorf haben besuchen wollen, um dort unerkannt …“

Ein Beamter trat ins Zimmer, entschuldigte sich …

„Der Herr, der mir diesen Brief gab, erklärte, die Sache sei sehr dringend.“

Der Brief war an Detektivinspektor Stuart Burne gerichtet.

Dieser beendete jetzt erst einmal den begonnenen Satz: „… um dort unerkannt den Leuten nachzuspüren, die Ihre Tochter verborgen gehalten hatten. – Alles Schwindel, Master Crosterbroux! Der Tisch fiel damals auf Ihrer Terrasse nicht umsonst um …! Im Gegenteil, der Tisch vermittelte mir die Kenntnis jenes Schreibens, das meine gekrampfte Hand angeblich nicht loslassen konnte … Und das Schreiben enthielt die Sätze: „Sollte eine dringende Gefahr vorliegen, warnen wir Sie rechtzeitig.“ – Die Sätze genügen. Ragindo ist der Warner. Und mit Ragindo haben Sie sich stets durch Winken mit einem Taschentuch verständigt. Das habe ich selbst beobachtet. Sie beide sind also zur Genüge überführt! Legen Sie kein Geständnis ab, so kostet das ein Jahr Zuchthaus mehr! Hella Dörcksen war eine politische Gefangene. Sie kennen unsere strengen Gesetzes gegen Verschwörer und deren Helfershelfer …“

Er hatte den soeben erhaltenen Brief geöffnet und beim Sprechen überflogen. In seinen Augen blitzte es unmerklich auf … Ah – welch ein Zufall! Gerade jetzt meldete sich dieser Mann, wo er, der „große“ Stuart Burne, seinen Ruf einzubüßen drohte …!

Crosterbroux’ verbissener Gesichtsausdruck änderte sich. Keuchend stieß er hervor, er, der allmächtige Platinkönig, der den Vizekönig von Indien seinen Duzfreund nannte: „Sie vergelten die bei mir genossene Gastfreundschaft auf Ihre Weise, Master Burne! Nun – über vornehme Gesinnung läßt sich streiten …! – Gut denn, – ich räume ein, Hella Dörcksens Flucht begünstigt zu haben, um mein Kind zurückzuerhalten.“

Da meldete sich auch Cheffri Ragindo, der dreimal Gewesene, der dreimal von den Göttern als Toter verschmäht worden war:

„Ich bestreite, einen Brief an Master Crosterbroux geschickt zu haben, der jene Sätze enthielt. Der Brief stammt nicht von mir. Ich lüge nicht. Ich kenne den Inhalt durch Crosterbroux. Ich habe diesem sofort erklärt, daß nur der das Schreiben abgefaßt haben kann, der ein Interesse daran hatte, Miß Ellen baldigst zu heiraten, – also Harry Leakwoord!“

Burne trat zu Samsfork, flüsterte mit ihm und verließ das Zimmer. In seinen Ohren klangen noch die letzten Worte des Mannes nach, der ein schlaues Doppelspiel getrieben, der so getan hatte, als wäre er des Detektivinspektors zuverlässigster Verbündeter. Und jetzt hatte dieser Ragindo Harry Leakwoord beschuldigt, zwei Briefe derart abgefaßt zu haben, daß der Platinkönig notwendig annehmen mußte, sie kämen von Ragindo, – und dies nur zu dem Zweck, eine schleunige Heirat mit Ellen durchzusetzen … Und – jetzt auch erschien der andere auf dem Plan – gerade jetzt …! –

Burne benutzte ein Polizeilimousine zu dem Ausflug, den er vorhatte. Das Auto gelangte in kurzem auf die große Hauptstraße nach Dschaipur. Der Chauffeur wußte Bescheid. Und der kleine, hagere Inspektor konnte seine Gedanken fortspinnen …

Harry Leakwoord also ein raffinierter Brieffälscher! – Dieser Leakwoord, dessen Vater jetzt plötzlich ebenfalls hier aufgetaucht war und angeblich Wichtiges über die Wolkenkönigin mitteilen wollte … –

Burne zog den Brief dieses Allan Leakwoord aus der Tasche, überlas nochmals einige Sätze … „Ich warne Sie vor jeder Verräterei! Sie kennen den sogenannten Balkonfelsen von Dschamarar, hinter dem sich der Eingang in den Berg hineinzieht zu den alten Höhlentempeln von Dschamarar. –

Ich will Ihnen nur so viel sagen, daß ich ein alter Freund des Vaters jener Hella Dörcksen bin, deren Flucht jetzt alle indischen Zeitungen besprechen. Ich fand die Notiz in einem Städtchen weit droben im Norden und eilte sofort daraufhin nach Agra, um mich Ihnen anzubieten. Nur ganz wenige kennen das Geheimnis der Königin über den Wolken. Ich weiß, daß diese Frau existiert. Ich kann Ihnen einen Rat geben, wie sie unschädlich zu machen ist, wie mit einem Schlage die Gefahr dieser neuen Weltreligion beseitigt werden kann. Kommen Sie also allein auf den Balkonfelsen von Dschamarar, ganz allein …!“

Das Auto hielt auf der Bergstraße. Nach links klaffte ein Abgrund Hunderte von Metern tief; nach rechts erstreckte sich eine weite, steinige Ebene, in deren Mitte ein einzelner Bergkegel sich erhob, der in der indischen Sagenwelt so berühmte Dschamarar, auch Kopf des Indra genannt, weil sein Gipfel mit einem Menschenhaupt Ähnlichkeit hat.

Burne stieg aus und wanderte auf den Berg zu. Zweimal hatte er bereits früher die unterirdischen Tempel dort besucht. Er hatte ein Fernglas mitgenommen. Bald brachte ihm dieses die Gestalt eines Mannes nahe, der dort auf dem weit vorspringenden Felsstück etwa in halber Höhe des Dschamarar stand, auf dem Balkonfelsen, zu dem nur eine schmale, in das Gestein gesprengte Zickzacktreppe emporführt.

Die Gegend war einsam. Nur Touristen verirrten sich manchmal hierher in diese Steinwildnis, deren Unfruchtbarkeit und grauschwarzes Einerlei so niederdrückend wirkte. –

Der Mann dort oben auf der Felsplatte lehnte jetzt neben dem dunklen Schlund des Höhleneinganges. Er trug einen grauen, derben Sportanzug mit Kniehosen, dazu einen Tropenhelm. Seine Gestalt verriet trotz des weißen Haares und trotz des faltigen Gesichts ungebeugte Kraft. Die Augen von unbestimmter Farbe blickten kühl und selbstbewußt. – Das war Allan Leakwoord, Doktor Harald Dörcksens verräterischer Freund …

 

4. Kapitel

Stuart Burne hatte den Felsbalkon erreicht. Prüfend musterte er den, der ihn herbestellt hatte. Leakwoord grüßte nachlässig, begann sofort die Unterredung mit der Frage, ob der Inspektor in allem, was die Wolkengöttin anging, unbeschränkte Regierungsvollmacht besäße.

Burne bejahte. –

„Gut,“ meinte der ältere Leakwoord drauf, „dann werden wir zunächst einen schriftlichen Vertrag schließen, durch den die britische-indische Regierung sich verpflichtet, mir alles das zu überlassen, was an Kostbarkeiten und dergleichen im Land der Wolkenkönigin gefunden wird.“

Er hatte sich wieder in zwangloser Haltung an den kahlen Fels gelehnt, änderte beim Sprechen diese Haltung nicht im geringsten. Nur seine Lippen bewegten sich und seine Augen fuhren in steter Wachsamkeit umher.

Burne lächelte zweifelnd. „Im Land der Wolkenkönigin, sagen Sie? Ja – gibt es denn wirklich …“

Leakwoord unterbrach ihn. „Master Burne, erst der Vertrag. Dann werden Sie hören – und staunen! Unsere Erde birgt mehr Geheimnisse, als man gemeinhin denkt.“

Er zog ein Papier aus der Tasche. „Hier ist der Vertrag; hier eine Füllfeder. Lesen Sie – dann unterzeichnen Sie.“

Die Urkunde sicherte Allan Leakwoord alle Vorteile, die sich aus einem Eindringen in das Land der Wolkenkönigin ergeben könnten.

Burne unterschrieb. Leakwoord barg den Vertrag in seiner Brieftasche. –

„Folgen Sie mir!“ sagte er dann.

Schweigend schritten die beiden Männer bei Laternenschein in die Tiefen des Berges hinab, – durch natürliche Grotten, die zu Tempelräumen umgestaltet waren, über Steintreppen, bald aufwärts, bald abwärts, bis sie einen Raum erreichten, wo man in die dünne Steinwand nach außen hin Fenster eingesprengt und dem Tageslicht Zutritt verschafft hatte. Trotzdem herrschte hier nur ein ungewisses Zwielicht. –

Leakwoord deutete auf einen alten, mit einer Blutkruste überzogenen Opferstein. „Setzen Sie sich, Master Burne,“ meinte er. „Bevor ich meinen Freund Dörcksen sprechen lasse, will ich Ihnen folgendes mitteilen. Dörcksen hat Jahre in dem unbekannten Reich der Wolkenkönigin als deren Gatte gelebt. Dann beging er ein Verbrechen und wurde samt seiner beiden Kinder aus dem geheimnisvollen Land verstoßen. Mithin ist Hella Dörcksen eine Tochter der Wolkenkönigin. Daher auch die überraschende Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen. – Dies als Einleitung.“

Er holte jetzt aus einer Ecke einen Koffer hervor, entnahm ihm einen Phonographen, setzte die Teile zusammen und schob eine Walze auf die drehbare Trommel. „Diesen Apparat und die Walze habe ich nach langem Suchen in einem hohlen Baum unweit der letzten Behausung Harald Dörcksens gefunden,“ erklärte er weiter. „So – und nun geben Sie acht … Die Walze wird Ihnen Dörcksens Lebensgeschichte und seine Abenteuer im Land Olympia, dem Reich der neuen Gottheit, erzählen …“

Ein paar kreischende Töne … Dann eine klare, menschliche Stimme … Und diese Stimme schilderte die tragische Liebesgeschichte Harald Dörcksens und der Göttin Aspasia, der Wolkenkönigin …

Nur stellenweise versagte die Metallwalze, gab nur häßliche Geräusche von sich, überall dort, wo Leakwoord die feinen Wellenlinien zerkratzt hatte, damit Burne nicht alles erführe, – zum Beispiel nichts von der Quelle flüssigen Goldes, die unter dem Palast der Königin in den tiefen Gewölben aus einem Loch der heißen Felsen hervortrat und in einen Abgrund ihre Milliardenwerte ergoß … –

Burne saß regungslos, lauschte – lauschte … – Auch als die Walze längst vollends schwieg, verharrte er noch eine Weile in derselben Stellung eines gespannt Zuhörenden. Dann erhob er sich, meinte achselzuckend: „Ein schönes Märchen – eine abenteuerliche Erzählung, nichts wert!“

Leakwoord der Ältere erwiderte ernst: „Sie irren. Wahrheit, Wahrheit ist’s! Der Mann, der in den Zeitungsberichten über Hella Dörcksens Flucht als Odysseus Nemo bezeichnet wird, ist ein Bewohner jenes Landes zwischen den Schneehäuptern des Himalaya, heißt Gari Dingra!“ Er sprach weiter, zählte all die Beweise auf, daß es sich hier nicht lediglich um ein Phantasieprodukt handele.

Burne wurde anderer Meinung. Er dachte an Harry Leakwoord …

„Wir müssen ehrlich gegeneinander sein,“ sagte er nun. „Weshalb hat Ihr Sohn Hella Dörcksen auf betrügerische Weise eine Eheschließung vorspiegeln wollen, weshalb hat er ihren Bruder entführt? Etwa um einen Zwang auf sie ausüben zu können, daß sie ihm die Geheimnisse ihres Vaters verriet?“

„Es ist so, Master Burne. Es hat keinen Zweck, mit der Wahrheit hinterm Berge zu halten. – Doktor Dörcksen hat mich, seinen alten Freund, schmählich hintergangen,“ log er jetzt mit eherner Stirn. „Ich habe nur Gleiches mit Gleichem vergolten …“

„Ein hartgesottenes Schurkenpaar, diese beiden Leakwoords! Dachte Burne. Laut aber sagte er: „Sie wissen, daß Ihr Sohn sich wahrscheinlich in der Gewalt der Verschwörer befindet. Können Sie mir Genaueres über deren Pläne angeben?“

„Nein, Master Burne, – nichts. Ich bin erst vor acht Tagen aus Deutschland hier in Indien eingetroffen. Wir arbeiteten getrennt, Harry und ich. Während er Gari Dörcksen an einem sicheren Ort unterbrachte und dann seine hartnäckige Verfolgerin, diese blonde Teufelin Hella, loszuwerden suchte, blieb ich in Deutschland und spürte dort dem nur angeblich ums Leben gekommenen Doktor Dörcksen nach. Dabei fand ich schließlich die Phonographenwalze und beeilte mich nun, Harry hier wiederzusehen. Denn jetzt brauchen wir ja weder Hella noch ihren Bruder; wir werden auch ohne sie nach Olympia gelangen, und zwar mit Hilfe unserer neuen Riesenflugzeuge, die zwanzig Passagiere tragen können. Sechs dieser Maschinen mit einhundert auserlesenen Soldaten, mit einigen Maschinengewehren und …“

„Ah – also dahin geht Ihr Plan!“ fiel Burne ihm eifrig ins Wort. „Vortrefflich – ganz vortrefflich! Natürlich muß das glücken …! Ich freue mich jetzt ehrlich, daß wir Verbündete geworden sind, Master Leakwoord! In einem Monat spätestens werde ich alles für die Luftexpedition gegen Olympia bereit haben. Dann werden wir der Welt zeigen, was es mit der Göttin auf sich hat, die sich dort zwischen den Schneegipfeln der Himalayaberge zuweilen als Luftspiegelung sehen läßt. – Oh – Sie sollen mit mir zufrieden sein, Master Leakw …“

 

5. Kapitel

Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken.

Lautlos wie Gespenster waren zwölf – vierzehn – sechzehn Inder in den Raum gehuscht … Im Nu hatten sie die beiden Männer zu Boden gerissen … Nur eins hatte Allan Leakwoord noch tun können. Er hatte blitzschnell die aus einer Metallegierung bestehende Phonographenwalze durch eine der in der Wand befindlichen Öffnungen geworfen …

Inder waren’s … Aber sämtlich trugen sie die Gesichter mit Tüchern verhüllt, in die Löcher für die Augen geschnitten waren. –

Burne hatte ihnen sofort zugerufen, wer er sei; drohte jetzt mit schwerer Bestrafung … – Nicht einer der Vermummten antwortete ihm. Lautlos packten sie die beiden jetzt gefesselten Weißen und trugen sie davon, über Treppen und Gänge, immer tiefer hinein in die natürlichen Grotten und schmalen Höhlen des berühmten Dschamarar. Kein Wort sprachen die Vermummten. Wie ein Zug Gespenster folgten sie dem mit einer Fackel vorauseilenden Führer, einem Mann, dessen Magerkeit abschreckend und dessen Größe so auffallend war, daß Stuart Burne fast argwöhnte, Cheffri Ragindo könnte dieser Teilnehmer an dem so gut geglückten Überfall sein. Doch der dreimal Gewesene saß ja im Gerichtsgefängnis in Agra … So dachte der kleine „große“ Inspektor …

Nach einer halben Stunde betrat der Zug in einem Dickicht wieder die Oberwelt. Hier mündete ein geheimer Ausgang, von dem Burne bisher nie etwas gehört hatte. In der Nähe führte ein Feldweg vorüber. Dort hielt ein Auto. Allan Leakwoord und der Inspektor wurden unter den Rücksitzen am Boden festgebunden und mit einem Gestell bedeckt, auf das Koffer geschichtet wurden. Die Fahrt dauerte mit kurzen Unterbrechungen zwei Tage. In der Nacht schaffte man die beiden Gefangenen dann an Bord eines großen Segelkutters, in dessen winziger Kajüte eine Petroleumlampe brannte.

An dem Tischchen der Kajüte saßen zwei Männer. Burne fuhr zurück, als er sie erkannte …

Es waren … Crosterbroux, der Platinkönig, und Cheffri Ragindo!

Burnes Lippen entschlüpfte eine Verwünschung. Crosterbroux nickte ihm ganz freundlich zu. Und Ragindo sagte: „Sie sehen, daß den Scharmagri, den Gewesenen, alles gelingt.“ Er gab sich dem Inspektor gegenüber jetzt ganz anders. Er war nicht mehr der unterwürfige Inder, der verachtete, wenn auch mächtige Führer der Gewesenen …

„Alles gelingt uns, Master Burne. Unsere Macht reicht bis in die Zellen der Kerker hinein. Die beiden von uns bestochenen Gefängnisaufseher werden anderswo als fleißige Bauern glücklicher als bisher leben.“

Stuart Burne zuckte die Achseln. „Bis man sie fängt und einsperrt …!“ meinte er. „Sie aber, Master Crosterbroux, werden ein Bettler werden; Ihr Vermögen wird eingezogen. Nicht ungestraft vergeht man sich gegen unsere Gesetze.“

Der Platinkönig lächelte. „Vermögen, bester Burne? Vermögen …?! Das wird es sehr bald überhaupt nicht mehr geben …! Ich weiß zufällig …“ – er sprach ganz ernst und sachlich – „daß wir in einem Jahr eine völlige Umwandlung aller Werte durchmachen werden. Ragindo hat mir sozusagen das Programm der Anhänger der neuen Gottheit entwickelt. Ich will mich darüber nicht näher auslassen. Jedenfalls wird die Welt förmlich umgemodelt werden von Grund auf. Und Thomas Crosterbroux wird seinen schlauen Eisenkopf mit in den Dienst derer stellen, die beweisen wollen, daß der Anstifter alles Unheils das leidige Gold ist und daß weiterhin die Sucht nach Reichtum den moralischen Niedergang der Völker verursacht hat …“

Burne war sprachlos. „Und das – das sagen Sie, – Sie, der Direktor des Platinsyndikats, der doch …“

Crosterbroux machte eine abwehrende Geste. „Das sagt ein Mensch, Master Burne, der durch die Sorge um sein Kind und durch seine Verhaftung plötzlich erkannt hat, wie sehr es den Tatsachen entspricht, daß die gesamten Bewohner des Erdenrunds nach dem fünfjährigen Gemetzel des Weltkrieges und nach diesen unruhigen Friedensjahren nur eine Sehnsucht haben: eine allgemeine Versöhnung der Völker durch eine Religion, die jedem, ob Neger oder Europäer …“

Leakwoord und Burne brachen gleichzeitig in ein ironisches Gelächter aus. Sie nahmen den Platinkönig als Missionar der neuen Lehre nicht ernst.

Crosterbroux und Ragindo erhoben sich daraufhin. Und der dreimal Gewesene sagte, bevor auch er die Kajüte verließ: „Das Lachen wird Ihnen vergehen …!“

Der Kutter hatte indessen längst seinen Ankerplatz verlassen und steuerte den nördlichsten Riffen der Lakkadiven zu.

 

6. Kapitel

Hella näherte sich ohne Scheu der Wahnsinnigen, die jetzt dicht neben der Felsplatte stand, auf der Harry Leakwoord bereits Folterqualen erduldete, denen selbst seine Widerstandskraft nicht gewachsen war. Sein ganzer Körper schien sich in Feuer auflösen zu wollen unter den unbarmherzigen Strahlen des Sonnenballes; seine Haupt war dunkelrot und mit Blasen bedeckt; seine rissigen Lippen bluteten; seine Stimmwerkzeuge versagten den Dienst; nur ein Stöhnen kam noch zuweilen aus dem halb offenen Mund hervor.

Ellen Crosterbroux’ leere Augen glitten ohne Teilnahme über ihren Verlobten hin, der ihr stets ein Fremder gewesen. Jetzt bemerkte sie Hella, winkte und rief:

„Mandra, wo bleibt mein Frühstück …?“ Ihre Züge veränderten sich schnell, nahmen den Ausdruck krankhafter Wut an.

„Mandra, du bist ungehorsam gewesen …!“ schrillte ihre Stimme. Sie hob die Büchse halb in Anschlag. „Ich habe Hunger, und du läßt mich warten …“

Mahadur Mirat versuchte jetzt an ihr vorüber und hinter sie zu gelangen. Aber ihre Augen waren überall. Beim Anblick des Fürsten zuckte jäh die Erinnerung an die Liebesszene wieder in ihr auf, die sie von der Spitze des Felsens aus beobachtet hatte. Ihr Lachen gellte mit dem Geschrei der sich jagenden Möven um die Wette.

„Verräter – Treuloser, deine letzte Stunde ist gekommen!“ rief sie dem Radscha zu. „Du und deine Buhlin, ihr sterbt gemeinsam! Ellen Crosterbroux’ Kugeln verfehlen nie ihr Ziel!“ Sie hob die Büchse halb in Anschlag, während ihr Blick beständig ihre beiden Opfer beobachtete.

Da sank Hella kaum zehn Schritt vor der Irren in die Knie, faltete die Hände und flehte in Tönen höchster Angst, die sie vortrefflich mit allen Feinheiten einer begabten Schauspielerin traf: „Herrin, du irrst …! Jener Mann ist nicht der Radscha! Es ist Stuart Burne, der sich verkleidet hat. Du weißt, wie täuschend ähnlich er sich zu maskieren versteht … – Der Fürst ist dir auf die Spitze des Felsens durch den geheimen Zugang vorausgeeilt …“ –

Es war ein gefährliches Spiel, dieser Täuschungsversuch. Er glückte …

Ellen ließ die Mündung der Waffe sinken. Ein überirdisches Lächeln gab ihrem Antlitz jetzt den Ausdruck einer Heiligen.

„Mahadur Mirat erwartet dich, Herrin,“ fügte Hella hinzu. „Reverend Dixon will euch trauen …“

Das verzückte Lächeln blieb auf Ellens Zügen. Und langsam, wie eine Traumwandlerin dahinschreitend, ging sie auf dem Uferstreifen nach Süden zu, bis sie dieselbe Felsspalte erreicht hatte, in der Hella den Radscha vorher geborgen gehabt. Hier nun entfernte sie im tiefsten Winkel der Granitkluft von der linken Wand eine nur lose angelehnte Steinplatte, hinter der ein kaum meterhohes Loch sichtbar wurde. Ellen verschwand in der Öffnung …

Hella und der Radscha, die sich dicht hinter ihr gehalten hatten, warteten noch kurze Zeit. Dann folgten sie ihr. Mahadur Mirat drängte die Geliebte sanft zurück. „Laß mir den Vortritt …!“ meinte er.

Er tauchte in dem engen Loch unter. Vor sich bemerkte er sofort einen hellen Schimmer. Noch wenige Meter, und er verhielt sich in derselben Stellung eines auf den Knien sich Vorwärtsbewegenden regungslos …

Hella war jetzt neben ihm … Ihren Lippen entrang sich ein leiser Ausruf grenzenlosen Staunens …

„Hohl … hohl …!“ fügte sie mit zweifelndem Zögern hinzu.

„Ja – hohl ist der ungeheure Granitwürfel, – wenigstens zur Hälfte!“ flüsterte der Radscha.

Sie starrten geradeaus in die blendende Tageshelle hinein … – Drei Meter weiter endete der niedrige Gang, öffnete sich zu einem freien Hofraum, der wieder nach links zu in kurzen treppenartigen Terrassen bis zur Plattform der Westseite des Granitklotzes aufstieg.

Der Radscha kroch abermals vorwärts; richtete sich auf, stand nun im Innern dieses seltsamen Turmes, den die Natur in einer phantastischen Laune hier geschaffen hatte.

Hella lehnte sich an ihn … „Schau, – dort oben – Ellen Crosterbroux …!“

Hoch über ihnen auf einer der letzten Terrassen saß auf einer Bank vor einer winzigen Blockhütte, die von unten gesehen wie ein Kinderspielzeug wirkte, des Platinkönigs einzige Tochter und kämmte mit den gespreizten Fingern der rechten Hand ihr aufgelöstes, rotbraunes Haar … Und nun hörten die beiden Liebenden auch ihre Stimme, hörten das deutsche Lied, das die Ärmste mit den Tönen krankhaften Sehnens sang, hörten …:

Übers Jahr, mein Schatz, übers Jahr,

wenn die Rosen blühn im Garten …

„Wie unendlich traurig ist das!“ hauchte Hella tiefbewegt. „Und … wie seltsam all dies hier um uns herum … Mein Vater hat hier gehaust … Mahadur Mirat, es muß mein Vater gewesen sein …“

Sie standen und schauten. Gerade vor ihnen auf diesem eckigem Hofraum erhob sich ein langer, offener Schuppen; darunter bemerkte man allerhand Maschinen, Werkzeugtische, die Drähte elektrischer Leitungen, einen am Boden montierten Benzinmotor …

Der freie Platz selbst zeigte überall die Spuren menschlicher Tätigkeit. Holzteile, Eisenabfälle, Drahtstücke und anderes lagen umher. Und von der Zinne der Ostmauer des Naturturmes wieder hing ein mächtiger Flaschenzug mit armdicken Ketten herab … An der Südseite der Terrasse aber lief bis zu der Plattform des Steinblockes eine aus Brettern bestehende Gleitbahn hinauf, die fraglos dazu bestimmt gewesen, schwerere Stücke der Flugmaschine nach oben zu bringen.

Der Radscha wandte sich unsicher an die Geliebte.

„Wir werden Ellen Crosterbroux irgendwie überwältigen müssen, Hella … Ich weiß kein anderes Mittel, und …“

Von See her war undeutlich selbst bis in diese Tiefe des Felsenschachtes ein dumpfer Knall gedrungen.

Mahadur Mirat hatte den Satz nicht beendet, meinte nun argwöhnisch: „Was bedeutet dieser …“

Abermals derselbe Knall …

„Wie Kanonenschüsse klingt das,“ flüsterte Hella. „Mirat … dort … – Ellen klettert zur Plattform empor … Sie steht jetzt am Rand des Riesenwürfels … Da … sie streckt die Arme wie sehnsüchtig aus …“

Hella schrie laut auf. Des Platinkönigs Tochter war verschwunden …

„Sie hat sich in die Tiefe gestürzt …“ sagte der junge Fürst dumpf. „Komm, Liebes, – eilen wir nach oben … – Die Schüsse bedeuten vielleicht neue Not für uns … oder die Rettung …“

Ganz atemlos langten sie an der Stelle an, wo Ellen vorhin noch gestanden …

Sie war noch da … Wie tot lag sie zwischen den Felsstücken, die hier natürliche Mauerzinnen bildeten …

Der Radscha hatte hinab auf das leicht bewegte Meer gespäht: „Ein Schiff – ein großer Kutter, Hella …!“

Hella kniete neben der Ohnmächtigen. Jetzt schlug diese die Augen auf … Ein verständnisloser Blick traf des blonden Weibes Gesicht … Aber der Blick wurde klarer, verriet grübelndes Denken …

„Mein Gott – wo bin ich?“ fragte sie nun stockend. „Wo in aller Welt …? – Sie sind Hella Dörcksen … Das weiß ich … Ah – auch der Radscha steht dort …“

Hella und der Fürst tauschten ein vielsagendes Nicken. Beide hatten gemerkt, daß Ellen Crosterbroux durch irgend eine starke Gemütsbewegung wieder ihre gesunden Sinne zurückerhalten hatte.

Der Radscha ließ schnell die Augen wieder nach dem auf das Korallenriff zusteuernden Fahrzeug hinabgleiten; erkannte jetzt die massige Gestalt des einen Mannes an Deck …

„Thomas Crosterbroux!“ kam es als Ausruf ungläubigen Staunens über seine Lippen.

Ellen horchte auf … „Mein Vater …?!“ rief sie. „Ja – ja – – ich habe ihn soeben gesehen … Er war’s! Oh Miß Dörcksen, – jetzt fallen die Schleier … Ich – wir sind hier nach dem Schiffbruch des Schoners auf ein Eiland gelangt … Und wir haben …“

Von unten herauf der wahnwitzige Schrei entsetzlicher Qualen des Mannes am Felsen, des Mannes, den die Sonne briet …

Der Radscha erschauerte … „Er wird jetzt gestehen!“ meinte er hastig. „Ich eile zu ihm … Ich werde ihn fragen, wo dein Bruder sich befindet, Hella …“

Er begann den Abstieg; kroch zu dem Gefolterten, beugte sich über ihn, der nun aus weiten, blutgetränkten Augen ihn anstierte …

„Wo ist Gari Dörcksen?“ sagte der Radscha streng, indem er jede mitleidige Regung gewaltsam zurückdrängte.

Harry Leakwoords mürbe, rissige Lippen bewegten sich. Aber erst nach Sekunden konnte er die undeutlichen Worte formen: „Nepal – – in Nepal – – Dorf Gandamira – – Lamakloster Thudsidsengi …“

Der Radscha raffte vom Strand nasse Ballen Seetang auf, warf sie dem Gefolterten auf den Leib, hüllte den brennenden Körper in die feuchte Schutzschicht barmherziger Meerespflanzen …

Inzwischen hatte Ellen Crosterbroux den Schwächeanfall überwunden. Gestützt auf Hella Dörcksen stieg sie die Terrasse abwärts bis zu dem kleinen Wohnhaus aus unbehauenen Stämmen, setzte sich auf die Holzbank, behielt Hellas Rechte zwischen ihren Händen, flüsterte mit tränenumflorten Augen: „Ich … liebe den Radscha, Miß Dörcksen … Doch er … gehört Ihnen … Ich weiß es … Ich will ihn nicht mehr sehen … Senden Sie mir meinen Vater hier nach oben …“ Sie ließ Hellas Hand fahren, strich mit den Fingern über die Stirn hin … „Miß Dörcksen … vielleicht habe ich nur geträumt … Aber … mir ist, als hätte ich in der Hütte auf dem Tisch ein Heft gesehen … Und darin stand auf der ersten Seite:

Mein Tagebuch. – Dr. Harald Dörcksen“

Hella eilte zur Tür des Blockhauses, öffnete, trat ein …

Und auf dem roh gezimmerten Tisch vor dem kleinen Fenster sah sie wirklich ein dünnes Büchlein liegen … Mit zitternden Händen schlug sie es auf … –

Ellen Crosterbroux hatte nicht geträumt. Es war die Handschrift von Hellas Vater … Es war dessen Tagebuch …!

Hella suchte begierig nach der letzten Eintragung, überflog die letzten Sätze:

„Ich sehe meinen Schlupfwinkel durch diese Schiffbrüchigen bedroht. Mein Fahrzeug ist ausgerüstet. Ich werde meine Abfahrt beschleunigen … Drei von den Leuten des Schoners habe ich den Wellen entrissen. Ich nehme sie mit … Noch liegen sie in den Delirien eines schweren Fiebers danieder. Und … – einer von ihnen ist … Gari Dingra, ist der Mann, der mir den Zutritt zum Land meines heißgeliebten Weibes einst ermöglichte … Das Schicksal hat Gari Dingra und mich wieder vereint … Ich nehme es als gute Vorbedeutung … Noch zwei Stunden. Dann wird mein kleines Flugschiff sich in die Lüfte erheben … Vielleicht werde ich Aspasia, mein Weib, bald wiedersehen … –

Ich schließe jetzt diese Aufzeichnungen. Wer sie findet, mag sie lesen und dann meinen Kindern senden, – Hella und Gari Dörcksen in Deutschland, Einsiedelei Tannenhöh, Riesengebirge … –

Harald Dörcksen.“

Hella fuhr herum. Eine Hand hatte sich schwer auf ihre Schulter gelegt. – Vor ihr stand … Stuart Burne, der kleine „große“ Inspektor …

„Guten Tag, Miß Dörcksen,“ meinte Burne mit rachsüchtigem Lächeln. „Sie sehen, ich habe die Partie nun zum Schluß doch gewonnen … Man wollte Allan Leakwoord und mich hier auf diesem Riff aussetzen und Sie und Ihre Freunde abholen … Nun – unterwegs haben wir den Spieß umgedreht. Jetzt sind Leakwoord und ich Herren des Kutters. Und Thomas Crosterbroux war verständig genug, sich auf unsere Seite gegen die Zusicherung völliger Straffreiheit zu schlagen …“

Von der Tür her ein empörtes: „Schändlich! Mein Vater soll wirklich so kläglich gehandelt haben?!“

Ellen stand dort; Ellen, die Büchse im Arm …

Burne wurde es unbehaglich zumute. „Miß Crosterbroux, auch Sie gehen straffrei aus … Nur bitte ich Sie, sofort …“

Oh – Stuart Burne war schlau …! Mit einem wahren Tigersatz hatte er Ellen urplötzlich angesprungen, sie zurückgestoßen, ihr die Waffe entrissen …!

„So, Miß Crosterbroux, nun sprechen Sie nicht mehr von kläglich und schändlich …“ meinte er streng. „Ihr Vater hat nur recht getan, als er mit uns gemeinsame Sache gegen Cheffri Ragindo und dessen Gesindel machte.“

Er hatte Hella brutal ins Freie gezerrt; Stahlfesseln schnappten um ihre Handgelenke …

„Miß Dörcksen, auch der Radscha trägt diese festen Armbänder bereits. Trösten Sie sich damit …“ Beißender Spott ätzte seine Rede. Es war dies sonst nicht Stuart Burnes Art … Aber dieses blonde Weib, diese Hella Dörcksen, haßte er jetzt aus einem Übermaß sinnlicher Begierde heraus, die ja doch nie Erfüllung finden würde; er haßte sie, weil sie ihm gerade deshalb doppelt gefährlich war, – weil er sie begehrte wie noch nie ein Weib auf Erden …

Hella und Mahadur Mirat standen an Strand des Korallenriffs, eingehüllt in die rosige Lichtfülle des scheidenden Tages; sie standen und warteten, daß man sie an Bord des Kutters schaffte; standen mit auf den Rücken gefesselten Händen …

Hella lächelte … lächelte Stuart Burne an, der dem kleinen Boot soeben entstieg, und rief: „Vorwärts – hinein in die Jolle, Miß Dörcksen! Nach Agra geht’s zurück …!“ Das sollte heißen: Zurück ins Gefängnis …!

Hella lächelte siegesgewiß …

„Master Burne, – niemals werden Sie über die Tochter der Wolkenkönigin triumphieren – niemals! Ich – bin stärker als Sie …!“ Ihre Augen wanderten langsam höher; ihre Blicke hingen am nördlichen Horizont.

Burne lachte kurz auf. „Mit Redensarten richten Sie hier nichts mehr aus,“ meinte er. „Nur Tatsachen gelten. Und es ist Tatsache, daß Sie und Mahadur Mirat zu allem Übrigen jetzt noch Harry Leakwoord halbtot gefoltert haben, daß der Gepeinigte jetzt dem Verscheiden nahe ist …“ Er wollte noch mehr hinzufügen. Aber der wunderbare Glanz in Hella Dörcksens Augen machte ihn stutzig. Er wandte den Kopf; er folgte der Richtung ihrer Blicke … Und hörte sie nun auch leise flüstern mit hoffendem Sehnen:

„Vater … Vater …!“

Und da gewahrte nun auch er in der rosigen Unendlichkeit des Abendhimmels einen dunklen Punkt, der schnell an Größe zunahm …

„Vater …!“ flüsterte Hella abermals …

Stuart Burne begriff jäh die Bedeutung des Siegerlächelns seiner blonden Feindin …

„Vorwärts – hinüber auf den Kutter!“ brüllte er …

Gleich darauf stach dieser in See … –

Das Korallenriff träumte wieder einsam inmitten der nimmermüden Wogen, träumte von den armseligen Menschlein, deren Geschicke hier eine neue Wendung genommen hatten …

Und hoch im Äther schwebte kreisend ein seltsamer Vogel mit dickem, rundem Leib und kurzen Flügeln, schwebte Doktor Dörcksens kleines Flugschiff …