Sie sind hier

Viertes Buch: Chinesische Drachenbrüder – amerikanische Mafia

Viertes Buch

Chinesische Drachenbrüder – amerikanische Mafia

 

Erster Teil

Zwei alte Schulfreunde

 

1. Kapitel

„Dort, – seht dort! Ein Kutter –! Er stößt vom Ufer ab!“

In höchster Erregung hatte Harald Dörcksen die Worte ausgestoßen. In höchster Erregung starrten die drei Männer, die hinter ihm in dem Flugschiff standen, hinunter auf das blaue Meer, die Koralleninsel und – den Kutter.

Der Erfinder war so aufgewühlt in seinen Empfindungen, daß er fast unvorsichtig in der Handhabung des Flugschiffsteuers wurde. Es schwankte mehrmals bedenklich. Doch die Erregung des Mannes war nur zu verständlich. Wußte er doch durch Gari Dingra ein gut Teil der Zusammenhänge und Geheimnisse – bis zu dem Schiffbruch an der Koralleninsel. Auch die beiden anderen Männer, die er gerettet hatte, hatten ihm manches erzählen können. Denn das waren: Reverend Dixon und Professor Herbst!

Dörcksen wußte also um die Geschicke seiner Tochter und seines Sohnes – soweit diese seinen neuen Gefährten selbst bekannt waren. Wußte, daß Hella sich mit an Bord des gestrandeten Seglers befunden hatte.

Lebte sie noch? War sie etwa ein Opfer der Wogen geworden? Nein, eine innere Stimme sagte ihm, daß er sein Kind wiedersehen werde. Und – er glaubte dieser Stimme zuversichtlich.

Und nun – dieser fremde Kutter! Warum hatte er dies als unbewohnt bekannte Eiland angelaufen? Was hatte das zu bedeuten?

„Vorwärts, Freunde,“ stieß er hervor, „wir müssen der Sache auf den Grund gehen! Welch ein Glück, daß wir zur rechten Zeit kamen, als gerade dieses Schiff –“

Er unterbrach sich. Wies mit dem Kopf nach hinten.

„Rasch! Bewaffnen Sie sich! Dort liegt alles, was Sie brauchen!“

Große Kreise beschrieb das Flugschiff hoch, hoch über dem Kutter, der nur als dicker, dunkler Strich auf der Wasserfläche erkennbar war. Professor Herbst spähte mit einem Fernrohr hinunter.

„Zwei Inder bedienen das Fahrzeug,“ sagte er, „und ein Weißer. Ah, – der Mann hält anscheinend eine Waffe in der Hand! Die Inder arbeiten nur gezwungen. Schade, daß ich sein Gesicht nicht sehen kann. Aber ich glaube –“

Er schwieg, spähte angestrengt hinunter. Wohl ohne Erfolg; denn er blieb auch weiterhin stumm.

Dann ergriff Dörcksen wieder das Wort:

„Sind Sie bereit, meine Freunde? Gut, dann los! Achtung, ich lasse die „Wolke“ abwärts gehen. Luken auf und – Schußwaffen bereit! Sie, Dixon, nehmen das Sprachrohr.“

Die „Wolke“ sank. Der Höhenmesser zeigte: sechshundert Meter, fünfhundert … vierhundert … dreihundert … zweihundert …

Allan Leakwoord, der die den Kutter bedienenden beiden Inder mit dem Revolver in Schach hielt, sah besorgt zu dem sich immer mehr herabsenkenden Riesenvogel hinauf. Alle anderen befanden sich unter Deck. Und jetzt drang – fast unheimlich klang es, eine Stimme von oben:

„Halt, ihr da unten! Wir wollen zu euch an Bord. Denkt nicht an Widerstand! Wir sind in der Übermacht und gut bewaffnet. Wer sich widersetzt, wird unweigerlich erschossen!“

Das Flugschiff verlangsamte seine Fahrt, klatschte auf die Wasserfläche auf, schwamm und lag gleich darauf längsseits des Kutters. Zugleich waren Dixon, Herbst und Gari Dingra, alle drei Revolver in den Händen, herausgekommen.

Da tauchten auch aus der Kajüte des Kutters zwei Köpfe auf. Thomas Crosterbroux und Stuart Burne!

„Hände hoch!“ schallte es ihnen entgegen. Sie gehorchten instinktiv. Über das verzweifelt komische, verblüffte Gesicht, das der Inspektor dabei machte, mußte selbst der sonst so gleichmütige Gari Dingra lächeln.

„Ihr seid frei,“ rief Dixon den beiden Indern an Bord zu, „wenn ihr die Weißen bindet!“

Nur zu gern taten sie das. Stürzten sich mit Feuereifer auf die immer noch völlig Überraschten und umschnürten sie mit Stricken. Indessen tauchte Ellen Crosterbroux auf, übersah mit einem Blick die Situation.

„Pa –! Was ist das –?!“

Da hatten die Inder auch sie schon gepackt. Dixon zuckte die Achseln.

„So leid es mir tut, Miß Crosterbroux, aber einstweilen muß ich auch Sie binden lassen. Über das, was weiter mit Ihnen geschehen soll, wird Herr Dr. Dörcksen entscheiden.“

Burne fuhr auf.

„Ah – Doktor Dörcksen! Also doch! Nun, dann sind wir – … Verwünschtes Pech!“

Er sah seine Felle endgültig davonschwimmen. – Harald Dörcksen kam nun an Bord des Kutters. Dixon und Herbst stellten vor:

„Das ist Burne, der sehr tüchtige, leider für eine schlechte Sache tätige Detektiv; unser ärgster Feind. Und jener Gentleman ist Mr. Crosterbroux, der Platinkönig.“

„Wer ist sonst noch an Bord?“ wandte sich Dörcksen an Burne.

„Sehen Sie doch selbst nach,“ entgegnete der Inspektor wütend. Er kochte innerlich. Sollte wirklich alles verloren sein? Noch gab er die Hoffnung nicht auf, dieser zähe Mensch.

Dörcksen und Gari Dingra stiegen in das Innere des Kutters hinab. Fanden die Gefangenen und den stöhnenden Harry Leakwoord, – und nur Sekunden später lagen sich Vater und Tochter in den Armen.

„Vater, lieber Vater, – habe ich dich endlich wieder …!“ schluchzte Hella.

„Mein Kind! Gott sei Dank!“

Dann sagten sie nichts mehr. Hielten sich nur eng umschlungen. Zu lange hatte die Trennung gedauert, und zu viel hatten sie beide inzwischen erlebt.

Mahadur Mirat stand dabei, tiefatmend. Und in dem Blick, den er auf Hella ruhen ließ, lag soviel Seligkeit. Gari Dingra nickte unmerklich, als er das sah, als er bemerkte, wie es um den jungen Radscha stand. Seine Brust hob kaum merkbar ein Seufzer. Hella glich Aspasia, ihrer Mutter, Zug um Zug. Aspasia, der Göttin über den Wolken, zu der einst sein Herz in Liebe entflammt war. Er wurde verstoßen damals. Freilich, und das gestand er sich selbst ein, rein war seine Liebe nicht gewesen, – war nur erweckt vom Gluthauch der Sinnlichkeit.

Lange her war das … lange …

Als endlich Dörcksen Hella aus seinen Armen ließ, wandte er sich dem Radscha zu, streckte ihm die Hand hin.

„Sie haben mein Kind mehr als einmal gerettet. Ich weiß es aus den Erzählungen meiner Freunde. Ich danke Ihnen.“

Doch Mirat schüttelte sanft das Haupt.

„Da ist nichts zu danken, Herr Professor. Denn auch Hella, – denn auch Ihre Tochter hat mir das Leben gerettet. Das gleicht sich aus. Und außerdem –“

Er stockte. Aber wieder flog ein Blick zu Hella hinüber, ein Blick so voll Liebe, daß Dörcksen stutzig wurde. Er sah seine Tochter an. Die senkte die Lider und wurde rot. Da wußte er Bescheid. Doch er sagte nichts.

Brauchte er auch nicht. Denn wie Magnet und Eisen, so flogen gleich darauf Mirat und Hella aufeinander zu. Unter Lachen und Schluchzen gestand Hella:

„Ich liebe ihn, Vater!“

Der – nickte nur, legte beiden die Hand auf die Schulter.

„Ich wünsche euch recht viel Glück, Kinder! Vielleicht kann ich einst noch selbst dazu beitragen …“

Inzwischen nahm der Kutter Kurs zurück auf die Insel. Das Flugschiff blieb, da die Oberfläche des Meeres ganz ruhig lag, im Schlepptau.

Ellen Crosterbroux war empört. Sie flammte. Über das neue Mißgeschick, über ihres Vaters Fesselung und die eigene Machtlosigkeit.

„Was wird nun aus uns, Herr Professor?“ rief sie. „Inspektor Burne verfolgte meinen Vater ganz zu Unrecht; er –“

Da ließ sich die Stimme des Platinkönigs, der an den Mast gelehnt saß, vernehmen:

„Laß, Ellen. Es ist ganz gut so. Aus der Gewalt Master Burnes sind wir befreit. Und – mit Professor Dörcksen wird sich reden lassen. Gehöre ich doch selbst innerlich längst jenem Bunde der neuen Religion an.“

Ein Leuchten ging unwillkürlich über die Gesichter Mahadur Mirats, Gari Dingras und der dabeistehenden Inder. Crosterbroux fuhr fort:

„Was soll geschehen, wenn wir nach Agra zurückkehren? Man wird uns wieder gefangen setzen. Auf der Insel des Professors aber werden wir frei sein. Vielleicht –“ setzte er hinzu und sah fragend zu Dörcksen hinüber. Ehe der noch etwas erwidern konnte, sagte Gari Dingra:

„Es ist wahr. Master Crosterbroux half uns damals Miß Hella zu befreien. Freilich zunächst nur, um auf diese Art seine eigene Tochter freizubekommen. Aber ich glaube –“

„Sie werden frei werden, Mr. Crosterbroux,“ entgegnete Dörcksen, „doch erst muß ich ganz sicher gehen …“

Der Platinkönig nickte. Er war damit durchaus einverstanden, nur Ellen runzelte die Brauen. Was hieß: Sie werden frei sein? Auf der Insel? Und dann –?

Die Liebe zu Mahadur Mirat machte ihr immer noch zu schaffen. Zwar hatte sie verzichtet; doch nur, da sie sah, daß Mirat für sie im Moment unerreichbar blieb. Denn der liebte Hella …

Man langte bei der Insel an. Burne wurde in einer der Höhlen des hohlen Felsens gut gefesselt untergebracht und von einem der Inder bewacht. Allan Leakwoord teilte dies Geschick, während Harry, der in ein schweres Fieber verfallen war, in einem helleren Raum zwar gepflegt, aber doch auch streng bewacht wurde.

Der Platinkönig und seine Tochter durften frei umhergehen, nachdem sie feierlich versprochen hatten, mit Leakwoord und Burne keinerlei Verbindung zu suchen, – wozu sie ja eigentlich auch keinen Grund hatten. –

Und dann saß man beisammen oben auf dem Felsplateau. Die letzten Erlebnisse Hellas waren bald erzählt. Dann begann Harald Dörcksen seine Geschichte. Und wieder entrollte sich vor den Hörern ein Lebensabschnitt von überwältigender Buntheit.

 

2. Kapitel

Während Hella und Gari auf Tannenhöh den Tod ihres geliebten Vaters beweinten, und die Nachricht von dem Absturz des Gelehrten und Sonderlings in allen Zeitungen stand, wanderte ein nicht mehr junger Landstreicher mit zwei Bündeln talabwärts, dem nächsten Städtchen zu. Ihm war nicht froh zumute, diesem „Landstreicher“, der Harald Dörcksen hieß. Es tat ihm weh, sehr weh, daß er seinen Kindern diesen Schmerz angetan. Aber – er hatte ja nur um ihres Glücks willen so gehandelt. Hatte es nur getan, um ihnen später die Vereinigung mit ihrer Mutter Aspasia, der Wolkenkönigin im Gefilde der Seligen auf dem Gaurisankar zu ermöglichen und selbst mit ihr und ihnen in jenem glücklichen Land zu leben.

So wanderte er fort. Niemand beachtete ihn. Landstreicher gibt es viele. In dem nächsten Städtchen betrat er einen Kleiderladen. Schon wollte der Ladeninhaber ihn barsch hinausweisen. Doch Dörcksens Hinweis darauf, daß er Geld habe und etwas kaufen wolle, verhinderte dies.

„Etwas kaufen?“ wiederholte der Geschäftsmann mißtrauisch. Dörcksen aber zog einige größere Geldscheine hervor, deren Anblick den Verkäufer sichtlich umstimmte. Dennoch zögerte er:

„Eigentlich sollte man Euresgleichen gar nichts verkaufen. Das Geld ist ja doch nur gestohlen.“

Der Professor wollte aufbrausen, doch er besann sich rechtzeitig seines Äußeren, das er, um unerkannt fortwandern zu können, gewählt hatte. Er bekam, was er wollte. Wäsche, Stiefel und einen Anzug.

In einer einfachen Herberge zog Dörcksen die neuen Sachen an. Dann verließ er mit dem Nachtzug den Ort. Es war geglückt! Niemand ahnte … Er fuhr bis Berlin, von dort nach Hamburg. Das war die Stadt, die für die Verwirklichung seines großen Planes der Ausgangspunkt sein sollte.

Erst jetzt in der Hansestadt fühlte sich der Professor völlig frei. Als einzigen Ausweis führte er seine Geburtsurkunde mit sich und im Hotel, in dem er abstieg, dachte niemand daran, den „Kaufmann Dörcksen“ mit jenem Gelehrten gleichen Namens aus dem Riesengebirge in Verbindung zu bringen, von dessen Unfall man vielleicht die kurze Notiz in der Zeitung gelesen hatte.

Wenn auch nicht sorgenlos, aber doch recht sorglos schlenderte er durch die Straßen Hamburgs in dem beruhigenden Gefühl, von niemand gekannt zu werden. Um so erschreckter war er, als plötzlich von der anderen Straßenseite eine tiefe Stimme erklang:

„Hallo, Harald – alter Junge! Potz Fockmast und Ankerspill, – er ist’s wirklich!“

Erschrocken und ratlos schaute Dörcksen den wettergebräunten Hünen in Kapitänskleidung an, der strahlenden Gesichts auf ihn zukam und ihm beide Hände entgegenstreckte.

„Kennst mich nicht mehr, wie? Oder – soll ich „Sie“ sagen? Weißt du nicht mehr –? Knut Söder, der immer in der Schule deine Rechenarbeiten abschrieb, weil du ihm darin stets über warst? Aus Untersekunda nahm man mich dann heraus aus dem Gymnasium – leider, während du weitergingst.“

Ja, Dörcksen entsann sich jetzt. Er hatte ihn auch noch nach der Schulzeit hin und wieder getroffen, den langen Knut Söder, der immer allerhand lustige Streiche und phantastische Pläne im Kopf hatte. Dann trennten sich ihre Wege. Er hörte nur noch, daß jener zur See gegangen sein sollte. Später nie mehr etwas. Das war nun schon gut dreißig Jahre her.

Er – gewiß, er, Harald Dörcksen, fühlte sich heute mit seinen fünfundfünfzig Jahren noch als Mann im besten Alter. Aber jener da vor ihm, das war ja noch ein Jüngling, dem der Schalk aus den Augen blitzte! Nun, wenn auch nicht gerade jünglingshaft, so sah doch Kapitän Söder, der nur zwei Jahre weniger zählte als der Professor, wesentlich jünger aus.

„Ich entsinne mich, Knut, ja! Sag’, wie kommst du so plötzlich hierher?“

Der andere lachte dröhnend.

„Plötzlich? Na, soll ich vielleicht so nach und nach kommen? Nein, aber nun mach’ bloß nicht so’n Gesicht, wie eine Qualle, die auf Sand geraten ist! Kapitän Söder und sein „Delphin“ haben heute wieder ’mal ein Bombengeschäft gemacht. Da wollen sie nur fröhliche Gesichter sehen! Komm, alter Junge, wir wollen erst einmal unser Wiedersehen begießen!“

Ehe noch Dörcksen dazu kam, irgend etwas zu erwidern, hatte der Kapitän ihn in eine Restauration dritten Ranges gezerrt.

„Wirt! Wein!“

Ein Faustschlag auf den Tisch, daß die Platte dröhnte. Verschüchtert, kopfschüttelnd musterte der Professor den kraft- und gesundheitsstrotzenden Jugendkameraden.

„Dir scheint es ja immer recht gut gegangen zu sein,“ sagte er. Da wurde der Riese einen Moment ernst.

„Oh nein. Hast du eine Ahnung! Ganz im Gegenteil. Aber – mein Glück war das. Gewissermaßen. Hindurch mußte ich, wenn ich nicht verkommen wollte. Und das wollte ich ganz und gar nicht. Und was der Mensch muß, das kann er auch. Also – es ging. Ich kam zur See. Ganz unten angefangen natürlich. Verdammte Arbeit. Und Menschen –! Die reinen Viecher. Aber – Ohren steif gehalten und – es ging. Die ganze Dreckkugel, Erde genannt, habe ich gesehen. Zuerst kam ich nach London –“

Und Söder begann zu erzählen in einer gewalttätigen, lauten, daher aber so überaus erfrischend heiteren Art, daß Dörcksen nicht müde wurde, zuzuhören. Und zu staunen. Denn, was der Kapitän erzählte, ließ bei dem Professor selbst die Bilder seiner eigenen Erlebnisse zurücktreten und ihn seinen Kummer für Stunden vergessen.

Und währenddessen trank der Kapitän. Grog. Internationalen Seemannsgrog: Rum mit Tokayer. Trank für Drei, trank ungeheure Mengen, ohne auch nur im geringsten berauscht zu werden; und erzählte. Der Professor unterbrach ihn mit keinem Wort; saß nur da, sah, hörte und – staunte.

Wie ein Traum war es ihm. Seine eigenen Erlebnisse, seine Pläne, die Erzählungen Söders, – alles schwamm durcheinander. Munter und ganz klar wurde er erst wieder, als der Kapitän plötzlich im Erzählen innehielt und dann fragte:

„Und was machst Du jetzt –?“

Aber er wartete die Antwort nicht ab. Setzte gleich fort:

„Ah, – meinen „Delphin“; den mußt du dir ansehen. Ein Wunderschiff, sage ich dir. Nach meinen Angaben und denen Stephan Türcks gebaut. Übrigens – Türck – ein Original. Mußt du auch kennen lernen. Weißt du was? Komm mit, wenn du gerade nichts Besseres vorhast! Oder – aber richtig, ja, ich fragte ja schon, was machst du jetzt eigentlich in Hamburg?“

Professor Dörcksen seufzte tief auf. Von dem Ziel seiner Pläne konnte und wollte er dem Kapitän vorläufig noch nichts erzählen. Aber das andere …

„Die Sache ist die,“ sagte er; „ich habe eine Erfindung gemacht. Eine große, umwälzende Sache. Du wirst wohl wissen, wie streng geheim man so etwas halten muß. Die Erprobung ging nun unmöglich da, wo Menschen so dicht beieinander hausen, wie in Europa. Darum machte ich all mein Geld, das ich besaß, flüssig – und bin nun auf der Suche nach einem abgelegenen, doch nicht allzu unzugänglichen Ort, an dem ich mein großes Werk vollenden kann. Am liebsten wäre mir eine Insel …“

Söder hatte aufmerksam zugehört. Bei den letzten Worten Dörcksens leuchteten seine Augen auf.

„Eine Insel –? Warte ’mal … Was ist es denn überhaupt, das du bauen willst. Ich nehme an, irgend eine neue Art von Maschine oder dergleichen …“

Der Professor nickte.

„Ja. Es handelt sich um ein neues Flugapparatsystem. Der Motor –“

Und nun setzte er dem immer interessierter aufhorchenden Kapitän die Art seiner Erfindung auseinander.

„Famos! Potz Klüver und Besan, das ist etwas. Ha, und Türck, der wird springen, wenn er davon hört. Das ist etwas für ihn! Mensch, alter Junge, komm mit! Wenn’s weiter nichts ist –, eine unbewohnte Insel spüren wir schon auf irgendwo. Ich kenne selbst eine ganze Menge davon.“

Er drehte sich um.

„Wirt! Zahlen!“

Als der Wirt zum kassieren kam, fragte Söder plötzlich:

„Haben Sie Eiskümmel, so richtigen, fünfzigprozentigen?“

„Aber gewiß, Käpt’n. Richtigen. Wenn Sie drei davon trinken, spüren Sie’s schon gehörig.“

„Drei –? Gut, dann bringen Sie noch neun davon.“

„Sehr wohl, Käpt’n.“

Der Professor wehrte ab.

„Aber, aber, lieber Söder! Ich bin gar kein Freund von Alkohol; vertrage ihn auch kaum so recht. Ich möchte nicht –“

„Sollst auch gar nicht, old boy,“ unterbrach ihn Söder, „sollst auch gar nicht. Die neun soll der Wirt allein trinken. Den kenne ich schon lange. Der spekuliert immer darauf, daß man ihn auffordert, mitzutrinken. Tut man das nicht, schlägt er gleich mit dem Preis auf. Dem will ich ’mal einen kleinen Denkzettel geben.“

Da kam auch schon der Wirt mit den neun Gläsern auf dem Tablett, alle ganz ansehnlich groß. Der Kapitän nickte schmunzelnd:

„So, Verehrtester, ich lade Sie ein, diese neun Schnäpse auf mein Wohl zu trinken.“

„Alle neun – ich allein?“

Söder lachte dröhnend auf.

„Ah, er macht gleich Reime vor Schreck! Ja, ja, es ist mir ganz ernst damit! Hier ist das erste Glas.“

Der Wirt schüttelte den Kopf.

„Na, wird’s nun bald!“ brüllte da der Kapitän los und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß – die Platte mitten durchplatzte. Der Wirt wollte erst noch etwas sagen wegen Sachbeschädigung und so, – aber Söder sah ihn so drohend an, daß er schlotternd hastig zum ersten Glas griff, es leerte, – dann das zweite, dritte … Beim sechsten stockte er. Doch als nun der Kapitän ein dumpfes Knurren hören ließ, goß er schnell auch noch die letzten hinunter.

Dann nahm er das Geld, das Söder auf den Tisch geworfen hatte. Es war viel mehr, als die Zeche ausmachte.

„Der Rest für die Tischplatte,“ sagte Söder und erhob sich. Der Wirt entfernte sich. Sein Blick war glasig. Er wankte bis zur Theke, wollte sich auf einen Schemel niederlassen, verfehlte aber das Ziel, setzte sich daneben und riß im Fallen ein ganzes Regal mit Gläsern um.

Schallendes Gelächter der anderen Gäste, in das auch Söder mit einstimmte.

„Der hat genug für heute..“

Dann wandte er sich zu dem Professor, der dem Getümmel verständnislos zusah und – wieder wollte er sich ausschütten vor Lachen.

„Mensch, hahaha, nein, hahaha, wie siehst du aus! Wie eine Heuschrecke, die ins Wasser gefallen ist, – so ein Gesicht machst du! Ja, sieh ’mal, bei uns Wasserratten herrscht ein derber, aber herzlicher Ton. So – er wies auf die zerbrochen umherliegenden Gläser – sieht er aus, der Ton. Aber – Kapitän Söder hat noch nie jemanden geschädigt. Hier, alter Saufsack, Schmerzensgeld!“

Bei den Worten warf er dem Wirt, der sich noch am Boden wälzte, eine größere Banknote zu.

„Du mußt ja viel haben,“ meinte Dörcksen kopfschüttelnd.

„Geld? Oh nein, dies war der letzte Schein. Aber – Proviant ist an Bord und morgen früh geht’s in See. Was brauche ich da noch?“

„Nun ja, aber –“

„Diese Denkweise ist dir fremd, wie?“

„Eigentlich ja; ich –“

„Ich verdenke dir das nicht; kann es sogar sehr gut verstehen,“ unterbrach der Kapitän den Jugendfreund wieder; „aber – ich bin nun ’mal so.“

Leiser, feuchter Wind umwehte die Beiden, als sie ins Freie traten. Es war inzwischen dunkel geworden. Unweit des Lokals, das sie soeben verlassen hatten, lag die Binnenalster. Schiffsleiber ragten da auf. Das Wasser plätscherte an der Ufermauer. Ab und zu drang der Ton einer Dampfsirene aus der Ferne herüber.

In des Professors Empfindungen kam nun doch der Reiz solch einer Hafengegend am Abend, jene eigenartige Stimmung, die er heute besonders stark spürte. Sie machte ihn fast weich. Der Anblick des Wassers, der Weite … An seine Kinder dachte er … Und an sie, die Herrliche … Aspasia, die Wolkenkönigin …

Wie fern das alles war. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust.

Da legte Söder seine Hand auf den Arm Dörcksens.

„Dich drückt etwas, alter Junge. Das seh’ ich dir an. Halte mich nur nicht für einen Säufer, einen Rohling. Das ist alles äußerlich. Das gehört zum Beruf des Seemannes, zu meinem Beruf, den ich über alles liebe. Das brauche ich zum Leben. Aber sonst – ich bin nicht so rauh, wie du vielleicht denkst. Nochmals, Freund, komm’ mit mir – wenn dir das irgendwie nützten kann. Ich will dir gern helfen. Mein Schiff steht dir zur Verfügung. Und – wenn du kein Geld hast, – wir werden genug haben.“

Dörcksen schlug in die dargereichte Rechte des Freundes ein.

„Ich danke dir, Knut! Nur zu gern nehme ich dein Angebot an. Geld – habe ich genug dabei. Das ist es nicht. Anderes brauche ich. Aber – du wirst ja hören.“

Freudig drückte der Kapitän Dörcksens Hand. „Freut mich aufrichtig, old boy; das wird eine schöne Fahrt werden!“

Sie begaben sich zu dem Hotel, in dem der Professor abgestiegen war, holten dessen Sachen – zwei kleine Handkoffer – ab und fuhren zum Hafen. Dörcksen war wieder schweigsam geworden, als sie jetzt am Pier entlangschritten.

Auch Söder schwieg. Plötzlich aber ergriff er des Professors Arm, preßte ihn, daß der fast aufschrie.

„Was ist das –?!“ stieß er hervor, auf die Wasserfläche starrend, die im Mondlicht matt glänzend dalag.

„Was denn?“

„Der „Delphin“, mein Schiff, – nicht hier?“

Er spähte rundum.

„Da soll doch gleich der Klabautermann dreinfahren –! Hat mir die Bande meinen „Delphin“ geklaut –?“

Dörcksen schüttelte den Kopf. Er begriff nicht. Ein ganzes Schiff konnte doch nicht so ohne weiteres verschwinden!

„Vielleicht haben deine Leute inzwischen anderswo festgemacht,“ meinte er. Über des Kapitäns Gesicht huschte ein Lächeln.

„Meine Leute –? Nein, nein, da muß irgend etwas passiert sein. Sonst –“

In dem Augenblick trat rasch ein altes Weib an den Kapitän heran, reichte ihm einen Zettel und hinkte davon. Einen Augenblick sah Söder der Alten verwundert nach. Dann trat er unter eine der Bogenlampen. Las –:

„Mit Vorsicht zum „Blauen Stern“. Türck.“

„Türck –!“ murmelte der Kapitän lächelnd.

„Türck –?“ fragte Dörcksen. „Der Übersender?!“

Söder nickte.

„Auch der Überbringer. Wir müssen sofort in die Kneipe „Blauer Stern“. Mit dem „Delphin“ muß irgend etwas nicht in Ordnung sein. Ich bin recht in Sorge wegen der Ladung. Wenn Türck nicht an Bord ist …“

„Woraus besteht denn die Ladung?“ fragte Dörcksen. Wieder lächelte der Kapitän in ganz eigenartiger Weise. So recht schelmisch.

„Schwefelkies.“

„Schwefelkies –?“

Der Professor war im wahren Sinne des Wortes sprachlos. Er sagte nichts mehr. Alles, was mit seinem Jugendfreund zusammenhing, war höchst merkwürdig. Er war in Sorge um seine Ladung – Schwefelkies? Und Türck, nach den Worten des Kapitäns eine Art Schiffsingenieur – ein altes, hinkendes Weib? Nein, das ging ihm denn doch über den Verstand.

Söder paßte auf ihrem weiteren Weg genau auf, ob ihnen niemand folgte. Doch die Straßen waren hier menschenleer. Da tauchte, matt beleuchtet, ein Wirtshausschild auf. Der „Blaue Stern“. Noch ein Blick des Kapitäns rundum … Niemand hinter ihnen. Da traten sie ein.

 

3. Kapitel

„Setz dich hierher. Ich komme gleich zurück,“ sagte Söder und ging in einen Nebenraum. Er blieb keine zehn Minuten fort. Als er wiederkam, war ihm eine gewisse Erregung anzumerken. Er winkte Dörcksen, und sie traten wieder auf die Straße hinaus.

„Wir fahren noch heute Nacht,“ sagte der Kapitän. Rasch schritten sie aus, dem Hafen zu. Als Dörcksen sich einmal umsah, bemerkte er das alte Weib, das hinter ihnen herkam, – dasselbe, das Söder vorhin den Zettel gereicht hatte. Jetzt hinkte die Alte aber nicht mehr. Sie ging schneller, als die Beiden, hatte sie bald eingeholt; rief nun den Kapitän an. Der wandte sich um.

„Das Boot liegt bereit –?“

„Jawoll, Kapit’n.“

„Und wie lange werden wir brauchen, bis zum „Delphin“ –?“

„Eine gute Stunde.“ –

Das Bollwerk war erreicht. Unten schaukelte eine Jolle mit einem Außenbordhilfsmotor. Sie stiegen ein.

Unterwegs klärte Söder dem Professor den Zusammenhang teilweise auf. Und so lag der Fall: Türck, der jetzt als Frau verkleidet neben seinem Kapitän saß, hatte ganz zufällig das Gespräch zweier Männer mitangehört, das englisch geführt wurde. Als er den Namen „Delphin“ vernahm, paßte er, aufmerksam geworden, genauer auf und – merkte bald, daß es sich um einen deutschen Kriminalbeamten und einen amerikanischen Detektiv handelte, der von der Regierung der Vereinigten Staaten hinter Söder her gesandt worden war. Sein Schiff sollte, wenn irgend möglich, an der Abfahrt gehindert werden. Dem widersprach jedoch der deutsche Beamte. Kurz – sie waren sich über das, was unternommen werden sollte, nicht einig geworden.

Als sie sich entfernt hatten, eilte Türck sofort an Bord und führte den „Delphin“ an eine andere Stelle des Hafens, verkleidete sich als Frau – was ihm übrigens ganz verblüffend gelang – und erwartete Söder an der alten Stelle am Pier.

Soweit Söders Erklärung. Aber der Professor war noch immer nicht „im Bilde“.

„Und weswegen willst du bei Nacht und Nebel verschwinden? Nur weil jener amerikanische Detektiv –“

„Allerdings,“ unterbrach ihn sein Schulfreund; „das ist schwerwiegend genug. Eigentlich sogar mehr als das –: Es ist schlimm.“

„Wieso?“

„Weil es mir beweist, daß die Yankees auf meine Schwefelkiesladung aufmerksam geworden sind. Vielleicht mehr als das.“

„Und was ist dabei?“

„Dabei wäre nichts, wenn die Ladung eben nur aus Schwefelkies bestände und dieser Schwefelkies keine – Diamanten enthielte!“

Ah, nun ward Dörcksen der Zusammenhang mit einem Schlage klar. Diamanten! Auf der Einführung von Diamanten nach den Vereinigten Staaten stand ein besonders hoher Zoll. Daher war – Diamantenschmuggel dort ein sehr einträgliches Geschäft. Und, potz – das war das „Bombengeschäft“, von dem Söder heute schon einmal gesprochen hatte. –

Eintönig ratterte der kleine Motor. Da tauchte nicht weit vor ihnen eine grauweiße Masse auf. Türck stoppte. Gleich darauf legte das Boot an einem großen Schiffskörper an, der völlig dunkel dalag.

„Abgeblendete Lichter …“ murmelte der Kapitän; „gut, zwar riskant, aber –“

Sie klommen an Deck. Dörcksen staunte schon wieder. Das hatte er nicht erwartet. Ein Frachtschiff, stinkend und staubig, hatte er sich vorgestellt. Und – ein Salondampfer hatte ihn aufgenommen. War das überhaupt ein Dampfer? Dörcksen konnte weder Schornsteine, noch Masten erspähen. Auch die Kommandobrücke fehlte. Überhaupt jegliche Decksaufbauten.

Söder mochte wohl die erstaunten Blicke des Professors bemerkt haben.

„Elektrisch,“ sagte er kurz; „alles – Beleuchtung, Antrieb, Heizung – was du nur willst. Bis zum Zigarrenanzünder. Wirst schon sehen. Nun aber hinunter in die Kajüte. Türck,“ wandte er sich dann an den Verkleideten, „sofort alles zur Abfahrt klar machen.“

Die „Alte“ verschwand. Söder schritt, von dem Professor gefolgt, dem Kajüteneingang zu. „Türck ist nämlich mein Maschinist,“ erklärte er dabei. Wie in einem seltsamen Traum befangen, folgte ihm Dörcksen. Über das, was ihn nun im Innern des Schiffes erwartete, sollte er aber noch viel mehr staunen.

Da war es zunächst nicht etwa dunkel. Im Gegenteil, blendend hell; nur die Luken lichtdicht verschlossen. Alles glänzte weiß lackiert. Eben ein Salonschiff, wie man es sich luxuriöser kaum vorstellen konnte. Sie betraten eine Kabine. Aber – war das überhaupt eine Kabine –? Ein kleiner Salon war es, Klubmöbel, gediegenste Arbeit.

„Gedulde dich einen Augenblick; ich werde dir meinen Koch mit einem Imbiß schicken,“ sagte der Kapitän und verließ den Raum. Harald Dörcksen sah sich um. Ah, auch eine Bibliothek war da! Glastüren, dahinter die Fächer in die Wand eingelassen.

Er trat heran. Goethe – Schiller – Shakespeare – Uhland – so ziemlich alle Klassiker waren vertreten in guten Auswahlbänden. Dann aber auch die moderne Literatur.

Dörcksen schüttelte den Kopf. Wer hätte das von dem Kapitän erwartet nach jenem etwas wüßten Auftritt in der Kneipe!

Oh, – und er sollte noch viel mehr widersprechende Züge an seinem ehemaligen Schulfreund entdecken! Später.

Es wurde an die Kabinentür geklopft.

„Herein!“

Der Koch, ganz in Weiß, trat ein. Aber – das Gesicht – das war ja das alte Weib von vorhin; also – Türck!

Er stellte ein Tablett voll duftender auserlesener Speisen vor Dörcksen hin.

„Sie sind also Herr Türck,“ begann der Wissenschaftler, weil der vielseitige Mann ihn interessierte. Das hagere, faltige Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Ei jewiß doch, Herr Doktor, das bin ’ch freilich.“

Also – ein Sachse!

„Solld noch was chefällig sind, denn soachen Se ’s, bitte, ja?“ sächselte der Kleine weiter. Wirklich ein Original! Ein zu großer Kopf auf einem kleinen dürren Körper, der dennoch in jeder Bewegung große Geschmeidigkeit verriet; das Gesicht glattrasiert, von tiefen Falten durchzogen; die Muskeln darin in steter Bewegung. Das Markanteste aber war die riesige Hakennase, die dem Gesicht etwas Abenteuerliches verlieh. Dazu ein Paar kluge, freundliche Äuglein.

„Gud’n Appetit!“ und Türck war wieder hinaus. Harald Dörcksen aß. Nach einer Weile kam der Kapitän zurück.

„Türck ist wirklich unbezahlbar,“ sagte er; „hat er doch sogar den Namen jenes amerikanischen Schnüfflers erlauscht. Es handelt sich da um Robert Jones, den gefürchtetsten Detektiv der Vereinigten Staaten. Eigentlich eine ganz verteufelte Sache, daß gerade der –; aber wir werden schon mit ihm fertig werden.“

Er lächelte zuversichtlich. Sagte dann noch:

„Willst du dir ’mal unseren Kommandostand ansehen, wenn du gegessen hast?“

„Gern.“

Und dann folgte Dörcksen dem Voranschreitenden. Im Steuerhaus ebenfalls alles blendendweiß lackiert. Ein kleiner Mann in Matrosenuniform stand vor einer Schalttafel und hielt ein fast zierliches Steuerrad in den Händen. Beim Eintritt der Beiden wandte er sich um. Sein bartloses, faltiges Gesicht strahlte. Es war – Türck!

„Schon wieder Türck!“ Und Söder lachte.

„Sag ’mal,“ fuhr Dörcksen fort, „ist denn außer dir und Herrn Türck überhaupt noch jemand auf deinem Schiff?“

„Nein,“ entgegnete der Kapitän mit größter Ruhe, als sei das so gar nichts Erstaunliches; „das ist ja eben das Schöne. Die sinnreiche Ausstattung des Schiffes gestattet es, daß zu seiner Bedienung nur zwei Mann notwendig sind. Zur Not genügt sogar einer. Türck ist alles: Koch, Steuermann, Maschinist usw. Hier ist eben alles elektrisch zu bedienen, geht fast selbsttätig.“

„Und der Strom, der dazu gebraucht wird?“

„Rechts und links befinden sich zwei Flügelschrauben außen am Bootskörper, die während der Fahrt in ständiger Umdrehung gehalten werden – durch den Wasserdruck. Diese beiden Schrauben treiben durch ihre Umdrehung eine Maschine, die Reibungselektrizität erzeugt. So erneuert sich der verbrauchte Strom stets beim Fahren selbsttätig.“

Harald Dörcksen konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Doch – eigentlich war er ja Erfinder von viel genialeren Dingen. Seine Sonnenmaschine … Aber daran dachte er eben in seiner Bescheidenheit nicht. –

Dann saß er wieder in jener behaglichen Salonkabine. Söder ihm gegenüber.

„Unser Fahrtziel ist zunächst Baltimore,“ begann der Kapitän; „dort wird der – Schwefelkies abgeliefert. Und dann – können wir uns voll und ganz deiner Angelegenheit widmen.“

„Das dürfte Ihnen doch schwer fallen!“ klang da plötzlich eine fremde Stimme; und wie aus dem Boden gewachsen stand ein Mann mit einer Reisemütze und dunklem Anzug hinter ihnen.

„Jones –!“ stieß der Kapitän hervor. Der Fremde, einen Revolver im Anschlag, nickte ironisch lächelnd.

„Allerdings. Sie sehen, Herr Kapitän, alle Schlauheit Türcks nützt nichts. Ich bin hier – und Sie sind in meiner Gewalt. Ich bitte Sie höflichst, die Hände hoch zu heben und keine Bewegung zu machen.“

Söder wiegte sein Haupt.

„In Ihrer Gewalt –? Nun ja, im Augenblick scheint es so. Doch wie ich die Hände hochheben soll und dabei keine Bewegung machen, ist mir nicht ganz klar. – Darf ich außerdem fragen, was Sie hierherführt?“

„Machen Sie keine Witze, Söder!“ rief der Detektiv in strengem Ton. „Ich weiß Bescheid. Sie wollen Diamanten, in Schwefelkies verborgen, in die Vereinigten Staaten bringen. Doch Sie werden nicht nach Baltimore fahren, sondern nach New York. Ihre Ladung erkläre ich hiermit für beschlagnahmt.“

Söder schüttelte lächelnd den Kopf.

„Naive Seele –! Wie denken Sie sich das eigentlich? Wenn ich nun Widerstand leiste, – würden Sie schießen?“

„Unweigerlich!“

„Und Türck –?“

Der Detektiv zuckte die Achseln.

„Wenn es nicht anders geht, wird auch der erledigt.“

„Ich will Ihnen ’mal etwas sagen, Jones, daß Sie sich hier allein an Bord versteckten, beweist Mut. Aber – es war eine große Dummheit. Ihr Revolver schreckt uns nicht. Wenn Sie uns erschießen, kommen Sie nie lebend nach den Vereinigten Staaten; denn Sie verstehen nichts von den Apparaten, die dies Schiff treiben. Jener Herr dort,“ er wies auf Dörcksen, „ebenfalls nicht. So ist zehn gegen eins zu wetten, daß Sie irgendwo Schiffbruch erleiden und dabei umkommen werden. Und – Sie wollen doch leben, nicht wahr? Und bei den Behörden in Amerika eine große Rolle spielen – nicht wahr?“ echote er.

Jones behielt seine überlegene Miene.

„Dennoch habe ich die besseren Trümpfe in der Hand, Kapitän, – auch ohne den Revolver, den ich nicht benutzen werde. Ich habe, bevor Sie an Bord kamen, Ihren Rundfunksender entdeckt und – benutzt! Habe den Behörden in Amerika die Ankunft des „Delphin“ avisiert und Ihre Verhaftung angeordnet. Sie können also getrost jeden Hafen der Vereinigten Staaten anlaufen, den Sie wollen, – überall wird Sie das gleiche Schicksal ereilen.“

Da lachte Söder laut auf.

„Sie haben mit meinem Apparat gefunkt –? Das ist ja köstlich! Schade nur, daß das Telegramm niemand wird lesen können.“

„Wieso nicht?“ fragte Jones verständnislos.

„Weil mein Apparat nicht für jeden hergelaufenen Schnüffler benutzbar ist. Wenn Sie mit dem Morsetaster einen Strich angeben, funkt der einen Punkt, und umgekehrt. Sie sehen also, das hatte wenig Zweck.“

Der Detektiv machte bei dieser Eröffnung kein besonders geistreiches Gesicht.

„Ist das wahr?“

„So wahr ich hier stehe, und Sie da bald nicht mehr stehen werden.“

Ganz zufällig hatte Dörcksen während dieses Zwiegesprächs auf des Kapitäns Beine gesehen. Da bemerkte er, daß Söders rechter Fuß jetzt nach der Wand tastete, wo aus einer Spalte dicht über dem Boden ein kleiner Hebel ragte. Jetzt – drückte er darauf. Ein Knacken, – ein Schrei, – dann krachte ein Schuß. Die Kugel jedoch fuhr in die Decke, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Sie war aus dem Revolver des Detektivs gekommen. Dieser selbst aber war – verschwunden!

Blitzschnell hatte sich der Fußboden geöffnet. Jones war in den unteren Schiffsraum gestürzt, und in dem Schreck hatte er den Schuß abgegeben. Einfach in die Luft.

Doch nicht genug mit dem Sturz in die Tiefe. Zwar fiel er weich, aber im selben Moment, da er den Boden des unteren Raumes berührte, schnappten Stahlklammern um seinen Körper. Jones fluchte und tobte. Söder beugte sich lachend über die Öffnung:

„Mein Trumpf war doch noch besser, wie? Ja, sich mit Kapitän Söder einzulassen, ist eine heikle Sache.“

„Das sollen Sie schwer büßen!“ schrie Jones herauf.

„Soll ich? – Ich werde aber nicht.“

„Was wollen Sie tun?“

„Ah, – wird Ihnen die Situation unbehaglich? Nur keine Bange. Es geschieht Ihnen nichts. Sie bleiben nur hübsch ein paar Tage da unten, werden gut gefüttert, und wenn das Geschäft in Baltimore erledigt ist, setze ich Sie irgendwo aus. Wo Sie wollen. Ich bin kein Verbrecher. Sie haben weiter nichts von mir zu befürchten. Daß ich schmuggle, – ja nun, das ist nur so eine Art Sport.“ – –

 

4. Kapitel

Den Weg von Hamburg bis Baltimore, zu dem die schnellsten Dampfer sieben Tage brauchen, machte der „Delphin“ in fünf. Dabei verging die Zeit wie im Fluge. Söder hatte Radio an Bord. Konzerte von London oder aus New York hörte man jeden Tag. Sogar eine Kinoeinrichtung fehlte nicht. Und das zu einer Zeit, wo das ganze Radiowesen noch sozusagen in den Kinderschuhen steckte. Söder war eben einer der Ersten.

Dennoch wünschte Harald Dörcksen das Vergehen der Reise sehnlichst herbei. Er brannte darauf, endlich mit der Verwirklichung seiner Pläne beginnen zu können. –

Baltimore kam in Sicht.

Plötzlich stürzte Türck mit schreckerfülltem Gesichtsausdruck auf den Kapitän zu, der ihn kurz zuvor am Steuer abgelöst hatte.

„Wech is er! Ausjerickt!“

„Was –? Wer denn?“

„Nu, der Schniffler! Jones! Ich wolld’n jerade füttern, gomm’ rinn in de Kabine, – nischt. Die Glammern uff, de Luke uff, – wech is’r!“

„Donnerwetter! In See? Das ist ja … Ist der Kerl verrückt gewesen?“

„Dis gann schon meeglich sind.“

Aber soviel man sich auch wunderte und ärgerte, – die Tatsache blieb bestehen, dem Detektiv war es gelungen, sich zu befreien und zu entfliehen. Söder schüttelte den Kopf.

„Ein Teufelskerl. Doch, – selbst wenn er von einem gerade vorbeikommenden Schiff aufgenommen worden ist, kann er mir nicht mehr gefährlich werden. Wir sind bestimmt wesentlich früher in Baltimore, als er. Und – bis er kommt, ist unser Geschäft längst abgewickelt und wir über alle Berge, – wenn man das bei der Seefahrt sagen darf. Es heißt nur Eile. Wollen hoffen, daß der Empfänger der Ware pünktlich zur Stelle ist.“ –

Er war es. Als der „Delphin“ am Pier von Baltimore anlegte, erschien bald darauf ein graues, geschlossenes Lastauto. Ein Mann kam an Bord, legitimierte sich …

„Allright!“ sagte Söder nur, als er das Papier geprüft hatte, das jener ihm reichte. Es war alle in Ordnung.

Inzwischen war die Zollrevision vorbei; der „Schwefelkies“ wurde ausgeladen; das Lastauto fuhr davon. Vorher hatte jener Mann Kapitän Söder noch ein kleines Paket ausgehändigt, in braunem Packpapier, verschnürt und versiegelt.

Söder ging damit in seine Wohnkabine. Als er bald darauf zurückkam, rieb er sich schmunzelnd die Hände … Dörcksen konnte sich denken, weshalb …

Zwei Stunden später verließ der „Delphin“ wieder den Hafen. Hielt auf die offene See zu. Das war gegen Morgen.

„So, alter Junge, nun können wir uns in aller Ruhe unseren persönlichen Angelegenheiten widmen. Zunächst eine indiskrete Frage. Nimm sie mir aber bitte nicht übel. Hast du wirklich Geldmittel genug, deine Pläne zu verwirklichen? Sonst – will ich sie dir gern – vorschießen.“

„Ich habe Geld genug. Nur, wenn du mir insofern helfen wolltest, daß du mir mit deinem Schiff die Materialien heranschaffst, die ich benötigen werde …“

„Mit tausend Freuden! Du sprachst von einer Insel, auf der du am liebsten arbeiten möchtest. Und ich kenne eine. Abseits von allem Schiffsverkehr. Liegt allerdings im Indischen Ozean. Wenn dir die Gegend recht ist, bringe ich dich dorthin.“

„Recht –? Ausgezeichnet ist das!“ rief Dörcksen. Er dachte daran, daß der Indische Ozean nicht gar zu weit ablag vom Gaurisankar, von dem Reich der Wolkenkönigin, dem Land seiner Sehnsucht … Aber er erwähnte nichts davon. –

Also änderte der „Delphin“ seinen Kurs. Fuhr dem Indischen Ozean zu.

Doktor Harald Dörcksen benutzte die lange Zeit, bis man in die indischen Gewässer kam, um intensiv zu arbeiten. Endlose Berechnungen, schier zahllose Zeichnungen entstanden. Kam der Gelehrte dann abends auf Deck und sah in die Weite, lag neben dem großen Ernst, der ihm immer eigen war, das Leuchten einer festen Zuversicht in seinen Augen.

Söder sah es wohl, mochte auch gern mehr wissen, … Aber er fragte nicht. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich schon erfahren, um was es sich handelt, dachte er. Dörcksen – verstand dies Nichtfragen und war dem Freund dankbar dafür. –

Die indischen Gewässer … endlich erreichte man sie. Dörcksen hatte unterwegs mehrmals Gelegenheit gehabt, die Vielseitigkeit Türcks zu bewundern. So hatte der sich beispielsweise auch als geübter – Schneider entpuppt. Kurz – es schien nichts zu geben, das er nicht konnte. Wahrlich, ein Reisegefährte, der wohl unentbehrlich genannt werden konnte. Dazu von einer alles besiegenden, echt sächsischen Heiterkeit, die einfach köstlich war. Und – durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

 

5. Kapitel

Nun dauerte die Fahrt nicht mehr lange. Bald kamen einzelne kleine Koralleninseln, die schon zur Gruppe der Lakkadiven gehörten, in Sicht.

„Durch Zufall entdeckte ich einmal, vor Jahren schon, hier eine Insel, die für deine Zwecke wohl geeignet sein dürfte. Es war,“ erzählte Kapitän Söder, „eigentlich nur eine Laune, daß ich hier anlegte. Die Insel sah genau so unwirtlich aus, wie all diese Felseneilande rings. Die Mitte bildete ein Felsplateau, hoch und breit, aber anscheinend unersteigbar. Die Felswände waren überall fast senkrecht und glatt. Ich hatte damals einen Gibbon bei mir an Bord, einen großen Affen, den ich ganz jung zu mir genommen und aufgezogen hatte, der war ganz zahm und sehr klug. Dem wollte ich hier ein wenig Herumlaufen im Freien gönnen; nahm ihn mit an Land. Entweichen konnte er hier nicht gut, – falls er das gewollt hätte. Dennoch war er sehr bald verschwunden! Noch eben sah ich ihn vergnügt umherspringen; dann mit einem Mal nicht mehr. Wo war er hin? Ich rief, ich lockte. Vergebens. Plötzlich fiel über den Rand des Schattens, den die Sonne auf die flachen Felsen am Strand warf, ein anderer, der sich bewegte. Ich blickte empor, – mein Gibbon war hoch oben auf dem Plateau! Nun, heraufgekommen war er irgendwie. Das stand fest. Wie, das wollte ich schon herausbekommen. Ich untersuchte die Felswand ringsum genau. Fand dann auch bald die Stelle, die – nun aber nicht hinauf, sondern in den Felsen hinein führte! Der ganze, riesige Block war hohl! Wir durchforschten ihn. Fanden innen Spalten, Höhlen, einen hofähnlichen Raum, von dem aus das Plateau unschwer zu erreichen war. Seltsames Naturspiel! Damals dachte ich wohl daran, diese Insel als Zufluchtsort zu wählen, wenn ich einmal nötig hätte, mich zu verbergen. Aber dann vergaß ich es wieder. Erst als du sagtest, eine abgelegene Insel sei dir für die Verwirklichung deiner Pläne am liebsten, brachte mir das wieder die Erinnerung an dies Eiland. Übrigens, irre ich mich, oder taucht es dort bereits am Horizont auf!“

Sie war es wirklich. Wenig später betraten sie das Korallenriff. Besichtigten die Insel.

„Prachtvoll, prachtvoll!“ rief Harald Dörcksen einmal über das andere; „hier bauen können! Nur – wer schafft mir das Material heran?“

Söder erwiderte nichts, wies nur mit dem Finger auf sich.

„Du?“

Der Kapitän nickte.

„Ja, ich ahne, daß du etwas Besonderes vorhast. Ich fragte nicht, bis heute. Aber nach deinen Zeichnungen, die ich flüchtig gesehen habe, muß es etwas ganz Merkwürdiges sein. Ich bin nicht neugierig; aber – gespannt, was es wird. Darum stelle ich dir mein Schiff zur Verfügung, will alles das heranschleppen, was du brauchst. Baue! Ich wünsche dir von Herzen Glück dazu!“

Stumm drückten sich die beiden Freunde die Hand. Und dann – dann ging es los. Fieberhaft wurde gearbeitet. In kurzer Zeit entstanden ein Blockhaus, Schuppen … Alles Material wurde mittels des „Delphins“ transportiert.

Und als dann die „Einrichtung“ der Insel vollendet war und alles, was Dörcksen sonst noch brauchte, herangeschafft, bat Dörcksen den Kapitän:

„So, und nun, lieber Knut, lasse mich einige Monate allein. Wenn du wiederkommst –“

„Allein? Allein willst du bauen? Brauchst du denn keine Hilfskräfte? Wie willst du mit all den Eisenträgern, Metallplatten, Maschinenteilen allein fertig werden?“

„Laß nur. Ich werde damit fertig. Hilfe – hole ich mir von der Sonne.“

„Von der Sonne –? Verstehe ich nicht. Aber – wie du willst. Wann darf ich dir wieder Proviant bringen? Nach vier Wochen?“

„Ja, in einem Monat kannst du wieder einmal nach mir sehen kommen.“ –

In diesen vier Wochen hatte Dörcksen die Sonnenmaschine gebaut, ein geniales Meisterwerk, das Sonnenlicht in Energie umsetzte und in Form von elektrischem Strom wieder abgab!

Aber das war ihm nur Mittel zum Zweck. Licht schuf er sich so, Kraft zum Antrieb seiner Werkmaschinen. Jedesmal, wenn Söder kam, – alle vier Wochen etwa – fand er neues Staunenswertes vor.

Dann aber begann Dörcksen die Hauptarbeit: den Bau seines kleinen, neuartigen Flugschiffes, – des Flugschiffes, das ihn seinem letzten Ziel näher bringen sollte … Er baute es, machte Probeflüge, die das oben tischglatte Felsplateau ungemein begünstigte, und konnte wohl zufrieden sein. Unabhängig von jeglicher Witterung, Sturm und dergleichen stieg sein Flugschiff in die Lüfte, konnte auch wie ein Motorboot auf dem Wasser fahren, wo es infolge seiner besonderen Form auch bei Sturm und hohem Wellengang nicht kenterte. „Wolke“ nannte er es, mit dem Nebengedanken, daß es ihn wie eine Wolke zu der Wolkenkönigin, zu Aspasia, seiner Aspasia, tragen möge! In die Gefilde der Seligen …

 

6. Kapitel

Harald Dörcksen war zu Ende mit der Schilderung seiner Erlebnisse. Alle hatten ihm in fast atemloser Spannung gelauscht. Keiner achtete darauf, daß Ellen Crosterbroux sich einmal entfernte und längere Zeit fortblieb, bis sie sich wieder zu den anderen setzte.

„Und jetzt,“ fuhr Harald Dörcksen nach kurzem Schweigen fort, „stände dem nichts mehr im Wege, daß ich mit einigen Auserwählten in das Reich der Göttin über den Wolken fliege!“

Fast verzückt rief Mahadur Mirat aus:

„Es ist also Wirklichkeit –!“

Dörcksen nickte.

„Ja, Bruder, es ist kein Märchen. Das unbeschreiblich Herrliche ist Tatsache! Wie gesagt, ich könnte die Fahrt antreten. Zuerst jedoch muß Gari befreit werden. Ist er doch unser Sohn!“

„Ihr Sohn!“ stammelte Mirat. –

Dann erhob sich Hella. „Ich will das Essen bereiten, Vater. Zeige mir, bitte, wo sich alles befindet.“

Dörcksen lächelte.

„Ja, Kind, das will ich dir zeigen. Da ist alles. Vorräte genug. Auserlesene Konserven. Nur – die Art, wie wir sie verzehren, wird sehr primitiv sein müssen. Auf dergleichen Äußerlichkeiten habe ich nie Wert gelegt – in dieser Zeit.“

Nun, das taten die anderen auch nicht. Alle waren doch viel zu gefangen in ihrem Fühlen und Denken von der Erzählung des Erfinders mit der Aussicht, selbst in nicht allzu langer Zeit in die Gefilde der Seligen zu gelangen. –

Am nächsten Morgen – alles lag noch in tiefem Schlummer – zerriß plötzlich ein Schrei die Stille. Hellas Stimme. Alle fuhren auf.

„Was gibt’s?!“

Da stand Hella, schreckensbleich. Fertig angekleidet. Stammelte:

„Burne ist mit den beiden Leakwoords und Ellen Crosterbroux auf dem Kutter entflohen!“

Der Platinkönig sprang auf.

„Ellen!? – Sie wurde entführt!“

Doch da erklärte Mahadur Mirat ruhig und bestimmt:

„Nein, Master Crosterbroux, Miß Ellen ist nicht entführt worden. Sie ging freiwillig, – vermutlich um meinetwillen. Da sie weiß, daß –“

„Ich weiß, ich weiß, Mirat, – Ellen liebt Sie. Sie hat sich aber damit abgefunden und –“

„Abgefunden – ja, nach außen hin. Aber innerlich? Kann ein Mensch, der liebt, sich auch innerlich „abfinden“? Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht hat Miß Ellen zuerst selbst daran geglaubt. Aber dann mag sie wohl erkannt haben, welche Qual es für sie sein müßte, hier zu leben, wo – und um schnell von der Insel fortzukommen, beging sie vielleicht in ihrer jugendlichen Unbesonnenheit den Fehler, Burne und Leakwoord zu befreien und mit ihnen zu entfliehen.“

Entsetzen lähmte alle. Burne frei? Das hieß, wieder war der so nahe geglaubte Erfolg in Frage gestellt. Dieser ehrgeizige Mensch würde nicht mit seinen Verfolgungen nachlassen.

„Ellen die Anstifterin –?“ murmelte Crosterbroux. „Ausgeschlossen! Und doch – wenn ich es so recht überdenken … So ganz und gar ausgeschlossen ist es doch nicht.

Oh, was hab’ ich schon für Kummer mit diesem Mädel gehabt! Nun wieder dies! Die Leakwoords, ein gefährliches Hochstaplerpaar; und Inspektor Burne, der Mensch, der über Leichen geht, wenn es seinem Ruf als Detektiv dient. Und Ellen unter diesen Menschen!“

Die anderen ließen Crosterbroux ruhig in seinem Selbstgespräch. Daß Ellen so zu Extremen neigte, daran trug er ja doch selbst einen guten Teil der Schuld. Doch, wie dem auch war, was nützte es jetzt, darüber zu grübeln?!

Sie war fort. Doch was wesentlicher war: Burne, der Feind, auch!

„Die Flucht wird ihnen nicht viel nützen,“ ließ sich jetzt Dörcksen vernehmen; „mit der „Wolke“ hole ich den Kutter bald ein, – mag der Vorsprung, den er seit der Nacht hat, noch so groß sein. Freilich, – es wird einen Kampf geben. Und wie der ausläuft, ist nicht gewiß. Doch das ist hier nicht die Frage. Nun heißt es handeln. Ich werde die „Wolke“ startbereit machen.“

„Bitte, nimm mich mit, Vater!“ bat Hella. „Wir waren so lange getrennt!“

„Nein, mein Kind, das tue ich nicht. Es ist zu gefahrvoll. Ich bin alt. Du aber bist jung und gehörst obendrein nicht mehr dir allein.“

Bei diesen Worten fiel sein Blick auf Mahadur Mirat.

„Master Dörcksen hat recht,“ sagte dieser zärtlichen Tones; „laß deinen Vater handeln, wie er es für richtig hält, Geliebte. Ich aber will ein anderes vorschlagen: Wir fahren alle Drei. Wenn dieser Flug das Ende der „Wolke“ herbeiführen sollte – nun gut, dann sterben wir eben vereint. Gelingt es, alles zu einem guten Ende zu führen, um so besser. Ich denke, Olympia ist dies Wagnis schon wert.“

„Mirat hat recht,“ nickte Dörcksen nach einem Moment des Überlegens; „wir wollen zu Dreien fahren. Warum sich trennen, wenn man sich nach so langer Zeit gerade wiedergefunden hat. Kommt, meine Kinder. Versäumen wir keine Zeit!“

Wenig später erhob sich die „Wolke“. Auf gut Glück steuerte Dörcksen nach der indischen Küste zu. Wohin sollte sich der Kutter sonst gewandt haben.

Eine Stunde verging. Langsam schlich die Zeit. Hella und der Radscha standen dicht beieinander am Fenster der Kabine des Flugschiffes und beobachteten die Meeresoberfläche; spähten nach dem Kutter aus.

Plötzlich rief Hella:

„Dort – dort ist er!“

„Wirklich, – er ist’s!“ bestätigte der Erfinder. Er ließ die „Wolke“ etwas tiefer sinken, zog große Kreise über dem Kutter …

„Merkwürdig,“ sagte er, „kein Mensch auf Deck? Niemand am Steuer? Das Segel schlägt haltlos hin und her – ah, was ist das?“

Auch Mirat und Hella sahen das kleine Boot neben dem Kutter. Es schien leer.

„Eine Prau,“ sagte Mahadur Mirat; „wenn nur nicht malaiische Seeräuber …!“

„Das werden wir bald heraus haben,“ entgegnete Dörcksen. In einer engen Spirale ließ er das Flugschiff immer tiefer gehen und setzte es dicht neben dem Kutter aufs Wasser.

In dem Augenblick tauchte auf Deck des Kutters eine braune Gestalt aus einer Ecke auf, sprang über Bord, erreichte mit ein paar Schwimmstößen das Boot und schickte sich dann an, mit affenartiger Geschwindigkeit davonzurudern. Doch ebenso schnell war Mahadur Mirat im Wasser; einige Schwimmstöße dann, erreichte gleichfalls das Boot, schwang sich hinein …

Ein Kampf entspann sich, nur kurz und fast einseitig. Dann lag der braune Bursche wehrlos da. Mirat kniete auf seiner Brust, sprach zu ihm. Dörcksen und Hella, die mit Besorgnis dem kurzen Kampf zugeschaut hatten, ohne etwas unternehmen zu können, verstanden nicht, was jene redeten. Nur das Wort „Taipali“ hörten sie mehrmals heraus.

Dann klomm Mirat an Bord der „Wolke“ zurück. Sein Gesicht war überaus ernst. Indem er nach dem braunen Burschen wies, der jetzt mit aller Kraft davonruderte, sagte er:

„Es ist, wie ich vermutete. Malaiische Seeräuber haben den Kutter überfallen, ausgeplündert und die Insassen mit sich genommen. Sie sollen, wie mir der Bursche verriet, von der Insel Taipali stammen. Taipali nun bedeutet soviel wie „Hölle“. Die Insel mag demnach kein besonders angenehmer Aufenthaltsort sein – den Leakwoords und Burne allerdings zu gönnen …“

„Ich habe schon von dieser Insel einmal gehört,“ warf Dörcksen ein; „las davon irgendwo. Es soll eine Insel voll geheimnisvoller Spukerscheinungen sein.“

Mahadur Mirat nickte.

„Auch ich kenne diese Gerüchte. Nach dem Glauben der Malaien hausen dort Gespenster. Aber auch weiße Reisende haben das seltsamerweise bestätigt. Ich sprach einmal mit einem Seemann, der dort gewesen war. Der behauptete, selbst Gespenster, merkwürdige, leuchtende Nebelgeschöpfe, gesehen zu haben. Ich selbst –“

„Wie dem auch sei, – wir werden die Insel aufsuchen. Vielleicht gelingt es uns, Ellen Crosterbroux aus den Händen der Seeräuber zu befreien. Die Leakwoords und Inspektor Burne mögen von mir aus getrost dort bleiben. Da sind sie ganz gut aufgehoben. Nur – wie die Taipali genannte Insel auffinden?“

„Das wird nicht schwer werden,“ entgegnete Mirat; „wir brauchen nur im Gebiet des malaiischen Archipel Nachforschungen anstellen. Die Fischer dort werden uns wohl Bescheid geben können.“

„Gut; also – zum malaiischen Archipel. Was wird derweil mit dem Kutter? Es bleibt uns ja nichts anderes übrig, als ihn seinem Schicksal zu überlassen.“

Dann ging es weiter. In durchschnittlich tausend Meter Höhe zog das Flugschiff seine Bahn.

„Wir werden noch vor Anbruch der Dämmerung die Küste erreichen,“ meinte Dörcksen. Mit einem Mal nahm sein Gesicht einen gespannten Ausdruck an. Aufmerksam beobachtete er den Höhenmesser. Schaltete kopfschüttelnd mehrmals an einem Hebel. Sagte dann:

„Wir sinken. Am Höhensteuer muß etwas nicht in Ordnung sein. Es pariert nicht mehr. Wir sinken langsam, aber ständig. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als daß wir auf die Meeresoberfläche niedergehen und mit der „Wolke“ als Motorboot versuchen die Küste zu erreichen. Das ist weiter nicht gefährlich, dauert nur wesentlich länger.“

Nach kaum zehn Minuten setzte die „Wolke“ sanft auf der Wasseroberfläche auf und fuhr da weiter. Natürlich nur mit etwa einem Viertel der vorigen Geschwindigkeit. Die Folge davon war, daß, als der Abend hereinbrach, von der Küste noch weit und breit nichts zu sehen war.

Die Luft war schwül und fast windstill.

„Ich weiß nicht, Geliebter,“ sagte leise Hella zu Mirat, „eine unerklärliche Angst schnürt mir die Kehle zu. Mir ist, als gingen wir neuen Gefahren entgegen.“

Aber dann lächelte sie wieder.

„Ach, und wenn es so wäre, – wir sind ja beisammen! Das bleibt doch die Hauptsache!“

„Hab’ keine Furcht, liebe Hella. Es ist nur die Spannung in der Atmosphäre, die das Angstgefühl in dir weckt,“ beruhigte Mirat das Mädchen. Doch er hatte wohl nur zum Teil damit recht. Gewiß war es die atmosphärische Spannung, die mitwirkte, hauptsächlich aber verlangte Hellas Körper nach jenem Gift, an das sie sich in der letzten Zeit gewöhnt hatte. Zwar wollte sie das von dem Geliebten nicht bemerken lassen, doch nahm sie heimlich noch hin und wieder davon. Und jetzt – das war wohl die Einwirkung der Spannung, die in der Luft lag, – ward dies Verlangen so stark, daß sie ihm um jeden Preis nachgeben zu müssen glaubte.

Als sie sich einige Augenblicke unbeachtet glaubte, nahm sie die winzige Spritze, die sie immer bei sich trug, hervor. Doch da legte sich des Radschas Hand auf ihren Arm. Errötend fuhr sie herum, blickte in das sanft lächelnde Antlitz des Geliebten. Der schüttelte langsam den Kopf.

„Nicht so, Hella! Verzeih, aber – ich weiß bis ins Kleinste wie es um dich steht. Du sollst – gesund werden, ganz gesund. Doch nicht so; nicht durch Gift, das nur ein Übel vertreibt, um es durch zwei andere zu ersetzen. Ihr Deutschen habt es in diesem Gifteschlucken weit gebracht. Nein, Hella, anders sollst du gesunden. In Indien wissen wir bessere Mittel. Die meisten beruhen auf der geistigen Kraft des Willens. Komm einmal her.“

Sanft drückte er die junge Frau auf den weichen Polstersitz nieder, trat hinter es …

„So, Lieb, nun atme ein paarmal ruhig und tief,“ sagte er. Dabei zog er mit den Fingern in der Luft über ihrem Scheitel ein paar Kreise und Striche.

„Nun – fühlst du dich schon viel frischer, nicht wahr –?“

Hella nickte.

„Ja, Mirat, wirklich!“

Der Radscha lächelte leise. Setzte sich dann neben sie, legte den Arm zärtlich um ihre Schulter …

In dem Augenblick fuhr mit dumpfem Brausen ein Windstoß über das Wasser. Das Flugschiff legte sich einen Moment beängstigend auf die Seite, richtete sich jedoch dann gleich wieder auf.

„Ein Taifun!“ murmelte Dörcksen. Hella wollte etwas darauf erwidern, kam jedoch nicht mehr dazu. So plötzlich setzte der Sturm ein. Der Himmel war in den letzten Minuten fast schwarz geworden. Helle, singende Töne klangen aus der Luft. Blitze zuckten. Donner krachte.

Bald schon hatte der Orkan seinen Höhepunkt erreicht. Das Flugschiff schwamm leicht auf den daherstürmenden Wogen. Aber – es blieb vor dem Wind! Es raste über die erregte, graue Wasserfläche dahin. In das Dunkel hinein. Wohin, – wohin?

Blitz und Krach. Fast ununterbrochen. Dazu das Singen und Heulen des Sturmes … Im Innern des Flugschiffes, das nun schwingenlahm auf dem Wasser trieb, sprach niemand ein Wort.

Stundenlang tobten die entfesselten Elemente. Dann – war all das mit einem Mal vorbei, ebenso überraschend schnell, wie es gekommen. Hell strahlten die Sterne, strahlte der Mond auf die Wasserfläche, die ihr Licht glitzernd zurückwarf. Noch gingen die Wogen hoch; doch auch sie glätteten sich; und als am Morgen die Sonne emporstieg, war alles so ruhig, als hätte nie und nimmer dies anmutig blaue Meer, die milde Luft noch vor wenig Stunden drei Menschenleben dem Verderben nahe gebracht … und wohl noch manch andere an den Küsten. Denn solche plötzlichen Wirbelstürme fordern meistens viele Opfer unter den Fischern.

Die drei in dem Flugschiff atmeten erleichtert auf. Gottlob, das war gut vorübergegangen! Doch – wo mochte man sein? Zweifellos weit abgetrieben; sehr weit.

Dörcksen schickte sich gerade an, mittels seiner nautischen Instrumente, die das Flugschiff natürlich enthielt, die Lage festzustellen, da bemerkte er zwei, drei eigentümlich geformte Fahrzeuge, die auf das Flugschiff zu kamen.

„Chinesen …“ murmelte Mahadur Mirat mit einem gewissen Widerwillen in der Stimme. Ja, richtige chinesische Dschunken waren es, die auf die „Wolke“ zustrebten. Und noch mehr waren inzwischen herangekommen. Im ganzen sechs der plumpen Fahrzeuge.

Ja, plump waren sie wohl. Und – bewegten sich doch mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorwärts! Harald Dörcksen sollte bald die Ursache dieser Geschwindigkeit erkennen. Auch die Chinesen haben eben endlich dem Fortschritt Rechte eingeräumt. Die Dschunken besaßen – eingebaute Motoren.

Jetzt waren sie fast ganz nah heran. Was mochten sie wollen? Einer ahnte wohl das Richtige, – ahnte, daß es sich hier um Piraten handelte. Aber er schwieg. Schwieg, um Hella und Harald Dörcksen nicht zu beunruhigen.

Die Chinesen umringten das Flugschiff, warfen kleine Boote ins Wasser, sprangen nach und kamen heran. Wohl dreißig Mann … von allen Seiten …

Das weitere ging dann sehr schnell. An Widerstand war nicht zu denken. Bei der Übermacht –! Der einzige Trost für die vom Schicksal Verfolgten war, daß sie nicht getrennt wurden. Man schleppte sie auf eine der Dschunken, eine andere nahm die „Wolke“ ins Schlepptau, und fort ging’s.

„Mut, Herr Dörcksen!“ sagte Mahadur Mirat, der neben Hella gefesselt saß. Der Erfinder nickte trübe. Murmelte nach einer Weile leise vor sich hin:

„Das Schicksal ist gegen mich. Wohl weil ich einst meinen Schwur nicht hielt. Oh, Aspasia –!“

„Sprich nicht so, Vater,“ bat Hella; „was du in einer schwachen Stunde verschuldetest, hast du schon längst gut gemacht; oder – gebüßt, wie man’s nehmen will. Nein, nicht das ist es. Vielleicht nur – Prüfung! Halten wir uns tapfer, bis zum endlichen Sieg.“

Dörcksen nickte lächelnd.

„Ja, du hast recht, gutes Kind!“

Innerlich aber hatte er nur wenig Hoffnung. Er blickte ringsum in die gefühllosen Gesichter dieser schlitzäugigen Halunken, die sich schnatternd unterhielten. Hatten sie mehr Beute erhofft? Warum schleppten sie sie denn noch mit? Einer der Chinesen wies oft auf Hella. Ein Schauder überrann sie, wenn sein Blick sie traf …

Dann kam eine Insel in Sicht. Auch sie, wie viele der kleinen Eilande hier, kahl, felsig, zerrissen. Die Dschunken fuhren geradewegs auf die Felsen zu. Es sah aus als müßten sie im nächsten Augenblick zerschellen. Doch da, eine Wendung nach links … Überraschend hatte sich eine Durchfahrt geöffnet. Schmal, nur gerade für die Dschunken ausreichend. Zwischen haushohen Felsen gings nun hinein ins Innere der Insel.

Nach einiger Zeit erweiterte sich der Spalt, ging in ein weites, grünes Tal über. Ein „ah“ der Überraschung, des Staunens entrang sich den Gefangenen.

„Der Schlupfwinkel der Piraten!“ sagte Mirat. „Wirklich großartig ausgesucht!“

In der Tat, so war es! Eine Insel außerhalb der Schiffahrtsstraße, wie eine kahle Felseninsel aussehend, die in ihrem Innern ein Paradies barg! Üppige Vegetation … Ein Bach floß plätschernd zum Wasser. Hütten, grellbunt gestrichen, standen da. Ihnen entstiegen Kinder und Frauen. Alle kamen die Heimkehrenden zu begrüßen und – deren Beute zu bestaunen.

Die Felsen, die dem Eiland den kahlen, unwirtlichen Eindruck von außen verliehen, umstanden wie ein Kranz dies blühende, herrliche Stückchen Erde.

„Hier ließe sich leben, wenn man nicht Gefangener wäre,“ sagte Dörcksen; „aber, hier hausen Seeräuber und –“

Weiter kam er nicht. Man hieß sie aussteigen. Die gelben Kerle trieben sie einfach wie Vieh vor sich her, sie durch Rippenstöße dirigierend. Auch Hella wurde nicht sanfter behandelt. Und jetzt – brachte man sie getrennt unter; in drei verschiedenen Holzhütten, vor deren Eingänge starke Bambusstäbe als Verschluß geschoben wurden. –

Der Tag verging. Zäh schlichen die Stunden dahin. Um die Gefangenen kümmerte sich niemand. Selbst etwas zu essen wurde ihnen nicht gebracht.

Was mochte aus dem Flugschiff geworden sein?

Vor sich hinbrütend, hockte Mahadur Mirat in der Hütte. Seine Hella in Gefahr! Das war sein einziger Gedanke. Er wußte die Blicke, die man dem Mädchen zugeworfen hatte, wohl zu deuten. Begehrlichkeit lag darin. Und wenn dem auch nicht so war, dann – war es noch schlimmer. Weiße Mädchen sind immer begehrt auf den Blumenbooten in den chinesischen Hafenstädten und – werden gut bezahlt.

Er stöhnte auf in dem Gedanken daran, daß vielleicht … Dann aber stand er kurz entschlossen auf. Nur die Hände hatte man ihm gefesselt. Freilich – mit Baststricken, die zäh hielten. Dennoch versuchte er, sich ihrer zu entledigen.

Mahadur Mirat war von dem zähen, starken Willen beseelt, der seiner ganzen Rasse eigen ist. Wenn er nur fühlte, daß irgend eine ganz ferne, leise Möglichkeit bestand, sich zu befreien, dann verfolgte er sein Ziel bis dahin, ohne müde zu werden, ohne sich ablenken zu lassen. Und – solch eine Möglichkeit fühlte er jetzt! Spürte, daß es ihm mit der Zeit gelingen würde, seine Fesseln abzustreifen.

Trotz der wütenden Schmerzen, die es ihm verursachte, ließ er nicht nach. Der Bast schnitt in seine Haut. Blut rann von den Handgelenken über seine Finger. Und endlich sah er seine Ausdauer belohnt. Er war frei.

Aber noch konnte er nichts weiter unternehmen. Noch stand die Sonne am Himmel. Allerdings nicht mehr hoch. Bald mußte der Abend seine Schatten auf die Insel senken. – Was hatte der Radscha vor? Was wollte er gegen die hundertfache Übermacht der Piraten unternehmen? Nun, – ganz klar war er sich selbst noch nicht darüber. Nur erst einmal sich Hella nähern können, der Geliebten Mut zusprechen. Und dann …

Irgendwo auf der Insel mußte ja doch das Flugschiff stehen. Wenn es gelänge, Harald Dörcksen zu befreien und wenn dieser dann im Schutze der Nacht den gewiß nur geringfügigen Defekt an der Höhensteuerung sich vornehmen könnte, – dann – – doch was auch unternommen werden sollte, alles bedurfte der Dunkelheit der Nacht als Schutz.

Geduldig wartete Mahadur Mirat. Er saß in einer Ecke der Hütte, hatte die Bastfesseln wieder um die Hände gelegt, damit, falls jemand von den Chinesen kam, der nicht merkte, daß Mirat frei war. So wartete er. Aber es kam niemand. Und als draußen völlige Dunkelheit herrschte, ging er sich ans Werk machen. Die Wand der Holzhütte bereitete ihm nicht viel Schwierigkeit. Bald hatte er eine Öffnung geschaffen, die groß genug war hindurch zu schlüpfen.

Wo aber nun Hella finden? Noch mehrere ganz gleich aussehende Behausungen standen in einer Reihe neben der seinen. Das hatte er gesehen, bevor man ihn einsperrte. In welcher von diesen befand sich Hella? In welcher Dörcksen? Und – in welchen hausten die Chinesen mit ihren Familien?

Mirat hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Er wollte sich nacheinander an die Hütten heranschleichen und seitlich an die Wand klopfen. Vielleicht, daß Hella oder Dörcksen, wenn er ihre Hütte angetroffen, auf den Gedanken kämen … Freilich, ein Wagnis war es schon. Wurde er entdeckt, dann – doch das war belanglos. Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht.

Vorsichtig lugte er hinaus. Kein lebendes Wesen war in der Nähe. Er schlüpfte ins Freie. Der Mond schien hell. Mirat schlich, dicht an die Holzwand gedrängt, in tiefen Schatten. Erreichte die erste Hütte … Deren Tür war nur angelehnt, der Innenraum leer. Ebenso die zweite und dritte. Ah, die vierte endlich draußen mit einem Bambusstab verschlossen – wie die seine. Hierin befand sich also wahrscheinlich ein Gefangener.

Hella? Dörcksen?

Mirat klopfte an die Seitenwand. Dreimal in gleicher Weise, mit kleinen Abständen. Lauschte … Da – sein Atem ging schneller – wurde innen auf die gleiche Weise geantwortet! Er wagte es, schob den verschließenden Stab zur Seite, schlüpfte hinein …

„Hella –?“

Er hatte den Namen nur gehaucht. Und ebenso leise kam Antwort. Aber es war nicht Hella, Harald Dörcksen antwortete. Rasch befreite ihn der Radscha. Leise berieten sie nun. Dörcksen war der Meinung, den Defekt an der Höhensteuerung der „Wolke“ schnell beseitigen zu können, wenn – sie sie fänden.

„Wir werden das Flugschiff suchen; aber erst müssen wir Hella befreien,“ entgegnete Mirat; „vielleicht ist sie an einen anderen Ort gebracht worden … Vielleicht hat sie uns ein Zeichen zurückgelassen. Könnte man nur Licht machen …“

„Ich habe eine Taschenlampe bei mir,“ entgegnete der Erfinder. Er reichte sie dem Radscha. Gemeinsam schlichen sie nun, mit größter Vorsicht immer im tiefen Schatten sich haltend, in die beiden anderen Hütten. Mit dem winzigen Lichtstrahl leuchtete Mirat Boden und Wände ab … Da stieß er heftig die Luft durch die Nase, ergriff Dörcksens Arm und wies auf eine Stelle an der ziegelrot gestrichenen Wand.

Dörcksen blickte hin. Dort stand leicht eingeritzt ein Wort – das einziges Wort: „Shanghai“.

„Hellas Buchstaben!“ stieß Dörcksen leise hervor. „Die Schufte wollen die Ärmste nach Shanghai verschleppen! Wer weiß, wozu … Diese schlitzäugigen Halunken!“

Mahadur Mirat konnte sich denken, wozu. Doch er schwieg. Warum des unglücklichen Vaters Schmerz noch vergrößern? Ihm aber zerriß es die Seele, wenn er sich die geliebte Frau in den Händen lüsterner, gelber Unholde dachte …

Shanghai …

„Bis zum Tagesanbruch sind noch fünf Stunden,“ flüsterte Mirat dem Erfinder zu; „wir wollen die „Wolke“ suchen. Die Insel kann nicht allzu groß sein …“

Sie schlichen hinaus. Spähten … Kein Mensch ringsum. Die Chinesen schienen es nicht für nötig befunden zu haben, Wachen zu stellen. Waren wohl ihrer Sache allzu sicher. Entfliehen konnte ja niemand von der Insel. Und – daß das seltsame Motorboot, das sie gekapert hatten, auch fliegen konnte, ahnten sie nicht.

Mirat und Dörcksen schlichen weiter. Schwerer Duft irgend einer Tropenblume lag überall. Kein Lüftchen regte sich, kein Laut erscholl. Nur hin und wieder drang der Schrei eines Papageis durch die Dunkelheit. Halblaut nur, verschlafen.

In dichtem Gebüsch huschten die beiden entwichenen Gefangenen dahin, jedes Geräusch vermeidend. Plötzlich hätte Harald Dörcksen sich fast vergessen. Hätte fast einen Freudenruf ausgestoßen. Da stand, unweit eines schmalen Wasserstreifens, im Mondlicht gut zu erkennen, halb auf dem Trockenen, die „Wolke“!

Die Chinesen hatten mit dem fremden Fahrzeug wohl nichts anzufangen gewußt, hatten es aufs Land gezogen und dort stehen gelassen. Oder – hatten sie es etwa unbrauchbar gemacht –? Keiner von ihnen sprach diese Befürchtung aus; aber beide dachten in diesem Moment das gleiche.

Rasch untersuchte Dörcksen das Flugschiff, fand keinen Schaden an ihm. Vielleicht … Den Defekt am Höhensteuer hatte er bald entdeckt.

„In ein paar Stunden hoffe ich fertig zu sein!“

„Stunden –?! Doch so lange?“

Dörcksen nickte.

„Leider. Hoffentlich gelingt’s mir wenigstens bis dann! Doch ich habe Hoffnung.

Er arbeitete fieberhaft. Dabei möglichst geräuschlos. Wenn jemand etwas hörte und Lärm schlug … Mahadur Mirat hielt die Lampe, ließ stets nur einen kleinen Lichtstrahl auf die Stelle fallen, an der Dörcksen hantierte. Ganz ruhig …

Die Zeit verging. Endlos schien sie dem wartenden Mirat. Dörcksen entflog sie. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht.

Jetzt – allmählich am Himmel ein fahler Schein. In den Tropen geht der Übergang zwischen Tag und Nacht sehr schnell vor sich; fast ohne Dämmerung.

„Die Sonne kommt!“ flüsterte Mirat. Dörcksen antwortete nicht. Arbeitete … Und da war sie auch schon. Ein rosiger Schimmer flog über das Tal.

In dem Augenblick bog ein Chinese um die letzte der Hütten. Erblickte die beiden an der „Wolke“ Stehenden; stutzte; stieß einen Ruf aus und lief mit großen Sprünge zurück.

„Jetzt gilt’s!“ flüsterte der Radscha hastig. „Wie weit sind Sie?“

Dörcksen ließ erschöpft die Hände sinken.

„Fertig!“

„Dann vorwärts!“

„Hoffentlich geht es. Hoffentlich ist der Motor intakt.“

Mahadur Mirat mahnte zur Eile. Da bog auch schon eine Rotte heulender, schreiend gestikulierender Chinesen heran.

Rasch stiegen die beiden in die Führerkabine, die Tür flog hinter ihnen zu, der Motor sprang an, arbeitete regelmäßig! Musik war sein gleichmäßiger Klang den Ohren der beiden Männer.

Der schmale Streifen zwischen dem Wasserarm und dem Palmengehölz würde genügen, dem Flugschiff den Aufstieg zu ermöglichen. Es lief an. Da waren auch schon die Chinesen heran. Griffen nach den Rädern …

Vergeblich. Zwei, drei wurden zu Boden geschleudert. Ein paar Schüsse knallten. Die Kugeln gingen vorbei, ohne Schaden anzurichten. Das Flugschiff hob vom Boden ab, zog über die Köpfe der Piraten hinweg, über ihre Hütten, über die ganze Insel und deren hohen Felsrand, ruhig und sicher … und nahm Kurs Richtung chinesisches Festland, Richtung Shanghai.

 

 

Zweiter Teil

Die Insel Taipali

 

1. Kapitel

Ellen Crosterbroux war unzufrieden. Die Abenteuer, die für sie bisher ganz gut abgelaufen waren, – nun, die waren willkommen. Aber jetzt, die Aussicht hier auf dieser öden Felseninsel verborgen zu bleiben für unabsehbare Zeit, – als Kolonistin gewissermaßen für das sagenhafte Olympia, das eventuell nicht einmal existierte –? Nein, das paßte ihr ganz und gar nicht. Noch dazu ständig angesichts des Liebesgetändels zwischen Hella Dörcksen und dem Radscha –? Um keinen Preis!

Gewiß, sie sah, der Radscha liebte Hella, wurde von ihr wiedergeliebt. Sie hatte sich damit abgefunden. Doch es dauernd mit ansehen –? Dauernd in der Nähe des – Unerreichbaren leben –? Unmöglich! Fort mußte sie von der Insel. Fort um jeden Preis. Sie sann …

Ein Plan war in ihr gereift, während Dörcksen seine Erlebnisse berichtete. Da trat sie hinaus, ging zu der Höhle, in der Inspektor Burne gefesselt lag. Sprach ihn an …

„Herr Burne, ich will fort von hier. So schnell als möglich. Mein Vater hat neuerdings den Spleen, hier zu bleiben und den Olympia-Rummel mitzumachen. Paßt mir nicht. Ich will fort. Allein kann ich das nicht. Sie müssen mir helfen.“

Burne spitzte förmlich die Ohren. Welch unerwartete Chance bot sich ihm da! Frei werden?! Ah, dann konnte er einen großen Schlag führen gegen die Verschwörer, deren Schlupfwinkel – eben diese Insel – die er nun kannte!

„Ich bin bereit, Miß Crosterbroux!“ versetzte er hastig und leise. „Befreien Sie mich und ich bin der Ihre! Rasch, ehe man merkt –“

Ellen hob die Hand.

„Halt, halt, Mr. Burne! Nicht so eilig! Jetzt haben Sie sich vergallopiert! Am Tage –? Nein, da kämen wir nicht weit.“

„Sie haben recht, Miß,“ räumte Burne ein wenig beschämt ein; „es war wenig durchdacht, was ich eben sagte. Wann also? In der kommenden Nacht?“

„Ja, sobald es dunkel geworden ist und jene sich zur Ruhe begeben haben. Doch hören Sie zuvor meine Bedingungen: Die beiden Leakwoords bleiben hier und Sie unternehmen späterhin nichts gegen Dörcksen und seine Anhänger.“

„Das – das kann ich nicht versprechen, Miß Crosterbroux. Bedenken Sie, ich bin Beamter der britischen Regierung! Es ist meine Pflicht, alles zu unterdrücken und mit allen Mitteln zu bekämpfen, was sich gegen sie richtet!“

Da drehte sich die Tochter des Platinkönigs ganz gleichmütig um.

„Nicht? Dann also nicht. Schade …“

Burne rief entsetzt:

„Miß Crosterbroux, Miß Crosterbroux, gehen Sie nicht fort! Hören Sie mich doch an. – Ist das Ihr letzteres Wort?“

„Ja – besinnen Sie sich; rasch.“

Das tat der Inspektor. Fieberhaft. Wie hatte er doch gesagt? … Mit allen Mitteln zu bekämpfen … Ha, war dies nicht auch ein Mittel? Mußte er das Versprechen, das er hier gab, halten? Oh, – erst einmal frei sein! Dann –

„Gut, Miß Crosterbroux, ich bin bereit.“

„Sie versprechen, was ich sagte?“

„Ja, – bis auf die Sache mit Allan und Harry Leakwoord. Sehen Sie, wir zwei, – pardon, ich meine – Sie und ich können allein den Kutter nicht bedienen. Da käme Allan Leakwoord in Frage. Nun, und Harry ist krank. Doch den mitzunehmen, gebietet die Menschlichkeit.“

Ellen war nach kurzem Zögern einverstanden. Sie wandte sich zu Burne, durchschnitt rasch mit ihrem Taschenmesser seine Fesseln.

„So. Machen Sie das übrige. Aber – Vorsicht! Nach Einbruch der Dunkelheit komme ich. Hoffen wir, daß jene keine Wachen stellen!“

Damit entfernte sie sich, mischte sich wieder unter die anderen, die der Erzählung des Erfinders lauschten. Niemandem war ihr vorübergehendes Fernsein aufgefallen, glaubte sie. Und sie hatte ja auch beinahe recht mit dieser Annahme. Als dann die anderen sich zur Ruhe begaben, tat sie zum Schein das gleiche, wählte jedoch ihre Lagerstatt so, daß sie leicht unbemerkt sich entfernen konnte.

Eine volle Stunde wartete sie dann noch, kroch danach geräuschlos fort … Kam zu der Höhle, in der Inspektor Burne gelegen hatte. Fand diesen schon wartend vor. Bei ihm Allan Leakwoord.

„Es ist alles bereit, Miß Crosterbroux. Wir können gleich in See stechen.“

„Gut, dann los!“

Es war stockdunkel. Licht durften sie natürlich nicht machen, um sich nicht zu verraten. Leakwoord bot Ellen galant den Arm; aber sie schien ihn zu übersehen, und dann tappten sie an den Wänden entlang durch den hohlen Felsen. Standen bald darauf auf dem äußeren, niedrigen Riff, an dem der Kutter lag. Wenig später bereits hatten sie Fahrt.

Harry Leakwoord war in einer der beiden Kabinen untergebracht. Es ging ihm bereits wesentlich besser. Allan Leakwoord und Burne bedienten das Schiff. Der Inspektor verstand nichts vom Segeln, um so mehr dafür Leakwoord und Ellen. So arbeitete er nach Anweisung der beiden.

„Da wir diese Nacht um unsern Schlaf kommen, werden wir morgen früh an einem der zahlreichen Felseneilande hier anlegen und das Versäumte in aller Ruhe nachholen,“ meinte Leakwoord.

„Um uns dabei von dem Flugschiff Dörcksens einholen und überrumpeln zu lassen. – Nein, bester Leakwoord, das werden wir nicht tun. Wir müssen schon durchhalten, wenn wir Erfolg haben wollen. Recht viel Raum zwischen uns und die Insel Dörcksens legen. Das ist zunächst die Hauptsache. Wenn er uns mit seinem Flugschiff einholt, müssen wir soweit sein, daß er uns nicht mehr offen angreifen kann; also in einer bewohnten Gegend.“

„Ja, sind Sie denn der Ansicht, daß Dörcksen und die Seinen überhaupt uns verfolgen werden?“

„Ohne Zweifel!“ entgegnete der Inspektor nicht ohne Eitelkeit. „Weil sie ganz genau wissen, daß Burne in Freiheit die größte Gefahr für ihre Sache bedeutet!“ –

Im allerersten Morgengrauen tauchten ganz schnell einige seltsam gebaute Schiffe auf, fuhren mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Geschicklichkeit rechts und links an den Kutter heran … Eine Anzahl brauner Gestalten kletterte herüber und ehe noch die Insassen des Kutters an Gegenwehr denken konnten, waren sie auch schon überwältigt.

Burne allein war es noch gelungen, seinen Revolver zu ziehen und einen der braunen Kerle niederzuknallen. Aber dann war auch sein Schicksal besiegelt. Zwei der Piraten knieten auf ihm, banden ihn … Als er die Gesichter über sich sah, erkannte er, das waren Malaien, wahrscheinlich Seeräuber, denen das Leben eines Weißen im allgemeinen nicht viel galt.

Dann wurde er, wie auch Leakwoord und Ellen, auf ein Schiff der Piraten gebracht. Selbst Harry hatte man aus der Kabine gezerrt.

Burne, der einigermaßen malaiisch verstand, war wenig entzückt, als er das Gespräch einiger der braunen Burschen mitbekam. Die anderen sollten ausgeraubt und irgendwo an der Küste des Festlandes ausgesetzt werden. Er allein war dazu bestimmt, auf die Insel Taipali geschafft zu werden, – weil er einen der Malaien erschossen hatte, der eine Art Führerrolle bei den Piraten gespielt zu haben schien.

Jetzt wünschte Burne plötzlich, daß das Flugschiff Dörcksens auftauchte und sie wieder aufnahm. Mit den Anhängern der Wolkenkönigin war denn doch eher fertig zu werden, als mit malaiischen Piraten, – von denen er noch nicht einmal wußte, ob sie nicht gar zu den Kopfjäger gehörten!

Doch die schwache Hoffnung auf Dörcksens Flugschiff ging nicht in Erfüllung. Wohl sah er es einmal weit hinten am Horizont kreisen, – da etwa, wo der Kutter treiben mochte, – doch was nützte ihm das?

Und Taipali … Er verstand genug von der malaiischen Sprache, um zu wissen, daß das soviel wie „Hölle“ bedeutete. Und von der Insel dieses Namens hatte er auch schon so mancherlei gehört. Man munkelte in den Häfen davon, die Insel sollte die Wohnstätte irgend welcher Geister sein. Sie wurde von den eingeborenen Fischern dieser Gegend gemieden. Irgend einen Grund mußte all das doch haben …

Ein Eiland tauchte auf. Im Gegensatz zu den Felseninseln, wie meist hier ringsherum, sah es grün, recht verlockend aus. Und darauf hielt das Schiff der Malaien zu. Aber aus Gesten der Braunen – auch das Wort hörte er mehrmals – schloß er, daß diese Insel jenes „Taipali“ sei. Mit sehr gemischten Gefühlen sah er daher der bevorstehenden Landung entgegen.

Nicht gerade sanft wurde er auf den Strand getrieben. Nur er allein, – die anderen nicht! Zwar gab er sich verloren, machte im Geist einen dicken Strich unter sein Leben, aber dennoch ließ er die feste Absicht, jede, auch die geringste Möglichkeit zur Flucht auszunutzen, keineswegs fallen.

Man verband ihm die Augen, setzte man ihn auf einen Esel. Und nun ging’s bergauf, bergab; eine gute Weile so. Endlich dann hielt sein Tier, man zog ihn herunter und ließ ihn fallen.

Er fiel nicht hart. Hohes Gras bedeckte den Boden. Da saß er nun und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Die Stimmen um ihn waren verstummt. Überhaupt kam es ihm so merkwürdig still vor. Da wagte er, die Hand zu heben, sich zu regen. Tat es zögernd, hielt wieder inne, wartete. Nichts …

Als er dann endlich kurzerhand die Binde von den Augen riß, war er allein! Ringsum kein Mensch, nicht einmal der Esel, der ihn hierhergetragen, war noch da. Er aber, Burne, saß inmitten eines lieblichen Tales voll üppigster Vegetation.

Hohes Gras, Kräuter, Gesträuch voll duftender Blüten … und Bäume, Palmen und andere. Burne sah Kokosnüsse hängen, Bananen. Er stand auf, reckte sich, spähte umher … Keinen Menschen erblickte er weit und breit. Erleichtert atmete er auf. Nicht mehr in der Nähe der Piraten zu sein, war schon viel wert. Hm, ermorden wollten sie ihn also nicht, verhungern lassen auch nicht. Ringsum sah Burne so viel Eßbares … Melonen, Bananen, Kokosnüsse …

Aber – was wollte man dann hier mit ihm? Nur aussetzen? Möglich; aber – das sah den Malaien so sehr wenig ähnlich. Dazu beunruhigte ihn noch der Name der Insel. Taipali, – Hölle … Für diesen schrecklichen Namen mußte es doch einen Grund geben!

Er beschloß, dies Tal, in dem man ihn ausgesetzt hatte, einmal mit der nötigen Vorsicht zu durchforschen. Aber – vorerst kam er noch nicht dazu. Dunkle Wolken, die sich schon drohend geballt hatten, öffneten ihre Schleusen. Und schon goß es in Strömen, so, wie es nur in den Tropen gießen kann.

Burne hatte rechtzeitig Schutz vor den Wassermengen in einer fast ganz überwucherten Grotte gefunden, deren es in dem Tal mehrere gab. Der Zugang zu dieser Öffnung in den Felsen lag relativ hoch, so daß das sich sammelnde Wasser nicht einbringen konnte.

Ein eigentümlicher Geruch aus dem Dunkel hinter ihm berührte den Inspektor unangenehm. Ein ganz undefinierbarer Gestank war es, nicht vergleichbar mit etwas, was er kannte. Und dieser seltsame widerliche Dunst flößte ihm einen unerklärlichen Schauder ein. Er blickte starr in die Finsternis, doch erkennen konnte er nichts. Zu dunkel war es auch ringsum geworden.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Ende des Unwetters abzuwarten. Lange würde das ja nicht dauern. Solche Tropenwetter sind, ebenso plötzlich wie sie kommen auch wieder verschwunden.

Und so war es auch diesmal. Kaum eine Stunde später leuchtete wieder die Sonne. In die Grotte zwar traf ihr Schein nicht, dennoch war es auch da drinnen jetzt hell genug, um Einzelheiten zu erkennen.

Burne sah sich um und – blieb wie gebannt starr stehen. Da hatte er die Ursache des eigentümlichen Geruchs!

In einer Ecke lagen zusammengeringelt zwei, drei – Diamantschlangen, jene sehr gefährlichen, etwa meterlangen Reptile, deren Biß sofort tötet! Kalter Schweiß trat dem Inspektor aus den Poren. Kein Glied wagte er zu rühren. Hätte er vorher im Dunkeln eins dieser giftigen Reptile berührt, wäre er jetzt nicht mehr. Nur dem Zufall verdankte er sein Leben. Doch – wie nun aus der Höhle hinauskommen? Er wagte nicht die geringste Bewegung, um die Tiere nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Hinaus mußte er, denn schon hob eine der Bestien den Kopf, schob den schillernden Leib langsam vor … auf Burne zu! Kein Besinnen! Nur der schnelle Entschluß konnte ihn retten! So nahm er denn alle Energie zusammen, schüttelte den Bann, in den der Anblick der Giftreptile ihn versetzt hatte, gewaltsam ab … Mit ein, zwei Sprüngen war er draußen, ein wütendes Zischen dicht hinter sich. Und Burne rannte ohne Aufenthalt ein beträchtliches Stück weit von der Grotte fort. Dann erst hielt er erschöpft inne.

Diamantschlangen –! Vielleicht hatte darum die Insel den Namen Taipali. Wo diese Reptile leben, wird selbst die lieblichste Landschaft zur Hölle. Vielleicht war es das …

Jedenfalls war Burne nun erst recht entschlossen, dies Tal zu verlassen, sich nach einem günstigeren Platz auf der Insel umzusehen.

Es waren kleine Berge, die das Tal umgaben; nur sanft gewellte, grüne Hügel. Burne schritt dem Rand zu, immer nach Diamantschlangen ausschauend, die ihm tiefes Grauen und Entsetzen eingeflößt hatten. Einmal noch erblickte sah er eins dieser scheußlichen Reptile auf einem Stein in der Sonne liegen. Zwar aus einiger Entfernung; doch auch das genügte ihm. Bewies es doch, daß jene Exemplare in der Grotte in diesem Tal nicht die einzigen waren.

Dann erstieg er die Hügelkette. Das Land dahinter war ungefähr ebenso breit, wie das Tal selbst, wurde vom Meer begrenzt. Dieser Landstrich war steinig und nur spärlich bewachsen. Zwischen ihm und dem fruchtbaren Tal war ein langgestrecktes Gewässer, das wie ein Fluß rund um das Tal zu laufen schien.

Burne dachte, wenn es ihm gelänge, auf die andere Seite dieses Wassers hinüberzugelangen, wäre er vor den Giftschlangen schon einigermaßen in Sicherheit. Auf dürrem Boden könnte man sich bedeutend besser vor den Tieren in acht nehmen, die in dem üppigen Pflanzengewucher diesseits nur schwer zu erkennen waren.

Mit diesem Gedanken trat er an das Ufer des Flusses heran. Er war nicht allzu breit, und Burne ein guter Schwimmer. Schon war er dabei, seine Kleider abzulegen, die er als Bündel auf den Kopf hinüberzutransportieren beabsichtigte, als ein großer, grauer Schatten, der dicht vor ihm durch das Wasser glitt, seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Und da – fuhr er mit Entsetzen zurück. Der große, graue Schatten war ein Krokodil gewesen! Und – plötzlich wimmelte das Wasser von diesen Bestien!

Graugrün schwammen sie umher. Ab und zu steckte eins seinen scheußlichen Kopf aus dem Wasser und glotzte mit seelenlosen, grünen Basiliskenblicken nach dem Menschen am Ufer … Mit einem Schauder trat Burne zurück. Wahrlich eine Hölle war diese Insel! Sie verdiente ihren Namen mit Recht.

Und er – war hier Gefangener. Dort das Tal mit den giftigen Diamantschlangen, – hier, als seine Grenze, das Wasser mit den schwimmenden Panzerechsen. Nun verstand er die Malaien! Wahrhaftig teuflisch war das ausgedacht! Er konnte das Schlangental überhaupt nicht verlassen. Wohin sollte er? Das Krokodilgewässer war ein unüberschreitbares Hindernis. Und nachts, wenn es dunkel wurde, er vielleicht einschlief –

Nein, nein, nie würde er das tun! Er mußte wach bleiben diese Nacht, die übrigens nicht mehr fern war. Mußte am andern Morgen weiter suchen. Denn irgendwo kannten doch die Malaien einen Weg über den Fluß. Wenigstens hatte er nicht bemerkt, daß der Esel, der ihn trug, einmal durch Wasser gegangen war. Und das wäre ihm nicht entgangen, trotz der verbundenen Augen. Nein, es mußte eine sichere Stelle zum Übergang geben – nun, und die wollte er schon finden. Doch nicht mehr heute. Schon sank die Sonne. Jetzt war es dazu zu spät. Aber morgen …

Schlafen würde er nicht in dieser Nacht. Um keinen Preis. Er mußte wachen, um sich das giftige Gewürm fernzuhalten. Burne lebte lange genug in Indien, um mit dergleichen Bescheid zu wissen. Man schleppte einfach Holz zusammen, möglichst trockenes, das hell brannte, zündete es an und unterhielt das Feuer die ganze Nacht. Vor Feuer flohen Schlangen.

Ziemlich in der Mitte des Tales, in gehöriger Entfernung von den Grotten, fand der Inspektor einen Platz, der ihm zum Übernachten geeignet schien. Holz lag genug herum. Und wenn auch vor wenigen Stunden der Platzregen niedergegangen war, die Tropensonne hatte die Zweige bereits wieder gedörrt. Einen ganzen Berg schleppte Burne zusammen. Dann erst trachtete er danach, sich etwas zum Abendbrot zu beschaffen, ehe die Nacht hereinbrach.

Er öffnete ein paar herabgefallene Kokosnüsse, trank die sehr erfrischende Milch daraus und aß dazu eine Anzahl Bananen.

Nun war es aber höchste Zeit geworden, das Feuer aufflackern zu lassen. Schon war es fast dunkel. Burne griff in seine Tasche, in der er das Dauerfeuerzeug trug … Tastete, tastete … leer –! Er hatte es verloren!

Was nun? Im Dunkeln bleiben? Und die Krokodilen, die Schlangen? Nochmals durchsuchte er alle Taschen, – vergebens. Namenloses Entsetzen ergriff da Besitz von ihm, als er sich den Schrecken dieser Hölleninsel wehrlos ausgeliefert sah!

Jäh, wie immer in den Tropen, war die Sonne gesunken. Burne saß im Dunkeln da, wagte kein Glied zu rühren, – starrte entsetzt in die Finsternis. Die Geräusche erwachten ringsum. Lebenszeichen von allerlei Getier. Papageienschreie, Schnattern von Affen, Fauchen, Zischen am Boden. Große Insekten flogen brummend gegen seinen Kopf. Kalter Schweiß trat ihm aus allen Poren. Kamen die Diamantschlangen, – kamen sie etwa schon?

Plötzlich zuckte er zusammen. Starrte hinüber in der Richtung, wo die Grotten lagen. Was war das?! Da erhob es sich, nebelhaft, doch seltsam leuchtend … große, weiße Gestalten. Richteten sich immer höher auf, schwankten, drehten und wiegten sich wie in gespenstischem Tanz …

Waren das Gespenster –? Aber nein, nein; Gespenster gab es doch nicht. Aber – was war das dann? Halluzinationen? Sah er, was sonst nicht da war? Ging er dem Wahnsinn entgegen?

Die leuchtenden, nebelhaften Gestalten kamen näher und näher. Gerade auf Burne zu. Der wollte schreien, doch kein Ton kam aus seiner Kehle; nur ein Röcheln. Aufspringen wollte er, doch er vermochte kein Glied zu rühren; wie an die Stelle gebannt war er.

Da waren sie auch schon heran, die Gestalten. Umwogten ihn … Was war das nur …? Der Atem verging ihm … die Gestalten neigten sich über ihn … da verlor er das Bewußtsein.

 

2. Kapitel

Harald Dörcksen schüttelte besorgt den Kopf.

„Ich habe die Reparatur am Höhensteuer auf der Insel der chinesischen Seeräuber doch zu sehr übereilen müssen,“ erklärte er; „es gehorcht nicht recht. Wenn wir nicht riskieren wollen, wieder ins Meer zu fallen, bevor wir die Küste erreichen, müssen wir auf einer der zahlreichen Inseln hier eine Zwischenlandung vornehmen.“

Mahadur Mirat erklärte sich damit einverstanden, – obgleich schweren Herzens. Die Verzögerung konnte für Hella verhängnisvoll werden. Doch was war zu machen? Ehe man sich der Gefahr aussetzte, die Küste eventuell überhaupt nicht zu erreichen …

Dörcksen ließ das Flugschiff tiefer hinabgehen.

„Dort – die Insel. Sie scheint geeignet zu sein. Eine weite, steppenähnliche Fläche unweit des Meeres. Ein guter Landungsplatz,“ sagte Dörcksen.

„Kein Mensch … Sie scheint unbewohnt. Seltsam. Macht doch sonst so einen freundlichen Eindruck,“ meinte Mirat. Das Flugschiff beschrieb einige Spiralen, glitt tiefer und tiefer. Noch ein sanftes Schweben, – dann setzte es mit leichtem Stoß auf den Boden auf.

Dörcksen und Mahadur Mirat sprangen heraus. Der Erfinder ging sofort wieder daran, die Höhensteuerung nochmals genau zu untersuchen.

„Ah, das ist doch ein ganz anderes Arbeiten, wenn man nicht von Feinden umlauert ist!“ rief er und holte die Werkzeuge aus dem Innern des Flugschiffes.

Darauf der Radscha: „Ich werde mir derweil die Gegend ansehen gehen; ein wenig die Insel durchstreifen.“

„Tun Sie das, lieber Mirat,“ entgegnete Dörcksen; „ich bringe derweil hier die Sache in Ordnung. Dann kann’s sofort weitergehen.“

Mahadur Mirat entfernte sich, verschwand hinter den Hügeln. Dörcksen fand bald heraus, daß es am sichersten wäre, die Höhensteuerung komplett abzumontieren, zu überprüfen und dann neu anzubringen. Er tat es, bastelte herum, merkte nicht, wie die Zeit verging. Erst, als der Hunger sich meldete, blickte er auf seine Uhr.

Wo nur Mahadur Mirat blieb –! Einige Stunden war es nun schon her, daß er fortgegangen war, und noch kam er nicht zurück. Die Reparatur war vollendet, das Höhensteuer wieder völlig intakt.

Dörcksen stieg in das Innere des Flugschiffes und nahm eine Mahlzeit zu sich. Wenn Mirat nachher kam, mußte er eben allein essen.

Aber der Radscha erschien nicht. Dörcksen schritt nun in der Nähe des Flugschiffes auf und ab … wartete … Doch als der Radscha noch immer nicht auftauchte, begann Dörcksen ernstlich unruhig zu werden. Wer wußte, was Mirat im Innern dieser unbekannten Insel zugestoßen war! Gewiß, er war bewaffnet. Doch es gab auch Gefahren, gegen die Waffen nichts nützen.

Was sollte er tun? Mirat suchen gehen? Aber wo? In welcher Richtung? Das heißt, – schließlich war das gleich. So groß war die Insel nicht. Für alle Fälle aber wollte er eine Nachricht für Mirat hier beim Flugschiff zurücklassen, falls der inzwischen aus einer anderen Richtung hier eintraf. Dörcksen schrieb die wenigen Zeilen auf ein großes Stück Papier, das er außen an die Wand der „Wolke“ heftete. Dann machte er sich auf den Weg.

Er ging aufs Geratewohl geradeaus. Immer geradeaus. Bis zu den Hügeln, hinter denen er den Radscha hatte verschwinden sehen. Grüne Wände wechselten mit hervortretenden Felspartien ab. Im ganzen leicht passierbares Gelände. Nur von Mahadur Mirat keine Spur.

Etwa eine halbe Stunde war Dörcksen gegangen, als er plötzlich stehen blieb. Hier war wieder eine Stelle, wo der kahle Fels zutage trat. Zwischen zwei gewaltigen Blöcken befand sich eine tiefe, kaum zwei Meter breite Spalte. Und auf deren Grund – Mahadur Mirat!

Der Erfinder war tief erschrocken. War der Radscha tot –? Nein, er lebte. Dörcksen erkannte deutlich, wie seine Brust sich regelmäßig hob und senkte. Also nur betäubt. Von dem Sturz dort hinunter? Dörcksen kletterte an der am wenigsten steilen Seite hinab, stand bald darauf neben dem Bewußtlosen. Beugte sich über ihn …

Da – was war das! – Er taumelte. Schwindlich ward ihm … Mit dem letzten Rest seiner Willenskraft kletterte der Erfinder wieder empor. Oben sank er erschöpft zusammen; atmete tief die reine Luft …

Nun wußte er, was es mit der Felsspalte und der Bewußtlosigkeit Mahadur Mirats auf sich hatte. Dort unten entströmten betäubende Gase dem Erdboden. Und, schwerer als Luft, blieben sie am Boden der Spalte.

Mirat mußte wohl aus irgend einem Grund dort hinabgestiegen sein und war von den Gasen betäubt worden, ehe er noch dazu kam, wieder hinaufzuklettern. So schnell als möglich wollte Dörcksen versuchen, den Radscha heraufzubefördern. Wer wußte schon, welch verderbliche Folgen es haben mochte, wenn Mirat dies Gas noch länger einatmete!

Freilich, – schwierig würde es sein. Wollte Dörcksen nicht selbst betäubt werden, mußte er die Luft anhalten, durfte nicht atmen, bis er wieder oben war. Und das würde, wenn er mit der Last von Mirats Körper hinaufkletterte, nicht so schnell gehen.

Ach was, gewagt mußte es ja doch werden. Da nützte kein langes Besinnen. Dörcksen sog die Lungen so voll, wie er nur irgend konnte. Dann stieg er schnell hinab, hob den Radscha auf und klomm wieder empor. Es war nicht einfach, die Felswand steil … Aber krampfhaft hielt Dörcksen trotz der Anstrengung den Atem an. Rote und blaue Ringe begannen vor seinen Augen zu kreisen. Fast meinte er, die Kräfte verließen ihn, meinte mit dem Bewußtlosen zurückstürzen zu müssen in das verderbliche Gas … Doch mit einer letzten, fast übermenschlichen Anstrengung zog er sich über den oberen Rand des Felsens … sich und den Radscha … Sank dann oben neben ihm zu Boden, nun selbst von Ohnmacht umfangen – vor Erschöpfung. –

Als er dann wieder erwachte, richtete sich auf, blickte sich um … Ah, da lag Mahadur Mirat, – noch bewußtlos. Aber es schien, er atmete jetzt leichter und tiefer …

Dörcksen begann mit Wiederbelebungsversuchen. Und schon nach wenigen Minuten ließ sich der Erfolg sehen. Mahadur Mirat atmete ein paarmal unregelmäßig, schlug dann die Augen auf. Doch mit dem Ausdruck eines Menschen, der soeben aus schwerem Schlaf erwacht und noch nicht richtig munter ist.

Seine Lippen bewegten sich; formten Worte. Mit Mühe verstand Dörcksen:

„Viele Krokodile – – Wasser – der weiße Mann – – dort – Tal –“

Da schlief er schon wieder. Dörcksen betrachtete ihn aufmerksam. Waren das eben Fieberphantasien gewesen? Nein, den Eindruck machte der Schläfer nicht. Vielleicht Träume …

Eine Weile sann Dörcksen, was er wohl tun könnte. Und dann – entsann er sich eines günstigen Umstandes. Er hatte, als er von dem Flugschiff hierher aufbrach, für alle Fälle ein Fläschchen mit etwas Alkohol zu sich gesteckt. Davon würde er ihm einflößen.

Er tat es. Die Wirkung war zufriedenstellend. Mahadur Mirat schlug wieder die Augen auf, jetzt sichtlich belebt. Dörcksen fragte:

„Wie fühlen Sie sich?“

Mirat richtete sich langsam auf.

„Oh, danke, gut. Nur noch etwas müde. Diese Felsspalte –“

„– enthält ein Gas, das betäubt!“ ergänzte der Erfinder. „Wie gerieten Sie da hinein?“

„Ich war unachtsam. Ich stürzte. Einen Augenblick schwand mir die Besinnung infolge des Aufpralls. Und als ich dann wieder zu mir kam, hatte das Erdgas bereits soweit auf mich eingewirkt, daß ich mich nicht mehr erheben konnte.“

„Ein Glück, daß ich Sie noch so bald fand. Wer weiß, welche Wirkung das Gas beim längeren Einatmen nach sich zieht.“

„Bis jetzt merke ich nichts, als eine kleine Müdigkeit. Wie lange habe ich wohl da unten gelegen?“

Dörcksen hob die Achseln.

„Vom Flugschiff fortgegangen sind Sie vor fast vier Stunden.“

„So; – nun, dann können es etwa drei sein, die ich da gelegen habe. Diese Insel birgt übrigens Geheimnisse.“

„Ah, so waren die Worte, die Sie vorhin abgerissen sprachen, vielleicht doch kein Traumfetzen –?“

„Was sagte ich?“

„Sie sprachen von Krokodilen, von einem weißen Mann und von einem grünen Tal …“

Der Radscha nickte.

„Kein Traum! Hören Sie zu! Als ich vom Flugschiff fortgegangen war, kam ich nach kurzer Wanderung auf eine Hügelkette, hinter der ein paradiesisch schönes Tal lag. Üppige Vegetation, höchste Fruchtbarkeit. Überall Kokospalmen, Bananen und andere Fruchtbäume. Wie ich noch so dastehe und dies herrliche Tal bewundere, sehe ich plötzlich, daß in der Mitte des Tales ein Mensch liegt. Ein weißer Mann! Ich will dahin eilen; denn er liegt nicht, als ob er schläft, sondern auf dem Rücken, als ob er bewußtlos ist – oder tot. Ich schickte mich also an, dahin zu eilen, – da komme ich an das Ufer eines flußähnlichen Wassers. Nun, das wäre ja kein Hindernis gewesen. Ich schwimme gut. Doch da sehe ich mit Entsetzen, das Wasser ist voller Krokodile! Da hindurchschwimmen zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen. Nicht einen Meter weit wäre ich gekommen. Der Anblick des dort liegenden Mannes, das Krokodilgewässer hatten mich ein wenig erregt. Rasch laufe ich zurück, will zum Flugschiff, nehme wohl nicht ganz den gleichen Weg, als vorhin, gebe nicht genügend auf den Weg acht und – plötzlich habe ich keinen Boden mehr unter den Füßen; stürze, schlage schwer auf … Das weitere wissen Sie.“

„Die Krokodile werden uns nicht hindern. Wir fliegen einfach hinüber. Aber – dorthin müssen wir. Ein Mensch … Vielleicht ist ihm noch zu helfen …“ sagte Dörcksen.

„Gewiß, hin wollen wir,“ pflichtete Mahadur Mirat bei und erhob sich. Sie schritten zum Flugschiff zurück. Bestiegen die Kabine. Gleich darauf schwebte die „Wolke“ dicht über dem Boden dahin. Über das Gewässer mit den Krokodilen hinweg, in das Tal hinab.

„Dort – dort liegt er!“ stieß Mirat hervor. Das Flugschiff senkte sich schon. Stieß leicht am Boden auf. Hielt. Dörcksen und der Radscha sprangen heraus … beugten sich über den Bewußtlosen und –

„Burne –!“ riefen beide wie aus einem Mund. Es war der Inspektor, den sie in dieser seltsamen Situation gefunden hatten!

„Taipali –!“ sagte Mirat langsam. „Dies wird dann wohl die Hölleninsel sein. Jener Malaie sagte ja, daß die Gefangenen nach der Insel Taipali gebracht werden sollten. Burne ist wahrscheinlich durch das gleiche Gas betäubt worden, wie ich.“

Dörcksen wiegte das Haupt.

„Aber hier – im Freien –?“

„Nun, das Tal liegt tief. Die Gase mögen sich vielleicht zu gewissen Tageszeiten – vielleicht nachts, hier ansammeln und –“

„Taipali –,“ murmelte Dörcksen; „dann müßten ja die beiden Leakwoords und Ellen Crosterbroux auch hier auf der Insel sein …“

„Das werden wir erfahren, wenn wir Burne geweckt haben werden,“ entgegnete Mirat.

„Das soll sogleich geschehen,“ sagte Dörcksen. Seine Flasche enthielt noch etwas Alkohol. Damit näherte er sich dem Inspektor, um ihm ein wenig einzuflößen. Doch plötzlich riß der Radscha ihn am Arm zurück.

„Nicht weiter! Sehen Sie da!“

Dörcksen hatte die Gefahr ebenfalls bereits erkannt. Dicht neben dem Bewußtlosen lag, halb auf seinem Arm, eine etwa meterlange, schillernde Schlange. Sie hatte nun den Kopf emporgehoben und starrte den beiden Männern entgegen.

„Eine Diamantschlange. Sehr giftig. Der Biß tötet sofort,“ sagte Mirat; „wir dürfen das Tier durch nichts reizen. Sonst beißt es Burne und er ist verloren. Wir müssen ihn retten. Hat er auch mir mehr als einmal indirekt nach dem Leben getrachtet, – er ist doch ein Mensch.“

Dörcksen bewunderte den Edelmut des Radschas. Aber er sagte nichts. Jetzt war auch nicht Zeit zu einer Erwiderung.

„Ihn retten, ja; doch wie die Schlange von ihm fortbringen?“

„Warten Sie; lassen Sie mich machen.“

Er zog seinen Revolver. Wie gut, daß die Chinesen ihm den nicht abgenommen hatten! Und dann begann er eine eintönige Melodie zu pfeifen, die sich ständig wiederholte. Er selbst rührte sich nicht. Auch Dörcksen verhielt sich ganz ruhig. Er wußte, daß davon in solchen Fällen viel abhängt. Ganz ruhig stand er, sah, daß die Schlange sich höher und höher aufrichtete …

Allmählich begann sie, sich im Takt der eintönigen Melodie zu wiegen. Und langsam, Millimeter um Millimeter hob Mahadur Mirat die Hand mit dem Revolver … Ganz, ganz langsam … Pfiff dabei immer noch …

Dann – schoß er. Die Schlange sackte zusammen. Die Kugel hatte ihr den Kopf zerschmettert! Ein Meisterschuß!

Von dem Knall wich selbst die tiefe Betäubung Burnes. Er schlug die Augen auf, richtete sich langsam hoch … sah die Schlange, schrak zusammen …

„Fürchten Sie nichts; sie ist tot,“ sagte Mahadur Mirat. Der Inspektor starrte ihn an wie ein Gespenst.

„Sie – hier –?“

Dörcksen sagte:

„Ja, wir fanden Sie rein zufällig. Sie lagen bewußtlos. Eine Diamantschlange dicht neben Ihnen. Mirat erschoß sie rechtzeitig und rettete Sie so.“

Burne starrte die Beiden eine Weile wortlos an. Dann sagte er langsam, wie zu sich selbst:

„Mahadur Mirat – hat – mich – – gerettet –?“

„Menschenpflicht,“ bestätigte Dörcksen langsam. Mit starrem Blick sah Burne auf die tote Schlange neben sich. Wie Fieberfrost schüttelte es ihn.

„Schreckliches habe ich hier erlebt! Dies ist wirklich die Hölle!“ murmelte er. „Ich glaubte dem Wahnsinn verfallen zu sein. Gespenster sah ich. Sie kamen auf mich zu … betäubten mich. Grauenvoll!“

Mahadur Mirat und Dörcksen sahen einander an. Redete der Inspektor irre? Aber nein, seine Augen schienen ganz klar. Und – wenn Krokodile und Giftschlangen auf dieser Insel waren, warum nicht auch Gespenster? Freilich, welcher Art diese „Gespenster“ sein mochten, konnte man jetzt nicht feststellen.

Schon fuhr Burne fort:

„Als ich inmitten all des Entsetzens hier lag, da tat ich einen Schwur: dem Menschen, der mich hieraus erlöst, nicht nur dankbar zu sein, nein, sondern ihm zu dienen, – wer es auch sei. Und nun sind Sie es, Mahadur Mirat! Das nehme ich als einen Wink des Schicksals. Was bewog mich, Sie und Ihre Sache zu verfolgen! Die Sucht nach Geld und Ruhm. Wie nichtig das alles ist, habe ich hier in den grauenhaften Stunden der letzten Nacht eingesehen. Mahadur Mirat, von heute ab bin ich nicht mehr Beamter der britischen Regierung, – von heute ab bin auch ich Ihr Anhänger! Verfügen Sie über mich!“

Damit streckte er dem Radscha die Hand hin. Der – zögerte. Sah Burne lange forschend ins Gesicht, als wollte er auf dem Grund seiner Seele lesen. Dann ergriff er dargebotene Hand.

„Ich danke Ihnen!“

Burne, abwehrend:

„Sie mir –? Ich bin es, der zu danken hat! Ihnen verdanke ich mein Leben, – das fortan Ihnen gehören soll.“

„Hella ist entführt. Von chinesischen Seeräubern, nach Shanghai. Wir müssen sie finden, bevor es zu spät ist. Sie können uns helfen; Sie sind Detektiv, – also …“

„Mit Freuden. Hoffentlich gelingt es mir, sie aufzufinden. Shanghai ist groß und hat unzählige Schlupfwinkel. Die Chinesen sind Meister darin.“

„Kennen Sie Shanghai –?“

„Nur flüchtig.“

„Ich habe einen Freund dort. Das heißt – er ist ein alter Mann. Ein Inder, der mehr sieht und mehr weiß, als andere Sterbliche. Er ist ein Scharmagri, ein Gewesener.“

„Wir wollen eilen,“ warf da Dörcksen ein. Sie schritten zu dem Flugschiff zurück, das sich bald darauf mit ihnen in die Lüfte erhob.

Als Shanghai in Sicht kam, ließ Dörcksen das Flugschiff auf die Wasserfläche niedergehen und fuhr als Motorboot in den Hafen ein. Ein absonderlich gebautes Schiffchen würde weit weniger auffallen, als eine Flugmaschine. Dörcksen lag daran, jedes Aufsehen nach Möglichkeit zu vermeiden.

„Wo bringen wir die „Wolke“ unter?“ fragte er.

„Am besten wäre wohl, wenn wir sie in der Nähe der Stadt – nicht innerhalb – festmachten und wenn einer von uns bei dem Flugschiff zurückbliebe,“ riet Mahadur Mirat. Das sollte Dörcksen sein. Er war noch nie in Shanghai gewesen, während der Detektiv die Stadt einigermaßen, die Chinesen sehr gut kannte. Ihm würde es leichter fallen als Chinese Maske zu machen, ohne das es auffiel. Und Mirat, der sowieso kein Weißer war, hatte überhaupt keine Schwierigkeiten zu überwinden. Nur gegen Weiße ist der Chinese stets mißtrauisch. Gegen Andersfarbige selten, denn denen fühlt er sich überlegen.

Der Erfinder blieb also zurück. Burne, der sich in einen „echten“ Chinesen verwandelt hatte, schritt Mahadur Mirat voraus der Stadt entgegen.

Am Rande Shanghais befand sich eine elende Lehmhütte. Darin hauste Rabindra, der Gewesene. Ihn suchten die beiden auf. Als sie eintraten, erhob sich ein sehr alt scheinender Inder von seinem primitiven Lager.

„Was wünschest du, Sohn des Himmels?“ fragte er Burne in feierlichem Tonfall. Aber da trat auch schon rasch der Radscha vor. Der Inder erkannte ihn sofort. Er breitete die Arme aus, indem er sagte:

„Radscha Mahadur –! Welch eine Freude, dich wiederzusehen! Was führt dich her? Kann ich dir helfen?“

„Ja, Rabindra, das kannst du,“ entgegnete Mirat; „eben darum komme ich zu dir.“

Und dann erzählte er dem Scharmagri die Geschichte von Hella Dörcksens Gefangennahme.

„Könntest du mir sagen, wo sie zur Zeit sein könnte?“

Rabindra wiegte das Haupt.

„Viel weiß ich, mein junger Freund, auch manches Verborgene. Doch alles hat seine Grenzen. Aber warte, ich will es versuchen. Sage mir nur eins, stehst du mit jenem Mädchen in irgend einer Beziehung?“

„Sie ist meine Braut,“ entgegnete der Fürst. Worauf Rabindra nickte.

„Eure Herzen schlagen zueinander … Das ist gut; so wird es leichter gehen.“

Er rückte ein kleines Becken mit glühenden Kohlen in die Mitte der Hütte, nahm dann einen Metallspiegel, hielt ihn über die Glut, ließ ihn sich langsam erwärmen. Dabei sagte er zu Mirat:

„Komm und sieh!“

Der Radscha trat heran und blickte auf die schimmernde Fläche. Wie Wolken wogte es auf ihr hin und her. Aber die Wolken verdichteten sich, nahmen feste Umrisse an. Ein Haus entstand, ein Gebäude mit einem niedrigen Vorbau, der auf drei Säulen ruhte, umgeben von einem Garten.

Mahadur starrte auf das kleine Bild. Burne blickte ihm gespannt über die Schulter. Jetzt – kam Leben in das Bild. Aus dem Hause trat ein Mann in europäischer Kleidung und mit ihm –

„Hella!“ hauchte Mirat. Aber da wischte der Gewesene einmal mit dem Ärmel über den Spiegel und das Bild war verschwunden.

„Hella und – Marco Viani, der reichste Mann Chinas? Nicht möglich …“

„Was sahst du –!“ fragte Rabindra.

„Ich sah ein Haus mit einem von drei Säulen getragenen Vorbau. Da heraus trat Hella und mit ihr Marco Viani.“

„Merk dir das Haus! Merk dir den Mann! Glaube und – handle danach!“ sagte der alte Inder. Darauf sank er auf sein Lager zurück und schien völlig apathisch. Antwortete auf keine Frage weiter. –

Mirat und Burne wanderten zusammen zu dem Flugschiff zurück. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Burne endlich sagte:

„Wie erklären Sie sich die Sache mit dem Spiegel? Wie kam das Bild darauf? Wie konnte der alte Rabindra wissen –“

Mahadur Mirat sah starr geradeaus; sagte ganz langsam:

„Indien birgt viele Geheimnisse. Sie erklären wollen, hieße, sie töten! Wozu? Sie benutzen, ist klug. Nichts sonst.“

Burne schwieg. Seinem ganz aufs Reale gerichteten Sinn paßte diese Auffassung nicht. Er war daran gewöhnt, allen Dingen auf den Grund zu gehen. Aber er lebte auch lange genug in Indien, um zu wissen, daß dies manchmal ohne Erfolg war. Weil nichts Greifbares vorhanden schien … –

Da lag die „Wolke“. Dörcksen sah den beiden an, daß sie Nachricht brachten. Und gespannt lauschte er dem Bericht Mirats. Der war nur kurz und sein Hauptpunkt, man solle zu Marco Viani gehen. Dort werde man Näheres über den Verbleib Hellas erfahren können.

Diesmal blieb Burne als „Besatzung“ auf der „Wolke“ zurück. Mahadur Mirat und Dörcksen machten sich sofort auf den Weg.

Marco Viani galt als der reichste Mann Chinas. Das heißt als der reichste Europäer. Er besaß in Shanghai eine große Firma, die sich mit Überseehandel beschäftigte und zwei weitere große Häuser in London und Rom unterhielt. Er war sehr unbeliebt, und das nicht nur bei den Chinesen, bei denen war schließlich jeder „weiße Teufel“ mehr oder minder unbeliebt, manchmal auch bei den wenigen Weißen, die in Shanghai lebten. Er war als Angestelltenschinder und brutaler Menschenfeind verschrien. Bettler, die das noch nicht wußten und in sein Haus kamen, pflegte er eigenhändig hinauszuprügeln. Mehrmals schon waren Attentate auf sein Leben verübt worden. Bisher immer erfolglos. Es war, als sei er stets auf dergleichen vorbereitet gewesen. Zwei riesige Tigerdoggen begleiteten ihn stets, und ein Browning, mit dem er sehr treffsicher war …

„Haben Sie eine Waffe bei sich?“ fragte Mirat. Dörcksen nickte.

„Ja, meinen Revolver. Warum?“

Mahadur Mirat hob die Achseln.

„Man kann nie wissen … Wir gehen zu Marco Viani –“ und nach einer Weile, als im Zentrum der Stadt ein großes, weißes Gebäude in europäischem Stil auftauchte:

„Dort wohnt er.“

Wenige Minuten später traten sie durch das Portal. Ein gelber Diener kam ihnen entgegen.

„Melde deinem Herrn den Radscha Mahadur Mirat!“ befahl der Fürst in kaltem Tonfall. Sagte dann zu Dörcksen leise, während der Diener im Hintergrund der Halle verschwand:

„Es ist besser, daß ich mich bei Viani anmelden lasse. Meinen Namen kennt er nicht … Falls –“

Da kam der Gelbe auch schon zurück; erstaunlich schnell.

„Mein Herr ist heute früh verreist. Nach Italien.“

Über Mahadur Mirats Gesicht huschte ein kaum merkliches Lächeln.

„Und das mußt du erst fragen gehen –?“

Sie ließen den Diener, der auf diesen Einwand keine Miene verzog, stehen und schritten wieder hinaus. Dort sagte Dörcksen dann:

„Viani ist natürlich doch hier.“

„Vielleicht. Wir wollen sein Haus bewachen lassen. Oder – nun, jedenfalls beginnt hier Burnes Arbeitsfeld. Er als gewiegter Detektiv wird …“

Er brach jäh ab. Ein Auto hatte sie soeben überholt. Darin saßen – Viani und neben ihm, tief verschleiert – trotzdem erkannten Mirat und Dörcksen sie sofort – Hella! Sekundenlang nur starrten die beiden dem Wagen nach, der schnell ihren Blicken entschwand.

„Ein Auto –!“ stieß dann der Erfinder hastig hervor und sah sich um. Ja, aber – in Shanghai ein Auto zu bekommen, das ist denn doch auch heute noch nicht so einfach. Rikschakulis waren allgegenwärtig. Gewiß, auch sie erreichen eine ansehnliche Geschwindigkeit. Aber – ein Auto … das zu verfolgen bestand mit ihnen doch keine Aussicht. Mirat legte ihm die Hand auf den Arm.

„Lassen Sie nur. So schnell hat er keine Gelegenheit, fortzukommen, falls er Shanghai zu Schiff verlassen will. Was ich als ziemlich wahrscheinlich annehme.“

Burne erwartete sie gespannt. Sie erzählten ihm ihr Erlebnis, baten ihn dann, sein Können nun zur Auffindung und eventuellen Befreiung Hellas einzusetzen. Er versprach es. Dann setzte er hinzu:

„Daß Marco Viani sich verleugnen ließ, ist kein gutes Zeichen. Und nach dem Ruf, den dieser Italiener genießt, ist ihm schon zuzutrauen, daß er Hella gewaltsam zurückhält. Nun, wir wollen sehen.“

„Gehen Sie sofort, bitte, Mr. Burne! Hier ist Geld. Wir bleiben einstweilen auf der „Wolke“. Sie können uns hierher Nachricht senden, wenn nötigt. Und – der Kostenpunkt spielt keine Rolle.“ –

Der Detektiv ging und ließ die beiden Männer in banger Sorge zurück. Der Tag verging, der Abend senkte sich auf die Stadt, – von Burne war nichts zu sehen. Nicht einmal eine Nachricht kam. In dieser Nacht schliefen Dörcksen und Mirat fast gar nicht. Bleiern schlichen die Stunden. Endlos …

Endlich, gegen Mittag des nächsten Tages erschien ein kleiner Chinesenjunge mit einem Zettel. Mirat nahm ihm den ab, las, reichte ihn dann kopfschüttelnd Dörcksen.

„Das kann ich nicht lesen.“

Dörcksen warf einen Blick auf das Blatt und – lächelte unwillkürlich. Was da stand, war – stenographiert! Nur wenige Worte:

„Bin in Hellas Nähe! Weitere Nachricht telegraphisch! Auf Postämtern nachfragen! Stets nächste Adresse hinterlassen! Burne.“

Er war also schon in Hellas Nähe! Wenn es ihm gelänge … Beide, Mirat und Dörcksen, schickten ein Stoßgebet zum Himmel; zur – Göttin über den Wolken …

 

3. Kapitel

Auch Hella war von den gelben Piraten in einer Hütte untergebracht worden. Doch das währte nicht lange. Dann kamen drei Chinesen, darunter ein sehr dicker, sprachen offenbar über sie … Der Dicke betrachtete sie sehr aufdringlich. In dem Gespräch der drei hörte sie oft das Wort „Shanghai“.

Darauf ward sie wieder allein gelassen; aber auch diesmal nicht lange. Bald hörte sie die Stimmen der drei sich draußen wieder nähern. Und instinktiv, als befehle es ihr eine innere Stimme, ritzte sie mit einem Holzspan, der da lag, das Wort Shanghai in die Farbe der Wand. Dann waren die drei Gelben auch schon wieder da, führten Hella hinaus und – brachten sie auf ein Schiff. Wie gut, daß ich jenen Stadtnamen dort zurückgelassen habe, dachte sie; sicherlich bringt man mich dorthin und – vielleicht findet mein Vater oder Mirat das Zeichen …

Allein in der engen Kammer, einstweilen blieb sie noch ganz ruhig. Doch nachts überfiel es sie dafür doppelt. Die Angst, die Ungewißheit des Schicksals, das ihr bevorstand … Zu anderen Zeiten hätte sie in solchen Augenblicken wohl ihre Zuflucht zu dem Gift genommen, das ihr Mut gab, sie aufrecht hielt. Doch seit Mahadur Mirat die magnetischen Striche über ihr gezogen hatte, war ihre Neigung dazu völlig geschwunden. Nur darüber war sie froh.

Diese Nacht und den ganzen nächsten Tag über durfte Hella nicht an Deck. Sie blieb eingeschlossen, aber wenigstens trat ihr niemand zu nahe. Von einem kurzen Hereinschieben der Mahlzeiten abgesehen wurde sie unbehelligt gelassen.

Die Kabine besaß ein winziges, rundes Fensterchen. Auf einen Stuhl gestiegen erblickte Hella dadurch gegen Abend des zweiten Tages die Küste des Festlandes auftauchen, erkannte später die Umrisse einer großen Stadt und vermutete, daß das Shanghai sein müsse. Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr das Schiff in den Hafen ein.

Hellas Herz schlug stürmisch. Was erwartete sie hier? Würde sich ihr eine Gelegenheit zur Flucht bieten? Oder – sie fühlte den sechszackigen Elfenbeinstern auf ihrer Brust. Sie dachte an ihre Mutter, die Wolkenkönigin … Würde sie sie je sehen –?

Das Schiff legte an. Doch nicht am Hafenkai. An einem anderen Schiff vielmehr, das wie ein großer, dunkler Kasten auf dem Wasser lag. Es war ein sogenanntes Hausboot. Hella hatte viel über China gelesen und jetzt fiel ihr plötzlich ein, daß die sogenannten Blumenboote solche Hausboote waren, die auf dem Strom verankert lagen, und auf denen gelbe und weiße Mädchen gehalten wurden – zum Vergnügen der Gäste …

Mit einem Mal ward ihr klar, was ihr bevorstand! Grausen überfiel sie, wenn sie daran dachte, daß sie vielleicht gezwungen werden sollte, irgend einem ekelhaften Chinesen zu Willen zu sein. Das Schrecklichste, das ihr je passieren könnte … Nein, nein, lieber den Tod!

Und mit heimlicher Genugtuung fühlte sie nach der kleinen Spritze, die sie immer noch versteckt bei sich trug … Statt einer Dosis des Gifts deren zwei bis drei … im äußersten Notfall.

Im äußersten Notfall … doch auch nur dann. Denn ihre Seele schrie, schrie nach Leben! Nach Mahadur Mirat, den sie liebte; nach Aspasia, der hehren, ihrer Mutter. Nein, sie wollte nicht sterben! Und fester, denn je, war ihr Entschluß, zu fliehen.

Dann allerdings kam es noch ganz, ganz anders. Das Schiff hatte angelegt. Etwa eine halbe Stunde später erschien der Chinese in ihrer Kabine, der ihr während der Überfahrt das Essen gebracht hatte, wieder mit einem Tablett. Anfangs hatte Hella noch Widerwillen gegen das Essen empfunden; doch da sie Hunger hatte, probierte sie und fand die Speisen vorzüglich zubereitet, sogar ausgesprochen schmackhaft.

Auch jetzt aß sie, wenngleich infolge der Spannung, in der sie sich befand, ohne jeden Appetit. Aber sie aß; trank auch Tee … Der ward ihr Verhängnis. Nur ein paar Minuten später überfiel sie eine unwiderstehliche Müdigkeit. Vergebens kämpfte sie dagegen an. Wollte das winzige Fenster öffnen, frische Luft atmen … Kam nicht mehr dazu. Schwankte, sank um …

Hinter ihr öffnete sich die schmale Tür und herein schaute der grinsende Kopf eines Chinesen …

Als sie wieder erwachte, befand sie sich in einem ganz anderen Raum. Zweifellos auf dem Hausboot. Das Gemach war größer, als die Kabine vorher, grellbunt ausstaffiert und aufdringlich parfümiert.

Jetzt tat sich die Tür auf und herein trat eine alte, widerlich dicke Chinesin. Auf dem Arm trug sie ein Kleid aus gelber Seide, das sie vor Hella auf den Tisch legte. Dann bedeutete sie ihr durch Zeichen und ein scheußlich kauderwelsches Englisch, daß sie sich umziehen solle.

Hella schüttelte ruhig den Kopf; tat, als ginge die Sache sie nichts an. Die Dicke wurde heftig; drang mit einer Flut von Worten, die unverstanden blieben, auf das Mädchen ein, zerrte an ihrem Kleid … Und als alles nichts half, rief sie etwas in den Gang hinaus, – worauf prompt zwei Chinesen erschienen, die Miene machten, das Umkleiden gewaltsam zu bewerkstelligen.

Das wollte Hella denn doch vermeiden. Sie gab der Alten durch Zeichen zu verstehen, daß sie bereit sei, ihrem Wunsch zu willfahren. Darauf lächelte die Chinesenmutter gnädig und verließ mit den beiden Kerlen das Gemach. Hella war wieder allein.

Sie zauderte. Sollte sie sich wirklich umziehen? Der Zweck war ja klar; sie sollte in dem Seidenkostüm zu den Gästen hineingehen. Schon klang gedämpfte Musik von irgend woher …

Sollte sie –? Ach, es blieb ihr ja nichts anderes übrig. Zum – äußersten würde es ja in dem Gästeraum jetzt noch nicht kommen. Vielleicht war jemand da, der – Kurz, sie kleidete sich um. Als sie ihr eigenes Kostüm abstreifte, bekam sie einen nicht geringen Schrecken. Man hatte ihr, während sie bewußtlos in der Kabine der Dschunke lag, das Fläschchen und die Spritze entwendet!

Und einen zweiten Schrecken durchfuhr sie, als sie das Gelbseidene anhatte. Das war hauchdünn und ließ mehr sehen, als es verhüllte. Und so sollte sie –? Aber zum Nachdenken blieb ihr keine Zeit. Schon trat die dicke Chinesin wieder ein, grinste freudig, als sie Hella fertig „angezogen“ sah, nickte ihr wie ein freundlicher Drache zu und winkte, sie solle ihr folgen.

Was tun? Was nur tun? Noch zögerte sie. Aber eine unbestimmte Hoffnung trieb sie vorwärts. Seltsam zirpende Musik scholl ihr aus dem Hauptraum des Hausbootes entgegen, von dem sie noch ein schwerseidener Vorhang trennte. Jetzt wurde dieser beiseite geschlagen. Hella trat ein – und war verblüfft von der Fülle der Farben und Düfte. Freilich alles etwas aufdringlich.

Ein fetter Chinese watschelte auf sie zu, sagte in scheußlichem Englisch:

„Ah, das neue Täubchen! Die neue weiße Blume des Hi-Lo!“

Und faßte sie sogleich um die Taille. Hella – stieß ihn voll Ekel und Widerwillen von sich. Der Fette taumelte, suchte mit den Händen nach einem Halt; fand ihn nicht; stürzte – und riß im Fallen eines der Teetischen samt Geschirr mit sich.

Schallendes Gelächter ringsum. Der Dicke aber erhob sich mühsam. Seine Augen sprühten Wut. Die dicke Chinesin aber fauchte Hella an. Was sie sich unterstehe; den reichen, ehrwürdigen Herrn Li-Sang so zu behandeln! Gleich solle sie auf Knien um Vergebung bitten und dann mit Li-Sang ihre Kammer aufsuchen.

Hella sah hilflos umher, – während schon ein großer, knochiger Chinese – vielleicht der Wirt Hi-Lo – sich mit einer derben Lederpeitsche drohend näherte …

Verloren –? Wenn sie mit Li-Sang in ihre Kammer ging, war sie verloren. Und wenn sie es nicht tat, auch. Sie zögerte … Schon hob der knochige Chinese die Peitsche, – da wandte sich die Situation jäh zu ihren Gunsten! Eine Stimme klang plötzlich:

„Halt ein, Hi-Lo! Ich will mit deiner neuen weißen Blume in ihre Kammer gehen! Sofort!“

Alle wandten sich um nach dem Sprecher. Es war ein mittelgroßer, untersetzter Europäer mit klugem, sehr eckigem Gesicht. Die Gäste des Blumenbootes und die Mädchen schienen ihn zu kennen. Raunen und tuscheln hob sich rings.

„Ah, – Viani, – Marco Viani, – der reichste Mann Shanghais!“ So ging es von Mund zu Mund. Hi-Lo hob, ein wenig unsicher, die Achseln.

„Ja, allerverehrungswürdigster Gönner, – aber Li-Sang …“ versetzte er halb flüsternd. Doch laut und sehr bestimmt entgegnete Viani:

„Ach was, – ich biete das Doppelte!“

Kurz, Li-Sang blieb nichts anderes übrigen; er mußte zurückstehen. Hella hatte der Debatte mit ängstlicher Spannung zugehört. Was bedeutete für sie diese Wendung? Gutes? Fast war sie geneigt, es zu glauben. Und jetzt traf sie ein Blick aus den dunklen Augen des Fremden. Und darin las sie: Vertraue dich mir ruhig an; ich meine es gut.

So ging sie ohne sich weiter zu sträuben in ihre Kammer. Viani folgte ihr auf dem Fuße. Die anderen blieben zurück. Er zog die Tür hinter sich zu. Hella schaute ihn erwartungsvoll an.

„Ziehen Sie sich an, Kind, – falls Sie Ihre Kleider hier haben.“

In Hella jubelte es. Gerettet! Gerettet! Ein anständiger Mensch! Ein Mensch! Sie sah sich um. Ja, ihre Kleider lagen noch da. Auch Viani sah das.

„Gut, ziehen Sie sich um. Ich gehe derweil noch einmal hinaus. Wenn ich zurückkomme, werden Sie diese Ihrer unwürdige Stätte verlassen können. Ich irre mich doch wohl nicht, wenn ich annehme, daß Sie widerrechtlich und gegen Ihren Willen hierher verschleppt worden sind?“

„In der Tat, so ist es. Ich wurde von chinesischen Seeräubern gefangen genommen und –“

Viani hob die Hand:

„Schon gut, das erzählen Sie mir später. Ich gehe. Kleiden Sie sich um.“

Hinaus war er. Hella zitterten vor freudiger Erregung derart die Hände, daß sie kaum mit dem Umkleiden zurecht kam. Sie war gerade fertig geworden, als der Italiener wieder eintrat.

Mit ein wenig hochgezogenen Brauen musterte er sie, die nun im Reisekostüm dastand; nickte ihr dann lächelnd zu:

„Wir können gehen.“

Impulsiv ergriff Hella seine Hand.

„Frei –?! Wirklich frei –! Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen unbeschreiblich!“

Viani ging auf die Dankesbezeigungen mit keinem Wort ein. Er räusperte sich nur.

„Hm, hm, – ja, also gehen wir. Mein Auto wartet am Kai.“

Sie durchschritten den schmalen, dunklen Korridor. Hella mit großem Bangen. Würde man sie ohne Schwierigkeiten ziehen lassen? Aber keiner der Gelben ließ sich blicken. Wer mag dieser Viani sein? grübelte Hella. Welch große Macht er besitzen muß!

Hinter der Tür, die ins Freie führte, befand sich eine kleine Plattform, direkt über dem Wasser. Der Fluß lag dunkel. Unzählige Boote mit bunten Papierlaternen schaukelten darauf. Ein phantastisch schönes Bild. Hella jedoch nahm das alles jetzt nicht wahr. War zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.

Sie war nun – dank der unerwarteten Hilfe dieses Fremden – frei. Wie aber mochte es ihrem Vater und Mahadur Mirat gehen, die noch in den Händen der chinesischen Piraten schmachteten? –

An der kleinen Plattform hielt ein Boot mit einem Ruderer. Sie stiegen ein. Schweigend fuhren sie zum Ufer des Flusses. Marco Viani störte Hella nicht im ihrem Grübeln, beobachtete sie nur heimlich mit glühenden Blicken.

Dicht an der Anlegestelle am Ufer stand ein elegantes Privatauto. Viani selbst öffnete den Schlag.

„Wohin?“ fragte Hella.

„In mein Haus,“ entgegnete Viani; „dort können wir alles weitere besprechen. Sie sind fremd hier und wären allein in diesem Land schutzlos als Fremde.“

Hella nickte nur. Gewiß, das sah sie ein. Zwar hätte sie sich an den deutschen Konsul wenden können, doch wie konnte sie zu dem gelangen? Unter diesen Umständen mußte sie Viani folgen.

Man erreicht das prächtige Haus Vianis. Die Dienerschaft war gut geschult. Doch fiel Hella sofort ein gewisser Vertraulichkeitston auf, der zwischen der Dienerschaft – soweit es sich um Europäer handelte – und dem Hausherrn herrschte. Doch sie kam nicht dazu, mit ihren eigenen Angelegenheiten viel zu sehr beschäftigt, darüber nachzudenken.

„Bitte, nimm Platz,“ sagte Viani, als die Diener das Zimmer verlassen hatten, plötzlich in das vertrauliche „Du“ verfallend. „Also, du bist von den Chinesen befreit. Ich weiß, daß es für eine weiße Frau das Schrecklichste ist, einem Gelben ausgeliefert zu sein. Nun, und weil du mir leid tatest und so außerordentlich gut gefielst, habe ich dich von Hi-Lo losgekauft.“

„Losgekauft –? Oh, dann bin ich ja doppelt in Ihrer Schuld! Aber – mein Vater und Mahadur Mirat werden Ihnen alles zurückerstatten, wenn –“

„Wer ist Mahadur Mirat?“ fragte Viani. Hella erzählte, daß er ihr Verlobter sei und wie sie in die Hände der chinesischen Piraten gekommen. Die weiteren Zusammenhänge verschwieg sie natürlich. Viani hörte sehr aufmerksam zu. Dann sagte er:

„Daß dein Vater oder jener Inder mir die Summe, die ich dem Chinesen für dich gab, zurückerstatten, wird nicht gut möglich sein, da ich mit ihnen nicht in Verbindung zu treten wünsche. Überdies siedle ich in den nächsten Tagen nach Italien über. In meine Heimat; für immer. Du – wirst mich begleiten.“

„Ich –? Ich soll Sie begleiten? Wie verstehe ich das?“

„Ist das so schwer zu verstehen? Glaubst du, ich hätte mir die Mühe bei Hi-Lo geben, ohne einen besonderen Zweck dabei im Auge zu haben –? Oh nein, für so naiv kannst du mich nicht halten. Ich will dich. Du bist zu schade für die Chinesenbande. Darum kaufte ich dich.“

„Ja, – aber –“ stammelte Hella, in der eine furchtbare Erkenntnis zu dämmern begann, „ich bin doch verlobt … ich liebe doch Mahadur Mirat …“

Viani schlug mit der Hand durch die Luft.

„Das interessiert mich alles nicht. Ich will dich. Und was Marco Viani will, erreicht er. Immer. Merk dir das. Übrigens kann es für dich nur von Vorteil sein. Ich bin reich und besonders in Italien genieße ich hohes Ansehen.“

Hella stand empört auf.

„Also wieder gefangen? Wie eine Ware zu kaufen dachten Sie mich? Und ich Törin hatte daran geglaubt, einen anständigen Menschen gefunden zu haben! Aber so leicht ist das doch nicht. Sofort verlasse ich dies Haus.“

Viani schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das wird nicht gut gehen. Hier kommt niemand hinaus, wenn ich es nicht will.“

Stöhnend sank Hella auf den Sessel zurück. Gewiß, den Chinesen war sie entronnen. Doch nicht zur Freiheit, sondern in die Gefangenschaft eines brutalen Fremden, der sie begehrte. Und der sie mit allen Mitteln zu bekommen versuchen würde. Er wollte sie nach Italien verschleppen … So weit fort von Vater und Geliebten, – von denen sie noch nicht einmal wußte, wo sie waren, wie es ihnen erging, ob sie überhaupt noch am Leben waren …

Viani wies ihr ein prachtvoll ausgestattetes Zimmer in seinem Haus an, bestellte auserlesene Speisen und ließ sie dann allein. Hella rührte nichts an. Grübelte über ihr Schicksal, dachte nur daran, von hier fort zu könnte. Eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Sie legte sich nieder, schlief fest und traumlos und erwachte erst am späten Nachmittag.

Neue Speisen standen auf dem Tisch. Sonst kümmerte sich niemand um sie. Jetzt aß sie auch. Ging dann wieder in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab. Der Abend kam, – Viani ließ sich nicht sehen. Auch niemand sonst. Das Haus schien wie ausgestorben.

Da – wagte es Hella. Öffnete leise, leise die Tür des Zimmers. Es ging auf die Diele hinaus. Vorsichtig spähte sie um die Ecke – und erschrak. Lautlos hatte sich gegenüber ein junger Chinese aus hockender Stellung erhoben. Sie wurde bewacht!

Sie schloß die Tür wieder hinter sich. Was hätte sie auch tun sollen, wohin sich wenden, falls es ihr gelungen wäre, zu entfliehen? An den deutschen Konsul? Was könnte der tun, wenn sie ihn überhaupt erreichte? Für ihren Schutz sorgen vielleicht so lange sie hier weilte. Aber sonst? Ihren Vater mußte sie suchen und Mahadur Mirat.

Nahe am Verzweifeln war Hella. Was hatte nur das Schicksal mit ihr vor, daß es ihr so viele harte Prüfungen schickte –?

Sinnend schaute sie durchs Fenster in den großen Garten, der sich hinter dem Hause hinzog. Öffnete dann das Fenster, atmete den köstlichen Duft, der herein wehte. Drunten, vor den dunklen Büschen, regte sich etwas. Hella erschrak. Dann aber schloß sie das Fenster. Da draußen weilte eine zweite Wache. –

Und dann kam am anderen Tage Marco Viani und bat sie, zu seiner und der eigenen Kurzweil eine Spazierfahrt im Auto zu unternehmen. Hella, die innerlich immer bei Mirat und ihrem Vater weilte, spürte zwar kein Verlangen nach Ablenkung. Dennoch sagte sie zu.

Zum Hafen fuhren sie. Und dort zeigte ihr Viani seine luxuriöse Jacht. Sie besichtigten sie gemeinsam. Hella in ihrem Kummer ganz ahnungslos. Plötzlich, als sie gerade in einer der unteren Kabinen waren, warfen sich aus einem Hinterhalt zwei Kerle auf sie, überwältigten die völligen Überraschte und schleppten sie in einen dunklen Schiffsraum.

Die Tür fiel zu. Sie rief, schrie, hämmerte verzweifelt gegen die Eichentür, die innen keine Möglichkeit bot, zu öffnen … Vergebens.

Und plötzlich war sich gleich klar darüber, daß es jetzt nach Italien ging, und hemmungslos verzweifelt überließ sie sich jetzt ihrem Schmerze. – Doch nichts hörte sie von der Maschine tief unter ihr, vernehm keinerlei Bewegung des Schiffes. Noch war man also nicht abgefahren.

Lange, bange Stunden folgten. Auch hier „fütterte“ man sie gut. Sie aber ließ alle Speisen unberührt stehen. Marco Viani ließ sich nicht bei ihr sehen, obwohl er doch auch auf dem Schiff weilen mußte. Oder – vielleicht auch nicht – da er es ja mit der Abfahrt nicht so eilig zu haben schien …

 

4. Kapitel

Burne war – das mußte ihm der Neid lassen – ein sehr findiger Detektiv. Schon bald hatte er Marco Vianis Spur aufgenommen und wußte, daß dieser Hella Dörcksen auf sein Schiff gebracht hatte.

Nun schlich er, als Matrose verkleidet, am Hafenkai umher, beobachtete die Jacht. Aber es gab da nicht viel zu sehen, vor allem nichts Auffälliges. Der „Cesare“ war eine elegante seetüchtige Motorjacht, wie sie oft reiche Europäer nach dem fernen Osten mitbrachten. Matrosen – ausnahmslos Europäer – reinigten das Deck oder verrichteten sonst irgend welche Arbeiten, gingen an Land, kamen wieder an Bord, – ohne daß sonst Bemerkenswertes geschah.

Nur eins beobachtete Burne, daß Proviant in ziemlichen Mengen an Bord geschafft wurde. Er schloß daraus, daß die Abreise des Schiffes dicht bevorstand. Wohin? Das wußte er natürlich nicht. Doch das war ja nur eine Frage untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger dagegen war, daß es ihm gelang, an Bord zu kommen. Daß Hella und Viani auf dem Schiff weilten, hatte er durch geschicktes Ausfragen der auf dem Kai herumlungernden Kulis erfahren.

Wie das bewerkstelligen, daß er die Fahrt mitmachen könnte –? Die Jacht besaß keine große Besatzung. Wenn es ihm nun gelänge … Es mußte einfach gelingen.

Da – verließ wieder einer der Matrosen des „Cesare“ das Schiff; kam über die Laufplanke an Land und schritt stadteinwärts. Burne sofort hinterher. Sprach den Mann unterwegs unter irgend einem Vorwand an, verwickelte ihn in ein Gespräch. Es war ein Italiener; doch sprach er – als Seemann – natürlich auch ziemlich fließend englisch. Burne, der ihm ansah, daß er einem „guten Tropfen“ nicht abhold war, lud ihn ein, und der andere nahm nach kurzem Zögern an.

„Hast wohl heut Heuer gekriegt?“ fragte jener lauernd.

„Allerdings!“ entgegnete Burne und klopfte sich lachend auf die Hosentasche. Innerlich frohlockte er. Der Vogel ging ins Garn!

„Ich darf aber abends nicht zu lange fortbleiben,“ sagte der Matrose; „um Mitternacht stechen wir in See. Da muß ich mindestens eine Stunde vorher an Bord sein.“

„Kannst du auch, Kamerad, kannst du auch!“

Burne klopfte dem neuen „Freund“ auf die Schulter. Sagte dabei zutraulich:

„Sieh mal, ich hab jetzt hier zwei freie Tage. Und da ich ganz fremd in Shanghai bin … Weißt du, – allein schmeckt das Trinken nicht. Und darum –“

Der andere lachte zufrieden.

„Hast ganz recht. Zu Zweien trinkt es sich besser. Aber sag’ einmal, – von welchem Schiff bist du denn?“

Burne log ihm etwas vor. Shanghais Schiffsverkehr war ja groß. Der Matrose merkte denn auch nichts. In der Kneipe, die sie dann betraten, bestellte Burne Whisky. Natürlich ohne Soda. Schon bald stellte er fest, daß jener ganz und gar dem Alkoholteufel verfallen war. Nun, das paßte ja vortrefflich in seinen Kram.

Er bestellte immer munter drauf los; der Matrose trank immer feste mit. Er merkte gar nicht, daß der Detektiv seine eigenen Gläser stets hinter sich ausgoß. Dabei wurde erzählt. Des Matrosen Zunge wollte bald nicht mehr so recht mit. Desto mehr sprach Burne. Schwärmte von seinen Fahrten, log, daß sich die Balken – bogen.

Nach kaum zwei Stunden lag sein Saufkumpan auf der Bank und schlief. Burne blickte sich vorsichtig um. Auch er markierte den Schwerbezechten. Niemand achtete auf sie. Da zog er dem Schlafenden vorsichtig die Ledertasche mit seinen Papieren aus dem Beinkleid und steckte sie zu sich. Schob ihm noch einen größeren Geldschein als „Schmerzensgeld“ in die Tasche; stand dann auf, zahlte die Zeche und ging. Direkt zum Hafen.

Da lag der „Cesare“. Es war kurz vor Mitternacht. Jetzt tat der Detektiv nicht mehr, als sei er betrunken. Ging geradewegs über die Laufplanke. Stieß mit einem Mann zusammen. Der fluchte. Burne entschuldigte sich sehr höflich. Sagte dann, er habe eine Botschaften von Napoleone Delotti. So hieß jener Matrose, den er volltrunken zurückgelassen hatte. Der Mann, den Burne angerannt hatte, horchte auf.

„Ah, – von Delotti! Wo steckt der Kerl? Warum ist er noch nicht an Bord? Wir wollen in See stechen, brauchen ihn dringend und er – kommt einfach nicht! Also, was ist mit Delotti?“

„Tja, das ist so eine Sache,“ sagte Burne; „kann ich den Kapitän sprechen?“

„Bin ich,“ entgegnete der andere lakonisch.

„Also – Delotti ist ein Malheur passiert. Er ist gefallen und hat sich das Bein verstaucht. Kann nicht kommen.“

„Verwünschtes Pech!“ schimpfte der Kapitän. „Gerade jetzt, wo wir unbedingt auslaufen müssen!“

„Nun ja, eben darum komme ich. Kamerad Delotti meinte eben, – er schickt hier seine Papier – er meinte eben, vielleicht könnte ich an seiner Stelle …“

„Bist’n tüchtiger Seemann?“ fragte der Kapitän, den Detektiv unterbrechend. „Bei uns heißt’s flink arbeiten! Nun –?“

Burne merkte schon, daß er gewonnenes Spiel hatte. Er nickte eifrig.

„Tüchtig –? Und ob! Ich fahr’ doch schon dreizehn Jahr’ auf See. Und alle Kapitäne –“

„Schon gut, schon gut, daß kannst dir sparen. Glaub’s schon. Los denn. Laß dir vom Steuermann Weisung geben. In einer halben Stunde müssen wir aus dem Hafen heraus sein.“ –

In dieser Nacht noch schaukelte der „Cesare“ auf den Wogen des Gelben Meeres. Burne aber tat Borddienst wie jeder Matrose und unternahm zunächst nichts weiter.

Marco Viani zeigte sich wenig an Deck. In den Abendstunden nur kam er ein wenig herauf. Sonst blieb er unsichtbar. Vergeblich hoffte Burne, auch Hella einmal zu Gesicht bekommen zu können. Sie erschien nie auf Deck. Burne bemitleidete sie darum aufrichtig. Immer und immer in den Kajüten bleiben war sicherlich bei der Hitze, die hier herrschte, keine besonders angenehme Sache.

Burne befand sich jetzt überhaupt in ganz besonderer Stimmung. Immer noch war er in Hella verliebt. Wenn auch dabei nicht mehr die Stimme seines Blutes mitsprach, so war ihm die Rolle des Beschützers, die er jetzt spielte, angenehmer als damals die des Verfolgers. Nur die Sache mit der Wolkenkönigin, – nun ja, reichlich phantastische Angelegenheit, und die britische Regierung –? Mochte die nur ruhig sehen, wie sie ohne Burne fertig wurde.

Die Tage schlichen heiß in quälender Eintönigkeit dahin. Dann brachte ein Orkan, der zwei Tage lang tobte und dem „Cesare“ arg zu schaffen machte, einige Abwechslung. Freilich strapaziöse Abwechslung. Alle Kräfte an Bord waren aufs Äußerste angespannt. In diesen Tagen wurde dem Detektiv der Dienst als einfacher Matrose schwer. Aber er mußte durchhalten und – hielt durch. –

So verging denn allmählich auch die schier endlos lange Fahrt. Im Roten Meer, das wegen seiner kolossalen Hitze bei allen Seefahrern berüchtigt ist, starb ein Matrose nach einem Sonnenstich. Das ergab dann eine Mehrarbeit für die anderen. Doch nach drei weiteren Tagen war das Schwerste überwunden. Der „Cesare“ durchfuhr den Suezkanal und gelangte in das Mittelländische Meer.

Da war denn gegenüber der Gluthitze des Roten Meeres die ersehnte angenehme Abkühlung. Für Burne aber bedeutete das Einlaufen ins Mittelländische Meer weit mehr. Die Zeit zum Handeln war bald gekommen. Zwar hatte er erfahren, daß das Reiseziel Vianis Rom war. Aber dennoch …

Er begann Pläne zu schmieden. Sehr vorsichtig mußte er zu Werke gehen. Mußte versuchen, Hella Dörcksens Aufenthaltsort, den er immer noch genau kannte, mußte er nun herausfinden, um vor der Ankunft in Rom ihr irgendwie eine Nachricht zuzustecken.

Er trug nun in diesen Tagen stets ein Zettelchen mit einigen Worten bei sich. Falls sich einmal Gelegenheit böte. Und dann machte er sich oft, – so oft als irgend möglich, in den unteren Räumen des Schiffes zu schaffen.

Und einmal – einmal hatte er Glück. Da entdeckte er die Tür einer abgelegenen Kabine etwas offen stehen. Und darin – Hella. Den Bruchteil einer Sekunde nur. Aber der genügte ihm vollkommen. Wußte er doch jetzt, wo sich die Dörcksen Tochter befand.

Von jetzt an lauerte er auf einen Augenblick, in dem er seine Nachricht unbeachtet in jene Kabine gelangen lassen konnte. Und bald es mußte sein; denn bis Rom waren kaum noch zwei Tage Fahrt.

Und es gelang! Er hatte ungesehen den Zettel in den Spalt zwischen Tür und Wand jener Kabine schieben können. Ohne sich weiter aufzuhalten, eilte er wieder an Deck. Daß gleich danach Viani aus jener Kabine herauskam, sah er nicht mehr …

In der diesem Tag folgenden Nacht hatte Burne die zweite Wache, die um Mitternacht begann. Kaum hatte er die angetreten, als plötzlich aus dunklem Versteck drei anderen Matrosen über ihn herfielen. Der Angriff kam so überraschend, daß jeder Versuch von Gegenwehr erfolglos blieb. Wenige Minuten später lag er gefesselt im Kielraum des „Cesare“.

Hatte man seine Nachricht entdeckt, Viani davon Mitteilung gemacht? Es mußte wohl so sein. Pech, Pech! Nun war nicht nur seine sonder auch Fräulein Dörcksens Lage dadurch sicherlich nur noch verschlimmert. Und die seine aber war direkt kritisch. Was hatte man mit ihm vor? Gutes sicherlich nicht.

Er sollte nicht lange darüber im Zweifel bleiben. Es dauerte nicht lange, da tönten Schritte auf der Treppe zum Kielraum. Viani kam mit dem Kapitän und zwei Matrosen.

„Wer sind Sie? Jedenfalls doch kein Berufsseemann,“ fragte ihn der Millionär.

„Ebensowenig Seemann, wie jemand, der junge Frauen von Mädchenhändlern kauft und verschleppt, ein Gentleman ist.“

Viani zischte irgend eine Verwünschung. Drehte sich dann zu dem Kapitän um.

„Er muß verschwinden. Wann laufen wir in den Hafen ein?“

„Um vier Uhr.“

„Jetzt ist es drei … Gut, rasch über Bord mit ihm. Im Namen des Bundes.“

Worauf die Matrosen Burne aufhoben und auf Deck trugen. Sie hoben den Gefesselten über die Reling. Ließen ihn fallen … Ein Aufklatschen, – dann hatten sich die Wogen des Mittelländischen Meeres über Burne geschlossen …

Irgendwo fernher blinkte ein winziger Punkt. Das Licht eines Leuchtturms wars. Der Hafen von Rom kam in Sicht.

 

5. Kapitel

Hella Dörcksen durchlebte furchtbare Stunden in der Kabine des „Cesare“. Erst die schier unerträgliche Hitze, das Eingesperrtsein in dem engen Raum, die Länge der Reise; dazu die Ungewißheit des Geschicks ihres Vaters und Mahadur Mirats; und die Ungewißheit der eigenen Zukunft. Zwar traf wenigstens ihre Befürchtung, Viani werde sich ihr schon während der Reise mit seinen Wünschen nähern, nicht zu. Sie bekam ihn fast gar nicht zu Gesicht, – was ihr sehr lieb war.

Nur in diesen letzten Tagen, nach der Durchfahrt durchs Rote Meer, kam er mehrmals. Erkundigte sich nach ihrem Befinden, war überhöflich und liebenswürdig und das umsomehr, je kühler und abweisender Hella sich zeigte. Und dann kam der merkwürdige Zwischenfall …

Viani war wieder in ihre Kabine gekommen, gab sich vergeblich Mühe, sie zu unterhalten, als plötzlich ein schabendes Geräusch an der Kabinentür ihn sich umdrehen ließ. Auch Hella hob den Blick. Und da sah sie, wie ein Zettel durch die Türritze geschoben wurde! Viani stand still, ließ den Unbekannten draußen ruhig gewähren. Lauschte noch eine Weile; nahm dann das Papierstück. Las …

„Haha, – ein Befreiungsversuch!“ sagte er, hart auflachend, warf Hella noch einen flüchtigen Blick zu und verließ die Kabine. Hella blieb in unbeschreiblicher Spannung zurück. Was hatte Viani gesagt? Ein – Befreiungsversuch? War denn jemand an Bord des „Cesare“, der um ihre Gefangennahme wußte –? Und – versuchte der, sie zu befreien?

Nun, jedenfalls war dieser Versuch mißglückt. Und wenn jener Unbekannte nicht noch Helfershelfer an Bord hatte, würde es ihm nun wohl schlecht ergehen. Sie lauschte, ob sie vielleicht Geräusche eines Kampfes oben vernähme … Doch nichts. Alles blieb still. –

Sie schlief nicht in dieser Nacht. Ihre Nerven waren überreizt. Sie streikten. Der Schlaf floh sie, so sehr sie ihn auch ersehnte. Da vernahm sie stolpernde Schritte mehrerer Personen auf der Treppe, an ihrer Kabine vorüber und weiter die Treppe zum untersten Schiffsraum hinab.

Der winzige Hoffnungsstrahl versank endgültig …

Und dann kam Rom. Sie legten an. Ein geschlossenes Auto wartete am Kai. Viani holte Hella aus der Kabine ab. Sie stiegen ein. Es war kurz nach vier Uhr morgens. Kein Mensch zu sehen weit und breit am Kai. Wäre es Tag und die Gegend belebt gewesen … So aber … Was sollte sie tun? Sie konnte nur ruhig folgen.

Das Haus Vianis in Rom lag am Rande der Stadt; in der gesündesten Gegend; unweit des Meeres, war ringsum von einem großen, alten Garten umgeben. Inmitten dieses erhob sich die Villa, modern eingerichtet, doch äußerlich in antikem Stil gebaut. Marmorsäulen bildeten ein Portal, um das sich Kletterrosen rankten. Flüchtig betrachtete Hella diese paradiesische Schönheit. Oh ja, hier Herrin sein, mußte schön sein … Wenn man frei war. So jedoch –

Viani war wieder ganz Kavalier, machte Hella auf diese und jene Schönheit aufmerksam; bat sie, all dies als ihr Eigentum zu betrachten …

Sie – schwieg. Sie – sann auf Flucht bei allernächster Gelegenheit. Doch als hätte der Italiener ihre Gedanken erraten, sagte er:

„Vor allem rate ich dir in deinem eigenen Interesse, denke nicht an Flucht. Man entkommt hier noch weniger, als in Shanghai. Und – ein Menschenleben gilt auch hier nicht mehr.“

Das war deutlich. Hella, längst auf alles gefaßt, zuckte nur die Achseln. Schwieg wieder.

Auch hier wurde ihr ein luxuriöses Gemach angewiesen. Noch schöner, als jenes, das sie in Shanghai bekommen hatte. Breite Fenster, die offen standen und dem Duft der Kletterrosen Einlaß boten, gingen auf den Strand hinaus. Ein reizvolles Bild, das aber auch mit seiner Weite Wehmut und Sehnen weckte.

Hella stand, an die kühle Marmormauer gelehnt, und starrte hinaus. Sie haderte mit ihrem Schicksal. Warum mußte gerade sie so viel Schweres durchleben? Dann aber kam ihr ein anderer Gedanke. Vielleicht war dies alles ihre Mission? Und sie dachte an die Wolkenkönigin …

Plötzlich schrak sie auf. Irgend etwas war ins Zimmer geflogen und mit hartem Klatschen aufgeschlagen. Sie sah sich um; erblickte eine Papierkugel! Hella hob sie auf. Ein Stein war in das Papier eingewickelt. Und auf dem Papier – Worte:

„Nicht verzagen! Der Beschützer ist nahe!“

Nichts weiter. Hellas Herz pochte stürmisch. Also doch! Es war ihm gelungen, dem Unbekannten, sich der Gewalt Vianis zu entziehen! Wo sie diese Handschrift schon einmal gesehen hatte …

Langsam verstrich der Tag. Für Hella nicht mehr ganz so trübe, wie bisher. Wußte sie doch jemanden am Werk für sie, zu ihrer Befreiung. Mit Appetit aß sie von den köstlichen Speisen, die ihr gereicht wurden; spähte oft durch die Fenster zum Strand … Doch da zeigte sich nichts Besonderes. Nur als der Abend sich herniederzusenken begann, bemerkte sie unweit der Fenster ihres Gemaches eine Gestalt, die langsam auf und ab schritt. Einen der Wächter …

Auf der anderen Seite des Hauses schlich ein anderer Mann durch den Park. Vorsichtig hielt er sich stets durch Gebüsch gedeckt. Lange Zeit war er in der Nähe des Hauses umhergestrichen. Nun entfernte er sich.

Jetzt hatte er die Mauer erreicht, die den Park von der Straße trennte. Sie war nicht hoch. Ohne Mühe schwang der Mann sich darüber. Wollte weitergehen … Da stand wie aus dem Boden gewachsen ein zweiter Mann vor ihm, das Gesicht bis zu den Augen mit einem Tuch verdeckt. Hielt ihm ein Papier hin, ließ es plötzlich fallen, wandte sich, lief … lief … bog um die nächste Ecke … verschwand.

Der Zurückbleibende hob das Papier auf. Unweit von seinem Standort war kurz vorher eine Straßenlaterne aufgeflammt. Der Mann darunter, entfaltete den Zettel … Der Schein der Gaslaterne beleuchtete ihn und auch das Gesicht des Mannes. Das Gesicht Burnes …

Auf dem Zettel stand: „Sie sind erkannt. Reisen Sie ab! Sofort. Sind Sie morgen früh noch in Rom, haben Sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Die Mafia.“

Daneben war einigermaßen geschickt eine Hand gezeichnet. Burne stieß einen leisen Pfiff aus. Sah sich dabei rasch um. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.

Stand es so mit diesem vornehmen Haus am Strand? So mit Marco Viani? Die Mafia, auch genannt die „Schwarze Hand“, war die berüchtigtste Verbrechervereinigung Italiens! Dann freilich hieß es, unverzüglich handeln. Er eilte fast im Laufschritt der Innenstadt zu. –

Wie war nun Burne, den man gefesselt ins Meer geworfen hatte, hierher gelangt?

Als er in den Kielraum des „Cesare“ gebracht worden war, hatte er, nachdem die Männer gegangen, sofort versucht, sich der Fesseln zu entledigen. Das war ihm überraschend schnell gelungen. Die Matrosen hatten sich offenbar in der Eile keine große Mühe gegeben. Er war frei. Doch – konnte ihm das jetzt etwas nützen? Nein, im Gegenteil. Wenn jene zurückkamen und ihn frei sahen, würden sie, da sie in jedem Fall in der Übermacht waren, ihr Werk nur gründlicher wiederholen. Nein, er durfte sie nicht merken lassen, daß er nicht länger gebunden war Er schlang die Stricke wieder um, wie sie vorher gelegen hatten, und hielt die Enden vorn in den geschlossenen Händen fest.

Zur rechten Zeit! Schon hörte er wieder Tritte auf der Treppe. Sie kamen, holten ihn und – warfen ihn kurzerhand über Bord! Doch schon beim Fallen hatte Burne die Enden des Strickes losgelassen. Niemand bemerkte das in der Dunkelheit.

Das Schiff befand sich in voller Fahrt. Burne wäre trotz allem verloren gewesen, wenn nicht ein Zufall ihm zu Hilfe gekommen wäre. In dem Moment, als sein Körper auf die Wasserfläche aufklatschte, hatte er an der Rechten einen harten Gegenstand gespürt. Instinktiv packte er zu. Ein Schwall Wassers überspülte ihn. Er ward jäh vorwärtsgerissen. Was er da gepackt hatte, war die Scheuerleiste des Schiffes, die beim „Cesare“ direkt auf dem Wasserspiegel lag!

Die hielt er nun fest. Krampfhaft, mit beiden Händen. Eine kleine, ein wenig hervorstehende Metallkante erleichterte ihm das. Dennoch – würde er durchhalten bis zum Hafen? Würde die Kraft seiner Finger ausreichen? Sie schmerzten ihm, verloren nach und nach jegliches Gefühl. Burne biß die Zähne zusammen, biß sich die Oberlippe blutig. Aber er hielt fest – bis in den Hafen von Rom.

Tauchte dort mit letzter Kraft. Schwamm ein Stück seitlich vom „Cesare“ zum nahen Kai. Klomm empor … Noch war es dunkel; niemand entdeckte ihn.

Da hielt ein Auto; ein geschlossener Wagen. Jetzt nachts –? Und gerade hier, wo der „Cesare“ anlegte? Vianis Wagen? Burne vermutete richtig. Im Bogen schlich er um ihn herum, näherte sich ihm von hinten. Klammerte sich dort an und – machte so die Fahrt nach dem Haus am Meer mit.

Da strich er nun den ganzen Tag umher, Hunger und Durst nicht beachtend. Machte ausfindig, wo Hella sich aufhielt und warf ihr jenen Nachricht ins Zimmer. Ahnte bei alledem aber nicht, daß er längst gesehen worden war und ständig beobachtet wurde! Erst als er am Abend zur Stadt zurück wollte und der Vermummte ihm den Zettel hinwarf, merkte er, daß vielleicht schon viel verloren war …

Die „Schwarze Hand“! Nun sie sollten Burne kennen lernen. Mit solcher Geschwindigkeit seines Handelns würden sie doch nicht rechnen. Schon erreichte er die ersten bebauten Straßen der Stadt. Da war noch Verkehr. Ein Auto kam. Leer –? Ja. Burne rief es an …

Wenig später war er beim Polizeipräsidium angelangt. Ließ sich beim Chef der Kriminalabteilung melden, wies sich als Detektiv der englischen Regierung aus und erbat sofortige Hilfe zur Befreiung Hella Dörcksens. Der Polizeichef wiegte bedenklich das Haupt.

„Ganz so schnell geht das denn doch nicht, werter Herr Burne. Marco Viani ist einer der angesehensten Bürger unserer Stadt. Wenn Sie nun behaupten, Viani gehöre der Mafia an, dann ist das eine ganz ungeheuerliche Behauptung, die erst bewiesen werden müßte! Wir können nicht so ohne weiteres in jenes Haus eindringen und die Dame, die bei ihm ist, herausholen. Das geht nicht. Aber ich will Ihnen einen Beamten mitgeben und ein Auto zur Verfügung stellen. Untersuchen Sie selbst den Fall; sprechen Sie mit Viani persönlich.“

„Nun gut, meinetwegen. Dann aber rasch,“ entgegnete Burne. Innerlich wünschte er den langweilig vorsichtigen Polizeichef zu allen Teufeln. Jener gab seinem Sekretär Anweisung, der darauf ging, um das angeforderte Auto und den Beamten zu bestellen. Und dann fuhren sie los, vorn der Chauffeur, hinten Burne und ein Beamter.

Fuhren durch die Straßen zur Stadt hinaus. Nacht war es, die Beleuchtung hier draußen nur spärlich. Dennoch erkannte Burne nach einiger Zeit, daß dies unmöglich der Weg sein konnte, den er im Gedächtnis hatte. Er wandte sich zu dem Beamten:

„Wohin fährt der Chauffeur?“

Der hob die Achseln, klopfte dem Chauffeur auf die Schulter und sagte etwas, das Burne nicht verstand. Darauf stoppte der Wagen. Und dann, – dann bekam Burne einen Stoß und zugleich einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß er aus dem Auto auf die Straße flog und dort einen Augenblick betäubt liegen blieb. Einen Augenblick nur; aber als er wieder zu sich kam, sah er nur noch das Auto in rascher Fahrt in der Dunkelheit verschwinden.

Er erhob sich. Dabei fiel sein Blick auf ein Papier, das neben ihm gelegen hatte. Dieser Zettel trug oben, anscheinend mit einem Stempel aufgedruckt, eine schwarze Hand. Darunter stand:

„Das ist die zweite Warnung. Eine dritte erfolgt nicht. Sofortige Abreise, oder Tod. Wir fackeln nicht lange! Die Mafia.“

Oh ja, das kannte Burne zur Genüge, daß die Mafia rigoros vorging. Wie viele Menschenleben waren dieser unausrottbaren Verbrecherbande schon zum Opfer gefallen! Aber dies war denn doch toll – die Polizei im Bunde mit den Verbrechern –? Kaum glaublich! Und doch mußte es so sein.

Was nun? Burne gab sich nicht etwa besiegt! Bewahre! Im Gegenteil, jetzt überkam ihn erst eine Art grimmigen Jagdeifers. Er wanderte zur Stadt zurück. Ein langer Weg war das, und der Detektiv hundemüde. Doch er mußte weiter, wollte er nicht im Freien übernachten. Im erstbesten Gasthof, den er antraf, nahm er dann ein Zimmer, um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen.

Aber morgens war er schon früh wieder unterwegs. Machte einige Einkäufe, ging zu dem Gasthaus zurück.

In dem vornehmen älteren Herrn, der eine knappe Stunde später das Gasthaus verließ, hätte niemand den Matrosen von vorhin vermutet.

Burne nahm ein Mietsauto und fuhr direkt zu Vianis Behausung. Ließ sich unter dem Namen eines Sir Mc. Johnson bei ihm melden. Ein Diener führte ihn in das Empfangszimmer. Und schon trat auch Viani ein. Er nötigte Burne in einen Klubsessel, nahm selbst ihm gegenüber in einem zweiten Platz und fragte nach seinem Begehr.

„Ich hörte im Hotel „Astoria“, daß Sie dieses Landhaus zu vermieten beabsichtigen, und wollte mich nun einmal nach Ihren Bedingungen erkundigen.“

Viani schüttelte langsam den Kopf.

„Das muß ein Irrtum sein; ich habe nie daran gedacht, mein Haus zu vermieten. Im Gegenteil, ich kam erst kürzlich aus China zurück und gedenke jetzt hier wohnen zu bleiben.“

„Jawohl, aus China, wo Sie eine junge Deutsche von Mädchenhändlern kauften und hierher verschleppten!“ rief Burne und hielt dem Italiener plötzlich seinen Browning vor. „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, dann geben Sie jetzt unverzüglich Miß Dörcksen frei! Was die Mafia kann, kann ich auch: Einen Menschen abzuknallen. Und seien Sie versichert, ich werde nicht eine Sekunde zögern!“

Doch der erwartete Erfolg dieser Worte blieb aus. Viani lächelte satanisch. Blitzschnell griff seine Linke auf ein nebenan stehendes, kleines Tischchen, drückte auf einen dort angebrachten Schaltknopf und – der Detektiv sauste mitsamt dem Klubsessel in eine dunkle Tiefe. Im selben Augenblick aber hatte er auch schon abgedrückt, ohne freilich die Wirkung des Schusses mehr beobachten zu können. Nur einen Schrei hörte er noch.

Dumpf krachte der Sessel unten auf. Seine Polsterung milderte den Anprall für Burne. Oben schloß sich die Falltür automatisch.

Dunkelheit. Modrig roch es hier unten. Burne tastete umher. Die Wände, senkrecht und glatt, waren feucht. Der Raum schien nur gerade etwas größer, als der Sessel zu sein. Eine ganz raffinierte Menschenfalle, um unbequeme Besucher los zu werden. Viani mußte ihn also trotz seiner trefflichen Verkleidung erkannt haben …

Der Detektiv saß nun, nachdem er die Steinzelle untersucht und herausgefunden hatte, daß ein Herauskommen ohne fremde Hilfe unmöglich war, da und sann. Allmählich bekam er kalte Füße hier unten … Kalt –? Naß –! Wasser war am Boden der Zelle. Und dieses Wasser stieg stetig!

Mit einem Male ward dem Detektiv die ganze teuflische Anlage dieser Menschenfalle klar. Das Haus lag dicht am Wasser und die tiefe, in den Felsen gehauene Röhre stand wohl mit ihm in Verbindung, so daß sie bei Flut vollief! Sind auch Ebbe und Flut im Mittelländischen Meer nicht sehr stark, so würden die Gezeiten wohl dazu doch ausreichen. –

Das Wasser stieg. Schon reichte es Burne bis zu den Knien. Er hockte sich auf den Sitz des Sessels. Doch auch dahin folgte es bald genug nach.

Sollte das nun wirklich das Ende sein? Ob er nun oben mit dem Schuß, den er im Augenblick des Sturzes abgegeben, Viani getroffen hatte, oder nicht, das blieb sich ganz gleich. Der hatte beschlossen, ihn zu beseitigen, und dies war nun der Weg …

Das Wasser stieg. Schon wieder reichte es dem Detektiv bis zu den Knien. Nun konnte er nicht mehr höher. Wozu auch? Es wäre ja doch nur eine Galgenfrist geworden und eine Verlängerung seiner Qual. –

Inzwischen hatte sich oben folgendes ereignet. Auf den Schuß Burnes kam die Dienerschaft – zwei Mann – gelaufen. Sie fanden ihren Herrn schwerverletzt vor; trugen ihn in sein Schlafzimmer, wo dann noch der dritte Diener, der im Garten Wache gehalten hatte, hinzukam. Alle drei waren nun um ihren Herren bemüht. Der lebte noch, vermochte aber schon nicht mehr zu sprechen.

Auch Hella Dörcksen hatte in ihrem Gemach den Knall gehört. Auch, daß der Diener, der innen vor ihrer Tür Wache hielt, daraufhin fort rannte. Sie lauschte; alles blieb still. Da wagte sie es nach einer Weile, ging zur Tür … Doch die war verschlossen.

Durch’s Fenster –? Sie spähte vorsichtig hinaus. Ja, auch der Wächter war verschwunden. Wenigstens war er nicht zu sehen. Sie kletterte hinaus, stand gleich darauf im Garten. Flucht –? Ja; doch nicht gleich. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß jener Schuß irgendwie mit ihrem unbekannten Beschützer in Zusammenhang stand, der jetzt vielleicht in Gefahr war …

Hella schlich ums Haus; kam zum vorderen Portal. Trat vorsichtig ein … Die Tür des Empfangszimmers stand offen. Kein Mensch war zu sehen.

Ein unbestimmtes Gefühl trieb sie vorwärts. Und da sah sie dann die Stelle, an der der Klubsessel gestanden hatte … Erkannte die Umrisse der Falltür, sah auch einen Ring daran und ohne recht zu wissen, wieso sie das tat, versuchte sie, die Falltür emporzuheben. Es gelang nach einiger Anstrengung.

Burne, unten, dem das rapid steigende Wasser bereits bis unter die Arme reichte, stützte sich mit aller Kraft an den Wänden, um nicht umzusinken. Da fiel ein Lichtschein von oben herab.

„Hallo!“ rief er gedämpft. Sah empor, – sah einen Frauenkopf, – erkannte Hella Dörcksen!

„Rasch, werfen Sie mir etwas zu, damit ich mich festhalten kann, wenn ich nicht ertrinken soll!“ rief er. Hella ergriff den Teppich, faßte einen Zipfel fest und ließ das andere Ende hinunter. Doch sie erkannte sofort, daß es so nicht gehen würde. Sie hätte den Mann da unten nicht emporziehen können.

„Warten Sie – nur noch einen Augenblick!“ rief sie ebenso leise hinunter, schob mit aller Gewalt den Schreibtisch herbei, wuchtete ihn auf das Teppichende. Hielt zusätzlich noch fest.

„Kommen Sie jetzt!“

Burne prüfte mehrmals, der Teppich hielt, und der Detektiv kletterte empor. Hella starrte gespannt auf die Öffnung. Da tauchte der Kopf des Mannes aus der Dunkelheit auf. Das – war – ja –

„Burne!“ hauchte sie. Aber da war der war schon oben.

„Rasch, Miß Dörcksen, kommen Sie. Wir müssen fliehen. Haben keine Sekunde zu verlieren. In diesem Haus wohnen gefährliche Verbrecher.“

Sie starrte den Detektiv noch immer an wie ein Gespenst.

„Kommen Sie, Miß Dörcksen! Ich bin nicht länger Ihr Feind. Kommen Sie, ehe man uns wieder einfängt. Ich erkläre Ihnen alles unterwegs.“

Stimmen wurden laut, irgendwo im Hause. Da schüttelte Hella den Bann ab. Sie stürmten hinaus. Im letzten Augenblick; denn gleich darauf betraten die Diener Vianis das Zimmer.

Hella und Burne waren im Freien.

„Setzen wir uns in Trab,“ rief der Detektiv, er, der in den letzten Tagen so Ungeheures durchgemacht!

„Wohin?“ fragte Hella, neben ihm herlaufend.

„Zur Stadt zunächst; dann zum Hafen. Erst auf einem neutralen Dampfer sind wir völlig sicher vor der Mafia.“

Nur ein einziges Schiff fanden sie, das an diesem Morgen in See stechen sollte. Ein Dampfer nach New York. Sie gingen an Bord, ließen sich Kabinen anweisen, verriegelten diese sorgfältig. Und dann erzählte Burne seine Erlebnisse auf der Insel Taipali und wie es gekommen, daß er zu ihren Anhängern übergetreten sei.

„Und jetzt, Miß Dörcksen,“ schloß er, „nachdem Mahadur Mirat mir das Leben gerettet hat, haben Sie es noch einmal getan. Doppelt stehe ich jetzt in Ihrer Schuld und doppelt fest halte ich jetzt zu Ihnen und Ihrer Sache!“

Hocherfreut streckte ihm Hella ihre Rechte hin, die er ergriff und warm drückte.

 

6. Kapitel

Auf Dörcksens Felseninsel in der Gruppe der Lakkadiven ging das Leben ernst und eintönig seinen Gang. Die Einsiedler hatten kein Schiff, keine Möglichkeit, von der Insel fortzukommen. Wohin sollten sie auch. Aber die Rückkehr Dörcksens und seiner Gefährten ersehnten sie.

Doch Woche um Woche verging. Niemand kam. Was mochte mit Ellen Crosterbroux, den beiden Leakwoords und Burne geworden sein? Sie wußten es nicht. Sie wußten nichts, was draußen in der Welt vorging.

Vorräte zum Leben hatten sie noch reichlich. Und ihre Seelen lebten von der Hoffnung und der Sehnsucht.

Die Zeit ging hin mit Gesprächen über das Land der Wolkenkönigin, seine Einrichtungen und Sitten, worüber Gari Dingra gern Auskunft gab. Tag um Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, standen sie auf dem Felsplateau, spähten in die Weite, ob nicht das Flugschiff Dörcksens irgendwo auftauchte. Wenn dann der Sonnenball im Meere verschwunden war, sahen sie einander wohl lächelnd an aber in ihren Blicken stand: Heute war es wieder nichts; heute noch nicht; vielleicht morgen … Nur Geduld.

Heimlich aber unterdrückten sie schon längst die Seufzer des Zweifels … – – –

Mindestens ebenso sehnsüchtig warteten Mahadur Mirat und Harald Dörcksen auf Nachricht von Burne. Nach jenem Zettel, daß er in der Nähe Hellas sei und telegraphisch weitere Nachricht geben wolle, geschah nichts mehr. Wochenlang. War er bis nach Italien mitgefahren? Oder war alles unterwegs gescheitert, Burne entdeckt und – ermordet? Denn, hätten sie ihn nur irgendwo ausgesetzt, wäre es ihm doch ein Leichtes gewesen, Nachricht zu geben.

Aber nichts … Oh, diese Ungewißheit! Das Leben in Shanghai ward den beiden Männern, die um die Geliebte, die Tochter sich sorgten, immer qualvoller. Gewiß nutzten sie die Zeit zu ihrer Zerstreuung aus, indem sie diese östliche Weltstadt genau kennen lernten; doch immer wieder, hundertmal am Tage, kehrten ihre Gedanken zu Hella und Burne zurück …

Bis endlich, endlich eines Tages, als sie, wie stets, auf der Post nachfragten, ihnen der Beamte ein Telegramm überreichte. Es war auf drahtlosem Weg an Bord der „Canada“ aufgegeben und enthielt nur wenige Worte.

„Demnächst New York. Globus-Hotel. Hella. Burne.“

Hella und Burne zusammen auf dem Weg nach Amerika, nach New York! Wäre Harald Dörcksen nicht dazu schon zu alt und Mahadur Mirat nicht ein indischer Radscha gewesen, sie hätten in diesem Augenblick wahrscheinlich Neigung empfunden, auf der sehr belebten Straße einen Freudentanz aufzuführen. So aber begnügten sie sich nur damit, sich die Hände zu drücken und einander leuchtenden Blicks in die Augen zu sehen.

„Wann fliegen wir?“ fragte Mirat.

„Wenn es ginge, sofort,“ entgegnete Dörcksen; „aber jedenfalls in spätestens drei Stunden. So lange, denke ich, werden wir brauchen, um noch einige Lebensmittelvorräte zu ergänzen und die „Wolke“ startbereit zu machen.“

In der letzten Zeit hatten sie das Flugschiff, wie ein Motorboot auf dem Wasser am Ufer vertäut, schon immer allein gelassen; hatten nicht mehr der eine oder der andre bei ihm Wache gehalten. Das Interesse der in der Umgegend wohnenden Chinesen für den merkwürdigen „Wasserdrachen“ war sichtlich abgeflaut. So hatten sie es denn einmal gewagt, die „Wolke“ für Stunden allein zu lassen, – und es dann immer wieder getan, jeden Tag.

Heute bogen sie denn freudigster Stimmung in die Straße ein, die direkt zum Hafen hinunterführte. Nun würden sie das Flugschiff bald an seinem Ankerplatz liegen sehen können.

Noch nicht –? Noch – nicht?

In banger Ahnung beschleunigten sie ihre Schritte. Erreichten den Kai … Der Platz, wo die „Wolke“ gelegen hatte, war leer! Das Flugschiff nirgends zu sehen!

„Die „Wolke“ gestohlen –!“

Harald Dörcksen hatte es nur geflüstert. Aber es trug sein ganzes Leben in diesem Flüstern. Mahadur Mirat erwiderte nichts. Starrte nur auf die Stelle, wo das Flugschiff gelegen. Oder nein, nicht auf die Stelle des Wassers, sondern davor, auf den Uferrand … Trat dann plötzlich zwei, drei hastige Schritte vorwärts, bückte sich, kam zurück … Er hatte irgend ein winziges Etwas aufgehoben, das er jetzt aufmerksam betrachtete.

„Das ist ein neuer Schlag!“ murmelte Dörcksen, noch immer fassungslos.

„Wir werden das Flugschiff wiederhabe,“ sagte da der Radscha ganz ruhig; „ich glaube zu wissen, wo wir es suchen müssen.“

Der Erfinder schaute ihn erwartungsvoll an. Mahadur Mirat hob den kleinen Gegenstand, den er am Rand des Ufers aufgehoben, empor. Hielt ihn Dörcksen hin. Der betrachtete ihn … Es war ein kleines, viereckiges Stück dicker Seide, weiß, und darauf kunstvoll gestickt ein gelber Drache. Mahadur Mirat erklärte:

„Es ist das Abzeichen der „Drachenbrüder“, einer Geheimsekte von Chinesen, die mit ungeheurem Fanatismus dem alten Drachenglauben anhängen. Man sagt, daß sie auch noch Menschenopfer pflegen. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen. Weiß nur so viel, daß sie hier in Shanghai einen unterirdischen Zusammenkunftsort haben. Mir selbst gelang es vor Jahren einmal durch Zufall, eine dieser Zusammenkünfte der Drachenbrüder zu belauschen, – obwohl jeder Fremde ängstlich davon ferngehalten wird und, so fürchte ich, auch schwer büßen muß, wenn er entdeckt wird.“

„Sie kennen den Ort – und vermuten, daß –“

Mahadur Mirat nickte.

„Jawohl, ich nehme an, daß jene Sekte sich in unserer Abwesenheit des seltsamen „Wasserdrachen“, wie die Chinesen unser Flugschiff allgemein nennen, bemächtigt hat. Sicherlich verlor eins der Mitglieder dabei dies Abzeichen …“

„Dann wollen wir dorthin, uns unser Eigentum zurückholen.“

„Ja; aber – es ist nicht ohne Gefahr. Wir müssen als Chinesen hin. Dies Abzeichen wird uns Einlaß verschaffen. Doch wenn wir als Fremde entlarvt werden sollten, gebe ich für unsere Sicherheit nichts mehr.“

„Wir dürfen uns eben nicht entlarven lassen. Ich denke, ein paar gute Revolverschüsse, in eine feierlich andächtige Gemeinde abgegeben, dürften genügende Wirkung haben.“

„Gewiß, das schon; wenn –; aber wir müssen es versuchen.“

„Ein Glück, daß ich mein ganzes Geld stets bei mir trage! Sehen Sie hier, Mirat. Diese beiden Ledertaschen beherbergen mein alles. Die eine das Geld, – die andre die Berechnungen und Zeichnungen zu einem neuen Flugschiff, das die „Wolke“ noch weit übertrifft. Gewiß, auch die „Wolke“ war schon besser, als alle Flugschiffe heutzutage. Aber – ich erkannte noch Mängel an ihr; sah noch zu Verbesserndes. Und in stillen Stunden schuf ich dies Neue, von dem ich endgültig das Höchste erhoffe: daß es mich und meine Getreuen hinauftragen wird nach Olympia, in die Gefilde der Seligen! Bis dahin – muß uns noch die „Wolke“ dienen. Uns einen Vorteil gegenüber Feinden aller Art zu schaffen, reicht sie in jedem Fall aus. Nur – haben müssen wir sie wieder.“

Der Inder neigte das Haupt.

„So wollen wir darum kämpfen, Mr. Dörcksen!“

Sie schritten währenddes am Ufer des Flusses entlang. Besorgten sich unterwegs allerlei chinesische Kleidungsstücke, Schminke und dergleichen; nahmen endlich ein gemeinsames Zimmer in einem amerikanischen Hotel.

„In zwei Stunden spätestens bin ich wieder hier,“ sagte Mahadur Mirat und wandte sich zur Tür.

„Wohin –?“

„Auskundschaften, wann die nächste Zusammenkunft der Drachenbrüder stattfindet.“ –

Schon nach einer knappen Stunde war er zurück.

„Ich hatte Glück. Konnte in der Nähe des Hauses, das den Eingang zu jenem unterirdischen Tempel verbirgt, zwei Chinesen belauschen, die anscheinend Mitglieder der Sekte der Drachenbrüder waren. Heute abend nach Sonnenuntergang findet eine Zusammenkunft statt. Ich vermutete, daß wir dort den Aufenthaltsort der „Wolke“ erfahren werden. Denn in dem Gespräch jener beiden fiel einmal das Wort Wasserdrache.“

„Hoffen wir’s!“ sagte Harald Dörcksen. –

Bei Einbruch der Dunkelheit verließen zwei Chinesen das amerikanische Hotel. Sie strebten dem ältesten Teil Shanghais zu. Dort angekommen, betraten sie eins der baufälligen, niedrigen Häuser. Es war eine Teeschänke, die sich äußerlich in nichts von Lokalen gleicher Art unterschied. Innerlich auch nicht. Mahadur Mirat aber, der die Örtlichkeiten hier kannte, schritt quer hindurch, betrat hinten einen langen, schmalen, nur von einer Papierlaterne matt erhellten Gang, an dessen Ende sich eine kleine Tür befand.

Harald Dörcksen folgte ihm au dem Fuße. Der Radscha öffnete die Pforte und sofort versperrte ein Chinese ihnen den Weg. Doch Mirat hob das seidene Abzeichen empor. Der Chinese prüfte es; ließ sie dann beide schweigend passieren. Der Gang führte hinter der Tür noch ein Stück weiter, bog dann rechtwinklig um und ging in eine Treppe über, die nach unten wies. Staunend zählte Dörcksen sechzig Stufen. Dann kam wieder eine Wendung …

Schon vorher war gedämpftes Gemurmel den beiden entgegengedrungen. Jetzt öffnete sich vor ihnen eine unterirdische Grotte von überraschend großem Ausmaß. Sie konnten weder ihre Länge, noch ihre Höhe absehen. Rechts und links zweigten sich Seitengänge ab und dort lag auch eine Anzahl Nischen und kleinere Grotten. Das Ganze war erfüllt von mattem, grünlichem Licht, dessen Quellen unsichtbar angebracht waren, so daß der Anschein erweckt wurde, es flösse es irgendwie aus den Wänden.

Viele Chinesen – mindestens zweihundert an der Zahl – standen eng in Gruppen umher, murmelten leise … Waren es Gebete? Oder unterhielten sie sich nur? Niemand achtete auf die Neuangekommenen. Dörcksen beugte sich nahe an des Radschas Ohr:

„Hier ist mit ein paar Schüssen nichts getan. Wir müssen es anders versuchen..“

Ob Mahadur Mirat darauf etwas erwidern wollte, blieb ungewiß. Denn in diesem Augenblick erklang ein Gong. Im selben Moment trat lautlose Stille ein. Dann – flog ein fahler Schein durch die Grotte. Und oben, da, wo man die Decke vermutete, doch nicht sehen konnte, und wo jetzt ein unendlich weiter, dunkler Raum zu gähnen schien, – da erschien plötzlich ein riesiger Drache, schwefelgelb leuchtend, von unwahrscheinlichem Aussehen, fast lebendig wirkend. Seinen Nüstern entquoll Schwefeldampf. Seine Augen, – ah, diese entsetzlichen Basiliskenaugen lebten. Sie drehten sich hin und her. Hafteten sie jetzt nicht drohend auf Dörcksen und Mirat?!

Gebannt von dem grausig-phantastischen Anblick, preßte der Erfinder seines Begleiters Arm.

„Altchinesischer Bluff,“ flüsterte der, nur für Dörcksen vernehmbar. – Aber all die Menschen hier unten starrten in gläubiger Verzückung auf das Ungeheuer, das da oben schwebte. Zum Takt einer monotonen, doch rhythmischen Musik schritt eine Anzahl Männer um einen runden, von der Menge freigelassenen Platz. Dreimal umrundeten sie ihn … Dann flammten knatternd die angezündeten Schwärmer auf, die sie an Holzstäben trugen.

Dazu rief die Menge irgendein unverständliches Wort. Und dann, – dann kam für Mirat und Dörcksen, die schon vergeblich hierhergekommen zu sein glaubten, die große Überraschung. Mit einem Schlag wurde der ganze Hintergrund der Grotte durch Magnesiumfackeln taghell erleuchtet. Und da sahen sie ein dichtes Holzgerüst und darauf – das Flugschiff!

„Ein Scheiterhaufen! Der Wasserdrache soll zu Ehren des großen Drachen der Luft verbrannt werden!“ flüsterte der Radscha. Ja, jetzt erkannte es auch Dörcksen deutlich. Nicht ein Holzgerüst wartete, sondern ein regelrecht geschichteter Scheiterhaufen, auf dem die „Wolke“ stand!

Dörcksen stöhnte auf. Sein Werk, das da zur Vernichtung bereitgestellt war! Er wollte vorstürzen; doch der Radscha hielt ihn zurück. Raunte ihm zu:

„Keine Unbesonnenheit; sonst sind wir verloren!“

„Das sind wir vielleicht,“ gab Dörcksen ebenso leise zurück; „die „Wolke“ enthält eine Menge von Munition und Sprengstoffen, die bei dem Brand unfehlbar explodieren werden. Was dann mit dieser Grotte geschieht, ist mindestens zweifelhaft.“

„Kommen Sie,“ rief Mahadur Mirat; „retten können wir das Flugschiff doch nicht; versuchen wir wenigstens, uns selbst in Sicherheit zu bringen.“

Sie wandten sich langsam dem Ausgang zu. Der Radscha voran. Zwei Chinesen, die Wache hielten, senkten altertümliche Speere gegen sie. Der eine fragte etwas. Dörcksen verstand ihn nicht. Doch Mahadur Mirat zuckte die Achseln, wandte sich wieder zurück und winkte dem Erfinder, ihm zu folgen.

Außer Hörweite der Wächter sagte er dann:

„Niemand darf die Grotte vor Beendigung der Zeremonien verlassen. Doch es ist zweifellos noch ein anderer Ausgang da. Lassen Sie uns sehen!“

Sie wandten sich in einen der Seitengänge hinein; doch auch hier stießen sie bald auf Aufpasser. Überhaupt war es jetzt, da die Menge regungslos die Prozeduren der Priester verfolgte, gefährlich, sich viel zu bewegen. So blieben sie denn stehen; schauten gleichfalls …

Eine Fackel war in den Holzstoß geschleudert worden und gierig leckten die Flammen empor.

Das Magnesiumlicht erlosch und jetzt war nur der Scheiterhaufen von den schnell emporlodernden Flammen beleuchtet.

Die Menge stand und starrte. Dörcksen schauderte, dachte er an die Katastrophe, die die bevorstehende Explosion hier herbeiführen mußte. Da fühlte er sich am Arm gepackt und zur Seite gezogen. Er folgte Mahadur Mirat, der wieder in dem Gang verschwunden war. Niemand bemerkte das jetzt in der allgemeinen Spannung.

Eine Treppe, steil und ausgetreten, führte aufwärts. Sie mündete in einem Kellerraum. Dörcksen lauschte immer rückwärts, ob die Explosion noch nicht erfolgte. Doch alles blieb still. Mahadur Mirat suchte währenddessen nach einem weiteren Ausgang. Fand ihn auch. Und bald darauf sahen sich die beiden im Hausflur eines neuen, nach europäischem Stil gebauten Hauses!

Die vergitterte Glastür, die ins Freie führte, war natürlich verschlossen. Und draußen – ging eine Nachtwache auf und ab! Dann flammte links zu alledem auch noch Licht auf. Durch eine zweite Tür sah Dörcksen blickte in eine Art Kontor. An einem Tisch saß ein vornehm gekleideter Chinese. Ihm gegenüber in lässiger Haltung – ein Europäer! Und – Harald Dörcksen glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen … Dieser Europäer war – Harry Leakwoord!

In diesem Augenblick traf ein warmer Hauch des Erfinders Ohr. Mahadur Mirat flüsterte:

„Stehenbleiben! Ich will die beiden belauschen!“

Damit huschte er an dem Erfinder vorbei. Die Glastür war nur angelehnt. Dörcksen verhielt sich regungslos, wartete; eine Zeit, die ihm endlos dünkte. Dann flüsterte Mahadur Mirat:

„Wir werden das Flugschiff wiederbekommen. Es ist nicht verbrannt, wie ich längst vermutete, sondern die schlauen Priester haben die Vernichten ihren Anhängern nur vorgegaukelt, in Wirklichkeit aber das Flugschiff geschützt, um es an einen Engländer zu verkaufen, der ihnen eine namhafte Summe geboten hat. Jetzt sitzt der Mann da drinnen und berät mit dem Oberpriester, der im Alltagsleben Bankier zu sein scheint, die Auslieferung der „Wolke“. Die Götter mögen wissen, wie Leakwoord hierhergekommen ist und wo er das Geld her hat, das er den priestern bot. Vielleicht von der Tochter des Platinkönigs, die mit ihm damals die Insel verließ? Nun, jedenfalls wird es mir eine Genugtuung sein, gerade dem Halunken seine Beute wieder abzujagen.“

„Wie mögen die Chinesen die „Wolke“ hinuntergebracht haben?“

„Auch das hörte ich aus dem Gespräch der beiden dort. Wie ich mir gleich dachte, die Grotte hat noch einen zweiten Ausgang. Sie zieht sich weit hin, und jener Ausgang, der wohl groß genug für die Einbringung des Flugschiff sein muß, befindet sich außerhalb der Stadt. Dort soll noch in dieser Nacht die Übergabe des Geldes an die Priester einerseits, der „Wolke“ anderseits an Harry Leakwoord stattfinden. Die Chinesen sind vorsichtig. Leakwoord aber nicht minder.“ –

Sie stiegen zurück in den Kellergang, fanden die große Grotte leer. Die Zeremonien waren vorüber. Nur hier und da brannte noch eine der matten Papierlaternen. Dörcksen und Mahadur Mirat schlichen vorsichtig bis zu dem verkohlten Holzstoß, – von dem man die „Wolke“ längst abgerückt hatte, während die Flammen davor noch loderten und die Zuschauermenge blendeten, – daran vorbei und weiter … und erreichten bald den Ausgang in eine kleinere Seitengrotte, die in ihrer ganzen Breite ins Freie führte!

Sie drückten sich in die dunkelsten Nischen. Draußen klangen Stimmen. Die Priester, die wohl schon Harry Leakwoord mit dem Geld erwarteten. Der Erfinder unterschied sechs Gestalten. Nun, hier war mit ihren zwei Revolvern schon eher etwas zu machen!

Dörcksen zog den Radscha dicht zu sich heran und flüsternd berieten sie, wie sie vorgehen wollten.

Dann – vernahmen sie draußen Leakwoords Stimme … Es galt … Langsam schoben sie sich hinaus … und sahen sich plötzlich von grellem Tageslicht umgeben! Geblendet schlossen sie einen Moment die Augen. Und da wurden sie auch schon gepackt, zu Boden gerissen, gebunden … Über ihnen grinsten triumphierende Chinesengesichter. Sie waren gefangen!

 

 

Dritter Teil

Gejagt in New York

 

1. Kapitel

In New York warteten Stuart Burne und Hella Dörcksen in dem angegebenen Hotel vergebens auf den Erfinder und den Radscha. Sie hatten doch gehofft, daß jene beiden mit der „Wolke“ längst da sein müßten.

Im „Globus-Hotel“ ließ der Detektiv keine Vorsicht außer acht. War ihm doch bekannt, daß die Mafia außer in Italien gerade in den Vereinigten Staaten stark vertreten war. Und es sollte sich bald zeigen, wie recht er mit dieser Vorsicht hatte.

Eines Morgens brachte ein ihnen fremder Kellner den Kaffee. Burne fiel das auf, weil seinem geübten Kriminalistenauge eben auch nicht der geringfügigste Nebenumstand entging. Zugleich schien ihm der Kaffee einen eigentümlichen Geruch auszuströmen. Er roch noch einmal daran … Der Kaffee roch nach bitteren Mandeln, dem typischen Merkmal für Blausäure, – eins der gefährlichsten Gifte.

Burne läutete nach dem Zimmerkellner. Einmal, – ein zweites Mal. Doch niemand kam. Endlich nach dem dritten Mal erschien der Etagenkellner, bat Burne um Verzeihung wegen der Verzögerung. Die Zimmerbedienung sei im Augenblick nicht auffindbar.

„Ah, der neue –?“ fragte Burne.

„Der – neue?“ Der Etagenkellner sah Burne verständnislos an. „Wir haben keinen neuen.“

„Doch, doch; heute bediente mich ein neuer Kellner. Einer mit einem schwarzen Spitzbart.“

„Spitzbart –? Unsere Kellner gehen alle glattrasiert. Das gehört zur Tradition unseres Hauses.“

Plötzlich stürzte Burne hinaus und ohne weiteres in Hellas Zimmer. Sie erschrak heftig, als der Detektiv die Tür aufriß, und ließ dabei die Kaffeetasse, die sie gerade zum Munde führen wollte, fallen. Klirrend zerbrach das Porzellan. Das braune Getränk färbte den Teppich.

„Haben Sie schon getrunken, Miß Dörcksen?“ fragte Burne in fliegender Hast.

„Nein, ich wollte es gerade tun, als Sie so stürmisch hereinkamen. Was daraus dann geworden ist, sehen Sie ja.“

Da hatte sich der Detektiv auch schon auf den Boden geworfen und bohrte die Nase in den Teppich. Mit großen Augen sah Hella ihm zu. War Burne verrückt geworden?! Da richtete der sich auf und sagte ganz ruhig:

„Keine Spur von Blausäure. Also nur auf mich haben sie es abgesehen. Nun, das hätte ich mir denken können.“

„Ja, was ist denn eigentlich los? Möchten Sie mir nicht erklären …“

„Gewiß, mit dem größten Vergnügen, Miß Dörcksen. Es ist eigentlich nichts Besonderes. Nur, daß die Mafia auch hier hinter mir her ist. Wahrscheinlich, weil ich Marco Viani in Rom erschoß. Jedenfalls wollte mich heute ein Kellner, der keiner war, abtun, indem er mir Kaffee mit Blausäure servierte. Nun, es gelang vorbei. Ich lebe noch. Mit Stuart Burne fertig zu werden, ist eben doch nicht so leicht.“

„Aber das ist ja entsetzlich!“ hauchte Hella. „Keinen Augenblick des Lebens sicher …!“

Burne hob die Achseln.

„Ja nun, mir ist das ja eigentlich nichts Neues. Dennoch kann ich nicht leugnen, daß ich zufrieden wäre, wenn dieser Zustand endlich einmal aufhörte. Doch so lange wir in Amerika weilen …“

„Oh, dann lassen Sie uns schnell abreisen!“

„Hm; und Ihre Angehörigen? Wollen wir nicht hier auf die warten?“

„Gewiß, ich will Ihnen etwas sagen. Fahren Sie. Lassen Sie mich hier allein warten.“

Burne sprang förmlich hoch.

„Ha, das trauen Sie mir zu?! Daß ich Sie hier allein lasse? Nie!“

Hella lächelte über den Beschützereifer ihres ehemaligen Feindes.

„Sie vergessen, Mr. Burne, daß ich monatelang allein auf der Suche nach Gari war! Und – auf der Flucht vor Ihnen! Habe ich nicht bewiesen, daß ich dem gewachsen bin? Habe ich nicht ganz gut den Platinkönig düpiert, das Zelt und nachher die Dschungel angesteckt, um Ihnen zu entkommen?“

Burne nickte.

„Gewiß, Sie haben recht, Miß Dörcksen. Und dieser Schneid, den Sie entwickelten, war es gerade, der mich … ; aber das gehört nicht hierher. Dennoch wiederhole ich: Ich bleibe an Ihrer Seite! Mag geschehen, was will!“

Hella streckte dem Detektiv die Hand hin.

„Ich danke Ihnen. Mister Burne! Offen gestanden, früher habe ich Ihnen so viel Edelmut nie zugetraut.“

„Weil Sie mich nicht kannten. Ich glaube, man unterschätzt seine Feinde meistens, – aus Vorurteil.“ –

Kurz nach diesem Gespräch kam der Zimmerkellner. Man hatte den richtigen inzwischen gefunden. Auch er entschuldigte sich wegen des Zwischenfalles. Er habe aber nichts dafür gekonnt. Ein Fremder im Frack – einer mit schwarzem Spitzbart – sei gekommen, habe ihn unter einem Vorwand in ein zur Zeit unbewohntes Zimmer gelockt, als er gerade den Kaffee auf Nummer 219 tragen wollte, ihm dann dort plötzlich ein Tuch mit einer betäubenden Flüssigkeit vors Gesicht gehalten. Erst jetzt sei er erwacht.

Einer mit schwarzem Spitzbart –! Das war der falsche Zimmerkellner. Der Fall lag klar genug. Daß jener Italiener war, hatte ihm der Detektiv sofort angesehen. Daß er Mitglied der Mafia war, in deren Auftrag er handelte, war zwar nur Burnes Schluß; doch er hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich.

Aber darum abreisen? Nein! Im Gegenteil! Burne hätte nicht Kriminalist mit einer so langen und ausgedehnten Praxis sein müssen, wenn ihn dergleichen nicht gerade gereizt hätte. Nein, ein Stuart Burne floh nicht. Er blieb. Und Hella – war sehr zufrieden, daß er blieb. –

Bis spät in den Abend hinein saßen Hella und der Detektiv noch zusammen im Bibliothekszimmer des Hotels. Lasen, erzählten sich zwischen … Endlich, nach zehn Uhr, war Hella müde. Sie verabschiedete sich von dem Detektiv und ging auf ihr Zimmer. Burne verspürte noch keine Neigung, schlafen zu gehen. Er entnahm der Bibliothek ein ihn besonders interessierendes Buch mit auf sein Zimmer, um dort noch zu lesen.

Das Werk fesselte ihn ungemein. Er las eine Stunde, eine zweite …

Da klopfte es plötzlich. Jetzt nachts? Burne nahm den Browning, entsicherte ihn; ging zur Tür; öffnete sie … Da fiel ihm ein Mann entgegen. Burne, mit der nötigen Vorsicht, fing ihn auf. Er sah gleich: hier mußte etwas Besonderes vorliegen.

Das Gesicht des Fremden war käseweiß. Der Atem ging stoßweise und röchelte. Vorn war die Weste wie von einem scharfen Messer zerschlitzt und durch diesen Riß sickerte Blut!

Burne bettete den Fremden auf seinen Diwan. Wollte ihm die Weste öffnen, doch da wehrte der ihm.

„Nicht jetzt …“ röchelte er mit versagender Stimme; „erst bei meiner Frau. Ich flehe Sie an, kommen Sie mit! Sie sind der berühmte Detektiv Burne. Wir benötigen dringend Ihre Hilfe. Es handelt sich – um eine Riesenerbschaft, die man uns mit Gewalt abjagen will. Alles weitere wird Ihnen meine Frau erzählen. Ich war auf dem Wege zu Ihnen. Kurz vor dem Hotel versetzte ein Fremder mir einen Stich mit einem Dolchmesser. Ich vermochte mich gerade noch bis hierher zu schleppen. Ich bitte Sie, lassen Sie mich einstweilen hier. Benutzen Sie mein Auto. Es steht unten.“

In Burne war schon wieder der alte Berufskriminalist und Menschenjäger erwacht. Das war so recht ein Fall nach seinem Herzen! Er antwortete:

„Gut; ich eile. Werde Ihnen den Hotelarzt heraufschicken.“

Und lief hinunter. Traf den Hotelarzt in der Office; sagte ihm Bescheid wegen des Fremden; verließ dann das Hotel. Da stand das Auto. Ein schwarzer, auffallend großer Tourenwagen. Der Detektiv trat zu dem Chauffeur heran.

„Sie wissen die Adresse?“

„Ja, Mister.“

„Schön; dann los.“

Der Schlag fiel zu, der Motor sprang an. Ein merkwürdiger Geruch war in dem Wagen … Wonach nur –? Burne sann vergeblich darüber nach.

Eigentlich war er ja müde, Mitternacht vorbei; und so lange gelesen … Sehr müde war Burne, vermochte kaum noch die Augen offen zu halten. Die Fahrt, – wenn die nur wenigstens erst zu Ende gewesen wäre! Doch die dauerte schier endlos. Endlos …

Als der Chauffeur endlich hielt, schlief der Detektiv ganz fest. Der seltsame Geruch im Innern des Autos aber hatte sich eher noch verstärkt.

Zwei Männer traten aus dem Haus, vor dem das Auto hielt. Kamen zu dem Chauffeur heran.

„Den Kranken gebracht, Paolo?“

„Ist drin.“

Darauf öffneten die beiden den Wagenschlag. Hoben den bewußtlosen Burne heraus und trugen ihn hinein in eine Wohnung im Parterre. Dort erwachte der Detektiv dann nach etwa einer Stunde. Erwachte – gefesselt! Er blickte sich um. Niemand war außer ihm im Zimmer.

Doch nein, dort in der dunklen Ecke hockte jemand; ein häßlicher, verwachsener Mensch. Wie mit Geieraugen beobachtete der Burne. Bemerkte sofort dessen Erwachen, erhob sich; rief ein paar Worte ins Nebenzimmer.

Die Tür tat sich gleich darauf wieder auf und herein trat zugleich mit zwei anderen – jener Mann, den Burne als schwerverletzt in seinem Zimmer im „Globus-Hotel“ zurückgelassen hatte! Er sah durchaus nicht mehr bleich aus. Grinste höhnisch:

„Nun, Monsignore, wie stehen die Aktien? Schlecht, wie? Blausäure half nichts; da waren der Herr zu vorsichtig. Nun, wir wollten es uns nur ein wenig bequem machen. Ist mißglückt. Schadet nichts. Die Weisung von Rom lautet sowieso anders. Doch wir wollen nicht lange Zeit vertrödeln. Wir sind in Amerika, hier arbeitet man ein wenig schneller, als drüben im alten Europa. In Rom wäre man vielleicht noch mit dem Fehmgericht angekommen. Ist hier alles nicht üblich. Sie haben ein angesehenes Mitglied der „Schwarzen Hand“ oder „Mafia“ erschossen und sollen darum auch sterben. Wie – werden Sie gleich sehen. Vorwärts, Paolo!“

Die letzten Worte galten dem Chauffeur, der dabeistand. Sie packten Burne und schleppten ihn in den Keller. Ein Bluff, dachte der Detektiv immer wieder, es war ein Bluff; und er war darauf hereingefallen, – auf das Märchen, das ihm der weißgeschminkte und mit Ochsenblut beschmierte Verbrecher aufgetischt hatte! Sogar den Hotelarzt hatte er ihm noch hinaufgeschickt. Nun, der hatte wohl das Zimmer bereits leer gefunden und angenommen, Burne habe phantasiert.

Das war ja schließlich gleichgültig, was der Hotelarzt glaubte, oder nicht glaubte. Wichtiger war die Gegenwart. Und die sah nicht gerade rosig aus. An der Decke des hohen Kellerraumes hing eine hellbrennende elektrische Birne. Sie beleuchtete an der gegenüberliegenden Wand ein seltsames Gestell. Wie eine riesige Uhr sah das aus. In über Manneshöhe ein richtiges Zifferblatt, etwa einen halben Meter im Durchmesser, mit Zahlen darauf. In der Mitte des Zifferblattes saß ein weißer Totenkopf. Der hielt in seinen grinsenden Zähnen die beiden Zeiger. Das Ganze schien massiv aus Eisen zu sein. Über dem Zifferblatt aber hing an einem Draht ein vielleicht zentnerschweres Eisengewicht, rund, das unten in eine feine Spitze auslief.

Unter diese Uhr fesselten die Verbrecher Burne.

„So, Mr. Burne,“ fuhr der Sprecher von vorhin fort. „Diese Uhr wird die Ehre haben, Sie zum Teufel zu befördern. Sehen Sie diesen großen Zeiger. Er steht jetzt auf halb. Ist er auf voll, dann berührt er oben den Hebel, der das Gewicht löst, – das heruntersaust und Ihre werte Schädeldecke zerschmettert. Eine halbe Stunde also haben Sie noch Zeit, über Ihr Leben nachzudenken. Dann ist der Schnüffler Burne gewesen. Und so viel Hähne auch nach ihm krähen mögen, nutzen wird ihm das nichts mehr, – gar nichts.“

Darauf schickten die Verbrecher sich an, den Keller zu verlassen. Der Bandit, der vorhin die höhnisch grausamen Worte gesprochen, drehte sich am Ausgang noch einmal um:

„Soll ich das Licht ausschalten, Mr. Burne? Aber nein, ich denke, es ist besser, wenn Sie noch alles hübsch sehen können, was ringsum vorgeht, bis – es soweit ist.“

Draußen war er. Dumpf fiel die Tür ins Schloß. Still war es nun. Unheimlich nur klang das Tick-Tack der großen Uhr, die unerbittlich, unaufhaltsam vorwärtsging. Nichts sonst war zu hören. Nur überlaut der Herzschlag Burnes, der stärker und stärker wurde. Das Blut brauste ihm in den Ohren.

Und die Uhr tickte …

Verloren, verloren, – gellte es in des Detektivs Hirn. Unrettbar verloren. Wenn kein Wunder geschah … Aber nein, Wunder gab es wohl keine im modernen New York, – am allerwenigsten in einem Verbrecherkeller.

Und der Mann, der tausendmal im Leben dem Tod ins Angesicht gesehen und doch immer gut davongekommen war, fühlte, daß er diesmal dem geradezu satanischen Verbrecherraffinement zum Opfer fallen würde.

 

2. Kapitel

Wer war es nun, dem Mahadur Mirat und Dörcksen in die Hände gefallen waren? Waren es die Anhänger Harry Leakwoords, oder waren es die Drachenbrüder?

Sie sollten nicht lange darüber im unklaren bleiben. Chinesen waren es, die sie überwältigt hatten. Sie schleppten sie in die Grotte zurück und schlossen sie dort mit Ketten an die Wand. Dann ließ man sie eine Weile allein. Wenig später – brachten die Chinesen Harry Leakwoord. Er wurde Mirat und Dörcksen gegenüber angekettet.

Das Gesicht des Abenteurers war wachsbleich. Als er Dörcksens und des Radschas ansichtig wurde, flog ein Schein von Triumph über sein Gesicht.

„Ah, Mahadur Mirat, mein Peiniger! Bursche, die Qualen, denen du mich damals auf dem Felsen aussetztest, vergesse ich dir nie mehr, so lange ich lebe. Und wenn ich hier durch die Chinesenbestien mein Leben verlieren sollte, dann habe ich wenigstens die Genugtuung, daß es dir ebenso ergeht! Aber ich glaube nicht, daß es dazu kommt, denn –; Aber das geht euch nichts an.“

Er schwieg, blickte nur noch zuweilen haßerfüllt auf den Radscha. Dieser beachtete den Abenteurer nicht. Würdigte ihn keines Blickes, keines Wortes. Er sowohl, wie auch Harald Dörcksen prüften die Festigkeit der Fesseln. Um die Arme hatte man ihnen verschließbare Eisenreifen gelegt. Die waren nicht abzustreifen. Und die Ketten saßen fest in der Mauer.

Ganz fest –? Mahadur Mirat schien es, als sei der eine Stein ein wenig locker; ein ganz klein wenig nur. Er rüttelte daran. Möglichst unauffällig; was bei der unzureichenden Beleuchtung der Grotte nicht schwierig war. Beharrlichkeit führt zum Ziel, dachte er. Das Sprichwort hatte er einmal aus dem Munde des Erfinders vernommen. Jetzt erinnerte er sich daran.

Stunde um Stunde verging. Irgend woher strahlte ein matter Lichtschimmer. Tageslicht –? Vielleicht … Die Sonne mußte ja längst aufgegangen sein. Leakwoord blickte sich immer häufiger um. Endlich horchte er auf. Leise Schritte klangen. Und dann betraten zwei Männer die Grotte. Ein Chinese und – Allan Leakwoord!

Der Chinese – vielleicht einer der Priester, vom alten Leakwoord bestochen – ging wortlos zu Harry heran, schloß seine Handfesseln auf. Danach wollte er dasselbe mit den Fesseln Mahadur Mirats und Dörcksens machen. Doch da stellte sich rasch Harry Leakwoord dazwischen.

„Halt, – die beiden da werden hierbleiben!“ rief er. Und Allan Leakwoord setzte hinzu:

„Ja, ja, die können bleiben.“

Der Chinese zuckte die Achseln und wandte sich ab. Der Radscha und Dörcksen schwiegen. Was hätten sie auch sagen sollen?

Die beiden Leakwoords verließen mit dem Chinesen die Grotte. Der Radscha und Dörcksen blieben wieder einmal allein.

„Ein Stein sitzt locker,“ sagte Mahadur Mirat da. Der Erfinder wußte zuerst nicht, was er meinte. Dann verstand er; – und nun arbeiteten sie mit vereinten Kräften daran, die Kette vollends aus der Mauer zu reißen.

Ruck auf Ruck … Hin und wieder machten sie eine Ruhepause. Dann wurde weitergearbeitet. Einen gewissen Erfolg sahen sie schon nach kurzer Zeit. Der bearbeitete Stein war schon bedeutend lockerer geworden. Noch einige Anstrengungen und mit Gepolter stürzte er heraus. Mahadur Mirat war frei, – wenn auch die Eisenstange noch um seinen Arm saß und die Kette daran hing. Aber das war nicht mehr so wichtig; hätte ihn nicht an der Flucht gehindert, wenn – auch Dörcksen frei gewesen wäre.

Mirat untersuchte genau auch des Erfinders Fesseln, die Dörcksen selbst bisher kaum beachtet hatte. Und da stellte sich heraus, daß den Kräften zweier Männer zugleich es wohl gelingen müßte, auch diese Kette aus der nicht mehr sehr festen Mauerverankerung zu reißen.

Nach zehn Minuten war auch Dörcksen los. Nun hieß es nur noch, unbehelligt von den Chinesen aus der Grotte herauszukommen. Sie suchten den Gang, durch den man sie hereingeschleppt worden waren und schlichen ihn vorsichtig entlang, der Freiheit entgegen.

„Die Leakwoords sind frei; sie werden sich längst des Flugschiffes bemächtigt haben,“ meinte der Erfinder. Doch Mahadur Mirat schüttelte den Kopf.

„Da stimmt etwas nicht. Harry Leakwoord hatte wohl von den habgierigen Priestern die „Wolke“ kaufen wollen. Worauf die ihm das Geld abnahmen und ihn in der Grotte gefangen setzten, um den Wasserdrachen nicht herausgegeben zu müssen. Drauf hat dann wahrscheinlich Allan seinen Sohn durch eine weitere Summe freigekauft. Sollten nun die Chinesen das Flugschiff unbewacht lassen, so daß es den Leakwoords gelänge, sich seiner dennoch zu bemächtigen?“

Dörcksen hob die Achseln.

„Wer weiß – aber wenn es auch wirklich so wäre, – die Art der Konstruktion der „Wolke“ ist so abweichend von der aller anderen Flugschiffe, daß sie mit ihm doch nichts anzufangen wissen würden. Wir werden ja sehen.“

Sie hatten den Ausgang erreicht. Auch hier war keiner der Chinese zu sehen. Sie konnten ungehindert hinaus. Und dort – Mirat und Dörcksen stießen zugleich einen Ruf der Überraschung aus – dort stand auf freiem Feld ganz allein das Flugschiff! Wie zur Abfahrt bereit.

Freudig eilten sie darauf zu. Hatten es fast erreicht, – da begann mit einem Mal der Propeller zu surren! Gleich drauf kam das Flugschiff in Fahrt, lief ein Stück über das Feld, erhob sich dann …

Der Radscha und Dörcksen blickten ihm verblüfft nach. Der Erfinder schüttelte den Kopf.

„Hat er die Maschine doch in Gang bekommen! Aber – das kann nur ein Zufall sein. Sie werden irgendwo abstürzen und zerschellen … Wir jedenfalls sind die „Wolke“ endgültig los.“

„Sie meinen nicht, daß die Leakwoords doch noch herausfinden, wie das Flugschiff zu lenken ist?“ fragte Mahadur Mirat.

„Nein, das ist ausgeschlossen.“

„Dann fahren wir also nun per Schiff nach New York …“

„Es wird uns nichts anderes übrigbleiben. Ein Glück, daß ich die Zeichnungen und Berechnungen zu meinem neuen Werk stets bei mir trug! Wären sie an Bord der „Wolke“ gewesen, hätte ich damit alles verloren. So aber …“

Er strich sich über die Stirn.

„Freilich, nun heißt es, von vorn anfangen. Dann aber soll es auch zur Vollendung führen!“

Schon nährten sie sich den ersten Häusern der Stadt. Sie wanderten quer hindurch, aßen etwas in einer chinesischen Garküche, gingen dann zum Hafen und hatten Glück. Ein Dampfer sollte am nächsten Morgen nach New York in See gehen. Sofort telegraphierten sie an Burne und Hella im „Globus-Hotel“, daß sie mit dem nächsten Dampfer dort eintreffen würden. Drauf gingen sie an Bord.

Sie hatten eine gemeinsame Kabine genommen. Kurz vor der Abfahrt standen sie oben auf dem Bootsdeck an der Reling, schauten hinab auf das lebhafte Treiben dieser Stadt, die ein seltsames Gemisch von chinesischem und amerikanischem Gepräge zeigte. Sie waren beide still. Beiden schien diese Abfahrt von Shanghai in einer Art schmerzlich. Einmal, weil in ihr sich ein trüber Schicksalsabschnitt für Hella abspielte; und dann, weil die „Wolke“ hier in fremde Hände geraten und – wahrscheinlich – verloren war.

Nun fuhren sie nach der „Neuen Welt“, nach Amerika. Und nicht nur wegen der Wiedervereinigung mit der Tochter und der Geliebten, – auch sonst erschien es ihnen beiden so, als beginne damit ein neuer Abschnitt in ihrem Leben.

Der Verlust seines Flugschiffes drückte den Erfinder nicht gar so arg. Er glaubte fest daran, daß die Leakwoords nie und nimmer heil damit würden landen können. Und wenn, – auch dann könnten Fremde nie in die Geheimnisse ihres Antriebs, ihre Lenkart eindringen.

Und vor allem –: Harald Dörcksen hatte ja sein neues noch viel gewaltigeres, genialeres Werk, das die „Wolke“ noch weit in den Schatten stellen sollte, sozusagen fertig in der Tasche. Die Formeln und Zeichnungen, – sie waren doch das Wichtigste; der Bau nur noch die letzte Faustarbeit. Und die – sollte unter Dörcksens Leitung sobald als möglich begonnen werden. Natürlich auch wieder auf jener Koralleninsel der Lakkadiven, wohin der Erfinder mit Hella und dem Radscha sofort zurückzukehren gedachte. Allerdings unter Beobachtung allergrößter Vorsicht. Denn jene Arbeitsstätte mußte um jeden Preis der Welt verborgen bleiben. Nur dann konnten sie hoffen, dereinst ungehindert den Flug nach Olympia anzutreten.

Der Dampfer hatte das freie Meer erreicht. Langsam versank Shanghai im Dunst. Und dann kamen die Tage der Überfahrt, der aufgezwungenen Tatenlosigkeit; aber auch – der Ruhe, die Dörcksen nach all den aufregenden Abenteuern der letzten Zeit wohltuend war, wie kaum je zuvor. Anders Mahadur Mirat. Der Radscha war von einem inneren Feuer beseelt, das ihn unaufhaltsam vorwärts trieb, – New York und der Geliebten entgegen.

Aber damit kam auch eine neue, bedauernswerte Nachricht. Als Mirat und Dörcksen endlich im „Globus-Hotel“ in New York anlangten, kam ihnen Hella schon entgegen. Nacheinander schloß sie den Vater und den Verlobten stürmisch in die Arme. Und dann war bei einem ungestörten Beisammensein des Erzählens und Fragens kein Ende.

Hellas Neuigkeit beeinträchtigte die Wiedersehensfreude. Stuart Burne war seit Tagen verschwunden. Eines Morgens war er nicht mehr im Hotel gewesen. Angestellte hatten ihr erzählt, er wäre nachts in dem Auto eines Fremden fortgefahren und bislang nicht zurückkommen.

Sie hatte sofort die Polizei benachrichtigt, der Burne von seiner früheren Tätigkeit her bekannt war. Doch vergebens; er war und blieb verschwunden. Endlich – und das war erst am Tage vor der Ankunft Dörcksens und Mahadur Mirats – war sie auf den Gedanken gekommen, auch dies Verschwinden sei vielleicht auf das Betreiben der Mafia zurückzuführen, von der sie durch Burne selbst wußte, daß sie in Amerika stark vertreten war.

Sogleich teilte sie der Polizei diesen Gedanken mit. Und das richtig gewesen zu sein. Denn die Mafia und ihre Bekämpfung bildete für die New Yorker Polizei ein besonderes Kapitel, das einem italienischen Spezialbeamten oblag.

Nun würden also neben den bisherigen noch besondere Nachforschungen in dieser Richtung unternommen werden. Was Hella einigermaßen wenigstens beruhigte. Vermehrten sich doch die Möglichkeiten, den Verbleib des Verschwundenen zu ermitteln. Ob er überhaupt noch am Leben war, das stand freilich sehr in Frage. Seit seinem geheimnisvollen Abfahrt mitten in der Nacht waren nun immerhin schon acht Tage verflossen.

Hella nahm aufrichtig Anteil an dem Schicksal des Detektivs. War er auch ehemals ihr Feind, so hatte er doch in den letzten Wochen sich uneigennützig für sie eingesetzt. Ganz besonders ersah sie das aus den Schilderungen ihres Vaters und des Radschas, wie sie Burne auf der Insel Taipali gefunden hatten.

So blieb den dreien nun einstweilen nichts anderes übrigen, als den Gang der Dinge ruhig im „Globus-Hotel“ abzuwarten und ihre Abreise, so sehr auch Dörcksen sie herbeisehnte, noch hinauszuschieben.

Aber schon am Abend des nächsten Tages trat ein Ereignis ein, das die Gemüter der drei eine Zeitlang vollkommen gefangen nahm. Sie saßen beisammen im Lunch-Room des Hotels. Die Musik spielte gerade das „Typerary“, als mit großem Hallo die Tür des Saales aufgerissen wurde und eine erstaunlich große Anzahl Damen hereinströmte, die alle im – Badekostüm waren. Dahinter wurde bereits uniformierte Beamte sichtbar. In der Mitte aber all der ungewöhnlich kostümierten Weiblichkeit befand sich ein Mann.

Kaum war Dörcksen seiner ansichtig geworden, als er, der sonst so ruhige, jedem Aufsehen abholde Mensch, mit einem Freudenschrei aufsprang und auf den Fremden zueilte. Und dann umarmten sich die beiden Männer vor dem staunenden Publikum, den Badedamen und der Polizei, – die sich in Amerika sonst wirklich nicht so leicht verblüffen läßt.

 

3. Kapitel

Kalter Schweiß trat Burne auf die Stirn. Die letzte Zeitspanne zerrte arg an seinen Nerven. Noch fünf Minuten, dann mußte das Gewicht fallen, dann hatte der Zeiger den Hebel erreicht, der die Haltevorrichtung löste.

Noch fünf Minuten.

Und die Uhr tickte.

Ewigkeiten? Schien es ihm doch sogar, als ticke die Uhr jetzt langsamer, um nur ja seine Qual noch länger hinzuziehen.

Noch vier Minuten.

Noch drei Minuten …

Burne lauschte; zählte … Nein, sie tickte wirklich langsamer! Und jetzt, – jetzt, – wahrhaftig, jetzt blieb sie stehen! War das Absicht? Zufall? Einerlei; die Tatsache blieb bestehen, daß der Zeiger nicht mehr den Hebel erreichen, daß das Eisengewicht nicht auf des Detektivs Kopf herabsausen konnte! Er war – vorläufig wenigstens – dem Verderben entronnen!

Vorläufig – denn vermutlich würden die Mafiosi demnächst nach ihm sehen kommen und dann – das von der Uhr unterbrochene Werk vollenden. Wenn es ihm nur gelänge, vorher freizukommen …

Er versuchte es krampfhaft. Gewiß, die Stricke mochten sich wohl auch bei der nur kleinen Hin- und Herbewegung, die ihm die Fesselung gestattete, im Laufe der Zeit an der Kante des Eisenständers der schrecklichen Uhr durchscheuern lassen. Aber ob die Verbrecher so lange ausbleiben würden?

Doch Burne grübelte nicht weiter darüber nach. Er arbeitete. Hin und her … hin und her …

Dabei immer dieser scharfe Ton, den die Eisenkante jedesmal an den Stricken verursachte! Hoffnung, Hoffnung! Stundenlang ging das so. Doch immer langsamer, immer matter wurden des Detektivs Bewegungen. Die Entbehrungen, die Aufregungen der letzten Tage übten ihre Wirkung aus. Ganz dunkel wurde es vor Burnes Augen. Und dann – hing er nur noch in den Stricken. Er hatte das Bewußtsein verloren.

Und weitere Stunden hing der Ärmste da. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Banditen kamen nicht zurück. Sie glaubten ihr Mordwerk von der Uhr vollbracht. Nach Stunden erwachte der Detektiv gepeinigt von einem wütenden Hungergefühl. Der zähe Mann mit der ungeheuren Energie war dankbar, aus der Ohnmacht geweckt zu sein. Konnte er doch nun wieder weiter die Stricke an der Eisenkante scheuern. Vielleicht …

Kaum eine Stunde hielt Burne es jetzt aus, bis ihn die Kräfte wieder verließen. Doch klug geworden, machte er vorher ein Pause, um nicht nochmals das Bewußtsein zu verlieren. Er ruhte etwa eine Viertelstunde. Begann dann erneut. So hielt er länger durch. Doch dann warf ihn ein neuer Ohnmachtsanfall in die Abgründe des Krampfschlafes.

Burne wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war. Jede Zeitrechnung war ihm abhanden gekommen. War es Tag, oder Nacht? Er wußte es nicht. Aber das ließ ihn kalt, er arbeitete rein mechanisch an seiner Befreiung.

Und dann zeigte ihm plötzlich ein kleiner Ruck, daß einer der Stricke gerissen war! Jetzt wurde er nur noch von einem gehalten. Unter Aufbietung all seiner Kräfte warf er sich vornüber … Ein leiser Knall, – Burne stürzte der Länge nach hin. Er war frei!

Doch dem Knall des Reißens des durchgescheuerten Strickes folgte ein zweiter, heftigerer, dumpfer Schlag. Das Gewicht! Durch den gewaltsamen Ruck, mit dem Burne den zweiten Strick zerriß, hatte sich oben der Haltehebel gelöst, das schwere Eisengewicht mit der gefährlichen Spitze war herabgesaust und hatte sich dicht vor Burnes Füßen in den Boden gebohrt! Nur Sekunden früher und der Detektiv wäre zerschmettert worden.

Burne hatte sich halb aufgerichtet, blickte fast gleichgültig auf die schwere Kugel mit der eisernen Spitze, die sich in den Boden gebohrt hatte und dachte: Gerettet –!

Da – klang oben im Haus eine Glocke, schrill, anhaltend. Eine lange Weile.

Jetzt war Burne wieder ganz obenauf. Das herabstürzende Gewicht hatte wohl den Klingelalarm in Tätigkeit gesetzt. Und nun – würden die Banditen kommen. Nun mußte er …

Da waren sie schon. Schritte auf der Treppe. Zwei, drei Personen schienen es zu sein, die da herabkamen. Burne drückte sich eng neben der Tür an die Wand. Jetzt wurde diese geöffnet. Der Kopf eines Mannes ward sichtbar. Er stutzte, als er den vermeintlich toten Körper des Detektivs unter dem Eisenklotz nicht sah … riß die Tür ganz auf … stürmte herein. Hinter ihm drängten zwei andere nach.

Da schoß Burne ohne Besinnung. Zwei-, dreimal. Zwei der Banditen streckte er zu Boden. Lief dann an dem Dritten vorbei die Treppe empor … Der hinter ihm her, glaubte vielleicht, Burne habe keine Kugel mehr im Revolver. Doch da hatte er sich getäuscht. Burne schoß im Laufen noch einmal. Fehlte aber leider.

Was war dies für ein Haus? Ein Verbrecherschlupfwinkel? Unten in den Kellern bestimmt. Aber oben –? Der Detektiv fand die Kellertür, die zum Treppenhaus führte, offen; hörte auch Stimmen oben. Aber der dritte Bandit folgte ihm weiter.

Da war der Ausgang, – die Straße. Der Verfolger rief etwas. Da stürzten sich aus dem Innern des Hauses her zwei neue Gegner auf Burne, um ihn am Verlassen des Hauses zu hindern. Und wieder schoß er. Streckte diese Beiden nieder. Hatte schon die Straße erreicht … Da traf ihn die Kugel …

Noch konnte der Detektiv laufen, trotz der stechenden Schmerzen in der Seite. Rannte um die nächste Ecke. Da war ein belebter Platz. Und hier brach Burne zusammen. Rote Flammen tanzten vor seinen Augen. Irgend ein Höllenschmerz brannte in ihm. Als Passanten ihn aufhoben, hatte er schon wieder das Bewußtsein verloren. Und viel Blut. Die Schüsse hatte niemand gehört; oder, wenn sie doch dieser oder jener gehört hatte, dann hatte der nicht weiter darauf geachtet, so daß jetzt niemand sagen konnte, woher sie gekommen waren.

Burne wurde in ein Krankenhaus geschafft. Die Verwundung erwies sich als ernst, doch nicht lebensgefährlich. Sie war indessen doch schwer genug, daß der Detektiv tagelang nicht vernehmungsfähig war. Wieder bei Bewußtsein erwachte sofort sein Interesse an der Außenwelt, an seinem eigenen Fall und vor allem an der Lage Hella Dörcksens.

Das Bett hüten mußte er einstweilen noch. Aber er schickte sofort einen Boten mit einem Brief an Hella zum „Globus-Hotel“. Die Antwort, die er bekam, verwirrte ihn. Er wußte nicht, was er dazu sagen, was er davon halten sollte. Der Bote kam nämlich mit dem Brief zurück und bestellte, im „Globus-Hotel“ habe man ihm gesagt, Herr Harald Dörcksen und Fräulein Hella Dörcksen seien tags zuvor von der Polizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden!

 

4. Kapitel

Als Allan Leakwoord mit seinem Sohn Harry die Grotte der Drachenbrüder in Shanghai verließ, war er sehr schlechter Stimmung.

„Tölpel, der du bist!“ schalt er. „Erst bietest du dem Priesterpack eine so große Summe für das Flugschiff, das wir bei einiger Schlauheit auch so uns hätten aneignen können; und dann läßt du dir auch noch das Geld abnehmen, ohne die „Wolke“ zu bekommen; läßt dich auch obendrein noch gefangen setzen, so daß ich dem habgierigen Gesindel wiederum ein Lösegeld für dich geben mußte! Schämen solltest du dich!“

Harry war wortlos neben dem Alten hergegangen, hatte sich nur hin und wieder umgesehen. Die Chinesen schienen sie jetzt unbehelligt lassen zu wollen. Jedenfalls war keiner von ihnen mehr zu erblicken.

Plötzlich ergriff er seines Vaters Arm. Wies mit der anderen Hand geradeaus.

„Statt mich dauernd zu schelten, sieh, was dort steht!“

Dort stand – die „Wolke“. Ganz allein. Allan Leakwoord blieb überrascht stehen. Spähte mißtrauisch umher … Aber es blieb wahr. Das Flugschiff war verlassen, kein einziger Chinese in der Nähe. Das Feld, das den Zugang zu der Grotte barg, schien wie ausgestorben.

„Was bedeutet das?“ murmelte Allan Leakwoord. „Lassen die Gelben den Wasserdrachen im Stich? Oder – soll das eine neue Falle sein? Jedenfalls ist Vorsicht am Platze.“

Er zog seinen Revolver, hielt ihn schußbereit, und so gingen sie langsam erst einmal um die „Wolke“ herum. Doch nichts Auffälliges war zu entdecken. Da wagten sie sich denn langsam näher … Nichts regte sich. Harry Leakwoord öffnete die Tür des Flugschiffes. Auch innen – kein Mensch, kein Laut.

Er stieg ein. Allan folgte ihm.

„So, Vater,“ sagte Harry dann, „das Flugschiffes ist unser. Nun sollst du sehen, daß ich doch nicht so ganz unbrauchbar bin!“

Und er machte sich gleich daran, alle die vielen Hebel in verschiedenen Stellungen zueinander auszuprobieren. Er war in Flugzeugsachen sehr bewandert; aber diese Maschine gab ihm doch Rätsel auf. Doch unentwegt probierte er weiter.

„Eigentlich ein verdammt riskantes Ding, sich so einer unbekannten Maschine anzuvertrauen,“ murmelte Allan Leakwoord. Harry hob die Achseln, während er sich in seiner Beschäftigung keineswegs stören ließ:

„Ist nicht so schlimm. Es ist ja kaum anzunehmen, daß ich das Ding da in Gang kriege. Hatte mir das leichter vorgestellt. Aber –“

Weiter kam er nicht. Denn bei dem letzten Wort hatte er einen Hebel umgeschaltet und – plötzlich schoß das Flugschiff vorwärts, – fuhr mit großer Geschwindigkeit über das Feld! Mehr aus Schreck, als absichtlich hatte da Harry einen anderen Hebel ergriffen und zurückgezogen und – das Flugschiff hob sich in die Lüfte!

Im Augenblick war aller Mut der beiden gewissenlosen Abenteurer verflogen. Teufel, in einer Flugmaschine, deren Handhabung man nicht kannte, durch die Luft zu sausen, war auch wirklich keine Kleinigkeit! Und die Leakwoords waren, wie alle ihres Schlages, nur so lange „tapfer“, wenn es sich um Leben und Sicherheit anderer handelte. Sobald es ums eigene Leben ging, war’s damit aus.

Allan Leakwoord stand bleich und wortlos da und starrte zu Harry hinüber, der ebenso bleich und wortlos all die Rädchen und Hebel anstarrte, ohne auch nur noch einmal einen zu berühren zu wagen. Erst nach geraumer Weile fragte Allan mit heiserer Stimme:

„Weißt du nun, wie das Teufelsbiest regiert wird?“

Harry hob die Achseln und seine Stimme klang nicht minder heiser, als er entgegnete:

„Die Vorrichtung wie man das Ding in Gang bringt, kenne ich nun; auch das Höhensteuer; aber sonst …“

Er brach ab. Starrte wieder die Hebel an. Innerlich aber zitterte er, bebte für sein erbärmliches Leben. Und Allan Leakwoord ging es nicht anders. Da stand nun das saubere Paar. Keiner sprach mehr ein Wort. Und doch sagte sich Harry, daß er wohl oder übel die Funktionen der einzelnen Schalter weiter ausprobieren müsse, wenn sie nicht ewig geradeaus fliegen wollten.

Geradeaus … das machte ihm ganz besonders Sorge. In dem Flugschiff war nichts zu entdecken, was auch nur von fern einem Steuerrad geähnelt hätte; weder einem solchen von Schiffen, noch einem Autolenkrad. Aber irgend eine Vorrichtung zum Steuern mußte doch vorhanden sein! Wenn er nur gewußt hätte, welche! Und wenn er nur gewagt hätte, weiter zu probieren!

Der Höhenmesser … Harry warf einen Blick darauf. Achthundert Meter zeigte er. Aber – er stieg! Langsam, doch stetig. Wie sollte das enden?! Eine wilde Verzweiflung überkam den jüngeren Leakwoord.

„Mag es denn kommen, wie es wolle!“ rief er und packte die nächste Schaltstange, zog sie vorsichtig nach links … Das Flugschiff beschrieb eine elegante Kurve. Aus Schreck über diese unverhoffte Seitwärtsbewegung hatte Harry den Hebel nach rechts herumgedrückt. Sofort erfolgte eine ebenso schwungvolle Rechtsdrehung des Flugschiffes.

„Die Steuerung! Vater, ich habe die Steuerung entdeckt!“ rief er. Allan kam näher heran. Ein Hoffnungsstrahl –? Immerhin, nun wußten sie schon mehr. Antrieb, Höhen- und Seitensteuer. Fehlten noch Tiefensteuer und Motordrosselung zum Landen. Doch jetzt hatten die beiden Abenteurer neuen Mut bekommen. Nun wagten sie es, weiter zu probieren.

Und es gelang! Bald hatte Harry das Flugschiff in seiner Gewalt, – bis auf die Drosselung des Motors. Die fand er nicht. In Fahrt mußten sie also einstweilen noch bleiben. Waren aber doch wenigstens nicht mehr der Willkür dieser fremden Maschine ausgesetzt.

Es war fast ein ganzer Sieg. Aber sie sollten sich seiner nicht lange freuen.

Beide, Vater und Sohn, standen nebeneinander am Schaltbrett, als plötzlich eine Stimme hinter ihnen erklang! Sie fuhren herum. Da stand wie aus dem Boden gewachsen ein langer, dürrer Chinese! Der mochte sich wohl so lange irgendwo verborgen gehalten haben. Sehr mager war er. Seine Augen brannten flackernd in satanischem Feuer. Er hielt einem Arm drohend gegen die Leakwoords ausgestreckt.

„Weiße Teufel!“ rief er schrill. „Ihr müßt sterben! Haben meine abtrünnigen Brüder euch für Geld den Wasserdrachen überlassen, so will ich dies Vergehen wieder gutmachen, indem ich ihn und euch vernichte!“

Damit hob er die andere Hand, in der er ein Beil hielt, und schwang es gegen die Seitenwand des Flugschiffes. Doch schon hatte sich Allan Leakwoord auf den Rasenden geworfen. Indessen, des alten Abenteurers Kraft reichte nicht mehr aus. Er ward von dem Chinesen beiseite geschleudert. Doch der selbst stolperte dabei über eine Leiste am Boden, – fiel nach hinten, schlug schwer gegen die Tür der „Wolke“. Die – sprang von dem heftigen Anprall auf und der Alte stürzte in die grausige Tiefe.

Doch nicht genug damit. Auch das Flugschiff kippte, durch den Sturz des Chinesen zu plötzlich auf einer Seite erleichtert, rutschte seitlich weg, vielleicht hundert Meter weit; fing sich im Wind; pendelte hin und her; stürzte wieder. – Und so fort, wie ein Blatt im Wind.

Harry und Allan Leakwoord klammerten sich krampfhaft fest, wurden dennoch hin und her geschleudert.

„Wir stürzen ins Meer!“ ächzte Harry. Aber – wenn es das noch gewesen wäre! Bei einer neuen Wendung des steuerlosen Flugschiffes erblickten die Beiden gleichzeitig unten eine Insel! Ein kahles, scheinbar felsiges Eiland, und darauf stürzten sie zu!

Das alles ging so schnell, daß sie gar nicht recht zum Überlegen kamen. Nur ein Gedanke blitzte noch in ihnen auf: wir zerschellen!

Doch wenige Meter über der Insel hatte sich das Flugschiff nochmals im Wind gefangen; aufgerichtet sekundenlang noch, – um dann wie ein Stein herabzuschlagen. Doch es fiel nicht auf Felsen, sondern auf eine hohe Düne dicht am Wasser. Bohrte sich tief in den Sand ein. Lag dann still.

Geschunden, doch nicht ernstlich verletzt, krochen die beiden Abenteurer heraus. Da plötzlich – ein leiser Knall. Eine blaue Stichflamme leckte aus dem Innern der „Wolke“. Gleich darauf stand das ganze Flugschiff in Flammen. Und dann – eine markerschütternde Detonation, eine riesige Feuersäule … umherfliegende Trümmer …

Die Munition, die Dörcksen und der Radscha mitgeführt hatten, war explodiert, hatte das Flugschiff völlig zerrissen. Wie durch ein Wunder waren Harry und Allan Leakwoord, geschützt hinter einer Sanddüne, unverletzt geblieben.

Gerettet waren sie. Doch – das Eiland war klein und völlig kahl. Außer dieser einen Sanddüne am Strand nur Felsen. Sie besichtigten die Insel, fanden eine einzige Höhle. Die mochte ihnen einigermaßen Schutz gegen die Witterung gewähren.

Harry kroch als erster hinein. Die Öffnung war nur niedrig; innen wölbte sich die Wandung über Manneshöhe. Nur fast dunkel war sie infolge des engen Zuganges. Allan Leakwoord probierte seine Taschenlampe. Sie brannte nicht mehr. War wohl bei dem Aufschlag beschädigt worden.

Auch Harry hatte eine bei sich. Und die – war noch intakt. Er ließ den Lichtstrahl aufflammen und – ein Schrei aus zwei Kehlen hallte von den Steinwänden wider. Zwei Augenpaare starrten geblendet auf das Wunderbare.

Glanz, Blitzen, Funkeln überall in der Höhle! Diamanten! Diamanten, wohin sie nur blickten. Millionen und aber Millionen lagen hier auf der kleinen, nie beachteten Felseninsel!

Schwer atmend standen die Beiden da. Die Fäuste geballt, die Augen gierig auf das edle Gestein gerichtet.

„Harry,“ keuchte Allan, „jetzt haben wir’s erreicht! Unermeßliche Reichtümer liegen da. Mit diesen Millionen werden wir die Herren der Erde sein!“

Und er kniete nieder und begann, seine Taschen mit Diamanten zu füllen. Mit großen und kleinen, wie es gerade traf. Dann schüttete er sie wieder aus. Nahm nur die großen. Das war lohnender.

Harry tat es ihm gleich. So wühlten die beiden von Habgier und Machtgier Verblendeten da in den toten Schätzen. Fühlten nichts, dachten nichts anderes, als: Reichtum, unermeßlicher Reichtum. Eilten zum Strand, zählten, sortierten die Diamanten, ließen sie in der Sonne funkeln …

Eilten zurück in die Höhle, holten neue. Stundenlang … bis sie sich plötzlich mit einem besonderen Ausdruck im Gesicht aufrichteten, einander ansahen …

„Hast du etwas zu essen, Vater?“

„Nein, wie sollte ich … du?“

Harry schüttelte nur einmal kurz den Kopf, erwiderte nichts. Beide schwiegen sie, nun von der ungeheuren Erkenntnis befallen, daß sie hier auf der Felseninsel vielleicht würden verhungern müssen. Verhungern inmitten des Diamantenschatzes!

Und sie ließen die funkelnden Kiesel liegen und gingen, etwas Eßbares suchen. Dachten an das Flugschiff und seine Konservenvorräte … wandten sich zu den Trümmern. Da lagen verstreut Blechbüchsen; fast alle unbeschädigt! Mindestens fünfzig Stück.

Sie öffneten nacheinander vier, aßen sie leer. Dann wandten sie sich wieder ihrem Diamantenschatz zu, zählten, sortierten von neuem. Gegen Abend aber sahen sie sich an, wortlos dann den Horizont. Erst als es ganz dunkel geworden war, sagte Harry:

„Und wenn kein Schiff kommt –?“

Allan erwiderte nichts. Sie legten sich in der Höhle schlafen. Aber sie schliefen schlecht. Der Boden war hart und auch die Diamanten drückten. –

Am Morgen standen sie früh auf. Gingen nach dem Trümmerplatz des Flugschiffes. Aßen von den Konserven. Die wertvollen Steine sahen sie nicht mehr an.

Sahen nur immer in die Ferne, zum Horizont, über die weite Wasserfläche. Kein Segel … keine Rauchfahne … Mittags aßen sie wieder von den Konserven. Jeder zwei Büchsen. Allan sagte:

„Wir müssen uns einschränken. Die Vorräte gehen zu schnell fort.“

Seitdem nahmen sie zu jeder Mahlzeit je eine Büchse. Aber bereits nach wenigen Tagen war ihnen nur eine einzige verblieben; die aßen sie gemeinsam am Morgen. Mittags sahen sie einander an; dann aufs Meer. Keiner sagte ein Wort.

Den Rest des Tages hungerten sie. Am nächsten Morgen wurde Allan auf Seevögel aufmerksam, die eine niedrige Felskuppe umflogen. Sie stiegen dort hin, fanden ein Nest mit drei Eiern. Die nahmen sie, tranken jeder eins roh. Doch die Eier waren bereits angebrütet und der Ekel machte es ihnen unmöglich, das dritte zu genießen.

Und dann kam noch ein schlimmer Gast zu ihnen. Der Durst. Die Konserven hatten reichlich Wasser enthalten. Ihm folgte der Hunger. Der schmerzte zwei, drei Tage. Dann nicht mehr. Dann war es nur noch Schwäche, die er hervorrief. Aber der Durst … der peitschte das bißchen Leben noch auf bis zum letzten.

Wie Tiere mit blutunterlaufenen Augen taumelten sie umher. Wasser, Wasser …! Sie fanden keins, nur ringsum das große, unerbittliche Meer! Allan Leakwoord verschwand wieder in der Höhle bei „seinen“ Diamanten. Zählte, streichelte sie. Kicherte, nickte mit dem Kopf. Zählte immer wieder. Und als Harry kam, raffte er sie zusammen, richtete plötzlich den Revolver gegen den Sohn.

Er hätte wohl abgedrückt, wenn ihn nicht die Kraft verlassen hätte. Die Schußwaffe entfiel seiner Hand. Da legte er sich auf die Diamanten wie ein Hund auf den Knochen, den man ihm nehmen will; knurrte auch und blickte Harry an mit haßerfüllten Augen, in denen bereits der Wahnsinn flackerte.

Noch einmal sprang er auf, lief zum Strand. Brüllte:

„Wasser, – Wasser!“

Mit heiserer, trockener Kehle. Warf sich am Ufer nieder; trank, trank in langen Zügen von der salzigen Meerflut. Richtete sich dann wieder auf. Taumelte, schlug hin, blieb liegen … wälzte sich stöhnend, ächzend. Fieber hatte ihn gepackt.

Aber als sich der Abend senkte, schlich Harry mit letzter Kraft zu den Trümmern des Flugschiffes. Suchte alles zusammen, was verbrennbar, das bei der Explosion nicht verkohlt war. Schleppte es auf das Felsplateau; zündete den Haufen an, saß apathisch daneben, dachte nichts, hoffte nichts …

Und als der neue Morgen heraufstieg, hielt unweit des Ufers ein Schiff. Ein Boot wurde ausgesetzt, kam auf die Insel zu. Zwei Mann darin, englische Matrosen. Harry Leakwoord fanden sie neben dem Aschenhaufen sitzen. Er sah ihnen mit blödem Lächeln entgegen. Antwortete nichts, als sie ihn ansprachen. Lächelte nur.

Auch Allan fanden sie. Er lag am Strand. Doch als sie ihn berührten, stellten sie fest, daß er tot war. Sie senkten ihn ins Meer. Harry aber nahmen sie mit an Bord ihres Schiffes. Die Diamanten fanden sie nicht, und da Harry kein Wort sprach, erhielten sie auch nicht Kenntnis von der Höhle mit dem Millionenschatz. Der blieb allein und wertlos auf der öden Felseninsel zurück …

 

5. Kapitel

In flotter Fahrt durchschnitt der „Rule“ die Wogen des Ozeans. Der Dampfer war von China gekommen, hatte nachts das Feuer auf der Felseninsel gesichtet und am Morgen Harry Leakwoord gerettet.

Gerettet –? Apathisch lag der Abenteurer in der Krankenkabine. Die Matrosen des englischen Frachtschiffes pflegten ihn gut. Und langsam, langsam erholte sich Harry. Auch sein Geist wurde nach und nach reger. Er fing an zu sprechen. Fragte, wie er hierhergekommen sei. Man erzählte es ihm. Doch sein Gedächtnis war wie mit dichten Schleiern verhangen. Er sah nichts von der Vergangenheit.

Das heißt, er wußte wohl, wer er war. Wußte auch sonst alles, bis auf jene Tage auf der Insel. Die waren ihm völlig entschwunden.

Erst als der Dampfer in das Rote Meer einlief, kam er zum ersten Mal an Deck. Atmete tief die Seeluft ein, die ihm trotz der furchtbaren Hitze, die hier herrschte, erquickend schien. Doch das war ein Irrtum. Sie wirkte verderblich auf seinen geschwächten Körper, warf ihn von neuem aufs Krankenlager.

Da wälzte er sich nun in Fieberdelirien, phantasierte von Diamanten und Flugschiffen. Der Schiffsarzt schüttelte bedenklich den Kopf, hatte kaum noch Hoffnung, den Patienten am Leben zu halten. Doch Harry Leakwoord hatte eine äußerst zähe Natur. Als das mildere Klima des Mittelländischen Meeres das Schiff umwehte, konnte er bereits wieder auf Deck spazieren gehen. Seine Kleider hingen ihm in Fetzen vom Körper. Doch da er noch etwas Geld bei sich hatte, überließ ihm einer der Matrosen seinen Sonntagsanzug.

Harry war nun gerade dabei, in der kleinen Kabine, die man ihm angewiesen hatte, die Kleider zu wechseln; – da fiel etwas zur Erde, rollte ein Stück, blieb in einer dunklen Ecke liegen. Ein abgerissener Knopf, dachte er.

Doch vom Boden blinkte es. Harry sah hin, hob das Etwas auf … Es war ein Diamant!

Harry Leakwoord stand wie erstarrt, drehte und wendete den Stein in der Hand. Konnte sich nicht erklären, wie er in seine Taschen gekommen war. Dann durchsuchte er hastig jene alten Kleider, ob sich vielleicht noch ein Diamant in den Falten verborgen hatte. Wiederholte diesen Vorgang wieder und wieder. Aber nein, dieser eine blieb der einzige.

Doch wie war der wertvolle Stein in seine Taschen gekommen? Leakwoord saß in seiner Kabine, ließ ab und zu einen Lichtstrahl aus dem Edelstein in seiner Faust hervorbrechen und zermarterte sich das Hirn. Stunde um Stunde. Vergeblich. Sein Gedächtnis über die Tage auf der Insel war durch die schweren Fieberanfälle wie ausgelöscht.

Der Dampfer, auf dem er sich jetzt befand, war für London bestimmt, sollte jedoch vorher noch einmal in Neapel Station machen. Harry beschloß, dort schon von Bord zu gehen. Der Kapitän hatte dagegen nichts einzuwenden.

Neapel kam. Harry Leakwoord verabschiedete sich herzlich von allen, ließ seine Uhr dem einen, die Kette dem anderen der beiden Matrosen, die ihn von der Insel abgeholt hatten, und ging an Land.

Dort war nun das erste, was er zu unternehmen gedachte, der Verkauf des Diamanten, der immerhin ein ziemliches Sümmchen wert sein mußte. Aber da zeigte es sich, daß der Verkauf seine Schwierigkeiten hatte. Die großen Juweliere betrachteten den Mann in Matrosenkleidung, der ihnen einen Diamanten zum Kauf anbieten kam, sofort mißtrauisch und – lehnten den Erwerb des Steines ab.

Aber Harry Leakwoord besaß kein Geld mehr. So sah er sich genötigt, den kostbaren Stein an einen zweifelhaften Händler in der Hafengegend zu verkaufen, der ihm für den großen Diamanten einen Spottpreis zahlte. Allerdings war die Geldsumme dennoch ausreichend, um einige Monate davon zu leben. Aber – wollte das Harry Leakwoord? Konnte sein Wesen sich damit zufrieden geben? Das entsprach nicht einem Leakwoord.

Nein, angelegt mußte das Geld werden, arbeiten, sich vermehren. Und das so schnell, als nur irgend möglich. So sparte er denn also nicht. Kleidete sich von oben bis unten neu ein, kaufte noch Koffer und allerlei sonstiges und reiste ab.

Im Hotel, in dem er abgestiegen war, gab er an, nach Sizilien. Doch der Zug, mit dem er dann die Stadt verließ, ging nicht nach Süden, sondern nach Norden …

Den Harry Leakwoord von ehemals würde man jetzt in ihm schwerlich wiedererkannt haben. Er hatte den Bart, der ihm auf der Insel gewachsen war, stehen gelassen. Und wer nun das hagere, stets ernste Gesicht mit der Hornbrille und dem schwarzen Kinn- und Schnurrbart mit dem Bild des glattrasierten Harry Leakwoord von früher verglichen haben würde, der wäre wohl nie darauf gekommen, daß beide ein und dasselbe waren.

Dieser Umstand sollte für den Abenteurer schneller, als er ahnte, eine bedeutsame Rolle spielen. Die Ereignisse, die eine Begegnung in einer anderen Stadt Italiens, nicht eigentlich Italiens, doch nahe dabei, im Gefolge hatten, zeigten wieder einmal, wie eigentümlich der Zufall oft spielt und wie geheimnisvoll die Fäden aller Menschenschicksale oft miteinander verbunden sind.

 

6. Kapitel

Nacht … Fern zeichneten sich im Mondlicht die Umrisse der Stadt Agra. Hin und wieder schrie ein Tier, Nachtfalter schwirrten. Die Luft war erfüllt von seltsamen Geräuschen, anders als am Tage und auffallender, als da. Nacht in Indien …

Die Umgebung der Stadt hatte viele große Parks, die bald in Waldcharakter übergingen. In dieser üppigen Tropenwelt wuchs ja der Wald in die Städte hinein.

Auch in die Häuser. Wehrte man ihnen nicht, überwucherten Schlinggewächse und Kletterpflanzen kleinere Häuser bald ganz. So ging das auch mit dem im europäischen Villenstil gebauten Holzhaus, das einsam und schlafend am Rande eines wenig benutzten Weges lag.

Schlafend –? Durch ein paar Ritzen in den Fensterläden schimmerte Licht. Drang nicht auch Stimmengemurmel heraus? Dort drinnen schlief man wohl nicht … Und draußen schlichen zwei, drei dunkle Gestalten lautlos ums Haus. Spähten hier, lauschten da … Ja, Licht … unzweifelhaft. Ja, und Stimmen auch.

Dann – flog mit einem Krach die leichte Tür des Holzhäuschens auf. Das Licht flutete heraus, blendete die draußen für Sekunden. Und der grelle Schein beleuchtete im Innern des Hauses eine seltsame Szene. Männer, Frauen, Kinder, – Weiße und Farbige durcheinander, saßen und knieten um einen Armsessel, der auf einem kleinen Podest stand. Auf dem Armsessel aber saß ein Mann, ein bärtiger, braunhäutiger Mensch, die Augen in Verzückung nach oben gerichtet. Und sprach … Auf seiner Brust leuchtete weiß ein sechszackiger Stern aus Elfenbein …

Nur eine Sekunde Zögern der Eindringlinge. Eine Sekunde nur; aber sie sollte ihnen zum Verhängnis werden. Denn plötzlich – flog ihnen feiner Sand in die Augen. Zugleich erlosch alles Licht … Lautes Fluchen … tappen …

Als die drei endlich wieder soweit waren, daß sie sehen konnten, war nichts mehr von dem eben Erblickten vorhanden. Sie standen in einem völlig kahlen Blockhaus. So ansprechend es von außen aussah, so unwohnlich erschien es innen. Wie ein Spuk war alles verschwunden, was sie eben noch geschaut. In kaum zwei Minuten.

„Verdammt, wieder entwischt! Die schöne Belohnung! Und wir waren so nahe dabei …“ schimpfte der eine der drei. Es waren Kriminalbeamte der englischen Polizei.

Solche und ähnliche Vorgänge spielten sich jetzt häufig ab. Die Anhänger der Wolkenkönigin wurden verfolgt, gehetzt, wie nur irgendwann Menschen gehetzt worden waren. Ausrufe, die Belohnung für die Ergreifung von Anhängern des neuen Bundes aussetzen, waren an der Tagesordnung. Naturgemäß gab es neben den Polizeiorganen, deren Amt das war, noch genug Gewissenlose, die um des Geldes willen Spitzel zu spielen bereit waren. Aber der Erfolg –?

Einen regelrechten Versammlungsort hatte die neue „Sekte“ nie. Sie kamen zusammen in kleinem Privatkreis in aller Heimlichkeit, geführt stets von einem „Auserwählten“, der den sechszackigen Stern besaß. Aspasia, die „Göttin über den Wolken“, – war sie Menschwesen oder wirklich eine Gottheit –?

Von ihr erzählten die Auserwählten der Gemeinde. Von ihr und ihren Statthaltern: Hella Dörcksen und Mahadur Mirat. Ein ganzes Legendennetz hatte sich rasch um die beiden gebildet. Denn sie selbst – waren verschwunden. Niemand wußte, wohin. Dennoch war es, als weilten sie stets unter ihnen. Ihr Geist war es, der Geist Olympias, des Gefildes der Seligen, der wirkte.

Scharf war man hinter der neuen Bewegung her, die überall auftauchte, sich auf unerklärliche Art ausbreitete, – und doch nie zu fassen war. Besonders blühte sie in Indien, ihrem Entstehungsgebiet. England, dessen Machtstellung in diesem alten Kulturland längst nur noch scheinbar gefestigt war, zitterte. Daher die maßlose Hetze, – die indessen so gut wie keinen Erfolg zeigte. Wurde mal ein Anhänger der Olympiagemeinde ergriffen, ließ der sich auch durch Androhung schwerster Strafen nicht dazu bewegen, auch nur das Geringste zu verraten.

Aber nicht nur in Indien, – überall auf der Erde sproß die Bewegung hervor. Kriegsgegnerschaft war stets ihr Hauptmerkmal. Herrschaft der Liebe ihr erstes Gebot. Und überall wurde sie verfolgt, gehetzt, geschmäht – von den augenblicklichen Machthabern der Staaten und den Kriegsinteressenten. In Frankreich und Deutschland hieß es, die neue Geisteswelle von Osten her mache gemeinsame Sache mit der „Liga für Menschenrechte“, in England und Amerika mit der „Fabian Society“ und den Quäkern. Genaues wußte niemand. Aber überall Hetze und Anfeindung. Doch nur seitens der Egoisten und Geschäftemacher. Die wirklich ehrlich das Gute wollten, die wahrhaft Edlen und Geistigen, – sie schwiegen; denn offen sich für die neue Sache zu erklären, war noch zu gefährlich. Alles aber blickte gespannt nach Osten; alles wartete mit Sehnsucht auf den Tag, da die Fanfare des Lichts ertönen sollte. Und dieser Tag konnte nicht mehr fern sein. Die furchtbaren Jahre des Weltkrieges von 1914 bis 1918 leiteten die „kosmische Walpurgisnacht“ ein, die jetzt in den neuen Morgen münden sollte!