In einer Gegend, auf die die Bezeichnung Steinwüste gut paßte, lag das Kloster St. Barbara. Ein weltabgeschiedener Fleck. Bis zum nächsten größeren Ort, durch den die Eisenbahn nach Madrid führte, waren gut fünfzehn Kilometer. Niemand, der nicht aus irgend welchen Gründen dazu gezwungen war, besuchte diese Gegend. Landschaftlich ohne jeden Reiz, heiß, staubig und dürr, war auch sonst hier nichts zu holen. Darum waren auch die Nonnen von St. Barbara als ganz besonders fromm bekannt. Denn auf was sollte sich ihr Denken hier richten, wenn nicht auf Inneres.
Und so war es schon seit unendlichen Zeiten, – wie die Bevölkerung ringsum sagte. Hier die sehr frommen Nonnen in dem sehr alten Kloster St. Barbara, da ringsum öde, langweilige Gegend, die niemanden interessierte. Das war beides schon so lange Zeiten hindurch bekannt, daß man längst eins mit dem anderen verflocht – und sich um die Nonnen, von denen man nie etwas hörte, ebensowenig kümmerte, wie um die Gegend, die es nicht lohnte, daß man sich mit ihr beschäftigte.
Für die vornehmen, frommen Kreise Spaniens jedoch hatte dieses Kloster heute noch eine besondere Bedeutung. Mancher weibliche Adelssproß, der aus irgendwelchen Gründen aus der Welt verschwinden wollte, sollte oder mußte, verschwand hinter den Mauern dieses Kloster und war hinfort tot für die übrige Welt.
Dieses Kloster aber und das Städtchen Perez – die obenerwähnte kleine Eisenbahnstation – waren trotz ihrer Weltabgeschiedenheit dazu ausersehen, einige Zeit Schauplatz einer Sensation zu werden, die in der ganzen Welt, die sich die „zivilisierte“ nannte, eifrig besprochen wurde und viel Staub aufwirbelte.
Das kam so:
In Perez wurde irgendein Volksfest gefeiert. In allen Wirtshäusern gab es Schmaus, Musik und Tanz. Selbst auf dem Marktplatz hatten sich eine Kapelle und eine fliegende Restauration eingerichtet. Die Straßen waren geflaggt, mit Girlanden geschmückt, die Bürger hatten nach dem morgendlichen Gottesdienst sich bunt gekleidet und waren allesamt auf die Gassen und in die Vergnügungsstätten geströmt. Es wurde viel schwerer Südwein getrunken und es ging, wie immer in Spanien bei solchen Anlässen, sehr lustig und sehr laut zu.
Viele der Bürger hatten sich phantastisch kostümiert, so daß das Gesamtbild des Städtchens heute bunt und abenteuerlich aussah. Gegen Abend erreichte das Fest seinen Höhepunkt. Die Wogen der Fröhlichkeit schäumten lärmend.
Da bewegte sich ein seltsamer Zug in die Stadt. Nonnen, zu zweien einander an der Hand haltend, kamen. Müde und staubig sahen sie aus wie von einer langen Wanderung. Und falls sie von St. Barbara kamen, – der weite Weg auf der staubigen, kahlen, heißen Landstraße war auch wirklich keine Kleinigkeit.
Still, ohne viel rechts und links zu sehen, schritten die Nonnen durch die Straßen, bogen dann zum Erstaunen der Bürger in ein großes Vergnügungslokal ein, setzten sich hin, wo gerade Platz war. Eine hier, die andere dort; ab und zu auch zwei, drei zusammen. Trotz der allgemein herrschenden Trunkenheit begegnete man ihnen mit Ehrfurcht, – was vielleicht weniger auf die Frömmigkeit der Zecher zurückzuführen war, als auf ihre Verblüffung über den ganz und gar außergewöhnlichen Anblick. Hie und da wurden die Nonnen gefragt, ob sie etwas zu trinken wünschten. Das wurde bejaht. Sie seien müde vom Weg und durstig. So stand denn bald vor jeder der frommen Frauen ein großer Trunk des feurigen spanischen Weins.
Und dann – kam die zweite Überraschung für die Feiernden in Perez. Die Nonnen begannen nämlich zu trinken und gaben hierin den Zechenden von Perez nichts nach! Das war denn nun doch zu merkwürdig; und Stimmen wurden laut, diese Nonnen seien gar keine echten Nonnen, sondern Nachbarn aus der Umgebung, die diese seltsame Mummerei gewählt hatten. Aber einige Handwerker, die einmal im Kloster St. Barbara zu tun gehabt hatten, kannten einige der Gesichter und bestätigten, daß es sich hier um die wahren Nonnen aus St. Barbara handele.
Von diesem Erstaunen hatten sich die Perezer noch nicht erholt, als sie schon wieder reichlich Grund zu neuem Staunen hatten. Der schwere Wein, der diesen Nonnen doch gänzlich unbekannt sein mußte, wirkte in bedenklicher Weise. Die Nonnen – es waren übrigens nur die jungen gekommen, die größtenteils edle und hübsche Gesichter hatten – begannen, sich mit blanken Augen unternehmungslustig umzusehen. Als nun die Musik von neuem einsetzte, sprang eine von ihnen – ein schönes Mädchen in der kleidsamen Tracht der Novizen – auf und rief:
„Schwestern, tanzt!“
Wie ein elektrischer Schlag fuhr dies Wort in die anderen Nonnen. Sämtlich sprangen sie auf und – die junge Männerwelt von Perez wußte selbst nicht recht, wie das zugegangen war – bald hatte jeder Bursch’ eins der Nönnlein im Arm und tanzte mit ihr durch den Saal. Längst waren die von Klosterluft gebleichten Wangen wieder rot geworden, die stumpfen Augen blank und froh. Und vom ersten Tanz bis zum ersten Kuß war kein weiter Weg.
Die Kunde von diesem ungeheuerlichen Geschehen ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Alles strömte in dies Vergnügungslokal, das Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Auch die Geistlichkeit hatte die Geschichte vernommen und eilte, teils ungläubig, teils entrüstet, zu jener Schenke.
Dort hatte die Lustigkeit allmählich noch einen viel höheren Grad erreicht, als zuvor. Die Nonnen lachten, tranken, tanzten, küßten, – immer wieder durch Worte jener einen Nonne, die das erste „Tanzt!“ gerufen, angefeuert, die es selbst von allen am tollsten trieb.
Die Geistlichkeit war außer sich vor Empörung. Und die älteren und daher frommeren Bürger von Perez gleichfalls. Man wollte einschreiten gegen diesen Frevel, den nur der Teufel in den Nonnen geweckt haben konnte. Doch wie –? Mit Betrunkenen anzubinden, war immer eine heikle Sache. Und daß auch nur einer der jungen Männer im Saal nüchtern sei, konnte niemand im Ernst behaupten.
Tatsächlich gab es auch an einigen Stellen Raufereien zwischen alten und jungen Männern von Perez, bei denen das Messer, das ja in Spanien stets lose sitzt, beinahe eine Rolle gespielt hätte. Man war eben keinesfalls geneigt, sich das Vergnügen verderben zu lassen; noch dazu ein so seltenes, wie dies mit den Nonnen.
Nein, die Gegner dieses ungeheuerlichen Vorfalls richteten nichts aus. Und als die Zeit weit genug vorgeschritten, Mitternacht herangekommen war, verschwand eine der Nonnen nach der anderen. Niemand wußte, wohin … Sicher war nur, daß in dieser Nacht mancher Fanatiker unter den Priestern von Perez die ganze Nacht kniete und für die verirrten Nonnen von St. Barbara Vergebung erflehte …
Und schon ganz früh am nächsten Morgen begann die Untersuchung des unerklärlichen Falles. Und die Nonnen? Wo waren die? Die fanden sich im Lauf des nächsten Tages wieder im Kloster St. Barbara ein. Müde, bestaubt vom weiten Weg; aber mit einem Leuchten in den Augen … einem fast überirdischen Leuchten. Nur eine fehlte: die Anstifterin des Ganzen, die junge Novize.
Die anderen Nonnen wurden streng bestraft. Sie verhielten sich demgegenüber recht merkwürdig. Die auferlegten Bußübungen nahmen nur einige an; und die noch mit sichtlichem Widerwillen. Die übrigen aber – entflohen nach und nach. Man sagte, daß viele der so Verschwundenen von jungen Burschen aus Perez abgeholt worden wären, die in der Nähe des Klosters gewartet hätten.
In die Chronik des Klosters wurde der unerhörte Vorfall von der alten Äbtissin mit all seinen Einzelheiten eingetragen. Von Anfang an. Wie eines Nachts ein junges Weib Einlaß begehrt habe und um Aufnahme gebeten, – die ihm dann auch gewährt geworden war. Wie dann mit dieser jungen, fremdländisch schönen Novize ein seltsamer neuer Geist in das Kloster eingezogen sei, der wie ein schleichendes Fieber die jungen Nonnen – nur die jungen – ergriffen habe. Wie man das bald allgemein auf den Einfluß der Novize, die sich Ellora nannte, keinerlei Papiere bei sich hatte und auch über ihre Herkunft standhaft Schweigen bewahrte, zurückführte, doch weder ihr noch sonst einer der Nonnen etwas Positives hatte nachweisen können. Und wie dann endlich das Ganze in jenem schrecklichen Nonnenzug nach Perez geendet habe. Endlich hieß es, daß doch, irgendwo verborgen, ein Papier von einer alten Nonne gefunden sei, von dem man feststellte, daß es der Novize gehörte, und aus dem hervorging, daß jene Novize eine Amerikanerin namens Ellen Crosterbroux gewesen sei.
Wie aber Ellen Crosterbroux, die Tochter des Platinkönigs, nach Spanien und auf diese Idee mit den Nonnen von St. Barbara kam, – das ist eine Geschichte für sich.
Burne, der einen der malaiischen Seeräuber, der anscheinend eine Führerrolle spielte, getötet hatte, war allein auf der Insel Taipali abgesetzt worden. Allan und Harry Leakwoord, sowie Ellen Crosterbroux wurden lediglich ihrer Wertsachen beraubt und dann an einer einsamen Stelle des Festlandes ausgesetzt.
Nach stundenlangem beschwerlichem Marsch erreichten sie die erste Ortschaft, von der aus sie Fahrgelegenheit nach der nächsten Stadt fanden. Gemeinsam mieteten sie einen Wagen und fuhren nach der Stadt. Dort waren sie wieder zahlfähig, denn sowohl Ellen, wie die Leakwoords hatten ihre – Scheckbücher bei sich, die die Piraten aus Unkenntnis oder weil sie sie auszunutzen sich fürchteten, ihnen gelassen hatten. Und da die Bank von England ziemlich im jeder bedeutenderen Stadt Indiens Zweigstellen hatte, so waren die drei rasch wieder obenauf.
In dieser Stadt trennte sich Ellen Crosterbroux kurzerhand von den Leakwoords. Einmal, weil Harry wieder sich ihr zu nähern begann, was ihr höchst unsympathisch war, – dann, weil auch noch andere Gründe sie dazu bewogen, die in ihr selbst noch zu wenig geklärt waren, als daß sie sie hätte in Worte fassen können.
Zunächst – das war ihr einziger klarer Gedanke in dieser Beziehung – wollte sie vergessen. Hella, Mahadur Mirat, – die ganze Geschichte. Vergessen. Das ging am besten auf Reisen. Als echtes „Amerikamädel“ verwaltete sie ihr beträchtliches Vermögen seit dem Tag ihrer Mündigkeit selbst. Sie konnte daher ohne Schwierigkeiten sofort unternehmen, was sie wollte. Und sie wollte recht Absonderliches – die Abenteuer der letzten Zeit mußte es auf jeden Fall übertreffen, ja übertrumpfen. So fuhr sie los.
Durch ganz Indien und Vorderasien. Von da bestieg sie das nächste Schiff, das nach Spanien fuhr.
An Bord dieses Dampfers hatte sie dann – sein Gesicht zum ersten Mal gesehen. Das Gesicht des Paters Jose, der von einer Fahrt nach dem heiligen Land kam. Dies Gesicht, das ihr auffiel und sie fesselte. Der Pater war noch jung; nicht allzusehr, doch auch noch lange nicht alt. Seine scharfgeschnittenen Züge verrieten Geist. In den Augen lag fanatischer Glanz. Und noch etwas, das Ellen nicht definieren konnte und für das es Worte auch eigentlich nicht gibt.
Kurz: der Pater interessierte sie. Sie fixierte ihn nun oft, wenn er gegen Abend an der Reling stand und dem feurigen Sonnenuntergang zusah; oder wenn er, tags, seine Blicke über die elegante Menge auf dem Promenadendeck schweifen ließ, – gleichgültig, höchstens mit leisem Ausdruck des Widerwillens.
Einige Male überraschte sie ihn dabei, daß auch er sie ansah, – auf eine ganz eigene Weise. Dann war etwas wie Triumph in ihr, – noch wußte sie nicht, warum. Des Paters Blicke aber schweiften jedesmal gleich wieder ab von ihr; doch diese Gleichgültigkeit schien nicht echt, barg eine gewisse Unruhe.
Und eines Tages sprach sie ihn kurzerhand an. Zog ihn – wie das auf Reisen häufig – in irgend ein belangloses Gespräch. Er – antwortete höflich, doch deutlich abweisend. Ellen kehrte sich nicht daran. Im Gegenteil. Sie suchte immer wieder seine Gesellschaft – so sichtbar er ihr auch auswich.
Daß er ein Fanatiker großen Ausmaßes war, hatte sie schnell heraus. Aber sie sah auch das andere, – sah auch, weshalb er es war. Merkte es seinen Augen an, seiner Lippen Zucken, wenn sie sich ihm näherte. Und – es reizte sie nun gerade, sich mit ihm zu beschäftigen. Nur ein Experiment war es ihr; nichts weiter.
Er – quälte sich. Das fühlte sie wohl. Er wäre gern schroff gewesen; konnte es doch nicht und war daher abweisend, aber höflich. Ärgerte sich selbst darüber. Doch sie blieb zäh. Unterhielt sich mit ihm, verwickelte ihn in schwierige Gespräche, wo es nur ging. Fragte ihn aus über alle möglichen Dinge.
So einmal über Nonnenklöster und deren Einrichtung. Darüber konnte aber er ihr nicht viel sagen. War noch nie in einem gewesen. Nur ihre Frage, wo es wohl die frömmsten Nonnen gebe, wußte er zu beantworten. In Spanien sei das. Besonders im Kloster St. Barbara.
Sie vergaß den Namen rasch. Doch später fiel er ihr wieder ein. Das „Experiment“, wie sie es selbst bei sich nannte, trieb sie weiter. Der Pater war jetzt noch bleicher als sonst. Unter seinen Augen, die unsicher flackerten, wenn sie ihm gegenüberstand, lagen tiefe Schatten.
Und eines Abends brach der Damm. Früher, als sie geahnt, und wuchtiger rauschte die Flut lang eingemauerter Leidenschaft.
Es klopfte an die Tür ihrer Kabine. Spät. Sie saß noch über irgend einem Buch. Horchte auf … Besuch? Jetzt noch? Sie ging öffnen. Pater Jose stand vor ihr. Bebend, scheu sich umsehend. Drängte sie ganz einfach in die Kabine; schloß die Tür hinter sich …
Und – plumps – lag er vor ihr auf den Knien.
„Da bin ich. Verzeih mir Gott – oder der Teufel. Mir ist’s einerlei. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Schönste Frau, dich will ich anbeten; dir dienen. Du bist das Leben. Befiehl!“
Sekundenlang konnte Ellen kein Wort sprechen. Diese jähe Wendung ihrer „Pläne“ hatte sie doch ein wenig erschreckt.
Und – sie kämpfte mit sich. Das war doch ein Reiz ganz eigener Art. Dieser Kuttenmann, der da vor ihr kniete … Oh, und er war noch nicht alt. Mochte vielleicht, betrachtete man ihn recht, die Dreißig noch nicht lange überschritten haben. – – –
Am nächsten Tag ließ sich der Pater nicht auf Deck sehen. Auch am übernächsten nicht. Kam erst wieder zum Vorschein, als der Dampfer in Barcelona angelegte. Da eilte er, scheu und hastig, über die Laufbrücke, ohne sich noch einmal umzusehen. Ellen Crosterbroux, die an der Reling stand, blickte ihm nach. Wartete darauf, er würde sich doch wenigstens einmal nach ihr umdrehen.
Nein, er tat es nicht … und Ellen lächelte. Zwei Stunden Aufenthalt hatte der Dampfer hier. Kurz entschlossen holte sie ihre Sachen, ließ alles an Land bringen und verließ das Schiff ebenfalls.
Was war geschehen in jener Nacht –? Oh, nichts Besonderes; wirklich nicht. Es hatte sich nur ein Gefesselter seiner freiwilligen Bande entledigt.
Ellen Crosterbroux aber, des Platinkönigs exzentrische Tochter, hatte einen neuen Plan. Nach England fahren, mit Vetter Raggy Tennis spielen, wie sie es ursprünglich gewollt –? Das konnte sie immer noch. Das war jetzt unwichtig. Dies hingegen …
Wie hatte doch der Pater Jose gesagt –? Die frömmsten Nonnen wären die von St. Barbara –!
Sie fuhr bis Perez. Nahm ein Zimmer in dem einzigen Hotel des Städtchens. Wanderte am Nachmittag des nächsten Tages los. In einem ganz einfachen Kleid, nur mit einem kleinen Handkoffer. Wanderte bis zum Kloster St. Barbara. Wenig später gab es keine Ellen Crosterbroux mehr, sondern nur noch eine Novize Ellora … die dann der Schrecken der Äbtissin und der alten Nonnen wurde.
Wo das biblische „Paradies“ gelegen hatte, darüber war man sich immer noch nicht einig. Dem Umstand, daß in der Bibel von einem Land zwischen Euphrat und Tigris die Rede war, wurde dabei nicht allzuviel Bedeutung beigemessen. Nicht ganz ohne Grund; denn jene Gegend war alles andere eher als „paradiesisch“. Kahl, trocken, steinig, Wüste – teilweise wenigstens.
Aber man hatte sich daran gewöhnt, Stellen der Erde, die besonders schön und fruchtbar waren, mit paradiesisch zu bezeichnen. Und sagte wohl oft etwa: Wenn es überhaupt das Paradies gegeben hat, dann muß es in Masuren gelegen haben; oder – in Mexiko; oder – in der Uckermark.
Wenn jedoch eine Gegend, ein Land heute noch wirklich verdiente, paradiesisch genannt zu werden, dann war es die Insel Madeira. Ein im größten Teil des Jahres wolkenloser Himmel; eine warme, doch frische Temperatur; die reinste, klarste Luft, die man sich denken konnte; und eine Landschaft von geradezu überwältigender Schönheit.
Lungenkranke suchten und fanden hier Genesung. Aber auch sonst wurde die Insel wegen ihrer Vorzüge und Reize viel besucht. So war denn die Stadt Funchal, die auf ihr liegt, in den letzten Jahrzehnten zu einem Verkehrsplatz ersten Ranges aufgeblüht.
Sie liegt dicht am Meer, teilweise schon auf den steil ansteigenden Bergen, die das ganze Innere der Insel füllen.
Am oberen Rand dieses Plateaus standen zwei elegante Herren, denen man die Weltmenschen auf den ersten Blick ansah, und schauten hinunter auf die Stadt, auf dies herrliche Bild mit seinen tausend Farben und dem blauen Meer dahinter.
Wie wenn er den soeben unterbrochene Faden eines Gesprächs wieder aufnahm, sagte der eine der Beiden:
„… und gestern wieder.“
„Wieviel –?“
Der erste Sprecher zuckte die Achseln.
„Hab’ nicht gezählt. Ganz beträchtlich jedenfalls.“
„Hm, und du meinst, er wird wechseln?“
„Weshalb sollte er es nicht tun. Genug zu haben scheint er sowieso. Dazu noch die Gewinne … Ich zweifle nicht daran, daß er das als gar nicht absonderlich ansehen wird.“
Wieder schwiegen sie eine Weile. Schauten wieder über die Stadt aufs Meer. Die Schönheit dieses Erdenfleckens jedoch war es offenbar nicht, die sie fesselte. Sondern ganz etwas anderes, das ihren Gedankengang bestimmte: die Spielbank.
Funchal hatte nämlich als neueste Errungenschaft ein sogenanntes „Casino“, eine Spielbank, in der das internationale Reisepublikum Gelegenheit fand, das Glück zu versuchen. Neben Roulette wurden in kleinen Gruppen allerlei Hazardspielen gefrönt.
Diese – „segensreiche“ Institution wurde neben der Naturschönheit die zweite Anziehungskraft Madeiras. Croupiers und Bankhalter hatten dauernd Beschäftigung und – machten Geschäft, da beim Roulettespiel die Einnahmen des „Zero“ der Bank, das heißt also dem Casino zufielen, wovon die Croupiers ihre Prozente abbekamen. Genau so verhielt es sich bei den Kartenspielern. Ein gewisser Teil der Einsätze floß dem Casino zu und davon wiederum ein Prozentsatz dem Bankhalter.
Nicht an Monte Carlo reichte der Betrieb heran. Auch nicht an Zoppot. Dennoch wurden hier ganz ansehnliche Summen umgesetzt. Und sogar Selbstmörder, die sich das Leben nahmen, nachdem sie leichtsinnigerweise alles verspielt hatten, was sie besaßen und oft noch etwas dazu, gab es bereits.
„Wir müssen ihn fangen,“ sagte nun wieder einer der Beiden. Der andere nickte nur; und, als sei das ein Entschluß, wandten sie sich und gingen dem Casino zu. Das lag inmitten eines überwältigenden Palmenhains. Blumen, nicht in Beeten, sondern in scheinbar wahllos angelegten Stücken, sandten süßen Duft. Musik klang auf. Die erste heute.
Die Beiden betraten das Restaurant des Gebäudes. Ein großer, prächtig ausgestatteter, weltstädtisch wirkender Raum. Da konzertierte allabendlich eine vorzügliche amerikanische Kapelle. In diesem Raum aß man. Die Gäste, die im Casino selbst, das auch Hotelbetrieb unterhielt, wohnten hier, wie auch viele Fremde, die des Spieles halber aus Funchal herüberkamen.
Die Beiden setzten sich an einen Tisch. Tranken langsam eine Flasche Wein, indes sie wenig sprachen, umsomehr aber beobachteten, wer ein und ausging.
Wieder betrat ein neuer Gast den Raum. Da stieß einer der beiden Männer unauffällig den anderen an. Kniff das linke Auge zu. Wies unmerklich in die Richtung nach jenem. Erhob sich dann und ging auf den Ankömmling zu. Gleich darauf kamen sie gemeinsam an den Tisch zurück.
„Gestatten Sie, daß ich bekanntmache. Herr van Harten, – Herr Harry Leakwoord.“
Van Harten erhob sich.
„Ah, also Sie sind der Glückliche, der gestern fast die Bank gesprengt hätte?!“
Harry Leakwoord lächelte matt.
„Glücklich –? Ich weiß nicht, was das ist. Um die Langeweile zu verscheuchen, spiele ich. Das ist alles. Der Gewinn –?“
Er hob die Achseln. Sein jetzt bärtiges Gesicht war bleich, wirkte müde.
„Was meinst du, Knout; wie wäre es, wenn wir Herrn Leakwoord zu einem Spielchen zu dreien einladen würden?“
Louis Knout nickte lebhaft.
„Mir sehr recht. Sehr! Was meinen Sie dazu, Mr. Leakwoord?“
Prüfend hatte Harry inzwischen die beiden Männer gemustert. Junge Kaufleute … schwerreich … Sommerreise, – schloß er. Und so nahm er die Aufforderung an. Wenig später saßen dann die beiden Holländer mit Leakwoord an einem kleinen, runden Tischchen in einer stillen Ecke. Van Harten legte seine Brieftasche vor sich auf den Tisch. Louis Knout sagte:
„Ach, übrigens, bevor wir anfangen, – kannst du mir tausend Gulden wechseln?“
Van Harten schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, lieber Freund. Vielleicht Herr Leakwoord –?“
Harry nickte.
„Aber nur in englischem Geld,“ entgegnete er. „Wenn Ihnen das recht ist …?“
Es war Knout recht. Auch die beiden Holländer hatten sonst nur englisches Geld bei sich. – Das Spiel begann. Knout übernahm die Bank. Das erstenmal gewann van Harten; dann Leakwoord. Und noch zweimal Leakwoord. Doch plötzlich schoß Knout in die Höhe.
„Sie spielen falsch!“ schrie er Leakwoord an. Auch van Harten sprang auf. Alle drei standen sich nun gegenüber, die Holländer plötzlich äußerst entschlossen. In van Hartens Hand blinkte ein Revolver. Andere Gäste waren durch den lauten Ausruf aufmerksam geworden; kamen nun herbei, umstanden die Gruppe.
Und Harry Leakwoord? Der war noch einen Schein bleicher geworden. Lächelte:
„Wie wollen Sie das beweisen –?“
Aber schon hatte Knout seinen linken Ärmel gepackt und – eine Karte herausgezogen. Ein „damned!“ entschlüpfte dem Mund des Abenteurers. Er war entlarvt! Wie gerufen war auch schon ein Beamter der Geheimpolizei von Funchal da, der die drei ersuchte, mit ihm zu kommen, währenddessen er sich in der unmittelbaren Nähe Leakwoords hielt.
Van Harten steckte noch das auf dem Tisch liegende Geld ein. Dann ging man. Sie brauchten nicht bis Funchal hinunter. Unweit des Casinos hatte die Polizei in weiser Voraussicht ein kleines Wachtlokal eingerichtet. Dahin brachte man die Drei.
Die beiden Holländer gaben sich gar keine Mühe, ihre Genugtuung darüber zu verbergen, daß es ihnen gelungen war, einen Falschspieler zu ertappen. Auch ergingen sie sich in allerlei Vermutungen hinsichtlich der Strafe, die dem Abenteurer bevorstände. Denn ebenso wie in Monaco waren auch in Funchal die Strafen für Falschspieler ganz besonders hoch.
In dem Wachtlokal vernahm der diensthabende Beamte van Harten und Knout. Ihre Aussagen wurden zu Protokoll genommen und auch der Umstand, daß Harry Leakwoord die Aussage verweigerte. Dann verließen die Holländer die Polizeistation. Leakwoord aber wurde in Haft behalten. –
Mit den Zähnen knirschend saß er nun in einer der Zellen des Funchaler Gefängnisses. Verwünschtes Pech! Mußte er auch gerade diesen Windhunden in die Hände fallen! Absichtlich hatte er sich nur kurze Zeit in Monte Carlo aufgehalten und dort ein wenig das „Glück korrigiert“. Es war ihm zu unsicher. Weil dorthin meistens allzu gewitzte Spieler kamen. Da hatte er gedacht: „das abgelegene Madeira …“
Und nun – aber da war nun einmal nichts zu machen. Nun saß er fest. Ein Glück nur, daß er die Hauptmenge seines Geldes vorher in Funchal deponiert hatte. Das lag da sicher und gut. Denn, was er bei sich hatte, wurde ihm einstweilen von der Polizei abgenommen. Und wer wußte, ob es nicht, da er des Falschspiels überführt worden war, beschlagnahmt werden würde! Alles in allem hatte er immerhin noch über tausend Dollar bei sich. Das war etwa ein Viertel der Summe, die er in Monte Carlo und Funchal bisher „gewonnen“ hatte. Aber wenn er freikam, wollte er schon gern diese Summe dransetzen.
Nur wenige Tage dauerte es, bis man über ihn zu Gericht saß. Beschlagnahme des ganzen bei ihm gefundenen Geldes bis auf einen kleinen Rest und Ausweisung aus Madeira binnen zwei Tagen, – lautete das Urteil. Harry Leakwoord war damit sehr zufrieden; so billig wegzukommen, hatte er doch nicht gehofft.
Da aber erlebte er eine kleine Überraschung. Das heißt, so sehr klein war sie gar nicht einmal. Die Polizei hatte nämlich inzwischen festgestellt, daß der Tausendguldenschein, den Harry von Knout erhalten hatte, – falsch war! Um den Falschspieler aber möglichst rasch loszuwerden, woran den Funchalern offenbar am allermeisten gelegen war, – vielleicht damit um des Renommees willen recht bald in den Zeitungen berichtet werden konnte: Schon wieder hat die Funchaler Kriminalpolizei einen Falschspieler „ermittelt“ und dingfest gemacht – beschloß man, die Strafe um tausend holländische Gulden zu ermäßigen und die Sache als erledigt anzusehen. Denn – waren Falschspieler schon dem Ruf eines Casinos nicht besonders dienlich, – bei Banknotenfälschern war das noch viel weniger der Fall. Und da die Stadt Funchal doch großes Interesse an regem Fremdenzustrom hatte und dieser wiederum zu einem guten Teil von der Spielbank abhing … so müßte schnell und unauffällig gehandelt werden!
Kurzum, Harry Leakwoord war wieder frei; allerdings mit der Weisung, die Insel binnen zwei Tagen zu verlassen, widrigenfalls … Nun ja, das wollte er auch gern tun. Was sollte er noch hier, nun man ihn einmal „entdeckt“ hatte. Er würde sein deponiertes Geld nehmen und sang- und klanglos verschwinden.
Das alles machte ihm weiter nichts aus. Aber ein anderer Umstand war da, der ihn viel nachdenken ließ. Jener falsche Tausendguldenschein und die Quelle, aus der er stammte … Was hatte es mit ihm auf sich? Er hielt die Sache keinesfalls für einen Zufall. Jene beiden Holländer mochten vielleicht auch eine Art Glücksritter sein. Sie mochten vielleicht stets an Stellen, wo hoch gespielt ward, falsche Tausendguldenscheine wechseln und dann von dem echten Wechselgeld gut leben. Möglicherweise waren sie Agenten irgend einer Banknotenfälscherzentrale.
Er beschloß, die beiden Tage, die ihm noch blieben, dazu zu benutzen, jene Beiden aufzusuchen. – Daß er sie dann jedoch nicht mehr fand, überraschte ihn weiter nicht. Sie hatten, wie er aus der Fremdenliste ersah, im Casino selbst gewohnt, waren jedoch tags zuvor abgereist. Angeblich nach London.
Angeblich … Denn, daß die Holländer ihr wahres Ziel angegeben hatten, glaubte er nie und nimmer. Aber – er wollte sie wiederfinden. Und er dachte sich das auch nicht allzu schwer. Sicher bevorzugten sie zu ihren Unternehmungen Orte, an denen Spielbanken waren. Es gab deren nicht allzu viele; und eigentlich „berühmt“ waren in Europa ja doch nur Monte Carlo und Zoppot. Freilich hatte in letzter Zeit auch die Spielbank der Stadt Klaipeda, die einst Memel hieß, viel von sich reden gemacht.
Natürlich blieb ihm nichts anderes übrig, als auf gut Glück einen der betreffenden Plätze nach dem anderen aufzusuchen. So fuhr er also am nächsten Tag nach Monte Carlo ab. Das heißt: mit dem Ziel Monte Carlo. Und er hatte wieder einmal „Glück“. Beim Durchsehen der Fremdenlisten der Hotels dort, das er genauestens besorgte, entdeckte er die Namen jener beiden Holländer wieder! Aber sie waren nur ein paar Tage geblieben, dann abgereist und hatten als Reiseziel wiederum London angegeben!
Harry Leakwoord konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er das las. Sie waren vorsichtig, die Beiden; ließen den Boden nie zu heiß werden. Auch, als in Funchal die Verhandlung gegen Leakwoord stattfinden sollte, waren sie einfach nicht auffindbar gewesen. Nun, der Polizei dort war das nur lieb. Um so unbekümmerter konnte sie bei der endgültigen Erledigung des Falles vorgehen.
Aber – goß das nicht alles Wasser auf Harry Leakwoords Mühle? Wuchs nicht die Wahrscheinlichkeit all seiner Vermutungen? Daß van Harten und Louis Knout berufsmäßige Falschgeldvertreiber waren, die mit Vorliebe an Orten mit internationalem Spielbetrieb „arbeiteten“?
Jetzt, stand es bereits bei ihm fest, würde er nach Zoppot fahren. Vielleicht erwischte er sie doch einmal. Daran dachte er nicht, daß seine Bestrebungen, zu Geld zu kommen, immer bedenklicher, immer skrupelloser wurden. Jetzt verfolgte er ein Banknotenfälscherpaar, – nicht, um sie unschädlich, sondern um mit ihnen eventuell gemeinsame Sache zu machen!
Er fuhr nach Danzig. Auf dem Bahnsteig des Zuges, der ihn von da nach Zoppot bringen sollte, gingen im großen Menschengewühl zwei Männer langsam nebeneinander her. Wie ein Blitz durchfuhr es Harry, als er ihre Gesichter sah. Es waren – Louis Knout und van Harten!
Sie hatten ihn nicht beachtet, obwohl sie ganz dicht an ihm vorübergegangen waren. Wähnten ihn wohl noch im Gefilde zu Funchal. Oder sonstwo; jedenfalls nicht in Zoppot.
Nun hatte er sie, ließ sie nicht mehr aus. Verfolgte sie mit aller erdenklichen Vorsicht. Das war bei dem großen Verkehr zwischen Danzig und Zoppot keine Kleinigkeit. Aber er schaffte es. Auch jene fuhren nach Zoppot.
Sie gingen, ahnungslos, daß sie verfolgt wurden, vom Bahnhof die Seestraße herunter und verschwanden im Eingang des Hotel „Metropol“. Eine Viertelstunde später hatte Harry Leakwoord heraus, daß Louis Knout und van Harten dort wohnten.
Er war zäh. Beobachtete, belauerte das Haus diesen ganzen Tag. Überlegte inzwischen, wie er es anfangen sollte, sich ihnen unauffällig zu nähern. Er erwartete, daß sie abends den Spielclub aufsuchen würden, – sah sich hierin jedoch getäuscht. Sie kamen nicht.
Schon überlegte er, ob er bis Mitternacht warten und dann selbst ein Zimmer im Hotel „Metropol“ nehmen sollte, – da kamen sie doch noch. Gingen aber nicht ins Casino, sondern suchten ein Kabarett auf. Unter einigen Schwierigkeiten behielt Harry sie auch da ständig im Auge. Dann schlief er ein paar Stunden im „Metropol“. Doch schon sehr früh war er wieder auf dem Posten.
Er hatte sich den Portier und einen Boy des Hotels durch reichliche Spenden zu Freunden gemacht. Und das – trug Früchte. Der Hotelboy erzählte ihm mittags, soeben habe Knout ein Telegramm aus Holland bekommen, worauf er ihn gleich zur Polizei nach einem Sichtvermerk zur Ausreise geschickt habe. Ah, der Junge war helle. Er hatte gelauscht. Er wußte noch mehr. Hoffte wohl, von dem spendablen Engländer noch mehr an Geld zu bekommen. Und er irrte sich nicht. Harry Leakwoord knauserte keinesfalls; die Sache war es ihm wert.
Da erfuhr er dann noch, daß jene Beiden es mit der Abreise anscheinend sehr eilig hatten. Das Gepäck, dessen Revision an den Zollstationen oft sehr aufhält, sollte ihnen vom Hotel aus nachgeschickt werden.
Leakwoord frohlockte. Für den Versand der Koffer mußten sie doch ihre richtige Adresse angeben. Er konnte dann hinterherfahren. Vielleicht entdeckte er dabei gar die Quelle der Falsifikate! Holland –! Vielleicht …
Er wartete geduldig bis zum andern Tag. Dann hatte er, was er wollte. Knout und van Harten reisten ab. Der Boy aber brachte ihm die Adresse, die sie zurückgelassen hatten. Harry las sie und – frohlockte. Seine Vermutung, daß er in Holland eventuell auf diese Art die Falschgeldwerkstätte entdecken könnte, gewann für ihn an Wahrscheinlichkeit. Die Adresse lautete: Amsterdam, Zee-Dyk 22.
Der Zee-Dyk –! Das war das Verbrecherviertel Amsterdams, das Viertel, in dem die Verbrecher zweier Weltteile sich ein Stelldichein gaben. Das Viertel, das in seinen uralten, düsteren Häusern tausend Schlupfwinkel barg!
Noch am selben Abend reiste auch Harry Leakwoord von Zoppot ab. Nach Berlin. Besorgte sich da vom holländischen Konsulat das Einreisevisum und dampfte unverzüglich nach Holland weiter. Amsterdam kannte er flüchtig. Hatte einmal vor Jahren einige Wochen dort zugebracht. Kannte auch den Zee-Dyk. –
Das Haus Nummer 22 sah noch düsterer aus, als die übrigen in seiner Umgebung. Es lag direkt an der Heeren-Gracht, einem jener schmalen Wasserarme, die in großer Anzahl die Stadt durchzogen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, weil Harry es nachts aufsuchte, daß das Haus ihm so besonders düster erschien.
Milchig stand der Mond über dem trüben Wasser. Die Straßen waren wie ausgestorben. Kaum irgendwo ein Laut. Mitternacht war längst vorbei. Ein unbestimmtes Gefühl hatte Harry bewogen, nachts hierherzugehen. Und er war diesem Gefühl gefolgt.
Jetzt flammte in einem Fenster des zweiten Stocks Licht auf. Harry Leakwoord drückte sich in den dunkelsten Schatten einer Mauernische. Oben am Fenster ein Kopf … War das nicht? Ja, kein Zweifel! Harry erkannte das Profil van Hartens.
Fort war er wieder – Harry aber kam eine kühne Idee. Dicht neben dem Haus Nummer 22 lag ein schmaler, hoher Speicher. An diesem führte ein Eisengerüst empor, das oben eine Winde trug, von der noch eine lange Kette herabhing. Das Ganze diente wohl zum Hinaufziehen von Waren aus Schiffen auf der Gracht.
Das Gerüst war von außen durch eine schmale Eisenleiter, die senkrecht befestigt war, ersteigbar. Harry überlegte nun: wenn er diese Leiter bis zur Höhe des zweiten Stocks des Hauses Nummer 22 erklomm, das übrigens nur zwei Stockwerke hatte, so daß über jenem jetzt erhellten Fenster gleich das Dach stand, so mußte er in das Fenster hineinsehen können!
Gedacht, getan. Er begann empor zu klimmen, nachdem er sich vergewissert hatte, daß noch immer kein Mensch auf der Straße zu entdecken war. Tastete in der Dunkelheit vorsichtig nach jeder Sprosse … klomm höher und höher. Erreichte die Nähe jenes Fenster …
Nun galt es doppelte Vorsicht. Ganz langsam beugte sich Harry nach links hinüber, um hinein zu spähen …
Da – flog ihm etwas über den Kopf. Eine Schlinge aus dünnem, geschmeidigem, doch äußerst festem Leder. Zog sich im Augenblick fest um seinen Hals. Und vom Dach her klang eine gedämpfte Stimme, die in fließendem Englisch höhnte:
„Komm herauf, my boy! Weigerst du dich, hängen wir dich auf!“
Was blieb ihm anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten? Seine Lage war eine so heikle, daß er, wollte er nicht wirklich sein Leben gefährden, gehorchen mußte. Also stieg er langsam die Leiter weiter bis zum Dach empor.
Oben empfingen ihn zwei Männer. Trotz der Dunkelheit versuchte er etwas zu erkennen. Das Gesicht des einen hatte er noch nie gesehen. Der andere war Louis Knout. Sie halfen ihm über die Dachkante, hielten dabei Revolver bereit. Sagten mit eindeutiger Drohung in der Stimme:
„Keinen Laut!“
Harry Leakwoord hielt es für das Beste, sich einstweilen zu fügen. Man fesselte ihm mit schon bereitgehalten Stricken die Hände auf dem Rücken. Dann mußte er die Dachlukentreppe hinuntersteigen, immer bewacht von den Revolvern der beiden … Langte endlich in dem erleuchteten Zimmer an, an dessen Fenster er vorher van Harten gesehen hatte.
Der war jetzt nicht mehr anwesend, und als Harry sich umwandte, sah er, daß auch Knout sich entfernt hatte. Und gerade mit den Beiden hatte er sprechen wollen …
„Wo sind van Harten und Knout?“ fragte er darum. Doch der Fremde hob die Achseln, gab gar keine Antwort. Deutete nur auf einen Sessel und verließ gleichfalls den Raum, dessen Tür er hinter sich verschloß. Doch Harry Leakwoord setzte sich nicht. Durchschritt den Raum.
Die beiden Holländer hatten ihn also wohl doch schon vorher entdeckt, beobachtet und dann die günstige Gelegenheit, als er die Eisenleiter emporklomm, benutzt, ihn in ihre Gewalt zu bringen.
Doch – wozu? Diese Frage legte sich Harry vergeblich vor. Was wollten sie mit ihm? Daß sie ihn für einen Spion der Polizei hielten, konnte sein. Hatte er sich doch auch zäh genug an ihre Fersen geheftet. Was würde nun werden?
Er begann, das Zimmer mit seiner Taschenlampe in Augenschein zu nehmen. Es war groß, fast wie ein Büro eingerichtet. In der Mitte, unweit des Fensters stand ein großer Diplomatenschreibtisch. Darauf lag neben Papieren aller Art ein Klischee. Und dieses Klischee war das Druckbild einer Tausendguldennote!
Ein Erfolg! Ein Erfolg! Triumphierend fast blickte Leakwoord auf das Klischee. Er kam der Sache näher. Daß er momentan gefangen war, beunruhigte ihn weiter nicht. Er würde mit jenen schon reden. Würde mit ihnen schon einig werden.
Aber es kam niemand. Alles war still im Haus. Kein Laut. Nirgends. Das wurde Harry allmählich langweilig. Er ging auf und ab im Zimmer. Man hatte es mit der Fesselung der Hände auf dem Rücken bewenden lassen. Was hinderte ihn, den Raum zu verlassen –
Die Tür verschlossen. Doch – da war ja noch ein Ausgang. Schmal und niedrig nur; aber doch eine Tür. Er probierte, – sie war offen! Der Raum dahinter lag dunkel. Ob er es wagte, ob er eine Flucht durch diesen Gang versuchte?
Nein, nicht Flucht. Die wollte er gar nicht. Nur Knout und van Harten wiederfinden und mit ihnen sprechen; ihnen seinen Vorschlag unterbreiten; – das wollte er. Also – vorwärts!
Er trat in den Gang hinaus. Ein, zwei Schritt; mit Vorsicht. Dann – trat er ins Leere. Aber er war vorsichtig gegangen; ganz langsam. Konnte sich infolgedessen noch halten. Zog den Fuß zurück … wollte das Licht der Lampe nach unten lenken …
Da erhielt er von einer unsichtbar aus dem Dunkel kommenden Faust einen Stoß in den Rücken, so stark, daß er vorwärts fiel und gleich darauf in die Tiefe sauste!
Er mußte ziemlich tief gestürzt sein; denn, obwohl er weich aufkam hatte er doch das Bewußtsein verloren. Für kurze Zeit allerdings nur. Dann war er wieder mobil. Sah – nichts. Die ihm entfallene Lampe war erloschen. Finsternis ringsum.
Der Sturz hatte etwas Gutes mit sich gebracht. Die Stricke, mit denen seine Hände auf dem Rücken gefesselt gewesen waren, hatten sich gelockert. Ohne große Anstrengung konnte er sie jetzt abstreifen. Er tastete umher. Der Raum, in dem er sich befand, schien eine Art steinerner Schacht zu sein. Klein, sehr klein; kaum einige Schritte im Durchmesser. Er blieb gefangen, nach wie vor; denn auch mit seinen freien Händen konnte er nichts anfangen.
Nochmals tastete er ringsum die Wände ab. Keine Tür, keine Öffnung, – nichts. Oder – doch –? Ein Vorsprung, nur wenige Zentimeter breit, lief rechts und links von einer Decke etwa fünfzehn Zentimeter die Mauer entlang. Wenn er sich fest in die Ecke preßte, sich dann auf den Vorsprung schob, konnte er vielleicht seinen Körper etwa einen halben Meter aufwärts heben.
Zwar war er sich darüber keineswegs klar, welchen Zweck das haben sollte. Dennoch tat er’s. Und da – zeigte sich, daß sein Instinkt ihn durchaus richtig geführt hatte! Als er sich auf die oben geschilderte Weise ein Stück die Mauer emporschob, mit den Händen vortastend, erreichte er plötzlich oben eine Kante. Nicht eine Mauerkante, ähnlich der unteren, es schien sich hier vielmehr um den Mündungsrand eines Stollens zu handeln, der dort oben in diesen Schacht mündete. Vielleicht ein Ausweg …
Sich auf die Kante oben hinaufziehen, war nicht mehr sonderlich schwer. Und dann – fand sich Harry in einem schmalen Gang, gemauert, hoch genug, daß er darin aufrecht stehen konnte. Der Gang mündete in den senkrechten Schacht. Er senkte sich in der Richtung, die Harry nun sich vorwärtstastete, sanft abwärts.
Was für ein seltsames Haus! Der Gang zog sich noch weiter hin. Jetzt – Harry tappte in der völligen Finsternis langsam und vorsichtig weiter – begann eine Treppe. Steil abwärts. Hohe, steinerne Stufen. Er zählte sie. Zwanzig … dreißig … vierzig … achtundvierzig Stufen! Dann verlief der Gang in ebener Richtung weiter.
War es überhaupt noch dasselbe Haus, – das Haus mit der Nummer 22? Kaum. Jenes war schmal gewesen. Er mußte sich schon längst unter anderen Häusern befinden.
Unter –? Seiner Schätzung nach, ja. Erst das Stück, das er herabgestürzt war, dann achtundvierzig Stufen. Das machte weit mehr aus, als zwei Etagen. Aber wo befand er sich? Gab es hier einen Ausgang?
Unentwegt schritt er langsam vorwärts. Zurück –? Nein, das kam für ihn nicht in Betracht. Er hatte die Falschgeldfabrikanten entdeckt, er wollte mit den Männern sprechen. Doch nicht unter solchen, für ihn äußerst nachteiligen Umständen.
Also weiter. Der Gang fing wieder an, sich zu senken. Noch tiefer hinab! Aber nicht mehr lange. Er war plötzlich – zu Ende. Das Tasten zeigte: nur in dieser Richtung. Von da an führte er, rechtwinklig abgebogen, nach links weiter. Und gleichzeitig wurde er niedriger. Leakwoord mußte sich bücken.
Der Gang verlor weiter an Höhe. Jetzt ließ sich Harry auf die Knie nieder. Anders ging es nicht mehr. Doch er wollte vorwärts; jetzt erst recht. Denn ein frischerer Luftzug, der eine gewisse Feuchtigkeit mit sich brachte, ließ ihn die Nähe eines Ausgangs ahnen. Und da – stieß er schon wieder gegen eine Mauer; wieder bog der Gang rechtwinklig um, lief wieder nach links weiter. Jetzt war es nur mehr eine Röhre, durch die Harry kroch.
Unentwegt. Denn dort vorn erblickte er etwas wie einen ganz matten Lichtschimmer. So matt, daß er sekundenlang geneigt war, ihn für eine bloße Sinnestäuschung zu halten. Doch bald sah er: das Licht existierte wirklich! Wenig später hatte er dann eine Art Ausgang erreicht. Nicht ohne Schwierigkeit, da die Röhre mittlerweile so eng geworden war, daß sie nur gerade noch einem menschlichen Körper Raum gewährte.
Und der Ausgang … Der war einfach ein kreisrundes Loch in der – Ufermauer der Gracht, dicht über dem Wasserspiegel gelegen! Das also war der geheime Zugang zu dem Falschgeldhaus! Leakwoord begriff, daß der Zugang von hier ins Innere des Gebäudes viel leichter sein mußte, als umgekehrt der Weg, den er gekommen war.
Ein richtiger Fuchsbau. Unerklärlich war ihm nur im Augenblick noch, wie man zum Schluß aus jenem senkrechten Schacht, in den dieser Gang mündete, aufwärts kam. Doch – die da drinnen in dem Haus wohnten, würden das schon wissen.
Und er –? Was sollte nun aus ihm werden? Je nun, ihm blieb nichts weiter übrig, als ins Wasser sich gleiten zu lassen und in Kleidern ans Ufer zu schwimmen. Das war nicht schwer, die Gracht auch nur schmal. Nur unangenehm war es. Aber es blieb ihm, wie gesagt, nichts anderes übrig.
Er schwamm also hindurch, erklomm das Ufer und eilte in das Hotel, in dem er abgestiegen war. Der Portier, der ihm öffnete, musterte ihn mißtrauisch. Harry suchte ihn mit einer flüchtigen Erzählung eines Unfalles zu beruhigen. –
Und am nächsten Tag stand er dann wieder vor dem Haus am Zee-Dyk – diesmal jedoch bei hellem Sonnenschein um zwölf Uhr mittags. Lächelnd las er unten das Schild: „Knout & Co., Papiere en gros“. Ja, dachte er, mit Papier handelt ihr Burschen; aber ihr bedruckt es vorher, so daß es für flüchtige Beschauer genau so aussieht, wie Tausendguldennoten! Aber wartet, ich will als dritter im Bunde in euer „Geschäft“ eintreten; weigert ihr euch, dann –!
Ein richtiges Kontor hatten die Beiden, in dem ein Tippfräulein sich unbeschäftigt räkelte.
„Ist Herr van Harten zugegen?“
„Nein, nur Herr Knout.“
„Ah, – nun gut, melden Sie mich ihm. Mein Name ist Wood, Chicago, Papier en gros.“
Die junge Frau verschwand, kam gleich wieder zurück und ließ die Tür hinter sich offen.
„Herr Knout läßt bitten.“
Harry hatte inzwischen seinen Revolver in der linken Hosentasche gespannt. Für alle Fälle … Dann trat er in das Privatkontor ein. Louis Knout sah vom Schreibtisch auf und – entfärbte sich jäh. Er wollte nach unten greifen … doch da hatte Harry auch schon seinen Revolver heraus, richtete die Mündung auf Knout und rief mit gedämpfter Stimme:
„Halt, keine Bewegung!“
Der auf solche Weise nachdrücklich gemachten Mahnung fügte sich der andere.
„Was – wollen Sie, – Mr. Leakwoord –?“
„Ah, – sogar meinen Namen haben Sie noch behalten! Wie prächtig. Um so schneller werden wir einig werden. Was ich will? Nicht viel. Hören Sie zu: Sie haben mir in Funchal eine falsche Tausendguldennote angedreht. Dann haben Sie mich des Falschspiels überführt, mich verhaften lassen und sind verduftet. Mir ging es dabei nicht sonderlich gut. Das möchte ich nun ausgeglichen haben. Ich verlange nicht mehr und nicht weniger, als daß Sie mich an Ihrem Papiergeschäft – Sie wissen schon, was ich meine – beteiligen. Gehen Sie nicht darauf ein, dann – ich kenne das Geheimnis Ihres Hauses; kenne den Geheimzugang von der Heeren-Gracht aus – wenn Sie also nicht darauf eingehen, sorge ich dafür, daß die Polizei dies Nest aushebt.“
Währenddem tat sich leise eine gegenüberliegende Tür in dem kleinen Privatkontor auf und im Rahmen ward der Kopf van Hartens sichtbar.
„Nur herein, Herr van Harten!“ rief Leakwoord. Jener, der, Erstaunen im Blick, bereits eingetreten war, sah jetzt erst die Waffe in Harrys Hand. Er erschrak im Augenblick, zeigte aber gleich darauf wieder ein beherrschtes Gesicht.
Und dann –??
Das Tippmädel im Kontor nebenan war, wie alle Tippmädels, neugierig. Doch wie sie auch ihr zierliches Ohr an die Tür preßte, – verstehen konnte sie kein Wort. Die da drinnen sprachen so leise; und außerdem war die Tür gepolstert. Aber nach etwa einer Stunde wurde sie nach zwei Flaschen Sekt geschickt. Und als nach einer weiteren Stunde der Besucher ihrer sogenannten Chefs fortging, klopften ihm beide verständnisinnig zwinkernd auf die Schulter; woraus die Kleine entnahm, daß das „Geschäft“ zwischen den dreien zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausgefallen war.
Auch jeder andere Beobachter wäre zu dem Schluß gekommen. Als Harry Leakwoord nachher die Straßen Amsterdams seinem Hotel zu durchschritt, pfiff er vergnügt das damals gerade modern gewordene Bananenlied vor sich hin. Das ließ ohne Zweifel auf gehobene Gemütsverfassung des Abenteurers schließen.
Der Hotelportier, der von Harry an diesem Nachmittag ganz ohne besonderen Grund ein Trinkgeld erhielt, kam nicht ganz zu Unrecht zu der Ansicht, daß jemand der nachts ins Wasser fällt und tags darauf nicht weiß, wohin vor Übermut, kein alltäglicher Mensch sein kann. Womit er, wie gesagt, nicht ganz unrecht hatte; aber auch nicht ganz recht; er wußte ja nicht, daß Harry Leakwoords nächtliches Bad durchaus nicht ganz freiwillig gewesen war …
Ellen Crosterbroux tauchte nach einiger Zeit in Marseille auf. In Begleitung eines Spaniers, des reichen Franzesco Ramon, der die Tochter des Platinkönigs auf einem öffentlichen Fest, das sie allein besucht hatte, kennen gelernt und sich grenzenlos in sie verliebt hatte. Und da er außer Geld – aus dem sich Ellen naturgemäß nichts machte – noch einigen Witz und gute Umgangsformen besaß, duldete sie seine Anbetung. Mehr allerdings nicht, so sehr auch Ramon danach strebten.
Aber sie duldete, daß er sie von Madrid nach Marseille begleitete, als sie diese Stadt zu besuchen wünschte. Er fuhr mit ihr zusammen. Unterwegs gesellten sich ein französischer Oberst zu ihnen, der Ramon vor Jahren bekannt geworden war. Legrand war der typische Südfranzose: hübsch, temperamentvoll und dabei geistig dem spanischen Nachbarn hundertmal überlegen. War es ein Wunder, daß Ellen, als Legrand ihr nachdrücklichst den Hof machte, ihn dem Spaniers vorzog?
Sie liebten sie beide mit ganzer Glut, mit hemmungsloser Leidenschaft. Sie –? Sie liebte natürlich keinen von ihnen. Aber sie spielte gern einen gegen den anderen aus, bevorzugte den Franzosen sichtlich immer mehr. So war bald der schönste Rivalitätskampf im Gang, – zur Freude Ellens, die nichts tat, ihn abzuschwächen. Im Gegenteil.
Aber in Marseille waren plötzlich beide verschwunden. Ellen grämte sich durchaus nicht darum. Sie durchstrich die Stadt, fand, sie sei lange nicht so romantisch, wie sie es von ihr oft in Büchern und Zeitschriften gelesen hatte. Und erst nach acht Tagen erfuhr sie durch Zufall, daß Ramon und Legrand ein Duell miteinander gehabt hatten … ihretwegen. Bei diesem Duell hatte der Spanier den Oberst erschossen. Er selbst war in Haft genommen worden.
Einen Augenblick war sie starr vor Staunen. „So etwas gab es heute noch? Duelle um einer Frau willen? Oh, mittelalterliches Europa!“ dachte Ellen und empfand Sehnsucht nach Amerika. Fast war sie schon entschlossen, dorthin zurückzukehren; doch sie verwarf diesen Entschluß wieder. Amerika … da galt sie wieder – durch ihr Geld. Und das wollte sie nicht.
Hier war das, was sie wollte: Abenteuer wollte sie erleben. Weil sie trotz allem einen immer noch nicht vergessen konnte: Mahadur Mirat. Liebe und Vernunft sind ja stets zweierlei. Was fragte sie danach –? Sie liebte Mahadur Mirat. Sie wollte ihn haben. Das war alles. Aber – sie bekam ihn nicht; hatte freiwillig verzichtet.
Sie lachte auf, wenn sie jetzt daran dachte. Verzichtet –? Sie –? Die Tochter des Platinkönigs auf etwas verzichtet, das sie wollte, das sie haben mußte? Lächerlich! Eine augenblickliche Schwäche von ihr war es gewesen dieses Nachgeben. Nichts weiter. Und immer wieder kehrten ihre Gedanken an jene Szenen, an jene Insel ihrer Qual zurück. Und oft war es ihr, als ob sie Hella Dörcksen haßte.
War es nicht nur der Glanz, der jene Blonde als Tochter der Wolkenkönigin, von der Ellen noch nicht einmal genau wußte, ob sie überhaupt existierte, umgab, der den romantisch schwärmerisch veranlagten Radscha blendete –? Was war denn sonst an ihr? Eine blonde deutsche Gans war Hella. Und die sollte über Ellen Crosterbroux endgültig triumphieren? Ah ja, sie haßte Hella Dörcksen, haßte auch ihre Sache, den ganzen Olympia-Rummel. Und sie würde mit Vergnügen jede Gelegenheit ergreifen, dort zerstörend zu wirken. Daß solch eine Gelegenheit sich ihr bald bieten sollte, ahnte sie nicht. –
Vielleicht hing es damit zusammen, daß Hella Dörcksen aus Deutschland stammte, – jedenfalls verspürte Ellen Crosterbroux Lust, Berlin zu sehen. Sie fuhr hin, fand ein stark verkleinertes New York, war wieder einmal enttäuscht und fuhr schon nach wenigen Tagen nach Swinemünde weiter.
Es war Sommer und viel Leben herrschte in der kleinen alten Stadt an der Ostsee. Besonders der neue Stadtteil, das Villen- und Vergnügungsviertel bot ein großzügiges, buntes Bild. Kabaretts waren in großer Zahl da. Ellen besuchte mehrere, ward aber auch da nicht befriedigt, weil sie die deutsche Sprache zu wenig beherrschte. Nur die Tanznummern konnte sie restlos genießen.
Sie wäre auch mit Swinemünde sehr unzufrieden gewesen, wenn sie nicht bei ihrem ersten Kabarettbesuch eine Bekanntschaft gemacht hätte … einen Holländer. Ingenieur. Seinen Namen hatte sie natürlich bei der Vorstellung nicht verstanden. Aber was machte das – die Hauptsache: ihr neuer Bekannter war interessant. Und das war der vom ersten Augenblick an.
Es gibt Männer, die ihre geheimsten Gedanken und Pläne, die sie vor jedermann, auch vor dem besten Freund, sorgsam behüten, der erstbesten Frau mitteilen, die ihnen gefällt. So war dieser Holländer. Er erzählte ihr von einer Erfindung, die er gemacht hatte, doch aus Geldmangel nicht verwerten, nicht ausführen konnte. Einem Konsortium verkaufen könne er sie auch nicht. Überhaupt niemandem; denn die Sache sei geheim, müsse geheim gehalten werden, wenn er überhaupt jemals in den Genuß der Erfindung oder der Früchte, die sie bringen sollte, kommen wollte.
Sie – hatte sich erkundigt, um was es sich denn handele. Um eine neuartige Flugmaschine, die alles, was bisher auf diesem Gebiet existierte, weit in den Schatten stellen sollte.
Da hatte Ellen Crosterbroux aufgehorcht. Eine Flugmaschine? Und sofort war die Ideenverbindung da: von der Flugmaschine dieses Holländers, die alles übertreffen sollte, zur Insel in den Lakkadiven und dem Flugschiff Dörcksens. Sie sann den ganzen Abend nach. Der Holländer, der sie durchaus unterhalten wollte, hatte einen schweren Stand.
Als sie vor dem Hotel sich verabschiedeten, fragte sie jenen:
„Wieviel Geld würden Sie zur Ausführung Ihrer Erfindung brauchen?“
Der Holländer hob ganz mutlos die Achseln.
„Nun, – vierzigtausend Dollar mindestens …“
„Sie sollen fünfzigtausend haben. Von mir,“ entgegnete Ellen; „doch nur unter der Bedingung, daß Sie mir Ihr Fahrzeug gleich nach Fertigstellung zu einer großen Reise zur Verfügung stellen.“
Der andere fand kaum Worte vor freudiger Überraschung. Dann überhäufte er Ellen mit überschwenglichstem Dank, – was ja in dem Fall sehr gut verständlich war. Sie entzog sich dem jedoch rasch, verabredete noch eine Zusammenkunft für den nächsten Vormittag und begab sich hinauf in ihre Zimmer.
Innerlich war sie in Aufruhr. Ein Flugschiff neuester, leistungsfähigster Konstruktion –? Ah, dann würde sie doch noch einmal den Kampf aufnehmen. Dann konnte sie doch noch einmal auf Sieg hoffen.
Sie hätte vielleicht weniger frohlockt, wenn sie ihren neuen Anbeter jetzt zu beobachten Gelegenheit gehabt hätte. – Der eilte rasch zum Hotel „Seestern“. Das Restaurant war noch geöffnet. Und da saßen auch noch in der gleichen Ecke seine beiden Getreuen.
„Nun, Louis, wie steht’s?“ rief ihm der eine der Beiden auf holländisch zu.
„Glänzender, als ich mir je träumen ließ, Harten! Paßt auf, sie will mir fünfzigtausend Dollar zum Bau des Flugschiffes geben! Was sagst du dazu, Harry?“
Alle drei brachen in schallendes Gelächter aus. Dann tranken sie sich zu. Harry Leakwoord aber lächelte noch still weiter, schüttelte immer wieder den Kopf. Da hatte sich der Zufall doch wieder einmal ein ganz kurioses Stückchen geleistet. Swinemünde, das eine stattliche Reihe heimlicher Spielklubs während der Sommersaison besaß, war von dem neuen Konsortium van Harten – Knout – Leakwoord heimgesucht worden. Falschgeld und Falschspiel im Verein, – mit gegenseitiger Unterstützung. Das Geschäft ging gut.
Da rauschte eines Abends eine elegante Dame durch den Speisesaal des Hotels, in dem die drei saßen, eine elegante Dame von so aparter Schönheit, daß alle – und auch diese drei – ihr nachsahen.
„Nanu, was ist denn mit dir los?“ rief Knout, als er darauf zu Harry Leakwoord zurücksah. Der saß da buchstäblich mit offenem Mund, starrte der Enteilenden nach … Dann schlug er mit der Hand auf den Tisch.
„Kinder, wißt Ihr, wer das war? Nein, das könnt Ihr natürlich nicht wissen. Das war Ellen Crosterbroux, die Tochter des sogenannten Platinkönigs, eines schwerreichen Amerikaners.“
Und dann erzählte er einiges von seinen ehemaligen Beziehungen zu jener Frau. Nicht zuviel; nur so, daß sich seine Kumpane ein ungefähres Bild machen konnten. Noch in derselben Stunde schmiedeten nun die Drei einen Plan. Knout, der am besten aussah, wurde ausgesandt. –
Jetzt, nachdem er seinen Erfolg erzählt hatte, fragte er nochmals:
„Was sagst du dazu, Harry?“
Der nickte nur so ganz nebenbei.
„Gut, sehr gut.“
Aber seine Gedanken weilten ganz wo anders. Weilten in Indien, wo er sich einst um die Millionen Ellens beworben hatte. Jetzt würde er sich lumpige fünfzigtausend mit den beiden kleinkrämerigen Gaunern da teilen müssen. So weit war er gekommen … Aber das war nur ein Anfang. Er gedachte beileibe nicht, dabei zu bleiben. Sein Streben ging nach wie vor nach Reichtum größten Ausmaßes. Denn – ihm floß das Geld unter den Händen fort. Er war eben großzügig. So nannte er die Verschwendungssucht.
Oh nein, er würde nicht unten bleiben, ganz gewiß nicht. Seine Haltung straffte sich. Er sagte:
„Die Crosterbroux besitzt Millionen. Wir werden sie ihr nach und nach abnehmen.“
Die beiden anderen sahen ihn erwartungsvoll an.
„Und wie –?“
Harry wiegte das Haupt.
„Das – weiß ich noch nicht. Aber laßt mich nur machen. Ich finde schon etwas.“
Bei sich aber dachte er: „Gewiß, ich finde schon etwas; aber sobald ich euch nicht mehr brauche, werdet ihr wieder ausgeschaltet“. Er zuckte – innerlich – die Achseln. Zwei armselige Banknotenfälscher –. Was war er dagegen –!
Sie saßen nachher noch in einem ihrer Zimmer zusammen und tranken. Harry Leakwoord vorsichtig, immer darauf bedacht, Herr seiner Sinne zu bleiben. Als sie endlich aufbrachen, waren Knout und van Harten schwer bezecht, Leakwoord hingegen stocknüchtern.
In den nächsten Tagen hatten van Harten und Knout mehrfach Besprechungen mit Ellen Crosterbroux. Harry hielt sich natürlich im Hintergrund. Er fürchtete, daß sie ihn eventuell trotz seiner sehr veränderten Barttracht doch erkannte. Das wollte er auf jeden Fall vermeiden. Er nutzte die Zeit auf andere Weise. War auch abends immer unterwegs, immer auf der Suche. Wonach –? Oh, nach nichts Bestimmtem. Nur so … Man kann nie wissen, was einem gelegentlich Besonderes begegnet. Und wirklich …
Heinz Mewius nannte sich der neue Mann, der die Sensation der Saison in Swinemünde zu werden versprach. Ganz schlicht kündigten zuerst die Zeitungen den ersten Experimentalabend des Professor Mewius an. Die Zahl der Besucher war nicht groß. Wer hatte während der Sommerfrische Interesse für wissenschaftliche Dinge –
Aber diese kleine Schar Besucher wurde zur allerbesten Reklame für den bisher völlig unbekannten Mann. Denn, was man bei ihm zu sehen und zu hören bekam, war in der Tat staunenswert. So wurde denn der zweite Abend, den Mewius gab, schon bedeutend besser besucht. Und dann – war ganz Swinemünde gespannt auf den dritten. Nun wollte alles hingehen.
Doch der dritte Abend – fiel aus. Angeblich wegen leichter Erkrankung des Professors. Wie groß die Teilnahme des Publikums an diesem Mann bereits war, bewiesen die vielen Spenden, die ihm während seiner Krankheit zugewandt wurden. Die ganze „Krankheit“ war natürlich nur ein schlauer Geschäftstrick zur Erhöhung der Spannung.
Und er hatte Erfolg, dieser Trick. Als Mewius die dritte Veranstaltung durch die Zeitungen bekannt geben ließ und dabei nur eine ganz geringe Zahl von Karten als verkäuflich und die zu einem enorm hohen Preis ansetzte, war der kleine Raum, den er diesmal gewählt hatte, dennoch sehr rasch ausverkauft. Man hatte sich um die Karten fast gerauft.
Das Kurpublikum Swinemündes setzte sich in der Hauptsache aus Stettinern und reichen Berlinern zusammen, wovon die letztgenannten besonders durch Protzigkeit auffielen. Kostbares Pelzwerk – mitten im Sommer! – und Diamanten von Erbsengröße bei solchen Abendveranstaltungen waren alltäglich. So kam es, daß bei der dritten Veranstaltung Mewius’, die am teuersten war, auch ein ganz besonders brillantenfunkelnder Kreis zusammenkam. Unter den „Glücklichen“, die noch eine Karte erwischt hatten, war auch Harry Leakwoord. Knout und van Harten hatten eine ihrer Besprechungen mit Ellen. So war Harry frei und konnte den Abend auf seine Weise ausnutzen. –
Den kleine Saal, im dem Mewius heute sprechen wollte, hatte man schwarz ausgeschlagen. Beleuchtung war reichlich da, so daß all die Protzen mit dem Glanz ihrer an Finger, Krawatte und Hals mitgeschleppten Brillanten zufrieden sein konnten.
In einer Ecke, neben der schmalen Hintertür des Saales, stand ein ebenfalls schwarz verhangenes Rednerpult. Die Stühle füllten sich. Gesprochen wurde nur gedämpft. Man stand allgemein im Bann dessen, was man von diesem Mann Seltsames gehört hatte, und der einförmig schwarzen Aufmachung.
Um zehn Minuten war die Zeit schon über die angekündigte Anfangsminute hinaus, als plötzlich mit einem Schlag alles Licht erlosch. Doch im selben Moment glomm dort in der Ecke am Stehpult ein matter Schimmer auf, der langsam heller und heller ward. Er beleuchtete die schwarzgekleidete Gestalt eines überaus hageren Mannes, der da regungslos stand, als sei er soeben aus dem Boden emporgewachsen. Sein kaltbleiches Gesicht hatte fast etwas Totenkopfartiges. So mager war es. Die Backenknochen standen weit vor. Die tiefliegenden Augen beschattete eine dunkle Brille. Die eckige Stirn sprang in beinahe unnatürlicher Weiße vor. Der Mund mit den dünnen Lippen war festgeschlossen. Er und die Kinnpartie verrieten ungeheure Energie.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Nur das schwere Atmen einiger Besucher, deren Nerven nicht in Ordnung waren, war hörbar. Wirklich war auch schon dieser Anblick dazu angetan, nicht ganz unempfindliche Leute in Erregung zu versetzen.
Immer noch stand Mewius unbeweglich, starr. Dann begann er zu sprechen. Seine Stimme paßte ganz zu seinem Aussehen. Sie war hart und messerscharf. Von Magie erzählte er; verwarf neunundneunzig Prozent alles dessen, was im allgemeinen unter dieser Bezeichnung ging. Nur ein Prozent sei wahre Magie. Die, die er bot …
Und wie er das sagte! Kein überflüssiges Wort, das die Zuhörer hätte langweilen können. Wie wenn kleine Hämmer auf Stahlplatten fielen. So eindringlich klang das alles. Man glaubte ihm, mußte ihm glauben, konnte einfach nicht anders.
Dann begann er mit seinen Experimenten. Begann mit den allereinfachsten: mit Kartenkunststücken. Manche lächelten nur ein wenig. Doch sie sollten nicht lange dabei bleiben. Der Saal war beleuchtet worden. Mit verblüffend raschem Blick hatte Mewius alle diejenigen herausgefunden, die gelächelt hatten; kam nun, gab jedem von ihnen eine Karte in die Hand. Fragte einen:
„Bitte, welche Karte haben Sie?“
„Kreuz sieben.“
„Keineswegs! Sehen Sie nur bitte noch einmal genau hin. Es ist Kreuz zehn.“
Der Besucher sah hin; es war Kreuz zehn; obwohl er hätte beschwören mögen, daß es vorher Kreuz sieben gewesen war! Mewius ging zum nächsten derer, denen er eine Karte gegeben hatte. Fragte auch den. Das gleiche Spiel. Auch diese Karte verwandelte sich. Inzwischen hielt der Erste seine Karte noch immer in der Hand; beobachtete gespannt den Verlauf der Manipulation bei den anderen. Dann schaute er zufällig wieder seine Karte an. Und erschrak –. Es war doch Kreuz sieben!
Das war die erste Sache, die niemand sich erklären konnte. Keiner der Betreffenden hatte die Karten aus der Hand gegeben, keine der Karten hatte Mewius berührt. Dennoch veränderten sie sich. Doch das war erst ein kleiner Anfang. Was nachkam, war noch viel, viel erstaunlicher. Den Zuschauern wirbelte bald der Kopf.
Zur Erholung für sie und sich machte Mewius dann eine kurze Pause. Den zweiten Teil begann er mit noch viel interessanteren Experimenten. Er stellte sich wieder auf das Rednerpult. Sagte:
„Nun, meine werten Herrschaften, bitte ich Sie, die Hände zu falten, dabei jedoch die Handflächen voneinander zu entfernen. Wenn ich bis drei gezählt habe, werden Sie nicht mehr imstande sein, die Hände auseinander zu nehmen. Ich möchte jedoch vorher bemerken, daß für Experimente dieser Art nur etwa vierzig Prozent aller Menschen – also nicht einmal die Hälfte – empfänglich sind. Aufgepaßt –! Eins, – zwei, – drei!“
Beim Zählen hatte er beide Hände hoch erhoben. Tumult erhob sich im Publikum. Tatsächlich gelang es einer Anzahl Herren und Damen nicht, die Hände voneinander loszubringen. Bis Mewius die seinen sinken ließ; dann ging es mit einem Mal.
Wieder eine kurze Pause. Man diskutierte eifrig flüsternd. Hätte gern Aufklärung erhalten. Doch jetzt –? Vielleicht nach der Vorstellung. Mewius fuhr fort:
„Nun will ich Ihnen, sehr werte Anwesende, das zeigen, was Sie zu sehen wünschen. Am besten eignen sich dabei Personen, die nicht anwesend sind. Sie können sogar schon tot sein. Nennen Sie mir bitte eine Person, die Sie zu sehen wünschen.“
Da wurden nun allerhand Namen durcheinander gerufen. Bismarck, Hindenburg, Noske, Haarmann, kurz, alle Persönlichkeiten, die der Deutsche als bedeutend kennt. Mewius sagte:
„Gut. Wir sollten abstimmen. Der Name, der die meisten Stimmen bekommt, soll gelten.“
Die Abstimmung ergab völlige Stimmengleichheit zwischen Hindenburg und Haarmann. Die nochmalige Abstimmung entschied dann für den hannoverschen Massenmörder Haarmann.
„Achtung!“ klang jetzt wieder die Stimme Mewius’. „Ich werde nun den Saal verdunkeln lassen. Dann werden Sie den Menschenschlächter Haarmann in Lebensgröße erscheinen sehen.“
Da erlosch auch schon das Licht. Nur das Pult blieb in einem ganz matten Schimmer sichtbar. Mewius saß regungslos. Dann – verbreitete sich neben dem Pult, doch frei in der Luft, ein rosa Schein. Fast war es, als wenn Dämpfe wallten. Sie verdichteten sich. Die Gestalt eines Menschen, noch undeutlich umrissen, ward sichtbar. Nun das Gesicht …
„Das ist er –!“ flüsterte jemand erregt. „Ich sah ihn in Hannover, als er –“
Da flammte das Licht im Saal auf. Jäh und grell. Die Vision war verschwunden. Wie ein Alpdruck hatte es auf allen gelegen. Dann – ein Schrei aus weiblicher Kehle:
„Mein Kollier! Ich bin bestohlen!“
Man sprang auf. Verwirrung. Rufe hin und her. Die Dame war untröstlich. Einige besonnene Herren riefen:
„Keiner verläßt den Saal!“
Einer trat vor.
„Ich bin Kriminalinspektor. Hier mein Ausweis.“
Alle sollten durchsucht werden. Alle waren auch damit einverstanden. Bei Harry Leakwoord und einem anderen Herrn, zwischen denen die Dame gesessen, wurde mit der Durchsuchung begonnen. Mewius selbst beteiligte sich. Die Damen wurden in einem anstoßenden Raum untersucht. Alles sehr genau. Doch gefunden wurde nichts. Die Bestohlene erzählte, sie habe, während der Saal verdunkelt war, einmal eine ganz leichte Berührung am Hals zu spüren gemeint, doch in der Spannung der Vorführung darauf nicht geachtet; es wohl auch für Täuschung gehalten. Dann, als das Licht aufflammte, sah sie, daß ihr sehr wertvolles Perlenkollier verschwunden war.
Noch zweimal wurde alles durchsucht. Menschen, Stühle, – alles. Gefunden – nichts. Niemand hatte mehr Lust zur Fortsetzung der Veranstaltung. Man verließ, als der Polizeiinspektor die Erlaubnis dazu gegeben hatte, fast fluchtartig den Saal. Die so überaus interessante Veranstaltung hatte ein vorzeitiges, unliebsames Ende gefunden.
Wenige nur blieben zurück. Darunter der Inspektor, die Bestohlene und Mewius. Der bat nach einigen Minuten, sich zurückziehen zu dürfen, was ihm auch ohne weiteres gestattet wurde. Da er während der fraglichen Minuten sich nicht von dem Rednerpult entfernt hatte, kam er als Täter in dieser geheimnisvollen Angelegenheit ja nicht in Frage.
Er begab sich in das kleine Zimmer, zu dem die vorhin erwähnte schmale Tür führte und das als Künstlerzimmer eingerichtet war. Mewius trat ein, staunte ein wenig, daß Licht brannte und – fuhr zurück, als er einen Fremden darin ihm entgegenkommen sah.
„Was wollen Sie hier, mein Herr? Dies Zimmer ist ausschließlich für mich bestimmt. Ich –“
Weiter kam er nicht. Harry Leakwoord – er war der Eindringling – wies zur Tür, Mewius unterbrechend:
„Bitte schließen Sie die Tür; dann können wir weiter miteinander sprechen.“
„Das ist doch –!“ fauchte Mewius; aber – er kam dem Verlangen Harrys doch nach. Der sagte langsam:
„So und nun bitte ich Sie, das geraubte Kollier herauszugeben.“
Mewius atmete schwer. Es schien, als wollte er sich auf Leakwoord stürzen. Dann sagte er heiser:
„Woher – wissen – Sie –?“
Harry lachte auf.
„Eigentlich weiß ich gar nichts. Ich vermutete nur. Jetzt aber haben Sie sich soeben verraten; nun weiß ich, daß Sie der Räuber sind.“
Doch da hatte sich Mewius schon wieder.
„Ach, Unsinn! Ich mich verraten? Wie denn? Wie wollen Sie beweisen, daß ich –“
Er sprach nicht weiter; zuckte erneut zusammen, als Harry stumm auf ein kleines Seidenäffchen deutete, das auf dem Tisch munter Nüsse knabberte.
„Geben Sie sich keine Mühe, Verehrtester; ich weiß genug. Wollen Sie wissen, wodurch? In Stettin, wo Sie vor einigen Tagen einen Experimentalabend gaben, verschwand unter ganz den gleichen Umständen während der Saalverdunkelung ein wertvolles Schmuckstück einer Dame, das nicht mehr gefunden wurde. Ich las zufällig davon in der Zeitung. Heute, bei dem Zwischenfall hier, fiel es mir wieder ein. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen zu finden, war nicht schwer. Sie hatten sich jedoch nicht von dem Pult entfernt. Wie war also der Diebstahl zustande gekommen? Die Sache interessierte mich lebhaft. Und während die anderen Besucher den Saal verließen, schlüpfte ich unbemerkt hier hinein. Mein erster Blick fiel auf das Äffchen und – ich wußte Bescheid. Will sagen, meine Vermutung ging jetzt einen bestimmten Weg. Dies Tierchen ist, dachte ich mir, dressiert, im Dunkeln Schmuck zu stehlen und Ihnen zu bringen. Das ist das ganze Geheimnis. Hab’ ich recht?“
Mewius hob resigniert die Schultern.
„Ja, Sie haben recht. Ich dachte mir ja, daß es einmal herauskommen würde. Allerdings kam es schneller, als ich erwartet hatte. Bitte, holen Sie die Polizei.“
Harry Leakwoord schüttelte lachend den Kopf.
„Damit Sie inzwischen entwischen? Nein. Was geht mich jenes reiche Bürgerpack an. Nein, Sie brauche ich. Und wenn Sie mir die Hälfte des Wertes des Kolliers abgeben, erfährt niemand, wer der Dieb ist.“
Mewius hob die Augenbrauen in die Höhe, blickte Harry eine Weile prüfend an. Sagte dann langsam:
„Ist die Sache so, – dann freilich –“
Harry nickte.
„Sie ist so. Im übrigen habe ich einen unter Umständen sehr lohnenden Auftrag für Sie …“
Die Beiden blieben noch recht lange zusammen an diesem Abend. Und als sie sich endlich trennten, war ein neuer „Freundschaftsbund“ zweier edler Seelen begründet, – hatte Harry Leakwoord sein Netz um Ellen Crosterbroux und ihre Millionen um ein gutes Stück weiter gesponnen …
Grau heulende Wogen. Chaos ringsum. Fahles Dunkel. Blitze. Sturmgeheul.
Brandung. Ein weißes, schmuckes Schiff kämpfte da gegen die hochgehende See einen verzweifelten, schier aussichtslosen Kampf. Immer wieder wurde es von den Brechern zurückgedrückt; immer näher der Brandung. Immer näher.
Jetzt ein Ruck, daß ein Zittern die Planken des Decks durchlief. Dann ein Knirschen und Schieben … Das Schiff saß fest auf dem Ufersand.
Seltsam sah dies Schiff aus. Es hatte die Größe eines mittleren Seedampfers, war jedoch viel schlanker gebaut und schneeweiß gestrichen. Es hatte weder Masten noch Schornsteine, nur einige Signallichterstangen, zwischen denen Radioantennen sich spannten, und ganz niedrige Decksaufbauten. Am Bug stand in großen, goldenen Lettern „Delphin“, und der Bug des Schiffes lief denn auch geschwungen in die Nachbildung eines Delphins aus.
Eine markige Stimme drang jetzt durch das Heulen des Sturmes.
„Potz Fockmast und Ankerspill! Wir sitzen fest. Verwünschtes Pech, dieser Kompaßdefekt! Wenn der Sturm nicht bald nachläßt, kann er uns jetzt den ganzen Kahn zerschlagen!“
Woge um Woge rollte heran. Überrauschte das Heck, spülte alles fort, was nicht niet- und nagelfest war. Aber der Sturm hatte ein Einsehen. Er ließ nach; flaute in der nächsten halben Stunde fast ganz ab. Dennoch ging die See noch die ganze Nacht hindurch hoch. Aber ihre Kraft war gebrochen. Die Wogen wurden kleiner und kleiner. Sie konnten dem „Delphin“ nichts mehr anhaben. Und als nach Stunden die Sonne strahlend aufging, lag das Mittelländische Meer friedlich da.
Kapitän Knut Söder kam an Deck. Hinter ihm Türck.
„Na, gut geschlafen, mein Alter?“ rief der Kapitän und klopfte dem dürren Männchen auf die Schulter. Türck nickte lachend.
„Und wie, Käpt’n! Ich sage Ihnen, das war Sie eene brächtiche Nacht. So scheen ruhig; gar keen Jeschaukle.“
„Das war schön –? Nanu, ich denke, Sie sind schon so lange auf See, daß Sie ohne das Schaukeln gar nicht mehr schlafen können.“
„Gönnen –? Oh doch, Käpt’n. Aber drotzdem –“
„Haben Sie schon alles durchsucht, ob kein Wasser im Schiff ist?“
„Nich een Troppen. Allens drocken,“ sächselte der „Mann für alles’ an Bord des „Delphin“. Söder nickte.
„Da haben wir wieder einmal Schwein gehabt, – wie man in Hamburg sagt; doch wohl auch sonstwo. Ein Glück, daß hier die Küste Sanddünen hat! Wäre sie felsig gewesen, lägen wir jetzt zerschellt da. So aber ist weiter nichts passiert, als daß wir ein Stück auf den Strand geschliddert sind. Sonst alles heil. Donnerwetter, war das aber auch ein Sturm gestern! So etwas habe ich im Mittelmeer noch nicht erlebt. Die Hauptschuld aber trägt an dem Ganzen der verflixte Kompaß, der in Unordnung geraten ist. Wäre das nicht gewesen, hätte man sich leichter auf hoher See halten können.“
„Tja, der Gompaß is hin …“
„Woher –?“
„Nu, ich hab’n doch schon auseinanderjenomm’ un nachjesehn, was denn mit’n los is.“
„So –! Und?“
„Nu, was mit’n los is, weeß ich nich; aber hin is er.“
Söder lachte laut auf.
„Mensch, Türck, Sie sind unbezahlbar! Na, gut, also, der Kompaß ist hin. Wo wir hier an der Nordküste Afrikas einen neuen herbekommen sollen, ist mir noch nicht ganz klar. Und ebensowenig, wie wir jemals wieder hier loskommen sollen. Meiner Meinung nach sitzt der „Delphin“ fein fest im Sand. Immerhin will ich erst einmal feststellen, wo wir uns überhaupt befinden.“
Wenig später wußten sie es. An der ägyptischen Küste lag der „Delphin“, ziemlich weit von der nächsten Stadt ab. Die nächste Stadt, – das war Alexandrien. Bis dahin waren jedoch noch gut zweihundert Kilometer. Wenig tröstlich.
Sehr wenig. Vor allem, weil die Küstendampfer, die die Küste Nordafrikas befuhren, immerhin doch nicht so nahe an die Strandungsstelle herankommen würden, daß man ihnen Signale hätte geben können.
Und zu Land –? Da war dieser Küstenstreifen völlig öde. Hinter ihm lag nur Wüste. Vielleicht, daß Fischer hier in der Nähe hausten. Doch noch war weit und breit keiner zu sehen. Und wenn, – was hätte das genutzt? Nichts. Aber Knut Söder ließ sich dadurch nicht etwa verstimmen? Bewahre!
„Nun machen wir vor allem uns erst einmal ein paar vergnügte Tage,“ sagte er zu Türck, seinem Getreuen und Freund; „wie im sichersten Hafen: keine Sorgen, keine Arbeit …“
„Und nischt zu essen …“ ergänzte Türck. Söder zog die Augenbrauen hoch.
„Nichts zu essen –? Sind etwa die Vorräte –“
Türck schüttelte den Kopf.
„Sind noch da; gewiß. Aaber – das Programm is unvorherjesehen jeändert. Die große Bause …“
„Wie lange reichen wir noch?“
„Verleicht trei Wochen, wenn mer nich zuviel essen. Verleicht auch länger …“
„Drei Wochen – hm, das geht. Dann werden wir uns wohl oder übel nach einigen Ruhetagen zu Fuß aufmachen müssen …“
„Zu Fuße –?!“ unterbrach Türck den Kapitän mit einem entsetzten Gesicht, als sollte er lebend den Haifischen vorgeworfen werden. „Zu Fuße?! Nu nee, dann – dann fahre ich schon lieber Auto, – wenn ’ch eens dahädde.“
Automobile konnte Türck nämlich seltsamerweise ebensowenig leiden, wie das Zufußgehen.
„Nun, es wird uns ja wohl trotz aller Abneigung nichts anderes übrig bleiben, wenn wir nicht verhungern wollen.“
Türck seufzte tief und schwieg.
Drei Tage, beschlossen sie, würde Rast gemacht werden. Dann sollte es los gehen auf Alexandrien zu. Das hieß: nicht direkt bis dahin. Sie hofften, vorher Fischer zu treffen, die sie eventuell mit einem Segelboot hinbrachten. Das war doch immer noch angenehmer, als zu Fuß, und – sicherer. Wer wußte, was ihnen auf der Wanderung alles begegnete. Wüstenräuber strichen immer umher. Und wenn Söder und Türck auch gut bewaffnet waren, – gegen eine Horde von dreißig, vierzig Berittenen konnten sie natürlich nichts ausrichten.
Drei Tage brachten die Beiden dennoch ganz sorglos an Bord des „Delphin“ zu mit Kochen, Essen, Lesen. Besonders mit Lesen. Denn der „Delphin“ hatte eine kleine, aber prächtig ausgewählte Bücherei an Bord. Und nach jedem Aufenthalt in einem deutschen Hafen nahm Söder einen großen Packen neuer Literatur mit. Alles war da vertreten: Wissenschaften, Philosophie, Dichtung; alles. Diesmal fehlte auch nicht der neueste Roman des vortrefflichen Walther Kabel!
Lesen also. Aber – Hand aufs Herz, ihr Söder und Türck! – Dachtet ihr nicht doch nebenbei immer ein wenig an das, was werden sollte? An das, was nun kommen mußte? Sicherlich.
Sie dachten in der Tat daran. Zwischen den Zeilen des Buches tauchte immer wieder wie ein magischer Spuk das Bild auf: Wüste, die große, glutheiße Wüste; und sie darin, zwei winzige Menschlein. Zu Fuß –! Gewiß, die Strecke, die sie eventuell zurückzulegen hatten, war nicht sonderlich groß. Dennoch – es war halt Afrika. Für den, der ins Wasser gefallen ist, bleibt es völlig gleich, ob er eine Stunde oder drei Wochen darin liegt.
Und dann – war es so weit. Stumm, nur ab und zu stöhnend, packte Türck zusammen, was mitzunehmen notwendig war. Zwei Ballen wurden zurechtgemacht, von denen jeder einen tragen mußte. Einer mit Lebensmitteln und der andere mit – Wasser.
Türck stöhnte immer häufiger; Söder packte schweigend, schaute nur wieder und wieder auf den Berg von „unbedingt notwendigen Sachen“, der wuchs und wuchs … Und plötzlich versetzte er dem Stapel einen Stoß mit dem Fuß, daß alles durcheinander kollerte, – lief von Deck, warf sich da in einen Liegestuhl …
Türck kam langsam nach. Sah Söder blinzelnd an. Eine ganze Weile. Doch der beachtete ihn gar nicht; starrte aufs Meer hinaus –
„Was wird nun, Käpt’n?“ fragte Türck endlich. Ohne seine Stellung im geringsten zu ändern, entgegnete Söder in gleichmütigem Ton:
„Gar nichts wird. Warum? Weil es Irrsinn ist, daß zwei Menschen allein und zu Fuß in die Wüste hinausrennen wollen. Kompletter Irrsinn. Wenn das in Europa jemand hört, der Afrika nicht kennt, dann mag er uns für heldenhafte Naturen halten. Aber jeder, der von Afrika auch nur die leiseste Ahnung hat, würde uns nur eins empfehlen: die Gummizelle! Nein, ich mach’ nicht mit. Basta!“
„Gott sei Dank!“ kam es so recht vom Herzen Türcks. „Gedacht hab’ ich mir schon längst dasselbichte, ich saachde man bloß nischt. Von wäjen weil doch der Käpt’n auf’n Schiff Jewalt ieber Läben und Dot hat –“
„Ach, und da meinten Sie, ich könnte das als Insubordination auffassen!?“ lachte der Kapitän schallend.
„Nu freilich. Ich meende –“
Türck unterbrach sich plötzlich. Starrte nach einem bestimmten Punkt in dem flimmernden, braunen Sand. Sprang auf, zog den Revolver und lief die Laufplanke hinunter.
„Was ist los –?“ rief ihm Söder verblüfft nach. Doch er bekam keine Antwort mehr. Türck lief wie ein Polizeihund die Nase am Boden, lief, ohne sich noch einmal umzusehen in einer bestimmten Richtung davon; – verschwand hinter einem Sandhügel.
„Das ist denn doch –!“ knurrte Söder; griff ebenfalls nach seinem Revolver und ging den Spuren Türcks nach. Kam zu dem Hügel; ging um ihn herum; – da geschah es. Geschah etwas, das so blitzschnell vor sich ging, daß selbst Söder, der an dergleichen Möglichkeiten ständig gedacht hatte, völlig überrascht wurde.
Zehn, zwanzig braune Gestalten, Beduinen, warfen sich mit Geheul auf ihn und ehe Söder auch nur einen einzigen Schuß abgeben konnte, lag er gebunden am Boden. Ohne ein Wort hoben die Beduinen den Kapitän auf und trugen ihn fort. Wie wohlvorbereitete Arbeit sah das alles aus. Nicht weit ging der Weg. Hinter den Dünenhügeln des Strandes lag viel Fels. Große Blöcke. Manche sahen aus, wie von Menschenhand bearbeitet. Wer wußte schon, vielleicht war’s auch so. Vielleicht stand hier vor Jahrtausenden eine Stadt? Wer vermochte das zu sagen.
Im Schatten eines solchen Felsblocks legten die Beduinen den Kapitän nieder. Sein Arm stieß an einen anderen Körper. Er sah sich um … Türck!
„Na, da sein Sie ja, Käpt’n! Weeß Knebbchen, mir war schon janz traurig zumute.“
„Unverbesserlicher Leichtsinn!“ schalt Söder.
„Nu, nu, – sind Sie mir beese –? Bitte nich! Ich wer’s auch nich wieder duhn!“
„Haben Sie eine Ahnung, was die Kerls mit uns vorhaben?“ forschte Söder weiter. Türck schüttelte den Kopf.
„Geene Ahnung; aber ich denke so: Sie werden den „Delphin“ plündern wollen.“
„Hm,“ machte Söder. Gewiß, die Annahme hatte viel für sich. Und doch – er konnte sich eines Gefühls nicht erwehren, daß es anders sei. Wie aber –? Das sollten sie sehr bald erfahren. Sie hatten etwa eine Stunde da gelegen, als einer der Beduinen an der Spitze einer Schar anderer auf sie zukam. Er trug keine Waffen. Sein Gefolge auch nicht.
„Fremder,“ begann der Beduine in englischer Sprache; „wir haben dich und deinen Begleiter hierher geholt, um von euch etwas zu erlangen …“
„Da häddste ja man einfach bidden können, alder Schwarzkopp!“ polterte Türck los.
„Still doch!“ mahnte Söder. Der Beduine wandte nur ganz flüchtig den Kopf nach Türck. Er hatte ihn nicht verstanden, ohne Zweifel, mochte aber wohl aus dem Gesichtsausdruck Türcks entnommen haben, daß das, was er gesagt hatte, nicht gerade freundlich gewesen war. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum, sondern fuhr fort:
„In diesen Ruinen, die unser Wohnsitz sind, gehen seit einiger Zeit fremde Geister um, die uns stören und uns zu verjagen suchen. Unsere Weisen sind doch nicht weise genug, als daß sie den Spuk kennen oder gar zu bannen vermöchten. Ihr Abendländer wißt zwar im allgemeinen viel weniger, als wir, – nur seid Ihr in dieser einen Beziehung uns über. Wir wollen Euch nun freilassen, wenn Ihr uns versprecht, zu versuchen jenen Spuk zu bannen.“
Selbstverständlich versprachen die Beiden es feierlich, worauf die Beduinen sie losbanden, ihnen Lebensmittel und allerlei Erfrischungen zurück ließen, indem sie sagten, daß sie am nächsten Morgen wiederkommen wollten; dann bestiegen sie ihre Pferde und ritten im Galopp davon.
Söder und Türck waren allein. Das alles war so schnell gegangen, daß sie sich jetzt ganz verblüfft ansahen.
„Ooch een Wiistenabenteuer!“ sagte Türck kopfschüttelnd und machte sich über die Erfrischungen her.
„Halt, halt, nicht so hastig!“ wehrte der Kapitän. „Zum mindesten erst teilen. Aber ich denke, wichtiger ist erst, wir untersuchen einmal die Umgebung. Spuk? Oh, der braune Sprecher war gut! Wie gewählt der sprach! Fast so, als sei er selbst längere Zeit in Europa gewesen. Was ja wohl auch der Fall sein wird. Köstlich, wie er über die Weisen sprach! Natürlich Ironie. Der alteingewurzelte Aberglaube ist eben immer noch so stark, daß irgendeine außergewöhnliche Erscheinung die Leute dauernd von ihrem Wohnsitz zu verjagen angetan ist. Nun, wir werden sehen. Irgend etwas wird schon daran sein.“
Als sie dann die Umgebung besichtigten, erkannten sie unschwer, daß es sich hier wirklich um eine Ruinenstadt handelte. Sie fanden sogar riesige umgestürzte Säulen, in die primitive Bildwerke eingemeißelt waren. Besonders umfangreich war das Ruinenfeld allerdings nicht. –
Der Abend nahte. Söder hatte einen Lagerplatz ausgewählt, auf dem er nachts über ein Feuer zu unterhalten gedachte. Zu dem Zweck waren sie noch einmal zum „Delphin“ zurückgegangen und hatten Brennmaterial geholt. Denn in der Wüste findet sich nichts Brennbares. Bekanntlich verwendet man dort getrockneten Kamelmist zur Feuerung.
Sie hätten ja nun einfach ihr Wort nicht einlösen, nicht mehr in die Ruinenstadt zurückkehren brauchen. Aber einmal war Wortbruch nicht Kapitän Söders Sache; und dann hatte er auch noch einen Nebengedanken dabei. Er hoffte, durch den Dienst, den er den Beduinen hier leistete, sie zu einem Gegendienst zu verpflichten und mit ihrer Hilfe vielleicht den „Delphin“ flottzubekommen.
Jetzt brach die Dämmerung herein, die hier viel kürzer ist, als im nördlichen Europa. Und bald flammte über den Beiden der wundervolle südliche Sternenhimmel auf. Ja, er flammte. Anders konnte man es wirklich nicht nennen. Die überaus klare Luft dort läßt alle Sterne in einer Helle erstrahlen, so daß die nordafrikanische Nacht keine Finsternis kennt.
An Schlaf dachten Söder und Türck natürlich nicht. Bald schon nahte Mitternacht.
„Es wäre direkt kitschig,“ sagte Söder einmal, „wenn der Spuk – falls wir überhaupt etwas zu sehen bekommen – gerade um Mitternacht sich zeigen sollte.“
Das war kurz vor zwölf. Sie spähten beide gespannt umher … nichts. Nach einer Weile fragte der Kapitän:
„Warum liefen Sie eigentlich heute morgen so ohne weiteres fort?“
„Also, das war Sie nämlich.“ Türck sagte: „nämlich“, „so: zwee Gerls, die ganz blötzlich wo ufftauchten, schlebbten eenen dritten wech. Und der sah so aus wie en Europäer. Na nu – ich das sehn un rennen, war doch eens!“
„Verstehe ich durchaus; aber es war doch sehr unvorsichtig, – wie die Ereignisse bewiesen haben. Wir sollten eben durch jenes Manöver dorthin gelockt werden, wo man uns nachher überfiel.“
Türck nickte.
„Das gann schon meeglich sind. Aber wenn – – da, da, Käpten, sehen Sie!“
Auch Söder hatte es schon bemerkt. „Es“, – das Seltsame, Rätselhafte. Zwischen den Ruinen, in einiger Entfernung von den Beiden, ging, vom Mondlicht hell beschienen, eine weißgekleidete Frauengestalt! Aber nicht etwa eine nach Art der Beduinen gekleidete Frau. Sie sahen es alle beide ganz genau: es war eine Europäerin und ihre Kleidung auch keineswegs dergestalt, wie sie in den Tropen reisende Europäerinnen tragen, sondern eine regelrechte Sommertoilette, wie man sie wohl etwa in Berlin auf dem Kurfürstendamm anzutreffen gewohnt ist, nicht aber in Nordafrika am Rande der Wüste!
Langsam „lustwandelte“ dort diese merkwürdige „Erscheinung“. War das nun der Spuk, oder –? Ah, jetzt bog die weiße Frau in eine schmale Seitengasse der Ruinenstadt ein. Verschwand im tiefen Schatten.
Söder und Türck, – wie verabredet sprangen sie auf, rannten, die Revolver schußbereit, der Gestalt nach. Bogen in schnellem Lauf um die Ecke; prallten gegen drei dunkle Männergestalten, die sich im Nu auf sie warfen, ehe sie überhaupt dazu kamen, an ihre Revolver auch nur zu denken und banden sie kunstgerecht.
Niemand sprach ein Wort dabei. Die geheimnisvollen Drei – sie waren wie Beduinen gekleidet; mehr war im Schatten nicht zu erkennen – huschten davon. Auch die weiße Frau war verschwunden.
„Nun brat’ mir eener ’n Storch!“ brach Türck los. „Is das ’ne Art, mit gebildeten Leuten umzugehn?“
„Türck,“ entgegnete Söder, „die Sache ist wirklich geheimnisvoll. Was bedeutet die ganze Komödie? Wir werden überfallen, dann freigelassen und unter irgend einem Vorwand, an den der Beduine von vorhin wahrscheinlich selbst nicht geglaubt hat, hierher in die Ruinenstadt geschickt. Hier mimt dann eine Europäerin „Gespenst“, lockt uns in die dunkle Gasse, wo wir dann wieder überfallen werden; anscheinend auch wieder von Beduinen. Offen gestanden, ich verstehe die ganze Sache nicht. Ich bin gespannt, – – ah, es kommt jemand,“ setzte er nur noch flüsternd hinzu.
Da war der „jemand“ auch schon heran. Ein Beduinenmantel rauschte … Eine Männergestalt beugte sich zu Türck herab. Wollte er ihn ermorden? Söder riß und zerrte an den Fesseln. Umsonst. Sie waren nur zu geschickt geknotet. Sie hielten stand.
Jetzt lag Türck ganz still. Tot –?? Tot –?? Und nun kam die Reihe an Söder. Ah, und nun spürte der Kapitän sofort, um was es sich handelte. Chloroform! Er roch den widerlich süßlichen Duft des betäubenden Giftes. Mit äußerster Anstrengung wandte er den Kopf hin und her, um das Zeug nicht einatmen zu müssen. Vergeblich; es half alles nichts. Und mit entschwindendem Bewußtsein dachte Söder nur noch, daß es höchst unwahrscheinlich war, daß ein Beduinen Chloroform benutzte, daß dieser Beduinen infolgedessen wohl gar kein – –
Da dachte er nichts mehr. Schlief. Tief und traumlos, wie man bei Chloroformbetäubung schläft …
Wachte auf … richtete sich halb in die Höhe … blinzelte in das grelle elektrische Licht … Wo war er? War er nicht in Nordafrika, in der Wüste? Er sah sich um. Nach Wüste sah dies aber ganz und gar nicht aus. Ein Zimmer. Klein, mit zwei Betten –; ja, und – in dem anderen schlief Türck! Schlief noch ganz fest … Ein Tisch, ein Schrank, eine elektrische Stehlampe mit buntem Seidenschirm …
Was bedeutete das? Träumte er denn? Er kniff sich ins Bein. Au –! Es tat weh. Nein, er war wach. Dann – war die Sache mit den Beduinen und der Wüste ein Traum –? Wie aber kam Türck in dies fremde Zimmer? Wie er selbst? Seltsam! Rätselhaft! Mit einem Schwung wollte er aus dem Bett springen; und – wäre beinahe mit den Kopf zuerst herausgefallen; die Beine kamen nicht mit. Die waren mit dünnen Stahlketten an das Bett gefesselt.
Ah! Nun war einiges schon klar. Daß sie gefangen waren, stimmte. Aber von wem und wo? Unmöglich konnte doch dies Zimmer mit der modernen, europäischen Einrichtung und – vor allem – mit der elektrischen Beleuchtung in der nordafrikanischen Wüste liegen! Aber wenn nicht da, – wo denn sonst? Waren sie, während sie betäubt lagen, so weit gefahren, daß –? Unmöglich.
Ja, – unmöglich, unmöglich … Was hieß hier unmöglich? Sie lagen doch da. Die Betten, das Licht, das ganze Zimmer war doch tatsächlich da! War doch kein Traum, keine Halluzination! Was dann aber?
Kapitän Söder hätte die Reihe dieser Fragezeichen getrost ins Unendliche fortsetzen können. Und er hätte es auch getan, wenn nicht ein anderes Geschehnis seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Ein Vorhang wurde zur Seite geschlagen – Türen gab es in diesem Zimmer denn doch nicht – und herein trat – das Gespenst, die „weiße Frau“! Jetzt aber nicht in weißem Gewand, sondern mit einem ganz modernen, sehr chicken blauen Hauskleid.
„Hier, meine Gnädigste, stelle ich Ihnen Herrn Professor Mewius vor, von dem ich Ihnen schon so viel erzählt habe und den Sie kennen zu lernen wünschten,“ sagte van Harten und ließ Ellen Crosterbroux mit Mewius allein. So war es verabredet worden.
Harten hatte gut vorgearbeitet. Hatte Ellen von dem angeblich berühmten Professor erzählt, von seinen fabelhaften Fähigkeiten auf den Gebieten der Astrologie und ähnlicher Geheimwissenschaften. Und darauf war die exzentrische Amerikanerin „geflogen“.
Nirgend blühte der Horoskop- und Wahrsageschwindel so, wie in Amerika. Nirgend fristeten so viel Sterndeuter, Zukunftleser ihr Dasein von diesem Mumpitz, als in New York. Die reichste, sonst aufgeklärteste Bürgertochter ließ sich von Zeit zu Zeit wahrsagen, ein Horoskop stellen und dergleichen mehr. Und das waren dann nicht etwa Leute, die irgendwo im dritten Hofgebäude fünf Treppen hoch wohnten! Bewahre! In New York fuhr man bei diesen Schwindlern – anders konnte man sie doch nicht nennen – im Auto vor, mußte in einem eleganten Wartezimmer ausharren, wurde angemeldet, usw. – natürlich gab es auch andere. Solche auf Hinterhöfen. Gewiß. Doch auch – das war das Wesentliche – auf die oben geschilderte Art.
Ah, und nun eine Kapazität auf dem Gebiet? Den Mann mußte sie persönlich kennen lernen! Harten, der sich der Bekanntschaft mit Mewius gerühmt hatte, versprach, zu vermitteln. Was er denn auch getan hatte.
„Ich bin sehr erfreut, Gnädigste, von Ihnen hierher zitiert zu werden,“ sagte Mewius geschmeidig und versuchte, seiner Stimme möglichst alle Schärfe zu nehmen. „Verfügen Sie bitte über mich, meine Zeit und meine bescheidenen Kenntnisse und Fähigkeiten.“
„Mich freut es ebenso, daß Sie meiner Bitte entsprochen haben und gekommen sind, Mr. Professor. Über Ihre Zeit verfügen –? Ja, wenn es Ihnen recht ist, möchte ich gleich jetzt mit Ihnen ein Stündchen plaudern. Natürlich – verzeihen Sie, daß ich das sage – time is money – Zeit ist Geld. Die Höhe des Honorars können Sie selbst bestimmen.“
Mewius verneigte sich leicht.
„Sehr liebenswürdig, Gnädigste. Aber davon kann gar nicht die Rede sein, daß ich mir diese Zeitspanne, die – Sie – mir – widmen, bezahlen lasse. Ich diene der Wissenschaft. Wenn ich gelegentlich Vorträge halte und mir von meinen Hörern ein Eintrittsgeld geben lasse, ist das ja nur, weil ich – hm, hm, – doch leben muß.“
Ellen verstand. Das war eine Ablehnung mit der stillschweigenden Mahnung, sie doch nur ja nicht wirklich als Ablehnung zu nehmen. Nun, er sollte sein Geld bekommen, reichlich genug, wenn sie nur recht ausgiebig mit dem interessanten Mann sich unterhalten konnte. Auch darin war die Tochter des Platinkönigs die echte Amerikanerin.
„Halten Sie Horoskope für eine ernst zu nehmende Sache?“ forschte Ellen gleich darauf los. Mewius zog die Augenbrauen hoch und wiegte das Haupt.
„Ernst zu nehmen –? Ja, gewiß, so ernst, wie alles andere, oder – nichts. Aber Astrologie ist doch nur eine Wissenschaft zweiten Grades; wenigstens für die sogenannten exakten Wissenschaften. Während meiner Meinung nach – wenn ich die hier kurz anführen darf – die Astronomie beispielsweise viel eher als Wissenschaft zweiten Ranges zu gelten hätte, weil sie doch zu einem großen Teil auf Hypothese beruht. Indessen –“
Er stockte, zögerte einen Augenblick. Er merkte wohl, daß Ellen dem nicht zu folgen vermochte. Was Bildung in unserem Sinne betraf, da haperte es ja bei ziemlich allen Amerikanerinnen. Wissenschaften, die nicht irgendwie geschäftlich zu verwerten waren, existierten für sie nicht.
Mewius schwenkte ab.
„– indessen, – hm – ich habe da eine ganz neue Sache entdeckt, die ich Ihnen gern einmal vorführen möchte.“
„Vorführen –? Ach ja, bitte; haben Sie sie mit?“
„Ja.“
„Oh, das ist reizend!“
Sehen, ja, das war etwas anderes. Wo es etwas zu sehen gab, war man dabei. Sehen, – das war doch schon eher etwas „praktisches“. Mewius holte einen kleinen, schwarzen Kasten aus der Tasche, etwa zehn Zentimeter hoch, lang und breit, und entnahm ihm eine Kristallkugel. Hielt sie Ellen Crosterbroux hin.
„Diese Kugel, – mit ihr hat es seine ganz eigene Bewandtnis. Bitte nehmen Sie sie in die rechte Hand und schauen Sie hinein.“
Zögernd kam Ellen der Aufforderung nach.
„Was sehen Sie darin?“
„Nichts,“ befand Ellen.
Mewius verlangte:
„Blicken Sie unverwandt hinein.“
Dabei trat er hinter den Stuhl, auf dem sie saß, hob die Hände, diese bleichen, mageren Spinnenhände, und begann, in der Luft über dem Kopf Ellens magnetische Striche zu machen.
„Sehen Sie noch immer nichts?“
„Doch – ja; Farben. Ah, wie schön! Das wogt durcheinander. Ein, ein –“
„Nun, was ist es –?“
„Es ist – ein Meer. Seltsam bunt; aber ein Meer. Und jetzt – oh, entzückend! Jetzt kommt ein Segelboot. Noch mehr. Eine ganze Regatta. Wie sie schaukeln! Wie die Spritzer über Bug gehen! Und Menschen sitzen da –“
Mewius hatte immer noch Striche über dem Scheitel Ellens gezogen.
„Oh, nun verschwimmt alles wieder! Schade.“
Sie ließ die Kugel sinken. Strich mit der Linken über die Augen.
„Gnädigste sind müde. Kopfschmerz –?“
„In der Tat; ein wenig; nicht der Rede wert. Können Sie mir noch mehr zeigen?“
„Gewiß, – wenn es Sie nicht zu sehr ermüdet?“
„Nein, nein, durchaus nicht!“
„Dann, bitte, schauen Sie wieder in die Kugel.“
Ellen tat, wie ihr geheißen.
„So, – jetzt wird die Kugel Sie das sehen lassen, was Sie zu sehen wünschen. Wünschen Sie bitte.“
„Wirklich –? Dann möchte ich –“
Sie zögerte, brach ab. Ein Gedanke war ihr in diesem Augenblick gekommen, vor dem sie sich selbst ein wenig fürchtete. Dann aber sagte sie fest:
„Ich möchte Aspasia, die Wolkenkönigin sehen!“
Mewius war wieder hinter Ellen getreten. Wieder magnetische Striche … Seine unheimlich starren Blicke schienen sich förmlich in Ellens Gehirn zu bohren. Und Ellen sah, – sah Blau und rosa Nebel darin. Der Nebel wallte auf und ab, hin und her. Verdichtete sich zu Wolken … Die teilten sich allmählich … ließen einen Thronsessel sehen. Der schimmerte wie Gold. Und auf ihm saß – Hella Dörcksen, – nein, doch nicht Hella Dörcksen. Eine schöne Frau mit den Zügen Hellas. Auf dem Thron saß – die Wolkenkönigin, wie sie Ellen geschildert worden war!
„Das ist – –“ hauchte sie. Weiter kam sie nicht. Ihre Hand, die die Kugel hielt, sank herab, ihr Kopf auf die Brust. Sie – schlief. Und Mewius machte noch einige magnetische Striche über ihr; trat dann zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn …
Eine Weile ging Mewius im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Ellen Crosterbroux stehen. Ergriff ihre linke Hand.
„Ellen Crosterbroux, hörst du mich?“ fragte er laut. Klein und wie aus weiter Ferne kam ihre Stimme:
„Ja – ich höre –“
„Was wolltest du mit dem Flugzeug, das van Harten und Knout bauen? Antworte!“
„Nach den Lakkadiven fahren. Nach Dörcksens Insel.“
„Und dort?“
„Mahadur Mirat – – ich muß ihn haben!“
„Wen? Sage noch einmal den Namen! Ganz deutlich!“
„Mahadur Mirat“ wiederholte Ellen gehorsam. Mewius machte eine kleine Pause. Sekundenlang nur. Sagte dann:
„Du wirst von jetzt an nicht eher ruhen und rasten, bis du dein Ziel erreicht hast! Hast du mich verstanden?“
„Ja –“ hauchte Ellen.
„Und du wirst dabei dich der Hilfe Knouts und van Hartens bedienen und alle Vorschläge der Beiden befolgen!“
„Ja –“
„Wenn du jetzt aufwachst, wirst du nicht wissen, daß du geschlafen hast. Du wirst glauben, die ganze Zeit über in die Kristallkugel geschaut zu haben! Verstanden?“
„Ja,“ kam es wie ein Hauch von den Lippen Ellens. Mewius trat wieder hinter sie; blies ihr einige Mal auf den Scheitel. Rief dann: „Hallo!“ Da schlug Ellen die Augen auf und – sah lächelnd zu Mewius empor.
„Prachtvoll, Professor, einfach wonderful! Sie müssen mir die Kugel überlassen. Ich zahle jeden Preis.“
Doch Mewius hob die Achseln.
„Bedaure sehr, Gnädigste; aber von dieser Kugel, mit der es, wie ich mir bereits zu betonen erlaubte, eine besondere Bewandtnis hat, existiert auf der ganzen Erde nur ein einziges Exemplar. Eben dies. Es ist mir infolgedessen für alles Geld nicht feil.“
„Aber sie mir hin und wieder leihweise zur Verfügung stellen, – das werden Sie doch –?“
„Gewiß, gern, so oft Sie befehlen.“
Das war ein schönes Vierklee, das sich da zusammengefunden hatte: van Harten, Louis Knout, Harry Leakwoord und Mewius. Tatsächlich geriet Ellen Crosterbroux immer mehr in den Bann jener Männer. Die – lebten von ihr. Sie selbst hatte keine Ahnung von den inneren Zusammenhängen. Ihr Gefühl für Mahadur Mirat steigerte sich fast maßlos. Sie glaubte, alles daransetzen zu müssen, ihn doch noch für sich zu gewinnen.
Mit größter Gründlichkeit wurden die Pläne erwogen. Vor allem galt es, den Bau des Flugschiffes streng geheim zu halten. Da schlug Knout die Ruinenstadt an der Küste Ägyptens vor, von der er auf einer seiner Fahrten durch Zufall einmal Kenntnis erhalten hatte.
Ellen war damit einverstanden. Ja, die Idee begeisterte sie sogar, als Knout erzählte, daß in der Ruinenstadt noch viele unterirdische Räume so gut erhalten seien, daß man sie nur möblieren brauche, um tadellose Wohnräume zu erhalten.
Möblieren –! Das war das Stichwort, auf das Ellen „flog“. Eine moderne, komfortable Wohnungseinrichtung in der afrikanischen Wüste! Das war eine Sache, so recht nach dem Herzen der exzentrischen Tochter des Platinkönigs.
Ein Dampfer wurde gechartert und mit allem Erdenklichen ausgerüstet. Mit allem, was zu einer modernen Wohnung – im amerikanischen Sinne – gehört. Einige Schwierigkeiten bereitete die Beleuchtungsfrage. Gewiß, sie war in Nordafrika nicht so wesentlich, wie etwa in Deutschland. Aber dennoch mußte sie gelöst werden.
Van Harten schaffte es. Der ganze Balastraum wurde mit – Akkumulatoren vollgefüllt, die insgesamt für etwa fünf fünfzigkerzige Flammen eine Brenndauer von fast einem halben Jahr ergaben. Das war etwa die Zeit, die der Bau des Flugschiffes beanspruchen würde.
Das Schiff ging in See. Ellen war begeistert und auch unterwegs mit Berechnungen und Plänen dauernd beschäftigt. Das Vierklee – nicht minder. Noch sahen sie zu ihrem größten Bedauern große Summen Geldes für allerlei Sachen fortfließen, von denen sie nichts hatten. Doch waren sie erst einmal in Ägypten, dann würde sich die Schleuse auch für sie öffnen.
Es lohnte immerhin schon. Denn Knout hatte durch geschickte Fragen herausbekommen, daß das Vermögen, über das Ellen frei verfügen konnte, mehr als vier Millionen Dollar betrug, also eine Summe, die eigentlich – bedachte man den Zinsenzustrom – nicht zu erschöpfen war. Mewius tat sich nicht wenig darauf zugute, daß er es war, der allein dies glänzende „Geschäft“ durch seine Fähigkeiten ermöglicht hatte.
Aber, sprach er in diesem Sinn, winkte Harry Leakwoord ab. Und wer war es, der die Idee ausgeheckt hatte? Er. Die beiden Holländer wäre man gern losgeworden. Doch wie? Einmal waren sie zu sehr eingeweihte Mitwisser; und dann – auch vorläufig unentbehrlich. Harry selbst durfte sich von Ellen nicht sehen lassen. So hatte Mewius bei der hypnotischen Behandlung allen Einfluß in die Hände von van Harten und Knout legen müssen. Wie gesagt, sie waren unentbehrlich. Aber mancher Blick, den Mewius und Harry insgeheim wechselten, besagte: – Vorläufig!
Gewiß waren sie die Überlegenen. Harry Leakwoord, der Abenteurer großen Stils; und Mewius, der mit außergewöhnlichen Geisteskräften Begabte. Ihnen würde es nicht schwer fallen, ihre „Werkzeuge“, wie sie die Holländer bei sich nannten, zu gegebener Zeit zu – entfernen.
Mewius hatte Ellen gebeten, die Reise nach Ägypten mitmachen zu dürfen. Zur Erholung. Und die Amerikanerin hatte gern zugesagt. Ja, sie war erfreut, den interessanten Mann auf diese Wiese noch einige Zeit um sich zu behalten. Die geheimnisvolle Kugel vorenthielt er ihr jedoch jetzt; sagte, sie sei etwas getrübt; er werde sie jedoch so bald als irgend möglich „behandeln“.
Natürlich machte auch Harry Leakwoord die Reise mit. In Verkleidung; als zum Schiffspersonal gehörig. Er bewachte seine Komplizen scharf; die beiden Holländer und auch Mewius. Denn er dachte nebenbei immer daran, Ellen doch noch einmal für sich zu gewinnen; als Weib; nicht, weil er sie liebte; aber weil sie seine Sinnlichkeit reizte.
Die Fahrt ging ohne Zwischenfall von statten. Von Alexandrien aus sollten die Sachen mit Lastautomobilen nach der Wüstenstadt geschafft werden. Das war noch ein gutes Stück Arbeit; aber – der Zweck lohnte die Mühe. Die Holländer erwiesen sich als sehr brauchbar. Unter Leakwoords Leitung wurden bei einer englischen Automobilfirma Lastwagen gemietet, denen man extra breite Räder zur leichteren Überwindung der sandigen Stellen, die man durchfahren mußte, anbrachte. Auch hier wurde sowohl Zweck als auch Ziel des Transports verheimlicht. Die Firma war damit einverstanden, da man für die Wagen volle Kaution hinterlegte. Mochten sie also eventuell nicht mehr zurückgebracht werden. Nur die beiden Chauffeure wurden einigermaßen eingeweiht und ihr Stillschweigen mit großen „Trinkgeldern“ erkauft.
Alles ging gut. Die Lastautos brachten die Frachten zu der Ruinenstadt, luden sie dort ab und überließen dann sie und ihre Besitzer ihrem Schicksal; – fuhren nach Alexandrien zurück. Einen Mann der Besatzung des Dampfers hatte Knout als Diener zu engagieren vorgeschlagen. Ellen hatte ihm zugestimmt. Dieser „Diener“ war natürlich kein anderer, als Harry Leakwoord.
Nun mußte man zunächst primitiv leben. In kahlen Felskammern, und so. Aber es dauerte nicht lange, da hatten die Fünf sich eine Wohnung eingerichtet, die sich sehen lassen konnte. Inzwischen wurde die Umgebung besichtigt. Und da stieß man auf ein Beduinendorf, das ganz in der Nähe hart am Strand lag. Ein Palmenhain war da und fließendes Süßwasser.
Das war nun so eine Sache. Wie würden sich diese braunen Wüstensöhne zu den neuen weißen Nachbarn stellen? Nun, sie stellten sich höchst annehmbar. Es waren Beduinen, die englisch konnten und in der Zivilisation ziemlich weit vorgeschritten waren. Ihr Oberhaupt war sogar in Europa gewesen, in London, hatte dort mehrere Monate gelebt.
Besuche hin und her wurden gemacht. Harry Leakwoord, der Vielgereiste, wußte mit dergleichen Bescheid. So entspann sich bald ein enges Freundschaftsverhältnis zwischen Weiß und Braun. Mewius spielte dabei eine wichtige Rolle.
Das war so: eines Abends, als man bei den Beduinen zu Gast war, gab Mewius einige seiner harmlosen Kunststücke zum Besten. Der Erfolg war verblüffend. Die dünne Schicht Zivilisation fiel ab von den braunen Wüstenbewohnern und da standen ängstliche, fast zitternde Halbwilde. Einzig und allein der Führer, der den fremden Dingen, äußerlich wenigstens, standhielt.
Mewius und Leakwoord übersahen die Bedeutung dieses Umstandes sofort. Und insgeheim schlossen sie mit den Beduinen eine Art Pakt zu „gegenseitigem“ Schutz. Vorsichtig eröffnete Leakwoord ihnen einen Teil ihres Geheimnisses. Sie wollten, erzählte er, hier eine Wundermaschine bauen, die durch die Luft fliegen könne. Das müsse jedoch ganz geheim bleiben. Darum seien sie in die Ruinenstadt gezogen. Und – auch das solle geheim bleiben. Er bat die Beduinen, stets auf Annäherung Fremder achtsam zu sein, und besonders Weiße, die sich in der Nähe blicken ließen, unter irgend einem Vorwand nach der Ruinenstadt zu bringen. Und noch einige andere Abmachungen traf er mit ihnen. Als Gegenleistung sollten die Weißen, insbesondere Mewius, den Beduinen in allen Fällen mit Rat und Tat zur Seite stehen, wo sie irgend eines „magischen Zaubers“ bedurften, sei es zur Unterdrückung einer Krankheit oder eines Feindes. –
Schneller als erwartet sollte der ersterwähnte Fall eintreten. Eines Abends kam einer der Beduinen angesprengt. Er erzählte, daß zwei Europäer, deren Schiff in der Nähe gestrandet sei, bei den Ruinen gesichtet worden wären. Sie würden sie herlocken.
Ob sie Waffen trügen und wie sie sonst ausgerüstet seien, wurde der Beduinen gefragt. Die Antwort ließ den beiden Holländern die Sache bedenklich erscheinen. Spione –? Man konnte nie wissen. Jedenfalls wollte man sich der beiden Fremden versichern. Zu dem Zweck wurde mit dem Beduinen ein besonderer Plan besprochen. Und so – kamen denn Kapitän Söder und sein treuer Begleiter Türck in die Gewalt Ellen Crosterbroux’ und ihres Anhanges – – –
Harry Leakwoord betrat das Zimmer, in dem die beiden Seeleute gefesselt in den Betten lagen.
„Guten Tag, meine Herren. Gut geschlafen?“
Das sagte er auf englisch. Türck dagegen polterte auf – sächsisch:
„Den Deibel ooch! Guten Dach … Es is werklich eene Gemeenheet, eenen so zu frozzeln!“
Erstaunt ob der vielen „E’s“ sah Leakwoord den kleinen Alten mit dem faltigen Gesicht eine Weile sprachlos an. Dann ergriff Söder das Wort:
„Ich habe also recht vermutet, daß wir nicht Beduinen, sondern weißen Räubern in die Hände gefallen sind.“
„Räuber –? Das dürfte nun doch nicht ganz stimmen.“
Kapitän Söder zuckte die Achseln.
„Aus der Behandlung, die Sie uns zuteil werden lassen, kann ich kaum etwas anderes schließen.“
„Behandlung –? Liegen Sie in dem Bett nicht ganz gut?“
„Das schon; aber ich wünsche nicht, hier zu liegen. Wenn man überfallen, betäubt und gefesselt wird –“
„Nun ja, die Sache liegt so,“ unterbrach Leakwoord den Kapitän; „wir haben hier ein Geheimnis zu wahren, das allen fremden Augen unbedingt verborgen bleiben muß. Und darum ließen wir Sie einstweilen gefangen nehmen, um zu prüfen, was Sie hierherführt.“
„Schiffbrüchige sind wir,“ entgegnete Söder; „unser Schiff ist auf den Strand geschleudert worden. Wir haben nun keine Möglichkeit, es wieder flott zu machen. Kamen daher auf die Idee, zum nächsten bewohnten Ort nach Hilfe zu gehen. Sie sehen also, ein ganz harmloser Weg, der uns hierherführt.“
Harry Leakwoord nickte langsam.
„Ja, von dem auf den Strand gelaufenen Schiff hörten wir bereits. Aber – man kann ja auch mit Absicht auf den Strand laufen.“
Söder wiegte das Haupt.
„Ihr Geheimnis muß recht heikler Natur sein, daß sie so mißtrauisch sind …“
„Das wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber was das Mißtrauen anbelangt, – Sie werden doch zugeben, daß es seltsam anmuten muß, wenn von einem gestrandeten Seedampfer sich nur zwei Mann sehen lassen. Wo sind die anderen hingekommen?“
„Wir sind nur zwei. Mein Schiff ist kein Dampfer, sondern ein elektrisches Motorschiff, das tatsächlich nur zwei Mann zur Bedienung benötigt. Das mag Ihnen unglaubhaft erscheinen; aber kommen Sie mit; ich bin bereit, Ihnen mein Schiff und seine Einrichtungen zu zeigen.“
„Wir wollen ja auch nicht weiter an Ihren Worten zweifeln. Wenn Sie uns versprechen, sich um nichts hier zu kümmern, wollen wir Sie freigegeben und Ihnen bis zu Ihrer Abreise Gastfreundschaft gewähren.“
„Das ist einerseits recht freundlich, andererseits klingt es fast ironisch. Abreise … Ich sagte schon: wir liegen fest, wir können nicht los.“
„Nun, dem ginge eventuell abzuhelfen. Ein Beduinenstamm, der hier in der Nähe wohnt, ist mit uns eng befreundet. Vielleicht wenn die mit vereinten Kräften …“
Söder horchte auf. Das war vielleicht wirklich ein Gedanke!
„Wenn die Beduinen sich dazu bereit fänden …“
„Ich glaube fast, dafür garantieren zu können. Ich will nun Ihre Fesseln lösen.“
Er tat es. Die beiden Seeleute standen auf, dehnten die Glieder. Leakwoord sagte:
„Einstweilen bleiben Sie bitte noch hier. Das Essen wird gleich fertig sein. Dann hohle ich Sie. Aber – vergessen Sie eins nicht: kümmern Sie sich um nichts sonst! Und vor allem, suchen Sie nicht, in andere Teile unserer – Wohnung vorzudringen! Ich müßte sonst, so leid es mir täte, Maßregeln ergreifen, die Ihnen wahrscheinlich wenig angenehm sein würden.“
Er verließ das Zimmer. Söder und Türck sahen sich an, als er hinaus war.
„Nee, hab’ ich eenen Hunger. Der is nicht von Babbe.“
Türck meinte natürlich „Pappe“; aber die harten und weichen Konsonanten auseinanderzuhalten, wird der Sachse wohl nie lernen. Kapitän Söder sagte sinnend:
„Seltsam, – seltsam ist das. Dieser Mensch verhandelt mit uns, als wenn er hier allein zu bestimmen hätte. Dabei war er wie ein Bedienter gekleidet. Und das Geheimnis, das hier gehütet wird, das kann auch nicht von „Babbe“ sein. Dieses Mißtrauen; diese Vorsichtsmaßregeln; diese Drohungen!“
Er wollte noch weiter sprechen; kam aber nicht dazu. Knout trat ein, stellte sich ganz korrekt vor und bat die Herren zu Tisch. Sie folgten ihm durch einen ziemlich langen, steinernen Gang, betraten dann ein anderes, größeres Zimmer, das sie zuerst noch mehr staunen machte, als das vorige, dann sie noch gründlicher vergessen ließ, daß man in der nordafrikanischen Wüste saß.
Ein Eßzimmer wars mit allem, was dazu gehörte. Wie in irgend einer europäischen Großstadt. Wirklich staunenswert. Knout machte den Kapitän und Türck mit Ellen, van Harten und Mewius bekannt. Ellen machte die Hausfrau, was sie ganz reizend kleidete, – weil sie nicht nach dem Typ „Hausfrau“ sich gab.
Man aß. Das Essen war auserlesen. Alles aus Konserven bereitet. Dann sagte Knout, daß sie jenes Zimmer, in dem sie vorher gelegen hatten, auch weiterhin als das ihre betrachten sollten. Und – falls sie irgendwelche Wünsche hätten, sollten sie sie sagen. Morgen könnte man zu den Beduinen gehen und mit ihnen wegen der Hilfeleistung bei der Flottmachung des Schiffes sprechen.
Darauf zogen die Beiden sich in „ihr“ Zimmer zurück.
„Immer merkwürdiger wird die Sache; immer seltsamer,“ sagte Söder kopfschüttelnd; „wirklich macht jenes Individuum, das zuerst zu uns hereinkam, hier den Diener. Dabei hat er einen etwas eigentümlichen Blick; ich weiß nicht recht zu sagen, wie. Eigentümlich jedenfalls. Und die anderen, – die haben schon fast Galgenphysiognomien. Besonders dieser Mewius. Das Interessanteste aber ist die Frau des Hauses. Welche Rolle spielt die hier? Geliebte eines dieser Männer? Kaum. Sie sprechen alle mit ihr mit einem Unterton von Devotion, so, als ob die Frau ihre – Herrin sei; oder als ob sie viel Geld besäße. Eins steht jedenfalls fest: hier waltet tatsächlich ein großes Geheimnis. Vielleicht eins, das mit – Verbrechen zusammenhängt … Ich habe nämlich während des Essens eine Beobachtung gemacht, – eine höchst interessante Entdeckung.“
„Und was für eine ist das?“ fragte Türck, der so gespannt war, daß er sogar zu sächseln vergaß.
„Jene Frau steht irgendwie unter hypnotischem Einfluß. Ich kenne das sehr genau; sehe das am Ausdruck der Augen. Ich habe mich vor Jahren lange Zeit mit diesen Dingen beschäftigt. Weiß da ein wenig Bescheid. Wie gesagt: die Frau steht unter hypnotischem Einfluß. Aber ich habe noch mehr beobachtet. Nämlich, daß jener, der sich Mewius nennt, der geborene Hypnotiseur ist. Im Blick, in der Stimme, in der ganzen Art, sich zu geben. Vielleicht ist er es, unter dessen Gewalt die Frau steht. Nicht vielleicht, sondern wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich.“
„Das werd schon meeglich sin …“ entgegnete Türck langsam. Man sah es ihm an, daß er soeben nicht bei der Sache war.
„Woran dachten Sie soeben?“ forschte deshalb Söder.
„Wie man der Frau helfen könnde …“
Da klopfte ihm der Kapitän auf die Schulter.
„Das ist recht. Daran erkenne ich wieder meinen alten Türck. Er weiß selbst nicht, ob er noch einmal aus dieser Wüste herauskommen wird und – denkt daran, wie er anderen helfen könnte. Recht so. Aber – auch ich habe daran gedacht. Vergegenwärtige ich mir das Ganze, dann habe ich das bestimmte Gefühl, hier ist eine ganz große Teufelei im Gange und diese Teufelei richtet sich gegen die Frau. Aber – ich komme schon dahinter. Wartet nur!“
Türck schmunzelte. Er wäre für seinen Kapitän durchs Feuer gegangen. Wegen des guten Herzens. Und sie waren auch immer einer Meinung in solchen Dingen. Jetzt etwa von hier fortgehen, wo man allerlei Rätselhaftes entdeckt hatte und annehmen mußte, daß diese Frau irgendwie ein Opfer von Verbrechern sei? Nein, das hätte Söder nie fertig bekommen. –
Sie hielten sich den ganzen Tag über in dem ihnen zugewiesenen Raum auf, hielten auch ihr Versprechen, indem sie keinen Versuch machten, zu schnüffeln. Nur an den beiden Mahlzeiten, die während des Tages noch eingenommen wurden, verließen sie, von Leakwoord geholt, das Zimmer und begaben sich in den Speiseraum. Abends sagte Söder zu Türck, als sie wieder in ihrem Zimmer zusammensaßen:
„Morgen also. Ich halte die Idee wirklich –“
Weiter kam er nicht. Geheul, Gepolter draußen. Als sei die Hölle losgelassen. Schreien. Ein Schluß fiel. Noch einer. Mehrere hintereinander …
Mechanisch griffen Söder und Türck nach ihren Revolvern. Die waren ihnen natürlich abgenommen worden. Und da war die Meute auch schon heran. Vier, sechs, zehn wilde braune Gesichter drängten sich in das Zimmer. Ein kurzes Handgemenge, das eigentlich keins war. Von Gegenwehr seitens der beiden Weißen konnte ja angesichts dieser Übermacht gar nicht die Rede sein. Dann lagen sie wehrlos gefesselt am Boden.
Ein Kommandowort. Vier der Kerle hoben Söder und Türck auf und trugen sie hinaus. Draußen wimmelte die Ruinenstadt von Beduinen. Pferde scharrten ungeduldig. Auch die Insassen der Wohnung, Ellen nicht ausgenommen, standen draußen – gefesselt. Waren das nun die „befreundeten“ Nachbarn? Oder ein feindlicher Stamm?
Knout bestätigte Söder das Letztere durch Zuruf. Ein feindlicher Beduinenstamm hatte sie überfallen, nachdem der wahrscheinlich jenem befreundeten Nachbarstamm das gleiche Schicksal bereitet hatte und siegreich gewesen war. Und ihr eigenes Schicksal –? Je nun, das war wohl mehr als ungewiß.
Einzeln wurden die Gefangenen nun auf Pferde gesetzt, dort festgebunden, ein Beduine sprang hinter ihnen auf und los ging’s in die Wüste hinein, daß der Sand nur so wirbelte. Gerade war der Mond rot und riesengroß aufgegangen. Sein Schein beleuchtete gespenstisch die ungeheure Sandfläche.
Ein schönes Bild. Söder ließ trotz des rasend schnellen Rittes seine Blicke schweifen. Wirklich ein grandioses Bild, ein überwältigend phantastisches Bild. Die weite Wüstenfläche in fahlem Mondlicht, der Mond selbst groß darüber … Dann die Schar von mindestens sechzig Reitern, die in wildem Tempo einhersprengten. Geisterhaft flatterten ihre Burnusse.
Man hätte dieses Bild genießen können, wenn man es in anderer Situation erlebt hätte. Dennoch blieb es in Söders Gedächtnis als unauslöschlicher Eindruck zurück.
Endlos schien dieser Ritt. Waren es nicht schon Stunden, die man unterwegs war? Söder und Türck taten bereits alle Glieder weh, da sie sich nicht ausreichend bewegen konnten und infolgedessen bei dem wildem Ritt arg gestoßen und hin und her geschleudert wurden.
Endlich, endlich kamen Zelte in Sicht. Eine ganze Zeltstadt. Die Beduinen verlangsamten den Lauf ihrer Tiere. Sie ritten in das Dorf ein. Weiber, Kinder und Greise, – alle erwarteten sie; alle waren wach und auf in dieser Nacht; alle begrüßten die Heimkehrenden mit lautem Geschrei.
Man umringte sie, umringte vor allem die Gefangenen, betastete sie gar, – während die Ältesten anscheinend eine Beratung abhielten. Etwa eine halbe Stunde dauerte die. Dann kehrten sie zurück; und nun wandte man sich wieder den Gefangenen zu. Sie wurden zu je zweien in ein Zelt geführt und dort gefesselt niedergelegt. Leakwoord und Knout zusammen, van Harten mit Mewius, Söder mit Türck. Nur Ellen kam in ein Zelt allein.
Außer den Gefangenen blieb niemand in den Zelten; aber wahrscheinlich waren Wachen in der Nähe. Draußen verstummte der Lärm allmählich. Knapp zwei Stunden später schien alles zu schlafen. –
„Türck –?“
„Ja, Käpt’n …“
„Ich bin bald frei. Die Fesselung war nicht sehr geschickt. Und Sie –?“
„Ich hoffe, auch bald soweit zu sein.“
Im Flüsterton alles. Und dann – dann standen die Beiden aufrecht, dehnten und streckten die schmerzenden, steifgewordenen Glieder. Die Stricke lagen am Boden.
„Haben Sie gesehen, wo die Frau untergebracht worden ist?“
„Ja, zwei Zelte weiter in dieser Reihe.“
„Wollen wir sie befreien und zu entfliehen versuchen?“
„Von mir aus …“
„Wir riskieren eventuell das Leben …“
„Wär’ nicht das erste Mal …“
„Also los. Nicht vorne heraus natürlich. Eventuell gilt es, eine Wache zu beseitigen. Schneiden wir hinten einen Schlitz in die Zeltwand …“
Glücklicherweise hatte man ihnen in der Ruinenstadt die Taschenmesser gelassen. Schnell war damit eine Öffnung geschaffen. Türck steckte den Kopf hinaus. Sah nach links, sah nach rechts … Nichts. Kein Mensch, kein Tier. Er schlüpfte hinaus. Söder folgte ihm vorsichtig nach der Vorderfront des Zeltes. Eine Wache –? Nein, keine Wache. Husch, husch – zum zweiten Zelt. Und hinein.
Ein leiser Laut.
„Gnädige Frau –?“
„Ja, ich –“ kam als Antwort, ebenso gedämpft.
„Rasch, wir wollen fliehen!“
Schon zerschnitt er Ellens Stricke. Sie sprang auf. Dehnte sich.
„Rasch. Wir werden versuchen, zu den Pferden zu gelangen. Dann fort.“
„Und die anderen –?“ fragte sie.
„Die – kommen nach,“ log Söder. Er dachte an Mewius, an den hypnotischen Einfluß, an die anderen Galgengesichter … Dachte, daß diese Frau sich eventuell weigern könnte, mitzugehen, wenn … Darum log er ihr vor, daß die anderen nachkämen. Ellen jedoch glaubte das ohne weiteres. Wie hätte sie auch darauf kommen sollen, an den Worten Söders zu zweifeln? Dann schlich wieder Türck als Erster hinaus.
Das ganze Dorf lag in tiefster Stille da. Nirgend war eine Wache zu sehen. Erfreulich, aber befremdend. Wie, wenn diese Ruhe nur Täuschung wäre? Aber zu solchen Erwägungen war jetzt keine Zeit. Schon flog ein matter Schimmer durch die Luft. Bald würde die Sonne kommen. Bis dahin mußten sie außer Sicht sein.
„Dort sind die Pferde!“ sagte Söder. Sie liefen auf die Umfriedung, in der sich die Tiere befanden, zu. Doch immer noch unter Beachtung größter Vorsicht. Hier war nun bestimmt anzunehmen, daß eine Wache da war.
Doch nein, kein Mensch zu sehen. Die Beduinen mußten sich hier wohl sehr sicher fühlen. Nun schlichen die Drei … Wenn nur keins der Tiere wieherte! Pferde mußten sie haben, sonst war jede Flucht aussichtslos. Was Diebstahl –! Freiheitsberaubung war auch ein Vergehen. Auch Zaumzeug, das herumlag, nahmen sie. Diebstahl –? Über solche Bedenken hinweg zu gehen, gebot der Selbsterhaltungstrieb.
„Können Sie reiten –?“ fragte Söder Ellen.. Sie bejahte. Hatte sie doch mehrere Jahre im Westen Amerikas gelebt. – Drei Pferde entführten sie den Beduinen. Jagten gleich darauf in die Wüste hinein, nach Norden, dem Meer zu.
Etwa eine Stunde waren sie geritten, in scharfem Galopp, – dann ließen sie die Tiere langsamer gehen. Die Sonne war aufgegangen. Den Blicken der Beduinen verbargen sie längst sandige Dünen.
Plötzlich hob der Kapitän den Arm, wies in die Ferne.
„Dort, – dort –!“
Türck und Ellen Crosterbroux blickten in der angedeuteten Richtung. Zwei Reiter sprengten dort über den Sand. Söder, der die schärfsten Augen hatte, erklärte:
„Eine Frau –; sie wird verfolgt –; ihr Pferd scheint schon müde zu sein. Der Abstand zwischen ihr und dem Verfolger wird kleiner und kleiner … Ah, jetzt – jetzt hat er sie erreicht; packt sie; sie halten beide; er – reißt sie vom Pferd. Ah, sie wehrt sich. Freunde, ich glaube, da gibt es etwas zu helfen. Vorwärts! Mir nach!“
Und ohne sich darauf zu besinnen, daß er keine Schußwaffe bei sich hatte, sprengte er in der Richtung der beiden Fremden fort. Türck und Ellen folgten ihm auf dem Fuße. Dann fiel es dem Kapitän zwar ein, daß er waffenlos war; aber deshalb tatenlos zusehen? Nimmermehr!
Er galoppierte weiter. Türck, hinter ihm, hegte ganz die gleichen Gedanken; aber auch er schwieg. –
Jetzt waren sie heran. Der Beduine wollte gerade die sich verzweifelt Wehrende auf sein Pferd ziehen, – da kam Söder dazwischen.
„Halt, mein Lieber, geht man so mit Frauen um?!“
Erstaunt blickte sich der Braune um, ließ in seinem Erstaunen das Mädchen los, das sofort zu dem Kapitän flüchtete. Nun waren auch Türck und Ellen angelangt. Der Beduine richtete sich zornig im Sattel auf.
„Sie gehört mir. Sie ist meine Sklavin!“ rief er empört. Instinktiv griff er dabei zu seiner langen Büchse. Doch eine drohende Gebärde ließ ihn wieder davon Abstand nehmen. Er war allein, hier drei; und außerdem konnte er nicht wissen, wie es um die Bewaffnung seiner so plötzlich aufgetauchten Gegner stand.
Söder richtete sich auf.
„Deine Sklavin? Niemand ist des anderen Sklave. Das ist Unfug; so etwas gibt es nicht; darf es nicht geben!“
Die Unterhaltung wurde in englischer Sprache geführt. Nun ließ sich das Mädchen vernehmen, das sich Schutz suchend an des Kapitäns Pferd schmiegte.
„Er wollte mich auf dem Sklavenmarkt verkaufen,“ sagte sie. „Mein Vater schenkte mich ihm …“
„Nette Familie!“ brummte Türck.
„Sie ist mein!“ beharrte der Beduine und wollte nach des Mädchens Arm greifen. Doch schnell schob sich Söder zwischen sie und ihn.
„Nichts da, Bursche, keine Gewalt! Wenn das Mädchen freiwillig mit dir geht, dann ist’s gut. Andernfalls steht sie unter meinem Schutz.“ Und zu dem Mädchen:
„Willst du mit diesem Manne gehen?“
Da schüttelte die Fremde heftig den Kopf.
„Nein, nein, will nicht! Will mit euch gehen!“
Söder nickte dem Beduinen zu.
„Du hörst: sie will nicht mit dir kommen. Jeder Mensch soll über sich selbst bestimmen. Also geh!“
Mit haßerfülltem Blick wandte der Braune sein Roß und sprengte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Inzwischen nahm sich Ellen Crosterbroux des fremden Mädchens an. Sprach freundlich zu ihr, die schnell zutraulich wurde. Fragte sie:
„Wie heißt du?“
„Amara.“
„Wohl eine Ägypterin dem Typ nach …“ meinte der Kapitän. Er musterte wohlgefällig die geschmeidige Gestalt. Das Gesicht der Ägypterin war von einer eigenartigen Schönheit. Das tiefschwarze, nach beiden Seiten glatt herunterfallende Haar, die bronzefarbene Haut, die großen Samtaugen, all das verlieh diesem Gesicht einen eigenen Reiz. Dazu kam noch der schlanke, ebenmäßige Wuchs des jungen, doch bereits vollreifen Körpers.
Wie alt sie war? Das ist bei den Mädchen der Tropenzone schwer abzuschätzen, die viel früher reif werden, als die Kinder des nördlicher gelegenen Europa.
„Wie alt bist du?“ fragte Ellen. Eine kleine Weile zögerte das Mädchen, bevor es antwortete; so, als müsse es sich besinnen. Sagte dann:
„Achtzehn Mal feierten meine Eltern das Fest der Isis seit ich geboren wurde.“
„Also achtzehn Jahre. Hm – sag’, Amara, willst du mit uns kommen? Kennst du diese Gegend?“
Die junge Ägypterin nickte.
„Gewiß kenne ich dies Land. Gern gehe ich mit euch.“
„Wir bringen dich zu deinen Eltern zurück, wenn die hier in dieser Gegend wohnen,“ sagte Söder; doch Amara schüttelte den Kopf.
„Meine Mutter ist lange tot; und mein Vater würde mich nur – verkaufen oder verschenken.“
„Warum schenkte er dich jenem Mann?“
„Mein Vater war ihm viel Geld schuldig. Ibrahim drängte und drängte; aber mein Vater konnte nicht zahlen. Da verlangte Ibrahim mich –“
„Und du mochtest ihn nicht?“
Amara schüttelte heftig verneinend den Kopf.
„Ich mag ihn nicht. Ich mochte ihn gleich nicht. Doch er zwang mich. Ich entfloh, wurde von ihm verfolgt … Dann kamst du, Sidhi.“
„Nun, und ist das gut –?“
„Es ist sehr gut,“ sie sah ihn mit einem warmen Blick dankbar an; „ich bin deine Sklavin, Sidhi.“
Söder lachte.
„Warum nicht gar! Nein, du bist frei, Amara, wie jeder andere Mensch. Wenn ich dir mit meinem zufälligen Dazwischentreten etwas Gutes getan habe, freut es mich. Das ist alles. Aber nun sag’ einmal, hast du Verwandte, die sich deiner annehmen könnten?“
Sie nickte.
„Ja, in Kerun.“
„Wo liegt das? Ist es eine Stadt?“
„Es ist eine Wasserstadt. Nicht weit von hier.“
„Eine Wasserstadt …“
Söder wußte nicht recht, was Amara unter dem Wort verstand. Vielleicht ein Fischerdorf. Aber das war ja gleichgültig. Er sagte:
„Gut also nach Kerun,“ und zu Ellen und Türck gewandt: „ich schlage vor, daß wir uns zum Meer wenden. Erreichen wir Kerun, versehen wir uns dort mit Proviant und begeben uns dann nach der Strandungsstelle des „Delphin“. Vielleicht können wir in Kerun genügend Hilfe bekommen, das Schiff freizumachen.
Die anderen waren damit einverstanden. Schon wollte sich die kleine Kavalkade in Bewegung setzen, als Türck plötzlich nach Süden wies.
„Wir werden verfolgt!“
Dort wirbelte eine Staubwolke empor. Sie rührte von einer Anzahl Reiter her, deren Zahl noch nicht feststellbar war. Doch eins hatten Söders scharfe Augen sogleich erkannt. Er schüttelte den Kopf.
„So reiten keine Beduinen. Es sind auch keine. Sind Europäer. Vielleicht ist es auch jenen Gefangenen gelungen, zu entfliehen …“
Man wartete. Die Reiter kamen bald näher. Vier Mann waren es. Und jetzt erkannten auch Türck und Ellen bereits, daß es sich tatsächlich um Mewius und die anderen handelte. Söder knurrte etwas in sich hinein, das ungefähr so klang, wie – „den Teufel nicht an die Wand malen …“ Er dachte daran, daß er Ellen gesagt hatte, die anderen kämen nach. Nun kamen sie wirklich …
Indessen, jetzt war aber die Situation eine ganz andere. Sie standen jenen auf gleicher Höhe gegenüber. Beide ohne Waffen. Der Kapitän war davon überzeugt, daß hier eine Teufelei im Gange war, die sich gegen Ellen richtete. Jetzt, da Mewius und die anderen sich näherten, sah er wieder deutlich den Einfluß, unter dem sie stand.
Jetzt waren jene heran, hielten inne mit Reiten. Worte wurden hin und her gewechselt. Ja, auch sie waren glücklich entkommen. An das, was vorher gewesen war, dachte niemand. Söder war das ganz lieb und jene – hatten im Augenblick Wichtigeres zu tun. Man müsse sogleich zusammen weiterfliehen. Denn – ihre Flucht sei gleich hinterher bemerkt worden, – das ganze Dorf in Aufregung geraten.
Kapitän Söder blickte zum Horizont. In der Tat, – da war schon die große Staubwolke, – einige dunklere Flecke darin erkennbar … die Verfolger.
Und gleich darauf sprengten nun alle acht nordwärts: die beiden Holländer, Harry Leakwoord, Mewius, Söder, Türck, Ellen Crosterbroux und Amara. Wild ging die Hetze. Eine Jagd auf Leben und Tod. Kamen die Verfolger näher? Ab und zu sah Söder sich um. Kein Zweifel, – sie kamen näher. Sollte man dennoch, dennoch verloren sein?
Zwar – einen wesentlichen Vorsprung hatten sie ja immer noch. Nach Söders Schätzung würde es noch gut eine Stunde dauern, bis die Verfolger sie eingeholt hätten. Vielleicht auch weniger, – wenn sie vorher nicht von ihren Schußwaffen Gebrauch machten … wenn …
Eine halbe Stunde war vergangen. Wieder einmal sah der Kapitän sich um. War es nicht, als blieben die Beduinen zurück? Er wartete noch eine gute Weile; sah sich dann nochmals um –: sie waren verschwunden! Sie hatten die Verfolgung aufgegeben! Den Grund sollte Söder bald erfahren. Kerun war nicht mehr weit.
Zwischen Sandhügeln sahen die Flüchtlinge bald das Meer auftauchen. Wenig später ritten sie in das Fischerdorf Kerun ein, – bestaunt von den Einwohnern und deren Kindern. Es war auch die höchste Zeit, daß sie hier anlangten. Hatten sie doch seit gestern abend nichts gegessen. Dazu kam jetzt noch der stundenlange, scharfe Ritt. Kurz, sie alle, besonders Ellen, waren erschöpft. Um so wohltuender war die Ruhe, die sie bei Verwandten Amaras und deren Nachbarn fanden. Sie wurden freundlich und entgegenkommend aufgenommen; was an Speisen und Getränken nur aufzutreiben war, ihnen zugetragen. Dabei bekamen Söder und Türck zu ihrer geheimen Verwunderung immer das Beste und auch am meisten.
Durch Amara erfuhren sie später den Grund dieses Umstandes. Sie hatten miteinander meistens Deutsch gesprochen. Und wenn die Ägypter sie auch nicht verstanden und nicht wußten, was für eine Sprache das war, so bedeutete es für sie doch schon genug, zu wissen, daß die Beiden keine Engländer waren. Denn auf die sind die Ägypter schlecht zu sprechen. Auch die beiden Holländer wurden dementsprechend behandelt.
Dann – am nächsten Morgen – sollte der Aufbruch stattfinden. Aber zunächst brachte dieser Morgen eine Überraschung. Die vier „Gauner“ – wie Söder bei sich Mewius, Leakwoord und die beiden Holländer nannte – waren verschwunden und mit ihnen – Ellen Crosterbroux! Sie hatten sich in der Nacht aus dem Staub gemacht und die Amerikanerin mitgenommen. Sicherlich ohne deren Willen.
Die Bewohner des Gehöfts, das jene beherbergt hatte, konnten nur angeben, daß die Vier nachts abzureisen wünschten, sich hatten gut verproviantieren lassen und dann in östlicher Richtung davongeritten seien.
„Nun, wir trauern ihnen nicht nach,“ meinte Söder einfach. „Gewiß, schade bleibt es. Ich hätte der schönen Amerikanerin gern geholfen; aber es hat nun einmal nicht sein sollen. Nichts zu machen.“
Auch sie ließen sich von den Fischern Proviant geben. Außerdem kamen einige Männer auf Kamelen mit. Man wollte erst einmal prüfen, ob es möglich wäre, den „Delphin“ mit Menschenkraft flottzubekommen. Die Strandungsstelle erwies sich als gar nicht weit von Kerun liegend. So brach man auf.
Amara blieb bei ihren Verwandten in Kerun zurück. Kapitän Söder verabschiedete sich von dem Mädchen, das still und ernst war. Als er ihr sagte, daß er bald wieder in das Dorf komme, trat ein warmes, freudiges Leuchten in die Samtaugen der jungen Ägypterin. Sie schien nicht gern zurückzubleiben. Und Söder glaubte auch beobachtet zu haben, daß ihre Verwandten sehr wenig freundlich mit dem Mädchen waren.
Sie brachen auf. Der Ritt dauerte eine Reihe von Stunden, während der einmal Rast gemacht wurde. Als es weitergegangen war und der Ritt schon wieder einige Zeit gedauert hatte, hielt Kapitän Söder sein Tier plötzlich an. Die ganze Karawane machte darauf Halt. Alle schauten erwartungsvoll auf den Kapitän, der prüfend den Strand entlang blickte, ins Land hinein und wieder zum Strand zurück. Einmal sah er dann Türck an, der an seiner Seite hielt. Und der – nickte mehrmals mit einem einfach unbeschreiblichen Gesicht.
„Ja, ja, Käpten, hier war es. Ich weiß es. Kenne die Stelle ganz genau wieder.“
Söder nickte ebenfalls.
„Ich auch.“
Weiter sagte er nichts mehr. Blickte nur wieder aufs Meer. Und die Männer aus Kerun hielten mit ihren Kamelen ringsum, sahen Söder und Türck an, dann verständnislos einander und wieder Söder und Türck.
Und was war es, das die beiden Seeleute an diese Stelle des Strandes fesselte –? Sie hatten in ihr den Platz wiedererkannt, wo der „Delphin“ auf dem Sand gelegen hatte. Dieser Platz aber war jetzt – leer!
Das war ein Schlag! Als sich Söder und Türck einigermaßen von ihm erholt hatten, sprangen sie von den Pferden, eilten bis dicht an die Wasserkante. Wie war das möglich gewesen und – wie war es überhaupt vor sich gegangen, daß das schwere Schiff, das doch so fest im Sand zu liegen schien, daß Söder fürchtete, es überhaupt nicht mehr flott zu bekommen, nun fort war? Steckte Menschenwerk dahinter? Oder nur Naturgewalt?
Als der Kapitän jetzt die Stelle am Strand besichtigte, kam er zu dem Schluß, es könne beides der Fall sein. Die Sandbank war – das sah er an der Art und Form der Wellen, die über die Stelle hinweggingen, sowie an der Färbung des Wassers – nicht mehr vorhanden. Andersgerichteter Wind und die dadurch hervorgerufene Wellenbewegung in anderer Richtung hatten wahrscheinlich die Sandbank ebenso schnell fortgespült, wie sie einst entstanden war. Dabei konnte das Schiff sehr wohl von selbst flott geworden und vom Wind abgetrieben worden sein.
Freilich – konnte es sich auch anders verhalten. Und während Söder noch darüber nachdachte, kam Türck, der inzwischen ein Stück am Strand entlang gelaufen war, zurück.
„Käpten, mer ham die Ludersch. So ene Bande!“ schimpfte er. Söder horchte auf.
„Wir haben sie? Was heißt das?“
„Das heeßt, daß mer nu wissen, daß der „Delphin“ jeklaut is! Dort hinter dem Hüjel liegen zwee Boote.“
Oh, nun verstand Söder. Er ging mit Türck dorthin. Da lagen auf dem Strand zwei kleine Fischerboote. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die Insassen dieser Boote sich des flottgewordenen „Delphin“ ganz einfach bemächtigt und waren damit losgefahren. Konnte man ihnen das verargen? Kaum. Das Schiff war verlassen, Strandgut – und Strandgut ist stets Beute der Fischer, die es finden.
Waren losgefahren –, ja, aber wie? Von der elektrischen Einrichtung hatten die Fischer schwerlich Ahnung. Takelung besaß der „Delphin“ keine. Wie also –? Die Frage blieb offen. Ganz sicher war nur eins: daß der „Delphin“ fort war.
Kapitän Söder drehte sich kurz entschlossen um:
„Wir reiten nach Kerun zurück. Von da geht es dann weiter nach Alexandrien. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Alexandrien ist der nächste Hafen hier. Wenn wir überhaupt noch einmal etwas von dem Verbleib und dem Schicksal des „Delphin“ erfahren, ist es nur dort. Also – vorwärts!“ –
In Kerun begrüßte Amara den Kapitän als erste von allen. Sie war den Reitern schon weit entgegengegangen. Kapitän Söder gedachte sich in Kerun möglichst kurze Zeit nur aufzuhalten. Bereitwillig gaben ihm die Fischer Proviant mit, zahlreiche Wasserschläuche und einige Lastkamele mit bewaffneten Führern. Für sich selbst und Türck konnte der Kapitän ebenfalls Flinten erstehen.
Am nächstfolgenden Morgen ging es dann wiederum los, – diesmal nach der anderen Seite. Nach Osten: nach Alexandrien. Fast vier Tage brauchten sie zu der Tour. Sie ging glatt ohne Zwischenfall vonstatten. In der großen Stadt, in der Orient und Okzident wundersam miteinander vermischt sind, angekommen, wurden die Führer entlohnt und verabschiedet. Sie wollten noch eine Nacht als Ruhepause in der Stadt bleiben und dann den Rückritt beginnen.
Kapitän Söder und Türck wanderten langsam durch das sehr ausgedehnte Hafenviertel; beide in wenig rosiger Stimmung. Wenn der „Delphin“ verloren war …
Sie ahnten beide noch nicht, was ihnen in dieser Stadt bevorstand! Zwei Ereignisse, zwei Überraschungen. Die eine davon stand sogar ganz dicht bevor; als sie im Hafen spazieren gingen; kam – jetzt –! Soeben bogen sie um eine Häuserecke in eine neue Hafenstraße ein, die ihnen Ausblick über ein weites Stück Wasser bot. Und da lag dicht am Kai – der „Delphin“!
Der „Delphin“ –? Nein, ein Schiff, das ihm zum Verwechseln ähnlich war. Vollständig ihm glich, bis auf – einen Mast, den es trug und ein plumpes Segel daran! Dennoch war das der „Delphin“, war es tatsächlich!
Söder und sein Getreuer eilten auf das Schiff zu … Da stand ein Mann in farbbekleckstem Malerkittel am Kai, hatte vor sich einen Kübel roter Farbe, in der Hand einen langen Besenstiel, an dem unten ein riesiger Pinsel befestigt war, – und hatte gerade angefangen, die Außenbordwand rot anzustreichen! Mit ein paar langen Sätzen war Söder bei dem Mann, packte ihn bei der Schulter, drehte ihn wenig sanft herum und brüllte ihm an:
„Wer, zum Teufel, hat Sie beauftragt, mein Schiff rot zu beschmieren?!“
Der Anstreicher, der wahrscheinlich kein Wort Deutsch verstand und sich das erregte Gebaren des Fremden nicht erklären konnte, starrte Söder mit einem aus Furcht, Verständnislosigkeit und Ärger gemischten Gesichtsausdruck an und – schwieg. Aber der Kapitän hatte sich auch schon wieder beruhigt. Er fragte den Mann nun auf englisch, wem das Schiff gehöre usw. und da bekam er eine ergötzliche Geschichte zu hören.
Vier Fischer waren gerade dazu gekommen, wie der „Delphin“ abzutreiben begann. Sie klommen an Deck, fanden niemand, sahen auch am Strande niemand, der sich um das Schiff gekümmert hätte, und ergriffen von dem umfangreichen Strandgut einfach Besitz. Sie richteten einen primitiven Behelfsmast auf, spannten ein Segel und segelten nach dem nächsten Hafen. Das war – Alexandrien. Dort verkauften sie den „Delphin“ für ein Spottgeld an einen kleinen, englischen Reeder.
Die Fischer stammten aus – Kerun!
Der Reeder nun hatte nichts Eiligeres zu tun, als dem neuerworbenen Schiff, von dem er vorläufig noch gar nicht wußte, was mit ihm beginnen, die Farbe seiner Reederei geben zu lassen. Rot. Das zu verhindern, war Söder jetzt im richtigen Augenblick gekommen. Bald hatte er dann den Reeder aufgesucht, den Fall aufgeklärt, sich mit dem Mann geeinigt, – und am Abend noch des selben Tages saßen Kapitän Söder und der getreue Türck wieder an Bord des „Delphin“ als unumstrittene Herren des Schiffes.
Der Reeder, der doch jenen Fischern das „Strandgut“ abgekauft hatte, war ehrlich genug, Söder einzugestehen, daß die Kaufsumme lächerlich gering gewesen war. Dennoch bedeutete die neuerliche Entwicklung des Falles einen Verlust für ihn. Söder froh, sein gutes Schiff wiederzuhaben, war natürlich gern bereit, dem Reeder einen Teil des Verlusten zu ersetzen. Nur – mit Bargeld konnte er ihm im Augenblick nicht dienen. Und da stellte sich heraus, daß jenem das ganz angenehm war.
Er hatte eine Schiffsladung liegen, die so schnell als möglich nach New York kommen sollte, von deren Transport viel für sein Geschäft abhing, für die er aber ebenfalls kein Geld ausgeben konnte. Wenn nun Söder sich bereit erklären wollte, diesen Transport zu übernehmen, so wollte der Reeder den Fall damit als erledigt ansehen.
Gewiß wollte Söder das. Gern. Das paßte ihm durchaus. Der Reeder wollte ihm – der Sicherheit halber – noch einen Begleiter für den Transport mitgeben. Auch das war dem Kapitän recht. So trug er nicht die ganze Verantwortung allein. Schon am folgenden Tag sollte die Ladung an Bord geschafft werden und abends in See gestochen. Auch einen neuen Kompaß hatte Türck inzwischen gekauft, dazu einige Flaschen Wein … Und nun saßen die Beiden in bester Stimmung an Bord des „Delphin“. –
Doch Alexandrien hatte noch mehr für sie auf Vorrat, – wie vorhin schon angedeutet. Noch eine Überraschung sollten sie – besonders Söder – erleben.
Türck hatte einmal die Kabine, in der sie zusammen gesessen hatten, verlassen, und auch Söder ging auf Deck. Da sah er – ein braunes, nein, mehr bronzefarbenes Mädchen über den Laufsteg auf Deck kommen. Und zu seinem Staunen erkannte er Amara! Aber sein Staunen sollte noch wesentlich wachsen. Amara kam auf ihn zu, blieb mit gesenktem Kopf vor ihm stehen und sagte:
„Ich fahre mit dir, Sidhi; ich bin deine Sklavin.“
„Du willst mitkommen nach Amerika –? Aber Kind, das geht doch nicht!“
„Was soll ich noch hier? Meine Verwandten in Kerun wollen nichts mehr von mir wissen, weil – weil ich nicht denselben Glauben habe, wie sie … Und sonst habe ich niemanden. Außer meinem Vater, der mich doch nur als Sklavin verkaufen würde.“
Der Kapitän wiegte den Kopf.
„Hm, hm, ja – aber dich so ohne weiteres mitnehmen …“
Das Mädchen tat ihm leid. Sein Herz hatte eigentlich längst entschieden –: der Bittenden ihren Wunsch zu erfüllen. Dennoch zögerte er. Amara sah auf dem Verdeck umher. Verzweiflung schien in ihren Augen zu liegen. Sie bückte sich nach einem Ende Schiffstau, hob es auf, reichte es Söder.
„Schlage mich, Sidhi, aber nimm mich mit!“
Da flog ein weicher Schimmer über des Kapitäns Gesicht. Er nahm das Tauende und – warf es über Bord.
„Ist gut, Amara; du kannst mitkommen. Aber schlagen werde ich dich nicht; – nie!“
So wurde die Besatzung des „Delphin“ um einen Kopf vermehrt. Tags darauf verließ er den Hafen von Alexandrien.
„Ich weiß wirklich nicht, was mit mei Käpten los is,“ brummte Türck kopfschüttelnd, „da stimmt was nich; nee, da stimmt was nich.“
Söder aber stand am Ruder, blickte mit einem Gesicht drein, als habe ihm soeben jemand ein Königreich geschenkt und pfiff eine lustige Melodie nach der anderen.
„Sie werden uns Sturm uff den Hals hetzen,“ sagte Türck im Vorbeigehen. Aber Söder lachte.
„Wenn schon, Türck, wenn schon! Mag er ruhig kommen – heute! Sturm, ah, das ist eine feine Sache; da fühlt man, daß man noch jung ist – trotz der ersten grauen Haare, die schon kommen! Übrigens – Sie können mich gleich hier am Steuer ablösen, Türck. Das Essen haben Sie ja wohl fertig …“
„Ich? Nee,“ entgegnete Türck.
„Nicht? Wie kommt denn das?“
„Nu, die Kleene, die Amara wollde partout für Sie gochen. Sie saachde, Sie müßden ganz was Abartes kriejen. Tja, – saachde sie.“
„So, so … sagte sie –? Hm, nun ja …“
Damit ging er und überließ das Steuer Türck, der ihm kopfschüttelnd nachsah. Als er seine Kabine betrat, stutzte der Kapitän. Der Tisch war frisch gedeckt und vor den Fenstern, den sogenannten „Bullaugen“ hingen kleine Vorhänge mit roten Schleiern!
Und da kam auch schon Amara mit einer dampfenden Schüssel herein.
„Kochen kannst du –?“
Sie nickte strahlend.
„Ja, ich hab’s gelernt. In Alexandrien, als meine Mutter noch lebte. Hoffentlich schmeckt es dir, Sidhi.“
„Nun, wollen ’mal sehen. Aber komm einmal her, Amara.“
Sie trat dicht an ihn. Er faßte ihren Arm und deutete mit der anderen Hand nach den Vorhängen vor den Bullaugen.
„Ist das dein Werk –?“
Amara nickte stolz. Sagte leise:
„Für dich, Sidhi.“
Er streckte ihr die Hand hin.
„Ich danke dir, Amara!“
Ehe er es sich noch versah, hatte das Mädchen sich gebückt und einen Kuß auf des Kapitäns Hand gedrückt. Dann floh sie wie ein gehetztes Reh aus der Kabine. Söder sah ihr verblüfft nach und – schnaufte wie ein Seelöwe, dem es sehr gut geht.
Türck kam in diesen Tagen aus dem Wundern nicht mehr heraus. Was nur in seinen „Käpt’n“ gefahren war! Er vergaß dies und jenes, – was früher bei ihm nie vorgekommen war. Und sprang den ganzen Tag pfeifend und singend auf Deck umher wie ein übermütiger Schiffsjunge.
Und als sie das Mittelmeer durchquert hatten, dann an der französischen Küste entlang fuhren, da kam Söder plötzlich eine Idee. Nach New York sollte er –? Da würden ein paar Tage Verzögerung, wenn er einen Umweg machte und noch in Hamburg ansprach, auch nichts ausmachen.
Gedacht, getan. – In Hamburg besuchte er seine Schwester, die dort verheiratet war.
„Hier, Clara, bringe ich dir Amara, eine kleine Ägypterin. Nimm sie bitte einstweilen zu dir. Weihe sie ein wenig in europäische Gepflogenheiten ein. Sie ist ein gutes Kind. Und du, weiß ich, wirst auch gut zu ihr sein. Wenn ich von New York zurückkomme, nehme ich sie wieder mit.“
Amara hatte dabeigestanden; doch da die Unterhaltung deutsch geführt wurde, verstand sie nichts. Aber sie mochte wohl aus den Gesten ersehen haben, um was es sich handelte. Ihr Gesicht ward traurig. Erst als Söder ihr sagte, daß sie nur vielleicht zwei Wochen hierbleiben sollte, war sie einigermaßen beruhigt.
Beim Abschied gab sie Söder ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Päckchen.
„Hier nimm dies, Sidhi, es wird dir unterwegs Glück bringen.“
„Was ist es denn?“
„Ein – ein Amulett.“
Der Kapitän steckte es in die Tasche. Dann gingen sie zum Hafen. Clara und Amara geleiteten ihn zum „Delphin“, auf dem Türck schon ungeduldig der Rückkehr seines Brotherrn und Freundes harrte. Wenig später schaukelte der „Delphin“ auf den Fluten der Nordsee. Türck aber hatte in den fünf Tagen, die die Überfahrt nach New York dauerte, immer noch Grund, sich zu wundern. Und diese seine Verwunderung über das veränderte Wesen des Kapitäns gipfelte endlich in dem Gedanken, den Türck vor sich hinmurmelte:
„Ich gloobe, der Käpten ist verliebt …!“
Die Freiheitsstatue kam in Sicht. New York war nicht mehr fern.
„Jetzt kommen wir wieder einmal in das Land der Heuchler,“ sagte Söder; „in keinem Land der Erde wird soviel Moral und Frömmigkeit geheuchelt, als in Amerika. In jedem Hotel liegt im Nachttisch jedes Zimmers eine Bibel. Aber – wer liest jemals darin? Und wenn Zwei sich auf der Straße küssen, werden sie von der Polizei deswegen in Ordnungsstrafe genommen; aber – man entschädigt sich dafür im Kino … Oh, ich hätte wieder ’mal Lust, diesen Moralheuchlern zu zeigen, – –“
Und nach einer Weile:
„Ich werd’s auch tun!“ mit einem ganz spitzbübischen Lächeln in den Augen …
In New York erließ er dann, nachdem die Fracht des „Delphin“ abgeliefert war, einen Aufruf in einer der größten und meistgelesenen Tageszeitungen, des Inhalts, daß ein indischer Fürst eine Amerikanerin zu heiraten wünsche. Er besitze in Delhi ein Schloß, einen Marstall von hundert Elefanten und andere Schätze mehr. Die Amerikanerin müsse jedoch sehr große körperliche Vorzüge besitzen, weshalb Reflektantinnen gebeten würden, sich am kommenden Sonnabend um sechs Uhr im Badekostüm auf dem freien Platz vor dem Globushotel einzufinden.
An dem genannten Tage begab sich Kapitän Söder um die angegebene Zeit nach dem Globushotel. Er erschrak doch etwas. Der ganze Platz vor dem Gebäude war voll von amerikanischen Schönen im Badekostüm. Fabelhafter Erfolg. Und ringsherum tausende Neugieriger. Söder schwang sich auf den Sockel eines Kandelabers und rief, der Fürst von Delhi erwarte die Damen im Speisesaal des Hotels. Sie möchten ihm dorthin folgen.
Dort sollte dann der Hauptspaß beginnen. Aber es kam nicht dazu. Kaum hatten die ersten der Schönen den Speisesaal zum Entsetzen des „moralischen“ Personals, des moralischen Publikums, das sich offen entrüstete und – soweit es sich um Männer handelte – innerlich des seltenen Anblicks freute, betreten, Söder unter ihnen, als der Kapitän an einem der Tische einen alten, guten Bekannten und Freund sitzen sah, den er lange nicht gesehen und wer weiß wo vermutete, nur nicht hier –: Harald Dörcksen!
Er rief seinen Namen und Dörcksen – sprang auf, kam ihm entgegen, und die beiden Freunde umarmten sich, während ringsum die vielen halbnackten Schönen sich drängten und noch immer mehr dazukamen und weiterhin ringsum das Publikum sich teils moralisch entrüstete, teils freute. Dies Chaos jedoch wurde erst vollständig, als gleich darauf die – Polizei im Saal erschien und den Anstifter dieses Auftrittes, Söder, sowie auch die anscheinend Mitbeteiligten: Dörcksen, dessen Tochter und Mahadur Mirat – verhaftete.
Das war es, was Burne erfuhr. Der Zusammenhang war ihm nicht klar. Er eilte sofort zum Polizeigefängnis. Dort erfuhr er dann mehr, viel mehr, als sich eigentlich wirklich zugetragen. Die Wahrheit hörte er erst, als er die „Gefangenen“ persönlich zu sprechen bekam. Seinem Einfluß gelang es dann, Dörcksen und Hella sofort freizubekommen. Auch Kapitän Söder, der einzige der Verhafteten, der eine Strafe zu gewärtigen hatte, wurde nach Hinterlegung einer Kautionssumme auf freien Fuß gesetzt. Seitdem war er in New York noch schlechter angeschrieben, als bisher dies schon der Fall war.
Der Abend vereinigte dann endlich alle an Bord des „Delphin“. Dörcksen erzählte seine Abenteuer, Hella berichtete, ebenso Burne und auch Söder ließ es sich nicht nehmen, seine letzten Abenteuer in Ägypten den Freunden in kurzen Umrissen mitzuteilen.
Am meisten bedauerte er – da die anderen Abenteuer alle einen guten Ausgang genommen hatten – den Verlust des Flugschiffes, der doch ein schwerer Schlag für Dörcksen und seine Unternehmungen war, und Gari Dörcksen, der immer noch im Lamakloster Thudsidsengi in Gandamira schmachtete, wohin er einst auf Betreiben des schurkischen Harry Leakwoord geschafft worden war.
Mahadur Mirat aber sagte:
„Jetzt, meine lieben Freunde, sind wir endlich glücklich alle beisammen. Alle Fährnisse sind überwunden. Jetzt soll unsere nächste Aufgabe sein, Gari Dörcksen aus der Gewalt der Lamapriester von Thudsidsengi zu befreien!“
Alle stimmten ihm lebhaft zu. Der Radscha fuhr fort:
„Es ist keine leichte Aufgabe, die unser da harrt. Kein Unberufener betrat jemals jenes Kloster ungestraft. Viele versuchten es. Man sah sie nie wieder. Einer entkam einmal. Doch der hatte von den Schrecknissen, die er dort erlebt, den Verstand verloren. Nur stückweise erfuhr man von ihm, was ihm dort widerfahren. Das uralte Gebäude muß furchtbare Geheimnisse bergen.“
„Dennoch –“ ließ sich da Hella vernehmen, „mögen Schwierigkeiten und Gefahren sich häufen, – wir dürfen nicht eher ruhen, bis auch Gari bei uns weilt! Lieber gäbe ich mein Leben, als daß ich ihn noch länger dort schmachten lasse. Wer weiß,“ setzte sie mit bebender Stimme hinzu, „wie er dort lebt; ob er gesund oder krank ist, ob er – überhaupt noch am Leben ist!“
„Mein Schiff,“ warf Kapitän Söder ein, „steht Ihnen für das Unternehmen selbstverständlich zur Verfügung. Die Hilfe, die ich meinem alten Freunde Dörcksen mit Freuden jederzeit leisten würde, will ich ebenso freudig auch seinen Kindern gewähren.“ –
Noch eine Überraschung – und vielleicht die freudigste – stand ihnen im Hafen der amerikanischen Hauptstadt bevor. Kapitän Söder hatte von seinen letzten Abenteuern in Ägypten erzählt; von Amara … Da war ihm dabei das Amulett eingefallen, das sie ihm beim Abschied in Hamburg gegeben. Er hatte es damals, in der lebhaften Abschiedsszene mit seiner Schwester und mit Amara in die Tasche gesteckt und dann – vergessen.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er zog das Päckchen hervor, wickelte das Seidenpapier auf … Eine Elfenbeinschnitzerei … ein sechszackiger Stern und in dessen Mitte – das Bild der Wolkenkönigin!
„Was ist das?!“ rief Harald Dörcksen, der dem Kapitän zugesehen hatte. Auch die anderen wurden dadurch aufmerksam.
„Unser Zeichen –! Das Abzeichen unseres Bundes!“ rief Hella. Mahadur Mirat nahm den Elfenbeinstern im die Hand. Betrachtete ihn aufmerksam.
„Es ist eine sehr gute Nachbildung …“
„Amara gab ihn mir, den Stern, als Schutzamulett. Sie hat ihn, wie sie sagte, einst von ihrer Mutter vor deren Tod bekommen,“ sagte Söder; „und nun, – ah, nun entsinne ich mich auch, – ihre Verwandten in Kerun verstießen sie des Glaubens wegen. Sollte das mit dem sechszackigen Stern zusammenhängen?“
„Es kann wohl so sein,“ entgegnete Harald Dörcksen; und fast feierlich fuhr er fort: „meine Lieben, Ihr seht, auch in Ägypten hat die neue Lehre bereits Wurzel gefaßt. Dieser Elfenbeinstern beweist es. Seien wir also zuversichtlich. Die Wolkenkönigin ist mit uns. Es geht vorwärts!“
„Jawohl, natürlich, – die Zimmer sind reserviert,“ sagte der Geschäftsführer des Grandhotel in Agra, machte dann eine tiefe Verbeugung vor Ellen Crosterbroux, die soeben eintrat, um sich dann den Boys zuzuwenden, die das Gepäck herein brachten. Und Ellen Crosterbroux bezog mit ihrem Gefolge, – van Harten, Knout, Mewius und dem „Diener“ Harry eine Flucht von Zimmern.
Die Tochter des Platinkönigs war jetzt wieder ganz auf der Höhe. Oh, Mewius war vorsichtig; er trieb die Willensbeeinflussung Ellens nicht so weit, daß andere es ohne weiteres bemerkt hätten. Das war doppelt notwendig hier in Agra, wo Ellen viele Bekannte hatte, jenen dergleichen Veränderungen in ihrem Wesen zuallererst aufgefallen wären.
Und sie selbst – war fest davon überzeugt, nach eigener Initiative zu handeln. Und wirklich schien es oft so. Da Mewius seinen hypnotischen Einfluß aus ebenerwähntem Grund in bescheidenen Grenzen zu halten genötigt war, ließ die Wirkung hin und wieder – nach Ansicht der vier Gauner – zu wünschen übrig. So hatte beispielsweise Ellen beschlossen, in Agra ein Schiff zu chartern und mit diesem nach der Koralleninsel der Lakkadiven zu fahren. Dort hoffte sie am ehesten Aufschluß über den Aufenthalt Mahadur Mirats zu erhalten, oder gar ihn selbst dort vorzufinden. Wenn bei allen ihren Unternehmungen auch stets ein gut Teil der Kosten in die Taschen ihrer „Berater“ floß, so verschlang doch die Schiffsmiete große Summen, von denen sie nichts hatten.
Harry Leakwoord als „Diener“ und „Reisemarschall“ wurde damit beauftragt, einen Kapitän möglichst mit eigenem Dampfer ausfindig zu machen, der bereit war, sein Schiff für einige Zeit abzugeben und unter das Kommando der „Leute“ Ellen Crosterbroux’ zu stellen. Da in Agra stets sehr reger Verkehr herrschte, durfte es kaum schwer fallen, den Auftrag auszuführen. Aber – Harry Leakwoord hatte auch hierbei seine Nebengedanken. Er mußte an allem verdienen.
So stöberte er denn nach längerem Suchen einen Kapitän auf, einen Schotten, Tom O’Reill, der zwar weit und breit in Seefahrerkreisen berüchtigt war, dafür aber auch – billiger. Besonders verrufen war seine Mannschaft, die ausschließlich aus Deserteuren von anderen Schiffen bestand. Das schlimmste Gesindel sammelte Kapitän O’Reill auf seinem Dampfer, einem alten, plumpen Kasten, der nur langsame Fahrt machte und kaum noch seetüchtig war. An Bord aber herrschte zwischen O’Reill und seiner Mannschaft etwa der Ton, wie im Tigerkäfig zwischen dem Bändiger und seinen Bestien: der drohende Revolver regierte. Dann aber kam die andere Seite: O’Reill zahlte gut; das hieß, er gab den Leuten Anteile seiner Einnahmen, so daß sie gewissermaßen im eigenen Interesse arbeiteten. Und Schnaps, soviel sie wollten. Im allgemeinen übernahm O’Reill Frachten nach den einzelnen Häfen der Küste Südasiens.
Den also hatte Harry Leakwoord für sich gewonnen. Zwar – mußte er selbst zu seinem Leidwesen an Bord des unsicheren Kastens mit der noch viel unsichereren Besatzung mitfahren; aber das ließ sich nun einmal nicht umgehen. Und – der Preis, den Harry immer noch zu erreichen hoffte, war das Risiko auf alle Fälle wert.
Denn – Harry Leakwoords Gedanken schweiften immer noch weit. Daß er jetzt zusammen mit drei Komplizen von den Millionen Ellen Crosterbroux’ einen Teil an sich brachte, genügte ihm lange nicht. Daneben dachte er immer noch an die Goldbarren Harald Dörcksens, von denen ihm sein Vater oft genug erzählt hatte. Aus dem Grunde hatte er Ellen durch Mewius den Willen zur Erinnerung Mahadur Mirats um jeden Preis suggerieren lassen. War erst wieder einmal Verbindung mit Mirat – und damit auch mit Hella Dörcksen und ihrem Vater da, – dann rückte auch das Gold des Reiches der Wolkenkönigin wieder wesentlich näher.
Die Fahrt begann. Eine schwere See war zu überwinden. Der Sturm hielt an. Der alte Kasten ächzte und stöhnte in allen Fugen. Die Pumpen mußten dauernd in Tätigkeit gehalten werden. Auch sonst gab es in diesen Tagen für die Mannschaft viel schwere Arbeit.
Ellen sah und hörte von all dem so gut wie nichts. Sie saß in ihrer Kabine, weil der Aufenthalt auf Deck in diesen Sturmtagen zu unerquicklich war. Sie verzehrte sich in Sehnsucht nach Mahadur Mirat, den sie, angestachelt durch Mewius’ hypnotische Behandlung, mehr denn je liebte. Sie mußte ihn haben, ihn der verhaßten Nebenbuhlerin entreißen. Und, blind vor Leidenschaft dachte die Tochter des Platinkönigs nichts anderes, fuhr diese schwerreiche Frau auf einem wackeligem Dampfer, dessen Besatzung Verbrecher, dessen Kapitän ein Trunkenbold und Rohling war, mit vier Abenteurern aufs Meer hinaus.
Ihr kam nicht in den Sinn zu fragen, weshalb Mewius immer noch da war; weshalb der geplante Flugzeugbau nicht mehr erwähnt wurde. Sie war eben völlig ein Werkzeug jener Vier, die für ihre Zwecke auszunutzen sie wähnte. Mahadur Mirat, – das war ihr Ziel. Nichts anderes gab es mehr für sie. –
Das Kommando an Bord hatte Harry Leakwoord übernommen, indes Kapitän O’Reill seine sonstigen Funktionen beibehielt. Soeben war die Tagesarbeit beendet. Doch der Sturm war noch heftiger geworden. Das Schiff schlingerte bedenklich. Es nahm infolge seiner schlechten Bauart dauernd Wasser über. Die Pumpen würden auch nachtsüber in Betrieb bleiben müssen. Schon da gab es den ersten Streit unter der Mannschaft. Niemand wollte die erste Nachtdienstschicht übernehmen. Jeder fürchtete, nachher von den anderen einfach im Stich gelassen, – nicht abgelöst zu werden. Kapitän O’Reill hatte eingeführt, daß die Mannschaft in solchen Fällen sich unter sich selbst einigte. Die Folgen dieses unsinnigen Systems zeigten sich jetzt. Die Leute wurden nicht einig miteinander. Erst das energische Dazwischentreten Harry Leakwoords beendete den Streit. Aber nur murrend fügten sie sich seinem Kommando. O’Reill hatte auch nicht den leisesten Versuch gemacht, etwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Oder vielmehr, er hatte keinen Versuch machen können; denn er lag total betrunken in seiner Kabine. Das Geschäft, das er durch den Abschluß mit Harry Leakwoord machte, hatte er gleich heute, am ersten Tag der Abreise, gründlich „gefeiert“.
Kaum war die Frage der Nachtdienstschichten geregelt, als eine neue Sache an Leakwoord herantrat. Die Leute verlangten die Herausgabe des mitgenommenen Rums. Harry hatte sich bereits vorgenommen, in jedem künftigen Fall mit eiserner Strenge vorzugehen. Er schlug also das Ansinnen kurzweg ab. Doch der erhoffte Erfolg trat nicht ein. Die Leute ließen sich nicht einschüchtern. Sie blieben stehen und beharrten auf ihrer Forderung. Kapitän O’Reill habe getrunken, sagten sie, also hätten sie das gleiche Recht.
„Eine nette Schlußfolgerung!“ rief Harry. „Ihr die gleichen Rechte wie der Kapitän –? Das wäre ja –! Nein, es bleibt dabei: die Rumausgabe erfolgt erst morgen vormittag und zwar in abgemessenen Rationen.“
Darauf trat der Wortführer der Mannschaft einen Schritt auf Harry Leakwoord zu:
„Ihr seid nicht der Kapitän! O’Reill gab uns stets Schnaps, wann wir nur wollten. Heraus also mit dem Schlüssel zur Vorratskammer, oder –“
Harry richtete sich auf.
„Nun, was dann – oder –?“
„Oder wir nehmen ihn uns!“
„Wagt’s, – wenn euch euer Leben lieb ist!“ rief Harry dagegen und zog seinen Revolver. „Ich habe das Kommando an Bord! Ich, – niemand sonst. Und ihr wißt, daß der Kapitän eines Schiffes im Falle von Unbotmäßigkeit Gewalt über Leben und Tod hat!“
Nun wurden hinter dem Wortführer andere Stimmen laut:
„Was, der will uns drohen? Laß dir das nicht gefallen, Bill, reiß ihm die Schlüssel weg! Schlag ihm den Schädel ein, wenn er sich wehrt!“
Und drohend drang der ganze Haufen, Bill voran, auf Leakwoord ein. Der sprang zwei Schritte zurück, brachte den Revolver in Anschlag; rief:
„Achtung, nicht weiter; ich schieße!“
Aber die Rotte kümmerte sich nicht darum. Mit erhobenen Fäusten drang Bill auf ihn ein. Da krachte Harrys Schuß. Bill brach zusammen. Einen Augenblick stutzten, zögerten die Rebellen. Einen Augenblick nur. Dann warfen sie sich zugleich mit Wutgeheul auf Harry. Der gab noch einen Schuß ab. Fehlte jedoch in der Erregung. Und dann – dann lag er gebunden auf den Decksplanken. Einige Stimmen, die forderten, man solle ihn erschlagen und über Bord werfen, fanden zu seinem Glück kein Gehör
Man nahm ihm die Schlüssel ab. Dann wurde das Rumfaß aus der Vorratskabine geholt und angezapft. Wo waren nun Mewius und die beiden Holländer während des Zwischenfalls gewesen? Oh, die hatten das Ganze aus der Ferne mit angesehen. Sie hätten wohl auch eingegriffen und Harry geholfen. Aber da sie sahen, daß im Ernstfalle sie an Zahl doch die weit Schwächeren, also gegenüber den Rebellen sehr im Nachteil waren, zogen sie es vor, sich in die Kajüte zurückzuziehen. Als dann Harry Leakwoords zwei Schüsse ertönten und das wilde Geschrei der Meuterer, hüteten sie sich natürlich erst recht, hervorzukommen.
Jetzt zeigte sich so recht die Feigheit dieser Helden. In einer Kabine hockten sie zusammen, zitternd, lauschend, was wohl geschehen werde. Aber es geschah nichts, gar nichts. Die Rebellen hatten Leakwoord einfach liegen gelassen, hatten das Rumfaß hervorgeholt und zu trinken begonnen. Um die anderen kümmerten sie sich überhaupt nicht.
Soweit wäre für sie – die anderen – keine Gefahr vorhanden gewesen. Wenigstens augenblicklich nicht. Aber die Fahrt und ihr Ziel –? Keiner der Abenteurer wagte sich nach oben. Ellen hatte auch keinen Grund, sich unter die Rebellen zu begeben. Wohin fuhr man? Die Maschine stampfte regelmäßig nach wie vor. Aber das Schiff schlingerte, als sei es steuerlos. War noch jemand am Steuer? Bediente noch jemand die Pumpen?
Der Lärm auf Deck nahm ständig zu. Manchmal hörte er sich fast gefährlich an. Es schien, als wollten Streit und Rauferei unter den Meuterern ausbrechen. Doch der Alkohol vereinte sie immer wieder.
Stunden später ward es stiller da. Allmählich ganz still. Jetzt wagten van Harten, Knout und Mewius sich hinauf. Die Meuterer lagen auf Deck herum, total betrunken. Alle. Niemand war mehr am Steuer, niemand bediente die Pumpen, niemand führte der Maschine neue Kohlennahrung zu. Die ging allein ihren Gang.
Mewius suchte Kapitän O’Reill. Fand ihn immer noch schlafend in seiner Kabine. Nicht einmal Leakwoords Schüsse hatten ihn geweckt. Mewius rüttelte ihn. Endlich wurde er da allmählich munter. Ganz allmählich. Mit Schrecken hörte er die Mitteilung von dem Vorgefallenen an.
„Was nun,“ stammelte er zum Schluß fassungslos, „was nun?“
Mewius zuckte die Achseln.
„Das ist Ihre Sache, Kapitän,“ entgegnete er; „Sie haben uns den Dampfer vermietet. Die Mannschaft hat sich als nicht zuverlässig erwiesen. Sie erst recht nicht. Sollten wir doch noch unser Ziel erreichen, ist selbstverständlich, daß Sie das Geld, das Sie noch zu bekommen hätten, nicht erhalten. Aber wir werden das Ziel nicht erreichen. Das Schiff ist steuerlos. Und von uns hat niemand – –“
Ein Krach, als berste das Schiff auseinander. Dazu ein Stoß, daß Mewius auf den Kapitän flog und beide zur Erde. Das Schiff lag plötzlich schräg. Es schwankte unbeholfen im Seegang hin und her.
Was war geschehen? War es aufgefahren? Nein, es lag nicht fest; denn es schaukelte noch. Was aber sonst? Mewius lief, gefolgt von O’Reill, auf Deck. Da kam ihm Harry Leakwoord, den van Harten inzwischen befreit hatte, entgegengelaufen. Rief:
„Das Schiff ist leck! Auf eine Felszacke gelaufen und aufgerissen! Es sinkt rapid. Wir müssen in die Boote!“
Und schon rannte er weiter. Auch Knout und van Harten kamen vorüber. Zwei Boote machten sie klar. Verstauten in größter Eile einige Vorräte darin. Das Schiff sank wirklich rapid. Öfter und öfter gingen Wellenbrecher darüber hin. Man mußte sich festklammern, um nicht über Bord gespült zu werden.
In dem einen der Boote nahmen van Harten, Knout und O’Reill Platz, im anderen Mewius, Leakwoord und Ellen Crosterbroux. Nacht sank herab. Sie hatten sich von dem Wrack des Dampfers noch nicht allzu weit entfernt, da versank es mit Zischen und Gurgeln. Die Insassen der Boote aber ruderten in das Dunkel der Nacht hinein. Wohin –?
Wo befanden sie sich? Sie wußten es nicht. Stundenlang war der Dampfer steuerlos geradeaus gefahren. In der Eile hatten sie eine Laterne in die Boote mitzunehmen vergessen. So dauerte es nicht lange, bis sich die beiden Boote völlig aus den Augen verloren hatten. Die See ging, obwohl der Sturm fast völlig nachgelassen hatte, immer noch hoch und trennte sie schnell von einander. Selbst durch Rufe war keine Verbindung mehr zu erzielen. Man mußte sie ihrem Schicksal überlassen, wie man selbst einem ungewissen Schicksal entgegen ging.
Harry Leakwoord und Mewius hatten vor allem dafür gesorgt, daß Ellen all ihre Wertsachen, Geld und Papier mitnahm. Davon wenigstens war nichts verloren gegangen. Was die Gauner höchlichst befriedigte, – sie aber andererseits nicht hinderte, um ihr klägliches Leben sehr besorgt zu sein, viel mehr, als Ellen.
Die Tochter des Platinkönigs hatte Furcht stets wenig gekannt. Nun kam noch der hypnotische Einfluß Mewius’ dazu, so daß ihre Unbekümmertheit schon fast an Apathie grenzte. Sie sah nur eins vor sich: ihr Ziel. Sie dachte nur an Mahadur Mirat. Gleichsam erstarrt waren ihre Gedanken in dieser Richtung. –
Während der Nacht legte sich der Wind ganz. Auch die Wogen beruhigten sich allmählich. Die drei im Boot wechselten sich mit Rudern ab. Auch Ellen machte mit. Man wollte nachts rudern, um am Tage, in der Zeit der großen Hitze, schlafen zu können.
Der Mond stand klar am Firmament. Die Sterne leuchteten. Alles Gewölk hatte sich verzogen. Die Drei im Boot ruderten schweigend. Jetzt war Ellen dran. Mewius lag vorn und schlief. Harry Leakwoord hatte das Kinn in die Hand gestützt und betrachtete mit brennenden Blicken das Mädchen. Wie ihr geschmeidiger Körper sich kraftvoll zurückzog … Wie die Linie ihres schön gebauten Körpers dabei deutlich hervortrat … wurden des Abenteurers Augen starr und groß.
Er atmete schwer. Es reizte ihn, sich auf dies schöne junge Weib zu werfen und sie an sich zu pressen. Doch er bezwang sich. Es ging ja jetzt nicht. Er hätte sich selbst nur viel verdorben – jetzt. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle.
„Sagten Sie etwas?“ fragte Ellen.
„Nein, –“ entgegnete Harry zögernd; „aber ich denke, es ist Zeit, das ich Sie ablöse.“
Sie wechselten die Plätze. Harry Leakwoord aber schwor sich innerlich zu, daß Ellen ihm dereinst gehören solle. Koste es, was es wolle.
Was mochte aus dem anderen Boot geworden sein, in dem die beiden Holländer und Kapitän O’Reill saßen? dachte Ellen flüchtig. Sie hat später noch oft daran gedacht. Von den Dreien aber hat sie nie mehr etwas gehört. Vielleicht hat der Ozean sie verschlungen; vielleicht kamen sie auch irgendwo an Land. Jedenfalls – für die Insassen des anderen Bootes blieben sie für alle Zeit verschollen. –
Der junge Tag stieg herauf. Strahlend blau und schon morgens sehr warm. Ein Stück Segeltuch, das im Boot gelegen hatte, wurde hinten zum Schutz gegen die Sonne aufgespannt. Man hätte es als Segel benutzen können, wäre so etwas wie ein Mast dagewesen. Aber es war nichts da. Außerdem würde es auch wenig genützt haben, denn nach dem Sturm des letzten Tages war vollkommene Windstille eingetreten.
Zum Rudern wurde es bald zu heiß. Ringsum nichts, als die glitzernde Wasserfläche. Kein Land, kein Schiff, keine Möglichkeit, festzustellen, wo sie sich befanden, keine, zu sehen, in welcher Richtung man sich fortbewegte! Eine verzweifelte Situation. Tiefe Mutlosigkeit überkam die Drei.
Sie wirkte sich bei allen verschieden aus. Mewius, als der Energischste, schimpfte über das verwünschte Pech. Harry Leakwoord starrte stumm vor sich hin. Am gleichmütigsten war Ellen. – Ihr oblag es, die Vorräte zu verwalten, zu sichten und einzuteilen. Viel war es nicht, was man in der Hast hatte mitnehmen können. Einige Konserven, dazu Schiffszwieback. Es kam darauf an, mit den Vorräten so lange als irgend möglich auszukommen. Demnach mußte man die einzelnen Portionen recht klein halten. Mewius und Ellen waren damit durchaus zufrieden. Leakwoord nicht. Er, der wohl der Verwöhnteste der Drei war, konnte sich mit der Notwendigkeit, zu sparen, nicht befreunden. Er verlangte mehr. Ellen wollte schon nachgeben, wollte seine Portion vergrößern; doch Mewius hielt ihren Arm fest.
„Nichts da! Wäre ja noch schöner, wenn einer mehr bekommen sollte, als die anderen.“
„Will ich ja gar nicht!“ entgegnete Harry. „Eßt doch auch mehr. Warum sollen wir die Zeitspanne, die uns vielleicht noch zu leben vergönnt ist, noch hungern!“
„Und wenn wir in einiger Zeit doch Land oder ein Schiff antreffen –?“
„Wenn –“ knurrte Harry achselzuckend.
„Sie rechnen nicht darauf?“
Leakwoord schwieg. Er fügte sich. Gab es auf, seine Portion vergrößern zu lassen. Aber ein Groll gegen Mewius wuchs in ihm, der sich hier als Herr aufspielte. Gegen Mewius, der doch nur durch ihn zu dem Einnahmen von Ellen Crosterbroux’ Geldern gekommen war. Freilich auch durch ihn in diese Situation, hätte er sich sagen müssen. Aber daran dachte er nicht …
Vier Tage würden sie mit den vorhandenen Vorräten noch auskommen, hatte Ellen berechnet. Vier Tage Frist … Fanden sie bis dahin kein Schiff, das sie aufnahm, kein Land – dann stand der Hunger wartend da. Alle drei dachten sie es, – keiner sprach es aus. Nur umher spähten sie unablässig bis die Augen schmerzten in dem stechenden Sonnenglast. Vergeblich. Keine Rauchfahne, kein Segel, keine Küste …
Der Abend senkte sich wieder. Die furchtbare Hitze ließ nach. Die Drei begannen wieder, abwechselnd zu rudern. Schliefen auch abwechselnd. Zwei Stunden ruderte jeder, schlief dann vier. Die Windstille hielt an. Das Meer lag glatt wie eine Bleiplatte.
Der zweite Tag … Ringsum die unabsehbare Wasserwüste. Wie gestern. Niemand sprach ein Wort. Dies Schweigen drückte noch mehr … Das Sonnensegel schützte nur wenig. Die Hitze war geradezu sengend.
„Jetzt ein Bad nehmen –!“ sagte Harry kurz nachdem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. „Aber ich habe leider keinen Badeanzug mit,“ setzte er mit einem Blick auf Ellen hinzu; versuchte gar ein Lächeln. Die zuckte die Achseln.
„Was ist zu machen? Not kennt kein Gebot. Baden Sie ruhig. Ich werde nicht hinsehen. Nachher – erhoffe ich von Ihnen den gleichen Takt.“
„Selbstverständlich!“ beeilte er sich zu versichern. Ob es ihm damit so sehr ernst war, mag dahingestellt bleiben. Er entkleidete sich, sprang dann ins Meer. Schwamm mit großen, ruhigen Stößen.
„Wundervolle!“ rief er. „Mewius, Sie sollten das auch machen. Es erfrischt.“
Ganz vertraulich war er in seinen Anreden geworden. Vergaß völlig, daß er vor Ellen immer noch als engagierter Bedienter galt. Dann fiel es ihm wohl auch ein. Aber er vertraute auf die Veränderung seines Äußeren. Sein Bartwuchs, der längst erstaunlich üppig war, ließ das Gesicht des einst bartlosen Harry Leakwoord bestimmt nicht erkennen. Und da Ellen überhaupt nicht ahnte …
Nein, Ellen ahnte wirklich nichts. Manchmal kam ihr wohl irgend ein Gesichtsausdruck irgendwie bekannt vor, schien sie an irgend jemandem zu erinnern. Doch bestanden diese Empfindungen meistens nur in ihrem Unterbewußtsein, kamen nicht so weit an die Oberfläche, daß sie darüber weiter nachgedacht hätte. Nein, Harry Leakwoord konnte ganz sicher sein, – wenn er mit dem, was er sprach, sich einigermaßen vorsah. Und er sah sich vor. Bis auf die vertrauliche Anrede Mewius’. Die aber mochte Ellen sich auslegen, wie sie wollte, dachte er.
Plötzlich stieß Mewius einen Schrei aus.
„Leakwoord – ein Hai!“
Auch Harry hatte schon die aus dem Wasser ragende, charakteristische dreieckige Flosse bemerkt, die auf ihn zukam. Er erkannte sofort die Gefahr, in der er schwebte. Mit verzweifelten, überhasteten Stößen schwamm er auf das Boot zu. Mewius schleuderte eine Leine, die sie mitgenommen hatten, Harry zu. Der ergriff sie, zog sich mit einem Ruck zum Boot. Keine Sekunde zu früh schwang er sich hinein. Hinter ihm her schoß der Hai. Sein häßlicher Kopf fuhr noch ein Stück aus dem Wasser. Umsonst; die Beute war ihm entgangen. Aber in dem Schwung, mit dem er auf Harry zuschoß, stieß er noch an das Boot, daß das fast gekentert wäre. Wie wenn das Tier nun das Boot einfach umstoßen würde –? Es hätte dann dreifache Beute. Zum Glück kam der Hai nicht darauf. Aber seine dreieckige Flosse blieb von nun an in der Nähe des Bootes. Er folgte ihm. Vielleicht würde doch einmal …
Ellen Crosterbroux starrte Harry Leakwoord an.
„Sie – sind – Harry Leakwoord –!“ hauchte sie entgeistert.
„Allerdings,“ bestätigte der Abenteurer.
„Ja, warum aber diese Maskerade?“
„Maskerade –? Sie meinen den üppigen Bartwuchs? Das ist keine Maskerade. Der ist echt.“
„Sie waren es, der schon als Angehöriger des Schiffspersonals die Fahrt nach Ägypten mitmachte, sich dann als Diener engagieren ließ … Wozu das alles, wozu –?“
Leakwoord lächelte verlegen.
„Ich wollte in Ihrer Nähe bleiben, Miß Crosterbroux, nachdem ich Sie durch Zufall in Swinemünde wiedergetroffen. Ich wollte in Ihrer Nähe bleiben, unerkannt, denn – ich liebe Sie!“
Und plötzlich lag er vor ihr auf den Knien.
„Es ist wahr, ich bin ein Abenteurer. Aber dennoch – man verkennt mich. Sie wohl auch. Ich bin nicht so schlecht, wie Sie glauben. Ich liebe Sie. Aber hatte ich denn Aussicht, Ihre Gegenliebe zu erringen? Nach alldem, was zwischen uns gewesen? Glauben Sie mir, ich habe tief bereut … Als ich Sie nun wiedersah, als das Schicksal noch einmal unsere Wege sich kreuzen ließ, da konnte ich nicht anders, – ich mußte wenigstens in Ihrer Nähe bleiben. So nahm ich Dienst als einfacher Matrose auf dem Schiff, das Sie nach Ägypten bringen sollte. Dann –, aber das weitere wissen Sie ja.“
Oh, er spielte glänzend Komödie, der Schurke! Und er hätte gar nicht einmal so gut spielen brauchen. Ellen war so tief in ihren eigenen Gefühlen verstrickt, daß sie die Unechtheit gar nicht gemerkt hätte. Sie sah starr an Leakwoord vorbei aufs Meer.
„Ich liebe einen anderen …“ sagte sie tonlos.
„Ich – weiß es; wußte es ja längst,“ entgegnete Harry, „aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich Sie liebe, – unglücklich liebe! Gönnen Sie mir wenigstens dies bescheidene Plätzchen in Ihrer Nähe! Nehmen Sie mich als Freund, der Ihr Bestes will. Sehen Sie, ich bin uneigennützig, ich will Ihnen beistehen, will Ihnen den Mann, den Sie lieben, suchen helfen. Will Ihr Glück!“
„Mag es denn sein, Harry Leakwoord; bleiben Sie; helfen Sie mir; beweisen Sie mir Ihre Freundschaft!“
Und sie streckte ihm die Hand hin, die er glühend küßte … Mewius hatte die Szene gespannt mit angesehen. Er konnte nicht anders, er bewunderte Leakwoord. „Lüg’ du und der Teufel wird …“, dachte er. Und hatte zum ersten Mal Achtung vor seinem Komplizen. –
Aber – was sollte das alles in dieser Situation? Auf einem Ruderboot fast ohne Lebensmittel auf dem Indischen Ozean, in einem Teil, der anscheinend nicht befahren wurde. Noch zwei Tage; dann hatten sie nichts mehr zum Überleben.
Und auch dieser Tag verging. Es kam die Nacht mit Arbeit und Schlaf. Das Boot kam ein Stück vorwärts. Aber der Morgen brachte wieder nichts Neues. Kein Land, kein Segel, keinen Rauch …
„Wie wäre es, wenn wir die Rationen noch um einiges kürzen,“ schlug Mewius vor; „das ergibt dann noch einen Tag Fristverlängerung.“
„Mir ist’s recht,“ entgegnete Ellen. Aber Leakwoord zuckte die Achseln und schwieg. Die Kürzung der Rationen wurde auch ohne seine Zustimmung vorgenommen. Und ihm blieb nichts übrig, als sich damit abzufinden. Zwei gegen einen …
Ob es Zweck hatte –? Als die Drei, nach Tagen, den letzten Bissen verzehrt hatten, als zugleich auch ihr Wasservorrat erschöpft war, schaute Mewius mit wildem Grimm auf, Leakwoord mit Verzweiflung. Nur Ellen Crosterbroux blickte ruhig geradeaus in die Weite. Sie dachte an Mahadur Mirat … Der Gedanke allein hielt sie aufrecht.
Immer noch zeigte sich nichts. Kein Rauch, kein Segel, kein Land. Und wieder kam eine Nacht; wieder ruderten die Drei abwechselnd. Aber weniger schon. Ihre Kräfte schwanden rapid. In der nächstfolgenden Nacht ruderten sie gar nicht mehr. Dafür aber hatte sich ein leichter Wind aufgemacht. Der trieb sie. Wohin, wohin …? Sie wußten es nicht; dachten nicht mehr darüber nach. Oder doch –? Aber niemand sprach.
Mewius, dessen eiserne Energie ihn noch am meisten aufrecht hielt, spähte noch zuweilen aus. Und da, auf einmal hob er den Arm, wies zum Horizont, röchelte mit heiserer Stimme nur das eine Wort:
„Land –!“
Ein Hoffnungsstrahl! Noch einmal rafften sie ihre Kräfte zusammen. Leakwoord ruderte, selbst Ellen noch einige Minuten; am längsten Mewius. Dann brach auch er zusammen. Und noch waren sie nicht am Land. Freilich – nahe war es schon. Dann stieß das Boot sanft auf; stand. Eine Sandbank! Kleine Wellchen rollten von hier bis zum Strand des nahen Landes.
Mit letzter Kraft schleppten sie sich durch das kaum knietiefe Wasser … erklommen die flache Düne … spähten umher. Es war ein kleines, ödes Eiland. Kein Grashalm wuchs da; nur Sand und Felsen … Enttäuschte Hoffnung –!
Das war zuviel für die Entkräfteten. Sollte denn alles aus sein, – so mochte der Tod kommen. Ellen ging auf die Knie, kippte dann seitlich in den Sand; auch die beiden anderen ließen sich da fallen, wo sie standen. Sie legten sich zum Sterben …
Doch es stirbt sich nicht so leicht. Wohl langten ihre Kräfte kaum noch aus, sich zu erheben; aber der Körper wehrte sich gegen das Verhungern. Der Magen schmerzte; die Magensäure wühlte in ihm, etwas zu finden.
Wie Fieber überkam es Ellen. Sie rührte sich nicht mehr. Zwischen Schlaf und Wachen lag sie; zwischen Wachen und Fieberdelirien. Glockenläuten vermeinte sie einmal zu vernehmen. Aber es war nur der Gesang des Meerwindes in den Dünen … und Stimmengemurmel. Aber das war nur die Brandung, die verhalten rauschte.
Einmal noch öffnete sie halb die Augen. Da sah sie über sich den Kopf eines Ungeheuers mit riesigen Augen und einem Maul voll großer, spitzer Zähne. Dann verlor sie das Bewußtsein endgültig …
„Menschen –? Ich bitt’ Sie, wie sollen auf dies winzige Eiland Menschen kommen? Nein, das glaube ich nicht. Sie, Mylord, sind nun einmal hier an Land gegangen mit der festen Erwartung – oder besser: dem festen Wunsche, hier irgend etwas Besonderes zu finden. Daher –“
„Keineswegs, Racky; keine Vermutung. Ich sehe es am Benehmen Caesars. Sehen Sie nur, wie er an der Leine zieht, wie er in einer bestimmten Richtung vorwärtsstrebt. Nein, nein, ich lasse mir nichts anderes sagen: es weilen Menschen hier auf der Insel.“
Der mit Racky Angeredete zuckte die Achseln.
„Lassen Sie den Hund los, Mylord; dann werden wir sehen ob –“
„Gewiß, das hätte ich auch schon getan, wenn ich nicht gefürchtet hätte –; aber immerhin, ich will es doch tun. Komm her, Caesar, so, – lauf, mein braves Tier; hol Herrchen nach! Lauf!“
Mit großen Sätzen stob der Hund davon. Verschwand hinter Felsen und Sandwehen.
„Nun, ich bin gespannt,“ sagte Racky. Der Lord nickte.
„Ich auch; ich glaube –“
Da hörten sie den Hund in der Ferne anschlagen. Einmal nur, ganz kurz. Dann, – dann kam er nach ganz kurzer Zeit zurückgelaufen, bellte, sah zu seinem Herrn auf, machte kehrt, bellte nochmals, sah sich um und stob dann wieder davon, den Blicken der Beiden entschwindend. Der Lord sah seinen Begleiter triumphierend an. „Nun, was sagte ich?“ hieß der Blick. Der andere zuckte die Achseln.
„Gut, folgen wir Caesar. Vielleicht hat er irgend ein totes Tier gefunden, das am Strand angespült ist. Vielleicht auch etwas anderes.“
Sie schritten schnell aus. Sahen hinter der Düne bald den Hund. Er stand an – einem Frauenkörper, der da lag, – und bellte. In einiger Entfernung lagen zwei Männer. Waren es Schiffbrüchige? Wie sollten sie sonst hierhergekommen sein? Angespült konnten sie kaum sein. Dazu lagen sie zu weit oben auf der Düne.
Der Lord und sein Begleiter setzten sich in Trab und waren bald bei den drei auf dem Sand Liegenden angelangt. Racky beugte sich zu der Frau nieder; faßte deren Hand …
„Sie lebt,“ sagte er. Inzwischen hatte der Lord selbst festgestellt, daß auch die beiden Männer am Leben waren, nur bewußtlos. Wie sie hierhergekommen waren, blieb vorerst ein Rätsel.
„Es sind Europäer, in moderne Anzüge gekleidet,“ konstatierte Racky. Währenddem entkorkte der Lord eine Feldflasche, flößte der Frau etwas von der Flüssigkeit, die sie enthielt, ein. Dann auch den beiden Männern. Doch es hatte nur bei dem einen Erfolg, der die Augen aufschlug, den Lord anschaute, den Mund bewegte, als ob er etwas sagen wollte, doch anscheinend nicht sprechen konnte. Der andere Mann und die Frau blieben bewußtlos.
„Wir wollen sie auf die Jacht schaffen lassen,“ entschied der Lord; „gehen Sie zum Boot und rufen Sie die anderen. Ich bleibe so lange hier.“ – – –
Ellen Crosterbroux erwachte. Matt fühlte sie sich, so matt. Auf der Zunge ein eigentümlicher Geschmack; wie nach Alkohol. Was war nur mit ihr geschehen? Wo befand sie sich überhaupt? Eine elektrische Birne blendete sie. Sie wandte den Kopf.
Ein Tisch … Stühle … Bilder an den Wänden … Aber alles klein, zierlich, wie – wie in einer Schiffskabine … Halb wesenlos glitt das alles in ihr Bewußtsein. Ganz allmählich erst dämmerten ihr die Zusammenhänge auf. Nun erinnerte sie sich! Die Insel …
Wie kam sie hierher? Gerettet –? Durch wen? Was für ein Schiff war dies? Alles sah sauber und gediegen aus, ja, strömte eine gewisse Vornehmheit aus. Wenn sie – nur nicht so schrecklich matt wäre –!
Da – ein Geräusch. Mit Anstrengung drehte Ellen ein wenig den Kopf. Die Tür war geöffnet worden und ein Mädchen, wie eine Stewardesse gekleidet, mit einem Tablett eingetreten.
„Good morning, Miß,“ sagte sie.
Ellen war zu schwach etwas zu antworten. Aber die Fremde kam mit einem Gefäß.
„Hier, Miß, trinken Sie ein wenig Milch; es wird Ihnen gut tun.“ Und sie hob Ellens Kopf ein wenig, hielt ihr das Glas an die Lippen. Ellen schlürfte. Milch, – wirklich Milch, köstlich frische, kühle Milch! Wie das belebte! Nun vermochte sie auch zu sprechen.
„Wo – bin – ich –?“
„An Bord der Jacht „Eagle“ des Lord Suchney. Wir fanden Sie auf einem kleinen Felseneiland bewußtlos liegen. Brachten Sie an Bord. Sie und zwei Herren. Nun zerbricht man sich hier den Kopf, wie Sie wohl auf jene Insel gekommen sein mögen.“
„Schiffbruch. Wir – im Boot –“
Weiter kam Ellen nicht. Die Mattigkeit übermannte sie erneut so stark, daß sie wieder einschlief. Leise gegen die Stewardesse hinaus. Als Ellen danach von neuem erwachte, kam sie und meldete den Besuch Lord Suchneys an. Da trat er auch schon ein.
„Ich schätze mich glücklich, Miß, Sie ebenfalls dem Knochenmann entrissen zu haben. Viel fehlte nicht mehr, glaube ich, und Sie wären hinübergesegelt in das Land, von wo es keine Rückkehr mehr gibt. Nun, das ist erfreulicherweise verhindert. Ihre beiden Begleiter sind auch schon munter. Haben mir die ganze Geschichte erzählt. Gemeinheit, so eine Meuterei auf hoher See.“
„Und wohin bringen Sie uns jetzt?“ fragte Ellen.
„Nach der nächsten indischen Küstenstadt. Zwar war mein Kurs anders vorgesehenen. Doch Ihnen zuliebe will ich ihn gern ändern. Hab’ es überdies auch nicht besonders eilig.“ Er machte eine Verbeugung.
„Ich danke Ihnen für die Rettung,“ sagte Ellen und streckte dem Lord die Rechte entgegen; „im übrigen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Gelegenheit geben würden, ein Bad zu nehmen, Mylord.“
„Yes, soll geschehen, Miß. Ich will es sofort anordnen. Entschuldigen Sie mich …“
Er ging und Ellen Crosterbroux blieb mit ihren Gedanken allein. Also wieder nach Indien. Sie kam nicht los von diesem Land. Es sollte wohl so sein. Wer wußte, vielleicht war das Fügung –
Die Stewardesse kam wieder.
„Das Bad ist bereit, Miß.“
„Gut; ich danke Ihnen.“ –
Inzwischen gingen Mewius und Leakwoord bereits auf Deck spazieren. Sie hatten sich sehr schnell erholt, standen jetzt beide an der Reling. Leakwoord sah sich um, ob etwa Lauscher in der Nähe wären. Als er niemanden erblickte sagte er:
„Wir müssen schneller vorwärtskommen, Mewius. Nehmen Sie sie noch einmal vor, geben Sie ihr neue Gedankenbefehle. Natürlich bleibt wie bisher die Hauptsache, daß kein anderer etwas davon merkt. Die Idee, zu der Insel des alten Dörcksen zu fahren, war nicht schlecht; hat ja auch trotz des Schiffbruches etwas eingebracht. Aber dennoch, – ich halte das nicht für das Richtige. Wenn ich nur wüßte –“
Weiter kam er nicht. Lord Suchney kam ihnen entgegen. Ihm zur Seite schritt Ellen Crosterbroux.
„Hier, meine Herren, ist Ihr Schützling,“ sagte Suchney. „Wenn du eine Ahnung hättest!“ dachte Leakwoord. „Schützling, ist gut gesagt …“
„Übrigens,“ fuhr der Lord fort, „muß die Küste Indiens bald in Sicht kommen.“ Und mit einem Fernglas musterte er den Horizont. Dann hob er die andere Hand.
„Ah, dort –! Wir sind schon so weit. Entschuldigen Sie mich, meine Herrschaften. Ich muß Anordnungen treffen.“
„Würden Sie mir das Glas so lange hierlassen?“
„Mit Vergnügen, Miß! Bitte.“
Als sie allein waren, fragte Harry Leakwoord:
„Und was machen wir nun? Wir sind durch das Geschick wieder nach Indien zurückgeworfen.“
Ellen nickte.
„Ja, und auf etwas anstrengende Weise. Ich möchte erst einmal einige Tage mich ausruhen, bevor ich weiteres unternehme.“
„Wie Sie meinen. Und wo wünschen Sie sich während dieser Tage aufzuhalten?“
„In – Kalkutta,“ entschied Ellen nach kurzem Überlegen. Die beiden anderen waren damit – natürlich – einverstanden. – Wenig Zeit später lief der „Eagle“ in den Hafen ein. Der Lord verabschiedete sich herzlich von den Geretteten. Ihre Dankesworte schnitt er mit erhobenen Händen ab.
„Bitte keinen Dank! Was ich tat, war Menschenpflicht, nichts weiter. Ich freue mich, daß ich zur rechten Zeit kam.“ –
Kalkutta –! Mewius, der noch nie hier gewesen war, benutzte die Zeit ausgiebig, sich die an Sehenswürdigkeiten so reiche Stadt anzusehen. Vorher hatte er Ellen seine wunderbare Kristallkugel auf deren Wunsch noch einmal gezeigt und dabei seine hypnotischen Befehle erneuert. Allerdings nicht ganz so, wie Leakwoord es gewünscht hatte. Er hatte Harry unter dem Vorwand ferngehalten, daß er mit Ellen allein sein müsse, wenn die Sache gelingen sollte. Und dann – war es, wie gesagt, etwas anders geworden. Mewius dachte mehr an seine Person.
Auch Harry Leakwoord strich durch die Stadt, die er zwar kannte, doch nicht eingehend.
Die Tage vergingen auf diese Weise rasch und angenehm. Schon fünf waren vorüber, als Harry Leakwoord in großer Hast von einem Ausgang ins Hotel zurückkehrte. Ellen saß auf der Veranda bei einer Eislimonade. Harry rief ihr schon von weitem zu:
„Eine Neuigkeit –!“
Kam dann und setzte sich neben Ellen. Er dämpfte seine Stimme bis zum Flüstern, damit am Nebentisch nichts zu verstehen war, was er sagte.
„Harald Dörcksen ist in Kalkutta!“
Als Kapitän Söder mit Hella und Harald Dörcksen, Burne und Mahadur Mirat in Hamburg eintraf, fand er seine Schwester Clara und deren Haus in heller Verzweiflung vor. Schluchzend warf sich Clara ihm an den Hals.
„Bei Gott, Knut, ich bin unschuldig daran! Ich habe immer so gut achtgegeben. Und dann gerade muß mir das doch passieren!“
„Was ist denn geschehen?“
„Amara ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden!“
„Was –?!“
Der Kapitän packte seine Schwester heftig an der Schulter.
„Wie war das möglich? Ging sie denn allein aus? Oder – wie konnte das sonst geschehen –?! Sprich doch!“
Oft von Schluchzen unterbrochen berichtete die Schwester des Kapitäns:
„Amara konnte doch nur wenig Deutsch. Aber wir verständigten uns gut miteinander. Anfangs war sie sehr schüchtern; saß immer da und starrte vor sich in. Sie wartete auf deine Rückkehr. Erst als wir ihr klarmachten, daß du doch bedeutend länger fortbleiben würdest, als sie da sitzen könne, zeigte sie auch für anderes Interesse. Englisch sprach sie ja gut; aber wir ahnten nicht, wie sehr sie diese Sprache beherrscht. Nun weißt du doch, daß in unserem Bücherschrank die Romane von Charles Dickens in der Originalausgabe stehen. Die entdeckte sie, machte sich gleich darüber her und war von den Büchern, die ihr anscheinend sehr gefielen, nicht wieder fortzukriegen.“
Söder unterbrach sie mit ungeduldiger Handbewegung.
„Bitte, fasse dich kurz, liebe Clara!“
„Nun ja; wir gingen mit ihr täglich spazieren. Auch Hamburg gefiel ihr ausnehmend, obwohl es ihr zu kühl war und zu feucht. Der viele Regen … Dergleichen war sie doch in Ägypten nicht gewöhnt, nicht war …“
Der Kapitän unterbrach wieder.
„Bleib’ doch bitte einmal bei der Sache!“
„Bin ja schon dabei. Amara, durch unsere Spaziergänge angeregt, bat mich, einmal allein in dieser Stadt ausgehen zu dürfen. Natürlich schlug ich ihr das ab. Doch sie bat und bat; nur ein paar Straßen weit wollte sie gehen. Ich gab endlich nach, – leider. Von diesem Ausgang ist sie nicht wieder zurückgekommen.“
Kapitän Söder fuhr sich wild durchs Haar.
„Das ist ja –! Sträflicher Leichtsinn war das. Nie und nimmer hättest du zugeben dürfen, daß –; aber geschehen ist geschehen. Da hilft alles Schwatzen nichts. Was habt ihr dann in der Angelegenheit unternommen?“
„Wir haben die Polizei benachrichtigt.“
„Und –?“
„Bisher keine Nachricht.“
„Wann war das?“
„Vorgestern Nachmittag.“
Mit wuchtigen Schritten ging Söder im Zimmer auf und ab. Amara verschwunden! Das Mädchen, das ihn anscheinend liebte und das er ebenfalls liebte – wie ein Vater sein Kind. Oder – anders –? Ach, darüber dachte der Kapitän jetzt nicht nach. Grübelte nur krampfhaft: Was unternehme ich; was unternehmen ich!
Aber es ließ sich da gar nichts machen. Man konnte nur abwarten, bis die Polizei Erfolg bei ihrem Suchen hatte. Freilich, qualvoll war es, dieses Warten. Schrecklich qualvoll. Wer wußte, wo das Mädchen jetzt schon weilte! Hamburg war ein gefährliches Pflaster. Nun gar für Amara, die hier fremd und überdies mit den hiesigen Verhältnissen nicht vertraut war. Mädchenhändlergeschichten fielen ihm ein und noch sonst allerlei Grausliches –
„Was hatte Amara an, als sie fortging?“
„Wir hatten ihr ein Frotteekleid gekauft, weißt du, sehr hübsch: Lila mit gelben Streifen. Ganz glatt, nur mit einem schwarzen Ledergürtel. Oben am Hals –“
„Schon gut, schon gut! Hör’ nur auf mit deinen Nebensächlichkeiten! Daß ihr Frauen doch nie das Wesentliche herausfindet! Ich brauche nur Art und Farbe des Kleides für meine Nachforschungen; nicht, welche Kinkerlitzchen sonst noch daran waren.“
Clara schwieg gekränkt. Sie hätte wohl Lust gehabt, etwas auf die Worte ihres Bruders zu erwidern. Aber sie kam sich in diesem Falle zu schuldig vor; schwieg daher lieber. Söder ging erregt auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
„Daß ich daran nicht gleich gedacht habe –! Burne, der große englische Detektiv –! Er muß helfen.“
Kurz entschlossen nahm der Kapitän ein Auto, fuhr zum Hafen. Lebhaft begrüßte man ihn dort. Doch Burne fiel sofort die veränderte Miene Söders auf.
„Was ist passiert, Mr. Söder? Sie machen ein Gesicht, als ob ganz etwas Besonderes vorliegt.“
Der Kapitän nickte.
„Liegt auch vor, Mr. Burne. Und zwar ein Fall für Sie. Amara ist verschwunden.“
„Ah, jene junge Ägypterin, die Sie in Hamburg bei Ihrer Schwester zurückgelassen hatten? Wie ging das zu?“ –
Söder berichtete. Burne wiegte das Haupt, als er geendet.
„Hm, hm, gar kein Anhaltspunkt also. Schwierige Sache. Aber ich werde natürlich sehen, was sich machen läßt. Ja, Hamburg –; Mädchenhändler … Allerlei Fäden laufen hier zusammen. Habe selbst auch schon einmal in Hamburg zu tun gehabt. Ebenfalls in einer Mädchenhändlerangelegenheit.“
Der Kapitän ging auch jetzt unruhig auf und ab.
„Immerhin,“ sagte er, „kann es sich eventuell auch um einen Unfall handeln. Amara ist möglicherweise überfahren, kann über ihre Personalien nichts angeben, hat keine Papiere bei sich; – liegt nun vielleicht in irgend einem Krankenhaus …“
Burne schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wenn die Polizei von dem Verschwinden des Mädchens benachrichtigt worden ist, wird sie selbst vor allem in allen Unfallstationen und Krankenhäusern nach dergleichen Fällen nachfragen. Nein, das käme schnell heraus. Da muß schon etwas anderes vorliegen.“
Söder seufzte auf. Burne sah ihn von der Seite an, lächelte und – schwieg. Er merkte wohl, wie es um den Kapitän stand, sah, daß Söder in Amara verliebt war, – verliebt wie ein Junger. Daher legte er ihm beruhigend den Arm auf die Schulter.
„Lassen Sie gut sein, Käpten, wir finden sie. Das verspreche ich Ihnen; und wenn ich ganz Hamburg umkehren soll.“
„Ich danke Ihnen!“
Fast schmerzhaft preßte Söder des Detektivs Hand.
„Hoffen wir nur, daß Sie Erfolg haben mögen.“
„Ja, hoffen wir’s. Doch jetzt wollen wir schleunigst zur Wohnung Ihrer Schwester fahren. Ich muß selbstverständlich solch eine Sache von ihrem Ausgangspunkt beginnen. Das Zweite wäre dann, daß ich mir von der hiesigen Polizei eine Vollmacht oder wenigstens einen Ausweis geben lasse. Das ist für mich als Ausländer unerläßlich, wenn mir das Arbeiten nicht unendlich erschwert werden soll.“
Sie nahmen ein Auto. Als der Wagen die Mönkebergstraße hinunterfuhr, sprang Söder plötzlich auf, stieß sich den Kopf und rief ohne darauf zu achten, den Detektiv am Arm ergreifend:
„Da, – da – das ist sie!“
„Wo, wo –?“
„Dort in dem Auto! Ah, es biegt um die Ecke!“
„Chauffeur, umkehren, rasch! Zurück!“ hatte da Burne auch schon dem Wagenlenker zugerufen. Da die Straße hier breit und im Augenblick frei war, wendete der mit enger Kurve den Wagen um und sauste zurück.
„Rechts hinein!“ rief Burne und der Chauffeur bog prompt in die angegebene Seitenstraße.
„Dort, das Auto!“ rief Söder immer noch erregt. „Amara saß darin. Mit einem Fremden“
„Vorsicht ist geboten,“ meinte der Detektiv; „Chauffeur, folgen Sie jenem Wagen. Doch nicht zu auffällig. Nicht zu nahe heranfahren!“
Nun begann die Jagd. Der fordere Wagen, ebenfalls ein Mietsauto, fuhr gar nicht übermäßig schnell. Gerade so das Durchschnittstempo aller Gefährte der Stadt. Aber einen Kurs … Kapitän Söder, der doch Hamburg genau kannte, schüttelte nach einiger Zeit den Kopf. Brummte:
„Einen Stiebel fährt der Kerl zusammen! Fast, als täte er das absichtlich; als führe er spazieren, oder –!“
„– oder als wolle er uns nasführen!“ ergänzte Burne. Er war schon wieder ganz Detektiv, von Spür- und Jagdeifer erfüllt, – wie einst, als er hinter Mahadur Mirat und Hella Dörcksen her war.
Jetzt bog das verfolgte Auto in das Hafenviertel ein, in jenen Stadtteil, der ausschließlich von ärmeren Leuten, aber auch von dunklen Existenzen aller Art bewohnt wird. Das Verbrecherviertel Hamburgs. Dahinein fuhr der Wagen. Ein, zwei der schmalen Straßenenden entlang. Bremste dann vor einem hochgiebeligen, engbrüstigen alten Haus, deren es in dieser Gegend noch viele gab.
Burne ließ seinen Wagen gleichfalls halten. Zwischen ihm und dem Gefährt jenes waren etwa noch hundert Meter. Der Fremde dort vorn stieg aus, schob die ihm folgende Amara rasch in das nächste Haus, verschwand dann selbst darin. Die Haustür hinter den beiden schlug zu …
Da sprang auch Burne heraus. Rief:
„Kommen Sie, Kapitän!“
Lief schon; hatte im Nu die betreffende Haustür erreicht. Sie war nicht abgeschlossen. Im Parterre des Hauses befand sich ein Mehlwarenlager, das nur einen Zugang von der Straße aus hatte, mit dem Hausinnern sonst zusammenhing. Also hinauf … Das Haus war so schmal, daß in jeder Etage nur eine Wohnung lag. An der Tür der im ersten Stock gelegenen stand „Alois Halm, Schneidermeister“.
Burne trat leise an die Tür heran. Lauschte … schüttelte den Kopf. Blickte zur Erde. Wies mit dem Zeigefinger auf den nächsten Treppenabsatz. Der war mit Linoleum belegt und – wies deutlich nasse Spuren auf, die weiter empor führten. Söder verstand. Es hatte kurz vorher geregnet. Die Spuren konnten nur von den beiden Verfolgten stammen; und die waren eben nach der zweiten Etage gegangen.
Burne und Söder stiegen, ängstlich jedes Geräusch vermeidend empor. Das Haus besaß nur zwei Stockwerke. Nun galt es also … Die Tür zu der oberen Wohnung trug ein Schild mit der Aufschrift „Leo Arndtsen, Kunstmaler“. Wieder trat der Detektiv dicht an die Tür. Lauschte … Doch kein Laut drang heraus. Da griff Burne kurzerhand nach dem Drücker … bewegte ihn herunter … Die Tür ging auf! Der Detektiv gab Söder ein Zeichen, sich dicht hinter ihm zu halten. Zog den Revolver und – trat ein.
Ein Zimmer, dem man es ansah, daß es ein Maler bewohnte. Groß, hell; überall Kleidungsstücke verstreut, Malgerät dazwischen, fertige und angefangene Bilder. Eine Tür führte in einen zweiten Raum. Die Tür stand offen. Dahinter sah es noch bunter aus. Anscheinend war dies das Atelier. Staffeleien, Farbtöpfe, Pinsel …
Aber kein Mensch. Nichts von dem Fremden; nichts von Amara. Keine Spur, kein Laut. Nichts.
Burne schob die Tür zum Atelier noch weiter auf, trat langsam ein, den Revolver schußbereit … Söder folgte ihm auf dem Fuße. Auch in diesem Raum befand sich kein Mensch. Aber plötzlich schlug die Tür zu und eine helle, scharfe Stimme klang hinter den Beiden:
„Halt, keine Bewegung! Werfen Sie den Revolver fort, oder – ich schieße!“
Burne und der Kapitän fuhren herum. Da stand – der Fremde, in jeder Hand eine Pistole! Wo war er hergekommen? Das war ein Rätsel. Ringsum nur die glatten Wände. Und Amara –? Einen zweiten Ausgang besaß das Atelier nicht.
Doch der Fremde ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken. Er wiederholte:
„Werfen Sie den Revolver weg! Ich zähle bis drei, – dann knallt’s!“
Der Detektiv, der ebenso wie Söder die Hände emporgehoben hatte, ließ nun wirklich seine Waffe fallen. Dem Kapitän entschlüpfte ein „verdammt“! Burne aber – lächelte spöttisch! Und dann ließ er die Arme ganz ruhig sinken! Verschränkte sie über der Brust. Sagte:
„Geben Sie sich keine Mühe, Herr Arndtsen; Sie sind kein Verbrecher, das sehe ich Ihnen an. Erstens zittern Sie vor Furcht; vor uns wahrscheinlich; und dann – mit den alten Faschingspistolen werden Sie keinen Schaden anrichten, – abgesehen davon, daß die Dinger nicht geladen sind. Erzählen Sie uns lieber, was Sie mit der Entführung des Mädchens bezweckten und wo Sie es verborgen haben.“
Nur ein Wort griff der Maler aus der Rede des Detektivs heraus.
„Ich, – Verbrecher –? Wer sind denn Sie –?“
„Burne, Detektivinspektor der britischen Polizei,“ stellte sich Burne vor und griff in seine Brusttasche; „hier mein Ausweis.“
„Detektiv –! Und ich dachte –“
„Hielten Sie etwa uns für Verbrecher?“
„Ja, – allerdings –“
„Haha, das ist wirklich gut! Nein, Sie sind kein Verbrecher. Und selbst als Gauner kleinen Formats noch zu ungeschickt. Nun aber ’mal heraus mit der Wahrheit! Wo halten Sie das Mädchen verborgen und zu welchem Zweck entführten Sie es?“
Der Maler schüttelte immer noch verwundert den Kopf.
„Detektivs –! Nein, und ich –, ah, Sie werden gleich alles hören. Ich habe die junge Dame gar nicht entführt. Aber das ist eine so merkwürdige Geschichte, daß Sie sie mir wahrscheinlich nicht glauben würden; doch, warten Sie einen Augenblick, die Dame soll Ihnen meine Angaben selbst bestätigen.“
Damit wandte er sich um … Doch Burne war mit einem Satz hinter ihm. Rief:
„Halt, hiergeblieben, verehrter Freund! Entwischen, wie? Nein, wenn Sie wo hinzugehen haben, gehen wir hübsch zusammen, – so lange bis ich weiß, daß das, was Sie sagen, auch wirklich stimmt!“
Der Maler war schon wieder erschrocken zusammengefahren; doch er beruhigte sich gleich.
„Sie haben recht,“ sagte er; „sicher ist sicher. Aber ich wollte nicht entwischen; wirklich nicht. Sehen Sie her!“
Er drückte auf einen kaum sichtbaren Knopf im Türrahmen der Ateliertür, und – ein Stück der Wand nebenan drehte sich in Angeln, ließ jetzt einen kleinen Raum dahinter sehen, der anscheinend durch eine Dachluke Licht erhielt.
„Dies Haus,“ erklärte der Maler, „muß sehr alt sein. Sein Erbauer hatte vielleicht Interesse daran, jederzeit über das Dach ungesehen hinwegzukommen. Ich entdeckte dieses Geheimnis erst, nachdem ich das Atelier schon ziemlich lange innehatte.“
Dann rief er in das kleine Gemach hinein:
„Kommen Sie, Fräulein Amara; hier sind zwei Herren, die …“
Da war Amara auch schon draußen, erblickte Söder und – lief mit einem Freudenschrei auf ihn zu.
„Gut, daß du da bist, Sidhi! Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt!“
Sie begrüßten sich lebhaft. Söder machte Amara mit Burne bekannt. Dann sagte der Maler:
„So, meine Herren, würden Sie nun freundlichst in meinem Wohnzimmern ein wenig Platz nehmen. Ich bin wirklich froh, daß diese Affäre nun so gut ausgegangen ist. Ich will Ihnen erzählen, wie alles sich zutrug. Zuvor aber gestatten Sie, daß ich Ihnen eine Kleinigkeit anbiete.
Und er holte aus einem Schränkchen Zigaretten, eine Likörflasche und Gläser. Er goß ein und man stieß an auf das glückliche Wiedersehen … Dann begann der Maler:
„Meine Herren, Sie waren auch einmal jünger. Sie werden wissen, wie es einem jungen Manne zumute ist, der eben, wie gesagt, jung und obendrein noch Künstler ist und plötzlich auf der Straße eine Dame von ganz eigenartiger Schönheit stehen sieht! So ging es mir. Ah, dachte ich, sie weiß den Weg nicht! Ein famoser Grund, sie anzusprechen! Gedacht, getan. Aber – kein Erfolg. Die junge Dame starrte mich an, erwiderte jedoch nichts. Nun sah ich aber die dunkle Hautfarbe, das eigenartige Profil … Kurzum, ich versuchte es mit englisch, das ich vorzüglich beherrsche, da ich fast drei Jahre in London gewohnt habe. Und jetzt hatte ich Erfolg! Sie antwortete! Ja, sie wußte wirklich den Weg nicht. Hatte dieselbe Straße, die sie gekommen war, zurückgehen wollen, war dann wohl doch von der Richtung abgekommen und stand nun da, ohne zu wissen, wo sie war. Das Peinlichste aber: sie hatte auch den Namen der Straße, aus der sie kam und zu der sie wollte, vergessen. Sie hatte ihn sich gar nicht besonders gemerkt, hatte wohl als Ägypterin sowieso kein Gedächtnis für deutsche Namen. Kurzum, sie wußte nichts. Da war nun guter Rat teuer. Das heißt eigentlich war die Sache ja nicht so schlimm. Wenn, wie sie mir erzählte, sie vor kurzem mit einem Reisenden von Ägypten hierhergekommen und bei Verwandten dieses Mannes untergebracht worden war, so würden die ja bald von sich hören lassen. Nur daß das natürlich nicht so schnell ging. Mir war das so unangenehm nicht. Das Eigenartige im Wesen des Mädchens, der fremdländische Typ reizten mich ungemein. So schlug ich ihr vor, ruhig abzuwarten, bis ihre Angehörigen sich meldeten. Sie war damit einverstanden, und ich quartierte sie bei meiner Wirtin ein, von der ich Atelier und Wohnzimmer gemietet habe.
Frau Richter, wie auch Amara selbst können bezeugen, daß sich alles wirklich so verhält. Freilich, – ich hätte die Klärung der Sache beschleunigen können, dadurch, daß ich etwas dazu tat. Da liegt vielleicht meine einzige – Unterlassungssünde. Aber das Eigenartige der Situation reizte mich zu stark. Dies Mädchen malen –! Schon schwebte mir ein großes, exotisches Gemälde vor mit Amara als Mittelpunkt … Einige Skizzen habe ich auch bereits dazu gemacht. Die übrige Zeit füllte ich sehr angenehm damit aus, daß ich mit Amara in der Stadt spazieren ging, Kaffeehäuser besuchte … Heute, als ich gerade im Begriff war, in einem Mietsauto mit ihr heimzufahren, – ein Luxus, den ich mir leisten zu können glaubte, da ich tags zuvor zwei Bilder günstig verkauft habe, – bemerkte ich plötzlich, daß wir von einem zweiten Auto verfolgt wurden. Ich ließ den Chauffeur einen Zickzackkurs fahren. Kein Zweifel: der andere Wagen blieb hinter uns; wir wurden verfolgt! Alle Schauergeschichten, die ich jemals gelesen hatte, fielen mir wieder ein. Mädchenhändler spielten darin eine besonders große Rolle. Amara sah auffallend und reizvoll genug aus. Aber ich glaubte, aus den Schauergeschichten auch gelernt zu haben. Das Geheimkabinett neben meinem Atelier fiel mir ein; früh genug. Ich ließ den Wagen nach Hause fahren. Verbarg Amara und mich in dem Kabinett. Was dann geschah, wissen Sie. Amara ist nichts geschehen, nur ich bin um einige schöne Stunden reicher. Das ist alles.“
So endigte dies Intermezzo zur allgemeinen Zufriedenheit. Überstandene Aufregungen, die einen zufriedenstellenden Abschluß im Gefolge haben, werden ja meistens nicht mehr tragisch genommen. –
Zwei Tage später verließ der „Delphin“ mit Hella und Harald Dörcksen, Mahadur Mirat, Burne und Amara an Bord den Hafen von Hamburg zu einer neuen, weiten Reise. Wieder war Indien das Ziel. Jetzt endlich konnten Hella und ihr Vater an die Befreiung Gari Dörcksens aus dem Lamakloster Thudsidsengi gehen.
Welche neue Fülle von Abenteuern und Gefahren ihrer dabei harrte, ahnten sie nicht.
Das Lamakloster Thudsidsengi lag auf halber Höhe eines Berges, eng an den Felsen geschmiegt, in einer öden, nur wenig von Grün durchzogenen Gegend. Eine unübersteigbar hohe Mauer mit Toren und kleinen Ecktürmchen umgab einen geräumigen Hof, der rings um das Hauptgebäude lief, ein massiges, umfangreiches, Jahrhunderte altes Bauwerk. Heiß war die Luft, heiß und trocken. Hart und stachelig das spärliche Grün, das in der Gegend wuchs. So gewährte sie das Bild größten Gegensatzes zu den fruchtbaren Tälern, aus denen diese Berge aufstiegen.
Trostlosigkeit war es, die den Reisenden, der zum ersten Male hierherkam überfiel. Unheimlich wirkte die Stille selbst in der Natur. Es war, als habe die Tierwelt ebenso diese Gegend gemieden, wie die Menschen es taten. Nur sandgraue Giftschlangen schlüpften zwischen dem Gestein einher, – lagen irgendwo zusammengeringelt in der Sonne. Tückisch lauernd.
Die Menschen hatten diese Gegend gemieden. Seit vielen, vielen Jahren, seit Jahrhunderten vielleicht. Alle Ansiedlungen waren weit entfernt. Niemand wußte recht anzugeben, wieso das so war. Die Unfruchtbarkeit des Bodens war kein ausreichender Grund. Hier spielte noch anderes mit: der Aberglaube. Und wohl nicht einmal ganz allein der …
Unheimliches ging von dem düsteren Gebäudekomplex des alten Klosters aus. Grauen kroch den Beschauer an. Es lag unsichtbar, ungreifbar in der Luft. Wehte aus hundert Geschichten, Legenden, die um das Kloster herumgesponnen waren, – und die ein gut Teil Wahres enthalten mochten. Geschichten von unmenschlichen Grausamkeiten der fanatischen Lamapriester, von lebendig Eingemauerten, deren Skelette in Steinkammern blichen. Ein gut Teil Wahres mochte daran sein.
Feindlich gegen alles, das nicht zu ihnen gehörte, waren die Priester auch heute noch. Kein Unberufener durfte je die Schwelle ihres Klosters überschreiten. Niemand sehen, was darin vorging. Gesandtschaften befreundeter Priesterschaften empfingen sie stets nachts; nachts auch ritten jene wieder ab. Hin und wieder hatte es tollkühne Neugierige gegeben, die sich einzuschleichen versuchten. Gelungen war es keinem. Aber die es versuchten, mußten es furchtbar büßen. Die Schrecknisse des alten, geheimnisvollen Gebäudes schlugen manchem die Krallen des Wahnsinns ins Hirn.
Etwa zehn Kilometer südlich von Thudsidsengi lag die Ansiedlung Gandamira. Hier hatte sich eines Tages, von Nepal kommend, eine Kavalkade von fünf Personen eingefunden und dicht bei dem Ort Zelte aufgeschlagen. Sie führten alles Notwendige mit, das sie in den Stand versetzte, unabhängig von den Bewohnern des Ortes zu leben, Zelte, Lasttiere, Vorräte. Es hieß, daß es sich um eine wissenschaftliche Expedition handele.
Die fünf Personen waren: Harald Dörcksen, Mahadur Mirat, Stuart Burne, Knut Söder und – Hella. Drei Hindu hatten sie als Bedienung und – Schutz mitgenommen. Daß sie nicht in dem Ort selbst Unterkunft suchten, hatte schwerwiegende Gründe. Denn – eine Kette von Erlebnissen ernstester Art lag schon wieder hinter ihnen, seit sie indischen Boden betreten. Gleich hinter Kalkutta begann es …
Rot traf die sinkende Sonne Menschen und Zelte, als das „Lager“ endlich fertig war. Es war auf einem etwas hochgelegenen Platz, der freie Sicht nach allen Seiten bot, aufgerichtet worden und sollte nachts bewacht werden.
„Nun sind wir so weit, Hella!“ sagte Mahadur Mirat, der soeben aus dem Zelte trat. Das Mädchen seufzte auf; nickte langsam vor sich hin.
„Ich wollte, wir wären weiter. Dort hinten liegt Thudsidsengi. Dort schmachtet Gari, – wenn er noch am Leben ist …“
Der Radscha legte leicht den Arm um sie.
„Laß die trüben Gedanken, Liebste! Sei guten Mutes. Sind wir nicht allen Fährnissen glücklich wie durch ein Wunder entronnen? Allen –?“
Sie nickte.
„Ja, allen. Wie durch ein Wunder. Das ist es eben. Kann uns nicht das Glück auch einmal im Stich lassen?“
„Warum daran denken? Komm ins Zelt, Geliebte. Es beginnt dunkel zu werden.“
„Nein, Lieber, laß uns noch eine Weile hier draußen sitzen. Noch ist Licht genug, daß man alles ringsum sieht; also keine Gefahr. Nur ein noch paar Minuten.“
„Wie du magst.“
Sie setzten sich an den Rand einer Bodensenkungen. Von hier hatten sie nach drei Seiten freie Sicht. Nach Süden in die Waldtäler; nach Norden auf die Höhen, auf denen, von hier allerdings nicht sichtbar, das Kloster Thudsidsengi lag; und geradeaus nach Westen in eine wildromantische Kleingebirgsformation. Felsblöcke, inmitten Grüns aufragend, kleine Schluchten voll Gestrüpp und kahle Plateaus.
Die beiden liebenden Menschenkinder saßen da am Rande des kleinen Abhanges … wortlos. Hatten eins um des anderen Schulter den Arm gelegt. Jedes hing seinen Gedanken nach. Doch velleicht dachten sie beide das gleiche …
Hellas Gedanken wanderten zurück auf dem Weg, den sie von Kalkutta bis hierher gekommen, – auf diesem schrecklichen Weg, der sie dem Tod hatte ins Angesicht blicken lassen …
In Indien lagen die Bahnstationen nicht so dicht beieinander, wie etwa in Deutschland. Von einer zur anderen fuhr man oft mehrere Stunden. So auf der Strecke die nach Nepal führte. Nepal, der Endpunkt dieser Bahnlinie, lag nicht mehr in der Ebene, sondern schon in beträchtlicher Höhe. Von der letzten Station vor Nepals Grenze lief der Schienenweg in riesigen Serpentinen bergan. Immer durch Wald, der erst kurz vor Nepal aufhörte. Oft traten Schluchten bis dicht an die Bahnlinie heran. Dann schweifte der Blick des Reisenden über grüne, dunkle Wildnis, die geheimnisvoll tief unten atmeten. Ein überwältigendes Bild.
Dörcksen und die Übrigen hatten im letzten Wagen Platz gefunden. Zelte und andere Ausrüstungsgegenstände zu ihrer Expedition wollten sie erst in Nepal erstehen. Auch Reit- und Lastpferde, deren sie bedurften, würden sie dort bekommen.
Die letzte Station vor Nepal war passiert. Nun begann der Zug die Steigung. In knapp vier Stunden würde das Ziel der Bahnfahrt erreicht sein. Die Sonne war hinter die Wälder gegangen. Es wurde rasch dunkel.
Hella und Mahadur Mirat saßen, Hand in Hand, am Fenster und bewunderten schweigend das reizvolle Bild, das die Natur in dieser Dämmerung bot. Der Wagen war nur wenig besetzt. In einiger Entfernung saßen Harald Dörcksen, Burne und Kapitän Söder.
„Wir werden in Nepal größte Vorsicht walten lassen müssen,“ hatte Burne soeben unvermittelt gesagt und dabei so leise gesprochen, daß es außer Dörcksen und dem Kapitän niemand hören konnte.
„Vorsicht, gewiß,“ entgegnete Dörcksen; „die ist in diesem Lande und besonders bei einer Unternehmung, wie die unsere es ist, stets geboten. Aber Sie sagen das mit so besonderer Betonung und geheimnisvoll gedämpfter Stimme, daß man dahinter wohl oder übel etwas Besonderes vermuten muß.“
„Da haben Sie nicht so ganz unrecht. Ich sprach nur leise, um die da – er deutete auf den Radscha und Hella – nicht aufmerksam werden zu lassen. Das heißt, Mahadur Mirat werden wir besser doch einweihen. Aber Fräulein Dörcksen …
„Einweihen –? Ja, was haben Sie denn, Mr. Burne! Sie machen einem ja ordentlich Angst!“
Der Detektiv schüttelte den Kopf.
„Nicht nötigt. Nur eben, wie gesagt, Vorsicht in Nepal und nachher.“
„Verraten Sie mir schon, weshalb. Sie spannen uns auf die Folter. Daß es sich um etwas Besonderes handelt, haben Sie ja schon halb zugegeben.“
„Nun denn, Harry Leakwoord und Ellen Crosterbroux waren in Kalkutta!“
Betroffen starrten Söder und Dörcksen den Detektiv an.
„Harry Leakwoord und Ellen Crosterbroux –? Das wäre ja an und für sich nichts Auffallendes. Auch die Art, in der Sie es sagen, läßt wieder vermuten, daß hinter der erwähnten Tatsache noch mehr steckt.“
„Steckt auch. Es gelang mir nämlich, die Beiden im Gespräch mit einem dritten, sehr wenig vertrauenerweckend aussehendem Individuum zu – belauschen!“
„Ah, – und?“
„Und da konnte ich aus den Worten jener Drei entnehmen, daß sie irgend ein Komplott gegen uns schmiedeten.“
„Ellen Crosterbroux uns feindlich gesonnen? Soll man das glauben?“
Burne hob die Achseln.
„Warum nicht? Die Liebe treibt manchmal seltsame Blüten.“
„Sie meinen, daß dieser Umschwung da herzuleiten sei –?“
„Es könnte doch sein. Nun jedenfalls ward mir klar, daß wir irgend einen Streich von jener Seite zu gewärtigen hätten. Ich schwieg mich über meine Beobachtung aus. Aber ich war auf der Hut; schon dort. Ich sagte noch nichts, um Sie nicht unnötig zu beunruhigen. In Kalkutta wäre es ja noch schwierig gewesen, etwas gegen uns zu unternehmen. Aber hinter der Grenze in Nepal, beim Marsch ins Land hinein …“
„Etwa ein direkter Anschlag auf uns? Welchen Sinn könnte das wohl für jene haben?“
„Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Darüber konnte ich leider nichts Bestimmtes hören. Aber – daß etwas gegen uns unternommen werden soll, ging aus ihren Worten klar hervor. An Gari kommen sie nicht heran. Das ist ausgeschlossen. Es sei denn, daß Leakwoord sich inzwischen mit seinen Mittlern in Verbindung gesetzt hätte, die ihrerseits wohl mit den Insassen des Lamaklosters gut stehen müssen. Davon jedoch war mit keiner Silbe die Rede.“
„Mir ist nur nicht klar, welchen Vorteil sich Ellen Crosterbroux oder Harry Leakwoord davon versprechen, wenn sie irgend etwas gegen uns unternehmen.“
„Mir auch nicht. Dennoch ist es so. Als wir in Kalkutta den Zug bestiegen, gingen drei reisende Engländer in den nächsten Waggon. Ein weißhaariges Ehepaar und ein großer hagere Herr mit blondem Vollbart und blauer Brille. Ich habe sie trotz der Maskierung erkannt –: Unser Kleeblatt!“
„Ah, nicht möglich! Also, sogar in Verkleidung.“
„Und in nicht einmal schlechter. Wäre ich in dergleichen nicht so routiniert, hätte ich sie vielleicht nicht einmal erkannt. Wir wissen nun, daß wir den Feind in allernächster Nähe haben. Er wird, nehme ich an, für die Strecke hinter der Grenze, also zwischen da und Gandamira, das wir zu Pferde zurücklegen müssen, seine Pläne aufsparen. Nun wohl, wir sind gerüstet.“
„Wie langsam der Zug hier fährt,“ warf jetzt der Kapitän ein.
„Ist mir auch schon aufgefallen. Das macht wohl die Steigung, die der Zug hier zu überwinden hat,“ meinte Dörcksen. Doch Burne, der scharf hinaus spähte, schüttelte den Kopf. Sagte:
„Der Zug fährt nicht langsam wegen der Steigung. Sein Tempo verlangsamt sich noch jetzt ständig. Vielleicht ist an der Maschine etwas in Unordnung.“
Wirklich fuhr der Zug langsamer und langsamer. Mit jeder Sekunde … Jetzt hielt er. Doch nur einen Augenblick. Fing dann ganz, ganz langsam an, rückwärts zu rollen. Und dies Tempo vergrößerte sich!
„Hallo, was ist das?!“ rief Burne. Alle Reisenden blickten verwundert zum Fenster hinaus. Draußen war es fast völlig dunkel geworden. Doch konnte man die am Gleisrand stehenden Bäume noch erkennen und an ihnen Fahrtrichtung und Geschwindigkeit des Zuges wahrnehmen. Wirklich, schneller und schneller fuhr er zurück!
Burne ging hastig zur Tür am Ende des Waggons, öffnete sie, beugte sich hinaus, – schlug sie wieder zu.
„Ah, diese Bestien!“ knurrte er verbissen.
„Was ist?“ fragten Söder und Dörcksen zugleich.
„Wir fahren allein. Der Zug ist längst fort. Die Bande hat unseren Wagen abgekoppelt!“
„Die Bande? Also Leakwoord und die Crosterbroux?“
„Niemand anders,“ bestätigte der Detektiv. Der übrigen Fahrgäste bemächtigte sich eine Panik. Einige wollten aus dem Waggon abspringen, als sie hörten, was geschehen war. Doch schon hatte der Wagen eine Geschwindigkeit erreicht, die dieses Unterfangen ohne Gefahr unmöglich machte.
„Ruhig Blut!“ rief der Detektiv. „Die Steigung der Strecke beginnt nicht weit von hier. Nichts weiter wird geschehen, als daß wir bis zur nächsten Station zurückrollen. Allerdings,“ wandte er sich dann an Dörcksen und Söder, „werde ich mich doch einmal umsehen, ob dieser Wagen vielleicht besondere Bremsvorrichtung enthält.“
Auch Hella und der Radscha erfuhren auf diese Weise um was es ging. Das Mädchen war durchaus gefaßt, zeigte keine Spur von Furcht. Hatte sie doch schon ganz andere Dinge erlebt. Zum Beispiel damals, als sie das Zelt der Engländer anstecken mußte und in die Wildnis floh; oder auch ihre Abenteuer in China. –
„Nichts zu machen,“ sagte jetzt Burne; „der Wagen kann nur von der Maschine aus gebremst werden. Und da die nicht mehr da, die Verbindung unterbrochen ist, kann ich nichts machen.“
„Ach was, lassen wir ihn einfach laufen. An der Station werden wir schon irgendwie zum Halten kommen,“ sagte Kapitän Söder. Der sagte es zur Beruhigung der anderen Passagiere. Selbst wußte er gut, daß ein Gefälle, das sich auf eine ganze Anzahl von Kilometern verteilt, einem so schweren Eisenbahnwagen einen ungeheuren Schwung geben kann und daß diese Fahrt unbedingt mit einer Katastrophe enden mußte, wenn etwa das Gleis auf jener unteren Station nicht frei war.
Es sollte noch ganz anders kommen!
Oft und öfter sahen jetzt Burne, Dörcksen und auch alle anderen in dem Waggon Anwesenden durchs Fenster. Und da rief plötzlich jemand:
„Lichter – dort vor!“
Burne steckte nochmals den Kopf hinaus. Zog ihn hastig wieder zurück.
„Ein Zug kommt uns entgegen! Was bedeutet das?!“
Nun war allerdings Gefahr da! Ein Zusammenstoß auf der eingleisigen Strecke war unvermeidlich. Die Fahrtgeschwindigkeit ihres Wagens war bereits so gestiegen, daß nach dem Aufprall auf den entgegenkommenden Zug nur Trümmer übrigbleiben konnten. Was tun? Was tun? Zeit zum Überlegen war nicht mehr viel da. Die Entfernung zwischen dem Wagen und jenem Zuge verringerte sich erschreckend schnell.
Signale geben? Nachts? Und genützt hätte das auch kaum etwas; hätte diesen Wagen nicht aufgehalten. Kapitän Söder kam endlich auf eine Idee. Er hatte sich schon eine Weile im Innern des Wagens umgesehen. Plötzlich griff er dann nach dem Gepäcknetz. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung brach er eine der Trägerstangen aus der Holzwand!
„Was wollen Sie tun?“ fragte Burne.
„Den Waggon bremsen. Lassen Sie mich nur machen!“
Mit der etwa zwei Meter langen Metallstange lief er alsdann zur Tür, öffnete sie und – stieg auf das Trittbrett hinaus. Nochmals rief Burne:
„Was wollen Sie tun?“
„Sie werden’s schon sehen. Bitte mich nicht aufzuhalten. Es ist keine Sekunde zu verlieren!“
Nach diesen Worten legte er sich – den Zuschauern standen die Haare zu Berg bei dem Anblick – der Länge nach auf das unterste Trittbrett des dahinsausenden Wagens!
Die ihn Beobachtenden wagten kaum zu atmen vor Spannung. Was hatte er vor? Er schaute unter den Wagen. Vermutlich nach den Rädern. Und dann – dann stieß er die Metallstange herunter. Ein Ruck, – die Vorderräder standen. Söder hatte die Stange zwischen den Radspeichen hindurchgestoßen und dadurch eine Hemmung geschaffen.
Natürlich war der Schwung des Wagens ein so großer, daß er so schnell nicht zum Stehen kam. Noch rutschte er eine ganze Strecke. Funken stoben. Durch die große Reibung der stehenden Räder, die über die Schienen gerissen wurden, sprang eine Flammengarbe auf. Und – im Nu stand der ganze, hölzerne Vorderteil des Wagens in Flammen!
Neuer Schrecken der Reisenden. Doch Söder rief:
„Keine Furcht! Der Wagen wird gleich stehen. Wir können hinaus, und der Brand ist dann ein gutes Signal für den entgegenkommenden Zug.“
So kam es denn auch. Fast verwirrend schnell. Der Waggon stand. Die Insassen sprangen heraus. Da brauste auch schon der anderen Zug heran und hielt in einiger Entfernung. Der Führer hatte den brennenden Wagen rechtzeitig bemerkt. Rufe schallten hin und her. Es handelte sich um einen Güterzug. Rasch gab man nun Erklärungen ab, so gut man das konnte. Wie die Abkuppelung eigentlich bewerkstelligt worden war, konnte man ja nur vermuten.
Plötzlich in der Ferne ein Pfiff. Was war das? Ein Zug von Nepal her –?
„Es wird unser Zug sein,“ meinte Burne; „man hat wohl den Verlust des letzten Wagens gemerkt und kommt nun ihm nach zurückgefahren.“
So war es in der Tat. Wenig später stand das Zugpersonal auch jenes Zuges nebst einer Anzahl Reisender um den brennenden Waggon versammelt.
„Der ganze merkwürdige Unfall wurde mir durch einen Fahrgast gemeldet,“ erzählte der Zugführer. Burne nahm den Mann unauffällig beiseite.
„Sagen Sie bitte, waren Sie schon in Nepal, als der Verlust des Wagens Ihnen gemeldet wurde?“
„Nein, Herr, noch nicht. Jemand zog die Notbremse und dann kam jener Passagier.“
„Wie sah der aus?“
„Wie – wie ein typischer Engländer. Groß, hager, blond – das heißt, nein, nicht wie ein Engländer. Er trug einen Spitzbart.“
„Spitzbart –? War es nicht ein Vollbart.“
„Ja, Sie haben recht; jetzt entsinne ich mich ganz deutlich. Vollbart. Kennen Sie ihn?“
„Leakwoord“, – dachte Burne.
„Ja, ich kenne ihn. Sehr sogar. Es ist ein lang gesuchter Verbrecher. Hier ist mein Ausweis. Ich bin Detektiv der britischen Polizei. Lassen Sie auf meine Verantwortung den Passagier nebst dem alten Ehepaar, das mit ihm zusammen reist, festsetzen.“
Der Zugführer eilte davon, um den Auftrag auszuführen. So hatte das Amt, auf das Burne freiwillig verzichtet hatte, ihm doch noch einmal helfen müssen. Wenigstens war Burne der Meinung. Doch der Zugführer kam schon bald zurück. Den langen Blonden und das alte Paar seiner Begleitung hatte er nicht mehr finden können!
„Verdammt, – entwischt!“ murmelte der Detektiv. Hier wäre eine so günstige Gelegenheit gewesen, jene Drei unschädlich zu machen! Denn – Burne fürchtete, daß sie die Befreiung Garis aus dem Kloster Thudsidsengi erschweren, wenn nicht gar vereiteln könnten. Da war nun jedenfalls nichts mehr zu machen. Es hieß nur, in Nepal und auf der weiteren Tour jetzt doppelt vorsichtig zu sein.
Der brennende Wagen war, da hier keine Löschmöglichkeiten vorhanden waren, verloren. Die Trümmer wurden später von dem Personal des Güterzuges neben die Geleise geworfen.
Die Reisenden stiegen in einen anderen Wagen über. Weiter ging’s.
„Ist doch ein Glück, daß der Anschlag jenes Dreiklees nicht gelungen ist!“ sagte Dörcksen. Und Söder setzte kopfschüttelnd hinzu:
„Hätte man das von Ellen Crosterbroux jemals gedacht?“
„Nicht Ellen Crosterbroux,“ entgegnete der Detektiv mit Bestimmtheit; „ich glaube, die Triebfeder des Ganzen sind Harry Leakwoord und der andere, der mir seinen Gesichtszügen nach, die trotz der Maskierung deutlich erkennbar waren, noch schlimmer zu sein scheint. Unklar ist nur, wie Ellen Crosterbroux sobald unter den Einfluß jener kommen konnte.“
„Hypnose!“ ließ sich Kapitän Söder vernehmen.
Burne nickte.
„Daran habe ich auch schon gedacht, die Theorie dann aber wieder als zu wenig wahrscheinlich verworfen. Indessen, wenn ich mir die Augen jenes Dritten vergegenwärtige …“
„Es ist wirklich so,“ bestätigte der Kapitän und erzählte kurz, was er damals in der ägyptischen Ruinenstadt erlauschte.
„Ah, dachte ich also doch das Richtige,“ sagte Burne; „dennoch muß eine – ich möchte sagen – Urtriebfeder in jener Ellen Crosterbroux stecken …“
„Gewiß,“ sagte da Mahadur Mirat, „und ich kenne sie auch. Ellen Crosterbroux war in mich verliebt, ohne auf Gegenneigung zu stoßen.“
„Allerdings – das erklärt manches. Nun, wir wissen jetzt Bescheid, was wir zu gewärtigen haben, und wir werden uns danach richten.“ –
Wenig passierte der Zug die Grenze Nepals. – –
An all das dachte Hella zurück, als sie jetzt an des Radschas Seite unweit des Zeltes saß. Oh ja, man hatte sich gut vorgesehen und aus dem Grund auch diesen Lagerplatz außerhalb des Ortes an freier Stelle gewählt. Weil er besser zu bewachen war. Denn am Tage würden die Gegner schwerlich etwas unternehmen.
Nun brach rasch die Nacht herein. Hella war in das Zelt gegangen. Alle begaben sich zur Ruhe, mit Ausnahme Mahadur Mirats, der die erste Wache hatte. Ihn löste Burne ab, dem dann Kapitän Söder folgte.
In dieser Nacht ereignete sich nichts. Von den Gegnern war keine Spur zu sehen gewesen; doch man betonte gleich am Morgen, daß man sich dadurch in seiner Wachsamkeit nicht einschläfern lassen dürfe. Daß jene um dies Lager wußten, mußte man als sicher annehmen.
Wie sehr recht sie damit hatten, sollten sie bald sehen. Doch in einer Art, die keiner von ihnen vermutet hatte. –
Man beriet, wie man gegen Thudsidsengi vorzugehen habe. Es öffentlich, gar mit Gewalt zu tun, war zu gefährlich. Einmal schon wegen des Widerstandes der britischen Regierung, die die Religionsstätten und Heiligtümer für unantastbar erklärte. Und – verborgen bleiben würde solch ein Vorgehen gegen das Kloster natürlich nicht. Außerdem war sehr wahrscheinlich, daß die Lamapriester ihren Gefangenen dann spurlos verschwinden ließen, falls nicht sogar töteten, sollte er überhaupt noch am Leben sein.
Nein, hier mußte List angewandt, mußte heimlich vorgegangen werden. Mahadur Mirat schlug vor, er wolle sich allein in das Kloster einschleichen, während die anderen draußen an verschiedenen Punkten sich bereit hielten, ihm im Notfall zu Hilfe zu eilen. Ein Schluß sollte das Signal sein.
Dieser Plan fand allgemeinen Beifall, zumal Mirat, selbst kein Weißer und mit den Gepflogenheiten der Lamapriester einigermaßen vertraut, vielleicht noch am ehesten Aussicht hatte, dort etwas auszurichten.
„Meinen Sie nicht,“ warf Burne da ein, „daß besser ich die Aufgabe übernehme, heimlich in das Kloster einzudringen? Ich glaube, daß meine lange Detektivpraxis …“
„Wie –?“ rief Dörcksen bewegt; „Sie, einst unser heftigster Gegner, wären bereit, sich eventuell für uns zu opfern?! Das Unternehmen ist gefährlich; und wenn es fehlschlägt …“
„Es wird nicht fehlschlagen. Ich gehe nie an eine Sache mit dem Gedanken heran, daß sie möglicherweise fehlschlagen könne. Sonst wäre sie schon halb verloren. Außerdem – gefährlich –? Was will das heißen? Ich verdanke Ihrer Tochter mein Leben, – also gehört mein Leben jetzt Ihrer Sache.“
Doch auch Mahadur Mirat wollte nicht zurückstehen. Dieser edle Wettstreit ging soweit, daß man beschloß, das Los entscheiden zu lassen, wem von den beiden die Aufgabe zufallen sollte.
Das Los entschied für den Radscha.
Mahadur wollte den Schutz der Dunkelheit benutzen. Alle anderen, auch Hella, schlichen bis zum Fuß der Mauer, postierten sich dort, gut bewaffnet. Dörcksen und Hella an einer Ecke; Söder und Burne an der anderen. Das Überklettern der Mauer war nicht schwer. Sie war alt und brüchig, wies genug Risse und Sprünge auf, in denen der Fuß eines gewandten Kletterers wohl Halt finden konnte.
Kaum Minuten brauchte der Radscha dazu, hinaufzugelangen. Ein Blick in den dunklen, verlassen daliegenden Hof, – dann war Mahadur Mirat jenseits der Mauer verschwunden. Und dann, – dann kam das Überraschende.
Plötzlich ward es hell ringsum. Bengalische Fackeln. Und in dem blutig roten Schein tauchten phantastische Gestalten auf. In Nu waren die Vier draußen umzingelt, eng umdrängt, zu Boden geworfen. Bereitgehaltene starke Seidenstricke schnürten ihre Glieder zusammen. Wie wehrlose Bündel lagen sie da, unfähig, sich auch nur im geringsten zu rühren.
Das alles war so schnell gegangen, daß sie nicht einmal dazu gekommen waren, zu ihren Revolvern zu greifen.
Mahadur Mirat, im Innern des Hofes, war es nicht anders ergangen. Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, als wie aus dem Boden gewachsen vier, sechs Gestalten vor ihm standen, sich lautlos über ihn warfen, ihn banden …
Später fanden sich alle Fünf wieder zusammen. Man hatte sie nebeneinander, doch so, daß einer den anderen nicht berühren konnte, aufrecht stehend an die Mauer gefesselt, und dann allein gelassen. Irgendwo brannte ein trübes Licht.
Sie sahen sich in dem Raume um. Steinwände rings, und außer der Eisentür, durch die sie hier hineingeführt worden waren, nur noch eine zweite, durch ein starkes Gitter verschlossene Öffnung, die in einen gemauerten Gang zu führen schien.
„Schönes Pech!“ knurrte Burne. „Jetzt kleben wir hier an der Wand wie Fliegen an der Leimtüte.“
Der Detektiv schien der einzige zu sein, der bei guter Stimmung blieb, – trotz ihrer geradezu verzweifelten Lage. Die anderen verharrten in dumpfem Schweigen.
Ja, verzweifelt war die Lage der Fünf in der Tat! Kaum würden sie je dies Gemäuer lebend verlassen. Wenig tröstliche Aussicht. Hier endete also ihre Expedition; hier endete die Hoffnung auf Olympia, das Reich der Seligen … Und all das war Harry Leakwoords Werk. Zweifellos.
Hella wandte den Kopf nach Mahadur Mirat, der neben ihr an die Wand gebunden war. Glücklicher Zufall! Auch er blickte zu dem Mädchen hin. In beider Augen leuchtete die große, starke Liebe, die auch über den Tod triumphiert. Die besagte: Wenn wir sterben müssen, sterben wir zusammen!
Ein kahler Steinraum. Sechs Meter lang, vier breit. Eine Türöffnung, die auf einen Altan hinausführte. All das schien in Felsen gehauen. Unter dem Altan gähnte ein Abgrund, wohl vierzig Meter tief. Glatte Felswände. Auch nach oben hin noch viele Meter. Die Rückseite des Klosters Thudsidsengi.
Noch eine zweite Türöffnung besaß der Innenraum; von einer massigen Eisentür verschlossen. Von draußen her fiel schräg Sonnenlicht herein. Ein Stück tiefblauen Himmels war sichtbar.
Jetzt rasselte der Schlüssel im Schloß der eisernen Tür. Doch nicht ganz geöffnet wurde sie. Nur eine Klappe. Darauf stellte der Braunhäutige draußen eine Schüssel mit dampfendem Inhalt. In einer Ecke des Innenraumes regte sich etwas. Von einem kärglichen Lumpenlager erhob sich ein Mann, selbst nur in Lumpen gehüllt. Erschreckend mager. Das Gesicht von wirren Haaren auf Kopf, Kinn und Wangen bedeckt.
Er erhob sich, zog hastig die Schüssel an sich, – worauf die Klappe geräuschvoll geschlossen wurde. Der Gefangene aß. Mit Gier, als hätte er schon lange nichts bekommen. Etwa eine halbe Stunde verging. Da wurde die Klappe wieder geöffnet. Der Gefangene, der nun schon lange, lange Jahre hier in diesen Räumen zubrachte, – in diesem Steingemach und dem geräumigen Altan davor, – Jahre, ohne zu wissen, warum und wozu.
Der Gefangene war – Gari Dörcksen. –
Nicht immer ging das alles so ruhig vor sich, wie heute. Es gab Tage, an denen der Gefangene tobte, die Schüssel mit Essen gegen das wieder geschlossene Guckloch schmetterte. Oder die geleerte im Abgrund zerschellen lies. Aber das war immer nur sein Schade. Dann bekam er eben am nächsten Tag nichts zu essen. Dann wurde er wieder ruhiger, wartete in Ergebenheit – und seltsamer Zuversicht. Jahre …
Er lebte – seelisch – von seinen Gedanken und seinen Erinnerungen. Oft am Tag – wohl täglich – überließ er sich diesen Träumereien. Dann sah er einen seltsam gebauten, prachtvollen Palast. Viel Gold ringsum. Männer in weiten, weißen Mänteln … und eine Frau, eine schöne Frau, die alle verehrten, der sich alle nur mit Zeichen größter Ehrfurcht näherten. Seine Mutter …
Dann war stets eine Lücke in seiner Erinnerung. Und auch das Spätere sah er nur wie durch schwere Nebel. Weite Reisen durch Länder und über Meere … Bis in ein fremdes Gebirge, in ein Haus, in dem er mit Vater und Schwester hauste. Ohne die Mutter. Fragte er, wo sie sei, hieß es: über den Wolken, – eine Antwort, die er nie recht verstand. Denn seine Auslegung, seine Mutter sei tot, ließ der Vater nicht gelten. Nein, sie lebe, hieß es.
Wie durch Nebel das alles. Nur zwei schreckliche Tage mit grausamer Deutlichkeit, als sein Vater eines Tages nicht heimkehrte und es dann hieß, er sei abgestürzt … und, als er von seiner Schwester gerissen wurde, entführt von Fremden … Dann wieder weite Reisen, aber diesmal als Gefangener. Warum? Wozu? Er wußte es nicht; erfuhr es nie; wußte es heute, nach all den Jahren noch nicht.
Und dieses Steingemach …
Anfangs hatte er mit einem kleinen Steinchen die Tage markiert. Nicht lange. Ein paar Monate vielleicht. Vergaß es dann. Führte es auch nicht fort, als er wieder daran dachte … Weder die Sonne konnte er sehen, weder die Wolken, wenn sie das Tagesgestirn verdunkelten, noch die Scheibe des Nachtgestirns. Dann dachte er stets an den Ausspruch seines Vaters, seine Mutter weile über den Wolken. Und manchmal, nachts, zeigte sie ihm ein Traum. Auf dem Thron von Gold, umgeben von wundervoll farbigem Gewölk … Wie er sie damals als Knabe gesehen zu haben, glaubte.
In seltsamem Zusammenhang schien all dies: seine Träume, der Ausspruch des Vaters, seine Erinnerungen an die Mutter, – mit einem Elfenbeinstern in der Hand, einem Stern, wie er einen an dünnem goldenen Kettchen um den Hals trug. Den hatte man ihm gelassen; oder besser wohl: nicht gefunden, weil er ihn auf dem bloßen Körper trug. Der Vater hatte ihm gesagt, er solle diesen Elfenbeinstern gut hüten. Er sei ein Vermächtnis seiner Mutter und könne ihm vielleicht dereinst noch einmal viel helfen.
Er hatte die Worte beherzigt. Trug den Stern immer auf der nackten Brust. So war er ihm erhalten geblieben; bis jetzt. Von Zeit zu Zeit nahm er ihn vor. Das war ihm dann wie eine Andacht. In der Mitte des Sterns war ein auf Wolken ruhender Thron abgebildet, auf dem eine Frau saß. Ein Bild seiner Mutter? Wohl. Was das Ganze zu bedeuten hatte, wußte er nicht. Aber im Lauf der Zeit war ihm dies Rätselvolle immer schöner, immer hehrer erschienen.
Und seine Phantasie wob in der furchtbaren Einsamkeit dieser steinernen Umgebung ein Märchen um den Elfenbeinstern, – um seine eigene Vergangenheit. Die Mutter über den Wolken wurde für ihn zur Königin eines wunderbaren Reiches, eine Göttin … Zu ihr betete er. Und sie – verlieh ihm die Kraft, all diese Jahre durchzuhalten. Die Kraft, am Leben zu bleiben, sich nicht im Abgrund zerschellen zu lassen, wie die Schüsseln … Die Kraft, zu hoffen. Zu hoffen.
Ruhig war er geworden. Ruhig, doch nicht apathisch. Wenn er an sein Märchen glaubte, wenn er auf Hilfe von der Mutter, der Göttin über den Wolken, hoffte, so hieß das auch, daß er selbst den Mut hatte, daran zu arbeiten.
Am Klang von Schritten, die an seinem Gefängnis vorbeigingen, hörte er, daß das Gemach an der Ecke zweier, rechtwinklig aufeinandertreffender Gänge liegen müsse, von denen der eine häufig, der andere sehr selten, fast nie benutzt wurde. Lange, lange Zeit hatte er zu dieser Erkenntnis gebraucht.
Und dann hatte er sein Werk begonnen: mit den Händen den Verbindungsmörtel zwischen den Steinen zu entfernen. Die Mauer war uralt, das zum Bau verwandte Material gut. Nur in winzigen Stückchen bekam er den Mörtel dazwischen los. Aber er hatte ja Zeit …
Von der Klappe aus, durch die ihm sein Essen gereicht wurde, war die Stelle seiner Arbeit nicht zu sehen. Und hinein in dies Steingemach kam nie einer, – nie. So war er vor Entdeckung sicher.
Von da an arbeitete er täglich. Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Er – wußte nicht, wie lange schon. Kümmerte sich nicht mehr um die Zahl der Tage. Die Insassen dieses merkwürdigen Steinhauses, das direkt in Felsen hineingebaut zu sein schien, reichten ihm Essen. Wenig und schlecht. Aber regelmäßig – zweimal täglich. Wozu das alles – Gari dachte schon lange nicht mehr darüber nach.
Er arbeitete … Und langsam, langsam, aber stetig schritt das Werk voran. Ein großer Stein, von mindestens einem Viertelmeter Breite, saß locker. Gari begann den nächsten rundherum vom Mörtel zu befreien. Ein winziges Stückchen nach dem anderen brach ab.
Heute – heute war ein Festtag. Eine Öffnung würde da sein, groß genug, ihn hindurchkriechen zu lassen, – wenn er wollte. Was er in Jahren erarbeitet, heute war es vollendet, heute sollte es ihm dienen, heute wollte er hinaus in die Freiheit. In dieser Nacht.
Und nun wartete er. Als der Mönch mit dem Essen gekommen war, als er die Schüssel wieder geholt hatte, begann die letzte Wartefrist Garis. Noch nie war ihm eine Zeit so lang geworden wie diese. Immer wieder ging er in dem Steingemach auf und ab. Hinaus auf den Altan, wieder hinein. Endlos. Der Tag, der für ihn nur noch aus dem Hereinschieben der Mahlzeiten sich darstellte, wollte kein Ende nehmen.
Von Zeit zu Zeit blieb Gari vor der Stelle, an der er die Steine gelockert hatte, stehen; überlegte – zum hundertsten Male genau, wie er jeden Stein heraushebend würde. Ging dann weiter auf und ab. Bis er erneut vor der Stelle stehen blieb.
Nun würde es draußen Abend werden! Noch zwei, drei Stunden vielleicht, – dann, dann –! Sein Atem ging schneller, nun, da der seit Jahren ersehnte Augenblick ganz nahe herbeigerückt war, ganz nahe bevorstand!
Gari lauschte angestrengt … Kein Laut mehr von den Gängen; keiner. Aber noch warten; nicht übereilen. Ein unüberlegter Schritt konnte alles verderben. Warten … Trotz der Jahre, die er hier zugebracht hatte, schienen ihm diese letzten Stunden schier endlos.
Dann … ein Stein heraus … noch einer! Wie schnell das nun ging! Und völlig geräuschlos. Da war die Öffnung. Sehen konnte er sie nicht. Nur abtasten. Sie war groß genug. Hindurch geschlüpft, – und er war draußen. Wo? Gleichgültig. Draußen! Frei!
Finsteres … Die größte Vorsicht hatte erst hier einzusetzen. Gari tastete den Gang entlang. Schlich auf unhörbaren Sohlen, seinen nackten Füßen … Tastete langsam, sehr langsam, voran …
Trat plötzlich ins Leere! Ah, Stufen. Abwärts. Weiter ging er, noch langsamer, vorsichtiger, immer lauschend. Den Atemzug eines Schläfers hätte er gehört. Dreiundvierzig Stufen zählte er. Eine lange Treppe! Dann lief der Gang noch ein Stück in der gleichen Richtung weiter, bog rechtwinklig ab … wieder Stufen. Schimmerte da unten nicht Licht –?
Ja! Nun doppelte Vorsicht. Lauschen nach jedem Schritt. Waren – das – Stimmen –?
Weiter … linksum bog der Gang. Heller wurde das Licht. Schneller trieb Gari ein unbewußtes Gefühl vorwärts. Er bog um die Ecke, unvorsichtig fast … Blieb mit einem Ruck stehen. Das Bild, das sich ihm da bot, war zu seltsam, zu überraschend! Eine Sekunde nur stand Gari starr. Dann stürzte er vor, in den Lichtkreis hinein …
Matt erhellt war der große Raum, in dem Harald Dörcksen und seine Leidensgenossen an die Wand gefesselt waren. Zur Linken lag eine weite Öffnung. Da ging es ins Dunkel hinein, dort verlor sich das Licht.
Doch das Auge gewöhnte sich rasch. Bald sahen die Gefangenen am Boden der Öffnung ein eigentümliches Flimmern. Das konnte nichts anderes sein, als – Wasser. Ein Wasserbassin, dessen Spiegel mit dem Fußboden hier in gleicher Höhe lag. Welchem Zweck mochte es dienen? Soeben hatten die Gefangenen begonnen, ihre Ansichten darüber auszutauschen, als ein Plätschern sie wieder aufmerksam nach dem Wasser spähen lies. Dort – hob sich etwas Massiges, Dunkles … Grünlich funkelten zwei Flecke wie Augen … Der Kopf eines riesigen Krokodils!
Tauchte empor, ließ ein langes Schnaufen hören, verschwand wieder.
Wie von Entsetzen erstarrt waren die fünf gefesselten Menschen. Keiner sprach ein Wort. Endlich, nach langer Weile Söders keuchende Stimme:
„Die Bestien, – diese Bestien! Einen grauenhaften Tod haben sie für uns ausgewählt! Wenn die Krokodile Hunger verspüren, werden sie herauskommen aus dem Wasser und –“
Er sprach das Gräßliche nicht aus. Niemand antwortete ihm. Alle sahen die Bilder voraus, die sich hier abrollen würden. Binnen kurzer Frist vielleicht … Todesgrauen: eisiges Schweigen – lange Zeit.
Die Krokodile verhielten sich noch ruhig. Wieviel es sein mögen, dachte der Radscha flüchtig. Ach, es war ja gleichgültig, ob von einem oder zehn zerfleischt zu werden. Burne fiel wieder jene schreckliche Situation ein, aus der ihn Mahadur Mirat und Dörcksen retteten –: als er im Tal der Insel Taipali von Sumpfgasen betäubt unter giftigen Schlangen lag.
Keiner von den Fünfen hätte zu sagen vermocht, wie lange dieser Zustand der Schreckensstarre gedauert hatte. Plötzlich ließ ein Geräusch alle zusammenfahren. Wieder plätscherte das Wasser. Wieder hob sich der scheußliche Kopf eines riesigen Krokodils über die Oberfläche. Und jetzt – setzte es patschend ein Bein auf den Steinrand des Bassins … hob das zweite nach … schob nun den halben Oberkörper aus dem Wasser.
Fünf Augenpaare starrten auf das Reptil. War es nun soweit, war die Zeit schon da, – für das Ende? Doch das Ungetüm blieb, halb im, halb aus dem Wasser heraus, regungslos liegen, starrte mit seelenlos grünen Augen nach den Gefangenen hin.
Hella Dörcksen, sonst allem Abenteuerlichen gewachsen, hielt dieser ungeheuren Spannung nicht stand. Eine wohltätige Ohnmacht umfing sie. Sie hing bewußtlos in ihren Fesseln. Und Mahadur Mirat, ohne jede Möglichkeit, der Geliebten zu helfen, knirschte in ohnmächtiger Wut und Erregung mit den Zähnen.
Furchtbare Sekunden.
Dann – plötzlich – eine neue Erscheinung! Aus einer Nische, die wohl die Mündung eines anderen Ganges enthalten mochte, trat ein Mensch. Ein Weißer mit wucherndem Haupt- und Barthaar; mit Fetzen bekleidet. Stand starr ob des unerwarteten Bildes, das sich ihm bot … Eine Sekunde nur. Stürzte dann vor …
„Vater –!“
Und während die Fünf – Hella erwachte gerade wieder – nicht wußten vor maßlosem Staunen, was sie von diesem Seltsamen denken sollten, sprach der Fremde schon weiter; stoßweise; abgerissen:
„Krokodile –! Vater – dein Messer – wo?“
„Rechte Tasche …“
Und schon holte der Bärtige Dörcksens Taschenmesser heraus und zerschnitt die Stricke. Die Fesseln aller fünf Gefangenen.
„Rasch, fort! Dort hinaus!“
Da – kam jetzt das Krokodil angekrochen. Fauchte scharf, funkelte mit den grünlichen Augen, riß den Rachen weit auf. So kam es heran, lauernd, wie zum Vorwärtsschnellen bereit. Doch die Fünf waren schon in den gemauerten Gang geflüchtet. Der Bärtige – schleuderte dem Reptil das offene Messer gerade in den Rachen und folgte dann den anderen. Das Krokodil schnappte zu. Ein wütendes Fauchen erscholl. Das Messer war ihm wohl in die Zunge gefahren. Rasend vor Schmerz peitschte es mit dem Schwanz wild den Boden; schnellte mit einem Schwung in das Bassin zurück, wo es wild im Wasser umher fuhr, es schäumen machte und auch die anderen Krokodile in Aufruhr versetzte.
All das sahen die Fliehenden nicht mehr. Sie waren schon weit in den steinernen, finsteren Gängen. Suchten nach einem Ausweg. Doch lautlos … wie Schemen. Das Glück war ihnen hold. Sie entdeckten einen schmalen Seitengang, der ins Freie führte, auf den Klosterhof hinaus. Überkletterten, einander helfend und stützend, die Mauer und waren außerhalb des Klosters!
Augenblicke standen sie, tief aufatmend. Doch da wurde es lebendig rechts und links von ihnen. Weißgekleidete Gestalten erschienen aus dem Dunkel der Mauer, kamen im näher auf die Entflohenen zu. Da klang Burnes markige Stimme durch die Nacht:
„Die Revolver –! Wir haben sie noch! Schießt, Freunde, schießt, es geht ums Leben. Wir oder jene! Das sind keine Menschen, – Bestien sind es!“
Zugleich fuhr ein Feuerstrahl aus seiner Waffe. Ein scharfer Knall. Einer der Angreifer warf die Arme hoch, stürzte zu Boden. Noch zweimal schoß der Detektiv. Kapitän Söder folgte seinem Beispiel. Noch zwei, drei der Gegner stürzten. Dann zogen die übrigen sich fluchtartig zurück. Die Gefangenen waren erst einmal in Sicherheit.
Rasch entfernten sie sich von dem Gebäudekomplex des Klosters, von dem Hause des Schreckens. Der Bärtige mit ihnen. Alle schweigend hastend, – nur fort, fort aus der unheimlichen Gegend! – –
Dort – winkte das Zelt. Da hielten die beiden Inder Wache. Da waren die Pferde, der Proviant, – alles. Erschöpft hielten die Flüchtlinge inne. Da:
„Vater –!“
Und:
„Schwester –!“
„Bist du es – Gari?“
„Ich bin es!“
Keine Feder – und sei es die des größten Meisters – vermöchte dies Wiedersehen zu schildern! Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren und nach so schrecklichen Erlebnissen! Vater und Sohn, – die jetzt fast gleichaltrig aussahen. Bruder und Schwester, – die einander zuerst nur zögernd berührten, sich aber dann in grenzenloser Freude in die Arme sanken.
Das Werk war gelungen! Gari Dörcksen war frei. Und es schien, als habe die Vorsehung all das so gefügt –: daß Gari just an dem Tag seine Flucht ins Werk setzen konnte, da die, die ihn befreien wollten, gekommen waren, – und er gar noch selbst ihr Retter aus höchster Gefahr werden konnte! –
Der Morgen stieg herauf. Gari Dörcksen hatte im Zelt neue Kleidung erhalten. Auch den Bart abnehmen konnte er sich. Als er zum ersten Mal in einen Spiegel blickte, erschrak er. Doch als der Tag sich seiner Mitte näherte, war aus dem Verwilderten wieder ein zivilisierter Mensch geworden.
Das war ein froher Weg – von Nepal bis Kalkutta! Diesmal hatte man sich wohlweislich nicht in den letzten Wagen gesetzt … Hella teilte ihre Zärtlichkeit jetzt zwischen Gari und Mahadur Mirat. Und der Radscha freute sich mit ihr.
Alle waren in bester Stimmung. Harald Dörcksen freudig – ernst – fast feierlich.
„Nun sind wir alle beisammen. Kein Zweifel, daß der Angriff der Priester auf uns auf Leakwoord zurückzuführen ist. Er hat seiner Zeit die Festsetzung Garis in Thudsidsengi veranlaßt, – Nun sein Plan ist zunichte geworden. Und jene bestialischen Bewohner des Klosters haben einen fühlbaren Denkzettel erhalten. Jetzt ist der Weg frei. Jetzt kann das neue Werk beginnen. Jetzt geht es nach meiner Koralleninsel. Auf jenem stillen Eiland der Lakkadiven soll das Neue erstehen, – ein Flugschiff, das das Erstaunen der Welt erregen würde, wenn es an die Öffentlichkeit dränge. Doch die Welt, die ich verachte, wird nichts davon erfahren. In aller Heimlichkeit soll das Werk wachsen, bis es fertig ist, – bis es uns alle hinauftragen kann nach Olympia, ins Gefilde der Seligen, – zu Aspasia, meinem Weibe, eurer Mutter!“
Mit Begeisterung, Feuer im Blick hatte der Erfinder gesprochen. Höher schlagenden Herzens hatten ihm die anderen gelauscht. Dörcksen konnte getrost hier so sprechen. Besaßen sie doch im Zug ein großes Abteil ganz für sich allein. Leuchtend stieg die Zukunft vor ihnen auf. Vereint, fühlten sie sich stark und glücklich. Und im Rhythmus des dahin rollenden Zuges schlugen ihre Herzen. Und der Schlag aller mündete in den großen, mächtigen Strom der Liebe, die sie umschloß.
Zwei waren dennoch still, wenn sie auch an dem Gelingen der Befreiung Garis, an der allgemeinen Freude teilhatten: Kapitän Söder und Burne. Söder dachte an Amara. Würde er sie wohlauf vorfinden? Sein Gefühl für die so eigenartig schöne junge Ägypterin machte dem Seemann zu schaffen. Er liebte sie – wie ein Vater sein Kind. Aber – auch anders –? War sein Gefühl für Amara wirklich nur väterlich?
Er wagte nicht, sich in diesem Punkt ernstlich zu prüfen. Was sollte ihm dies Gefühl für ein so junges Geschöpf? Wenn auch die Frauen der Tropen früher zur Reife gelangen, als die Mädchen der nördlicheren Länder, Amara also wesentlich älter war, als eine Achtzehnjährige etwa in Deutschland, so blieb dennoch zwischen ihr und Knut Söder immer noch eine allzu große Spanne.
Der Vielgereiste seufzte tief auf. Nicht undankbar sein, Knut, raunte ihm eine innere Stimme zu. Seine Gedanken eilten zurück. Jahrzehnte … Da war auch er, ein strammer junger Bursche, der Liebe teilhaftig geworden, hatte ein paar Jahre ungetrübten Glückes durchleben dürfen. Bis der unerbittliche Tod mit rauher Hand dazwischenfuhr. Sein blühende junge Frau starb. Und er – er schwor, nie mehr einem Weibe die Hand zum Bunde zu reichen. Nie mehr. Und fuhr hinaus. Ließ sich vom Salzwind aller Meere umwehen, hielt tausend Stürmen stand, tausend Abenteuern und Gefahren. Ward der „wilde Söder“, als den man ihn heute kannte …
Und nun kam Amara ihm in den Weg. Halte Dein Herz fest, Knut Söder! –
Der andere Schweigsame – Burne … Er, der sein Leben der Menschenjagd im Dienste des britischen Weltreiches gewidmet hatte. Den maßloser Ehrgeiz beseelte. Der Liebe und Frauen im Leben stets nur als untergeordnete Angelegenheiten betrachtet hatte. Und der gerade immer Sklave seines Blutes gewesen war, – mehr als andere … Nun hatte er resigniert, hatte eingesehen, wie nichtig alles Streben nach Ruhm ist; hatte verzichtet und sich dem Dienst der einzigen Frau, die er wirklich zu lieben glaubte, geweiht, dieser Frau, von der er dennoch genau wußte, daß sie für ihn auf alle Zeit unerreichbar sei –: Hella Dörcksen.
Stuart Burne, – er war im Augenblick der einzige Unglückliche dieser sechs Menschen.
Harald Dörcksen schwärmte inzwischen von seinen Plänen, seinem neuen Werk. Mahadur Mirat, Hella und Gari, zu dreien innig umschlungen, hörten ihm zu.
Dann kam Kalkutta, wo der „Delphin“ der Reisenden harrte, der sie nach Dörcksen-Land – wie man die Koralleninsel der Lakkadiven jetzt nannte – bringen sollte. Immer noch ließ man größte Vorsicht walten. Wer mochte wissen, wo Harry Leakwoord und Ellen Crosterbroux wieder auftauchten, welche neuen Anschläge sie vorbereiteten!
Was eigentlich sie bezweckten, war Dörcksen und den Seinen nicht recht klar. Selbst wenn Ellen Crosterbroux im Bann Harry Leakwoords oder mehr seines neuen Begleiters stand, – was beabsichtigte dann der? Nun, bald genug sollten sie es erfahren …
Kalkutta mit seinem Großstadtgetriebe umgab sie nun. Doch sie fühlten sich nicht wohl darin. Die stete Unsicherheit – ein Gefühl, das sie seit dem Eisenbahnabenteuer nicht mehr los wurden – war es nicht allein. Auch der Lärm der Straßen. Sie sehnten sich nach Ruhe, sehnten sich danach, von allem Äußeren unbehelligt, ganz beieinander zu sein.
So begaben sie sich denn sogleich an Bord des „Delphin“. Kurz vorher sagte Burne:
„Werde ich noch gebraucht? Wohl kaum. Ich kann mich also verabschieden.“
Das klang so eigentümlich, daß Dörcksen aufhorchte.
„Verabschieden –? Wollen Sie denn nicht bei uns bleiben – auch fernerhin?“
Der Detektiv machte eine unbestimmte Geste.
„Ich weiß ja nicht, ob ich willkommen bin …“
„Aber, aber, – Mr. Burne! Nachdem Sie uns so große Dienste geleistet haben –!? Was früher war, ist längst vergessen. Sie sind und bleiben einer der Unseren!“
Ein Händedruck. So, das war entschieden. Burne ging mit an Bord des „Delphin“. Groß war Kapitän Söders Freude über das Wiedersehen mit seinem guten Schiff und mit – Amara. Alle waren darin einig, daß man sobald als möglich die Fahrt nach Dörcksen-Land antreten sollte. So ward denn beschlossen, schon am nächsten Morgen in See zu stechen.
Doch es ging nicht so schnell. Die Verproviantierung nahm mehr Zeit in Anspruch, als vorgesehen. Das kam vor allem daher, daß Dörcksen an die auf der Insel Zurückgebliebenen dachte und auch die Vorräte der Insel zugleich ergänzen wollte. So verging ein Tag mit Einkaufen, Anbordschaffen und Verstauen. Gegen Abend endlich war man mit diesen Arbeiten fertig, und als der „Delphin“ den Hafen von Kalkutta verließ, brach bereits die Nacht herein.
Dicke Nebelschwaden wälzten sich über die See. Indessen, der „Delphin“ verfolgte ruhig und zielsicher seinen Kurs, – wenngleich Kapitän Söder das Schiff auch nicht so schnell laufen ließ, als er es wohl bei klarem Wetter getan hätte. Die Gefahr eines Zusammenstoßes war doch zu groß. Wenigstens so lange man vom Hafen der großen Seestadt noch nicht weit entfernt war.
Merkwürdig, niemand verspürte in dieser Nacht Müdigkeit. Nur Hella und Amara – die sich übrigens schnell angefreundet hatten – waren in ihren Kabinen zur Ruhe gegangen. Die Männer standen neben dem Steuerhäuschen auf Deck und unterhielten sich. Türck bediente den Motor.
Plötzlich – ein Schrei aus mehreren Kehlen! Aus dem Nebel war urplötzlich der Rumpf eines großen Motorkutters aufgetaucht, der quer im Fahrwasser des „Delphin“ lag! Geistesgegenwärtig riß Türck das Steuer herum und gab volle Kraft rückwärts.
So wurde der Zusammenstoß im letzten Augenblick vermieden.
Söder fluchte, wie nur ein deutscher Seemann fluchen kann. Warum fuhr jener Kutter auch ohne Licht gesetzt zu haben!
Dann aber geschah Unerwartetes. Der fremde Kutter wandte plötzlich sehr geschickt, kam längsseits des „Delphin“, – und an Bord sprangen im Nu sechs, acht vermummte Gestalten, die die Männer auf dem „Delphin“ umringten. Gewehrläufe blinkten drohend. Eine sonore Stimme erklang:
„Keine Bewegung! Ihr seid in unserer Gewalt. Wenn Ihr keinerlei Gegenwehr versucht, soll euch nichts geschehen. Sonst –“
Und zu seinen Kumpanen gewandt fuhr der Sprecher fort:
„Vorwärts, durchsucht das Schiff!“
Zwei der Vermummten stiegen hinab in das Innere des Schiffes.
„Was habt Ihr vor?!“ rief Söder. Keine Antwort kam. Reglos, die Gewehre drohend auf die Männer des „Delphin“ gerichtet, standen die Banditen da. Es dauerte eine gute Viertelstunde – eine Ewigkeit für die Wartenden – bis jene Zwei zurückkamen. Der Sprecher von vorhin fragte:
„Alles in Ordnung?“
„Yes, – allright.“
„Then – go on!“
Und zu den Männern des „Delphin“ gewandt:
„Ihr bleibt hier still stehen, bis wir außer Sicht sind. Wer sich rührt, oder gar zur Waffe greift, wird erschossen.“
Darauf gingen die Banditen rückwärts zur Reling, schwangen sich dann mit einem Mal blitzschnell hinüber auf ihren Kutter … Auf dem im selben Moment der Motor ansprang. Sekunden später war das fremde Schiff wie ein Spuk im Nebel verschwunden.
Allmählich löste sich die Starre, in der die Männer auf dem „Delphin“ gestanden hatten.
„Diese elende Pande!“ schimpfte Türck. Söder, Dörcksen und Mahadur Mirat rannten dem Kajüteneingang zu. Was mochte dort unten geschehen sein?! Die Banditen hatten scheinbar nichts mitgenommen. Der Radscha und Dörcksen fürchteten vor allem um Hella. Söder um Amara. Doch die waren, wie sich herausstellte, – nicht einmal aufgewacht! Nein, ihnen war nichts geschehen.
Die Drei durchsuchten nun weiter jede Kabine. Und dann kam Dörcksen in höchster Erregung aus der, die er bewohnte, herausgestürzt.
„Die Schufte!“ keuchte er. „Die Schufte! Sie haben die Tasche mit den Zeichnungen meines neuen Flugschiffes mitgenommen! Die Frucht meiner Lebensarbeit ist dahin! Alle Berechnungen, die Formeln, die ich nach jahrelangem Suchen endlich fand, die Zeichnungen, – alles, alles verloren!“
Tiefstes Schweigen folgte diesen Worten. Nach einer Weile legte Söder dem unglücklichen Erfinder die Rechte auf die Schulter:
„Nicht verzweifeln, Freund! Ich und Burne, – wir finden sie! Und wenn wir den ganzen Erdball danach absuchen sollten. Der Kutter der Banditen kann nicht allzuviel Fahrt machen. Er kann auch kaum wagen, weit über See zu fahren, wird also wahrscheinlich einen der indischen Häfen aufsuchen. Wir finden ihn, Freund Harald, wir finden ihn. Verlaß dich darauf.“
Söder ließ Kurs auf Kalkutta halten. Das war noch der nächste indische Hafen. – Langsam verging die Nacht. Der Nebel verzog sich. Der Morgen stieg auf.
Da eilte plötzlich Burne in die Kabine und wieder an Deck zurück. Er hatte ein Fernglas geholt. Lugte nun nach irgend etwas auf See. Rief dann:
„Dort fahren sie! Dort fährt der Banditenkutter.“
Sofort wurde der Kurs geändert. Es ging nun wieder aufs Meer hinaus. Die Verfolgung begann.
„Sie werden uns bemerken, sobald wir näher kommen,“ meinte Dörcksen.
„Mögen sie!“ gab Söder zurück. „Das ist nun schon ganz egal. Wir müssen es auf einen Kampf ankommen lassen. Und ich glaube, wir können es getrost. Gestern Nacht waren wir die Überrumpelten. Heute liegt der Fall anders. Wir haben Glück gehabt, daß wir sie so bald entdeckten. Wir werden ihnen ihre Beute wieder abjagen.“
Indessen, noch war ein weiter Raum zwischen dem „Delphin“ und dem verfolgten Kutter. Nur des Detektivs scharfen Augen hatte er auffallen können. Und ein gutes Teil hatte wohl auch sein Spürinstinkt daran. Bis man das Banditenschiff erreichte, würde noch einige Zeit vergehen.
Inzwischen wurden auf Deck Vermutungen über die Räuber ausgetauscht. Doch nicht lange. Die Wahrscheinlichkeit, daß Harry Leakwoord hinter der ganzen Sache steckte, war zu groß. Nun, er sollte nicht triumphieren!
Mit größter Spannung beobachteten die Passagiere des „Delphin“ das Kleinerwerden des Abstandes zwischen dem eigenen Schiff und dem verfolgten. Eine halbe Stunde verging, – die Verringerung des Abstandes war merkwürdig klein.
„Potz Fockmast und Ankerspill!“ rief Söder erbost und erstaunt zugleich. „Das Pack fährt, als hätte es den Teufel an Bord! Hätte nicht geglaubt, daß der Kasten soviel Fahrt macht! Aber – mit dem „Delphin“ kann er sich doch nicht messen. Wir werden ihn kriegen, – wenn es auch länger dauern wird, als ich vermutete.“
Weiter ging die Jagd. Nach einiger Zeit tauchte am Horizont eine Insel auf, auf die der verfolgte Kutter anscheinend zuhielt. Söder zog die Seekarte zu Rate.
„Felseninsel … Weit von allen Schiffahrtsstraßen ab … Nur umrandet, innen weiß gelassen, – also unbekannt … Hm, merkwürdig,“ brummte er; „eine kleine Insel und im Innern unbekannt –? Das muß seine besondere Bewandtnis haben.“
In der Tat, – nun war es schon klar, daß das Banditenschiff auf die Insel zuhielt. Höher und höher stieg sie aus dem Ozean empor. Sie mußte beträchtlich weit über den Meeresspiegel ragen.
Geradewegs fuhr der Kutter auf die Felseninsel zu. Immer noch in unverminderter Fahrtgeschwindigkeit. Hatte sie jetzt bald erreicht. Es sah aus, als müsse er daran zerschellen. Dann aber geschah Seltsames. Der Kutter war plötzlich – verschwunden! Einfach nicht mehr da, als hätte das Meer ihn verschlungen.
„Was ist das?!“ rief der Kapitän und hob rasch das Glas an die Augen. Aber er konnte nichts entdecken; nichts, als die schroff ins Meer abfallende Felswand der Insel und die Wasserfläche zwischen ihr und dem „Delphin“. Nichts sonst.
„Geht das noch mit rechten Dingen zu?“
Wirklich, wie sollte man sich das erklären? Söder war jedoch entschlossen, – die Übrigen natürlich auch – der Sache auf den Grund zu gehen. Die Jagd ging weiter; aber immer noch ließ die Erklärung auf sich warten. Endlich, schon ziemlich nahe der Insel, entdeckte Söder, daß sich zwischen zwei wie Hauswände so steilen Felspartien der Insel eine schmale Durchfahrt befand, die sogleich innen nach links umzubiegen schien, so daß sie aus der Ferne dem Auge verborgen bleiben mußte. Die Verfolgten hatten sie offenbar gekannt.
Der Kapitän ließ jetzt das Tempo des „Delphin“ um einiges verlangsamen. Hella und Amara wurden gebeten, unter Deck zu gehen. Die Männer blieben oben und sahen scharf nach der Insel hinüber. Alle hielten Schußwaffen in Bereitschaft.
Jetzt – bog der „Delphin“ um die Felskuppe … Eine kleine, fast runde Bucht tat sich den Blicken hinter der schmalen Durchfahrt auf. Und in dieser Bucht lag – der verfolgte Kutter!
Söder griff zum Sprachrohr. Rief hinüber, während der „Delphin“ sich langsam näherte:
„Keinen Widerstand! Wir schießen rücksichtslos!“
Doch seine Worte lösten keine Wirkung aus. Auf Deck des fremden Kutters war kein Mensch zu sehen; am Strand ebensowenig. Wenn hier überhaupt von einem Strand die Rede sein konnte. Ringsum starrten Felswände, an sechzig Meter hoch, steil, glatt, unersteigbar. Rund um die Bucht lief ein schmales, niedriges Plateau von wenigen Metern Breite, das nur etwa einen Meter über die Wasserfläche hinaus ragte. Ein prachtvoller, natürlicher Hafen!
Söder und die Übrigen beobachteten den fremden Kutter scharf; doch alles blieb unverändert ruhig. Kein lebendes Wesen zeigte sich auf Deck, keins auf der Insel. Wo weilten die Banditen –?
Mit gebotener Vorsicht legte der „Delphin“ unweit des Kutters an dem Felsplateau an. Burne, Mahadur Mirat und der Kapitän stiegen aus. Plötzlich machte Dörcksen, der nachgekommen war, einen Satz vorwärts. Eine schmale Felsspalte war seitlich sichtbar geworden. Und in ihr – für den Bruchteil einer Sekunde nur – ein Kopf. Der Kopf – Harry Leakwoords!
Da sauste Mahadur Mirat an Dörcksen vorbei, in die Felsspalte hinein. Er hatte früher hingeblickt, hatte noch die ganze Gestalt Leakwoords gesehen, – hatte erkannt, daß jener die schwarze Ledertasche Dörcksens trug, die die wertvollen Zeichnungen enthielt!
Leakwoord floh. Die Steinspalte hatte einen gewunden und steil ansteigenden Boden. Wie natürliche, unregelmäßige Stufen war der Fels. Leakwoord floh. Sprang, hastete hinauf. Ein anderer Ausweg blieb ihm nicht. Mahadur Mirat blieb ihm dicht auf den Fersen, ohne ihn doch zu erreichen.
Er hätte schießen können; aber das widerstrebte ihm. Er befand sich doch nicht in Notwehr. Und – der andere war ihm auch so sicher. Schon hörte der Radscha ihn keuchen. Schon schien er erschöpft. Aber er ließ nicht nach. Hastete weiter. Ganz nahe winkte oben der Rand des Felsens, – schroff wie die Kante eines Hauses …
Nun war er, anscheinend mit einer letzten Anstrengung, oben. Aber da war auch schon Mahadur Mirat heran. Umschlang Leakwoord, der sich verzweifelt wehrte. Ein furchtbares Ringen begann, ein Ringen um Leben und Tod, – hart am Rand eines sechzig Meter tiefen Felsenabhanges. Leakwoord versuchte, den Radscha nach dem Rand des Abhanges zu drängen.
Da eine Stimme, Dörcksens Stimme:
„Aushalten, wir kommen!“
Und Mahadur Mirat vernahm, wie die Männer sich heraufarbeiteten. Wenn es ihm gelang, dem Gegner so lange standzuhalten … Aber –
„Verruchter –!“ keuchte Harry Leakwoord mit pfeifender Kehle. „Wenn ich die Zeichnungen schon nicht haben soll, – ihr bekommt sie auch nicht!“
Damit riß er den Arm mit der Ledertasche hoch und schleuderte sie in großem Bogen in die Tiefe. Wie erstarrt blickte Mahadur Mirat ihr einen Augenblick nach. Den benutzte Leakwoord geistesgegenwärtig, um sich der Umschlingung des Radschas zu entwinden. Und als Mahadur Mirat sich dann umdrehte – war der Engländer spurlos verschwunden, als hätte ihn der Fels verschlungen!
Nun waren auch Dörcksen und Kapitän Söder heran.
„Die Tasche – dort unten!“ keuchte der Radscha. Und überwältigt durch den Anblick, der sich ihnen bot, standen sie alle drei und schauten hinab. Vergessen war Harry Leakwoord, vergessen alles andere … Sie standen und schauten.
Was die Natur hier Seltsames geschaffen, war aber auch staunenswert in höchstem Grad. Die Insel, die von außen wie ein steil aus dem Meer aufragendes Felsmassiv aussah, war in Wirklichkeit keineswegs kompakt. Die Felsen umstanden wie eine gigantische Mauer das Innere der Insel, das nicht höher als die Meeresfläche, eher noch tiefer lag. Und dies Innere, dies tiefe, von senkrechten Felsmauern rings umstandene Tal war wie ein blühendes, fruchtbares Paradies anzusehen!
Ein wogendes Grün der ganze Boden. Palmen und Blattbäume, Gestrüpp und Schlinggewächse, Blütenflächen in allen Farben. Und – so viel von den sechzig Metern Höhe man sehen konnte, kein Zugang. Nirgend eine Spalte im Gestein. Glatt und steil schloß sich diese ungeheure natürliche Mauer ringsum. Kein Zweifel –: unsere Reisenden hatten ein von Menschen bisher völlig unberührtes Gebiet vor sich. Denn, wie sollte man hier hinunter gelangen? Und wenn das irgendwie ermöglicht würde, – zurück kam man nicht wieder.
Ein grandioser Anblick! Eine seltsam romantische Stimmung! Ein verborgenes Paradies … Was mochte dort unten leben? Wenn dies Stück Erde, Leben hervorbringend und fruchtbar, seit Jahrtausenden von aller übrigen Welt abgeschnitten war, – auf welcher Stufe mochte die Vegetation und die Tierwelt in ihrer Entwicklung stehen –? Lebte überhaupt größeres Getier da; und – wenn ja – welcher Art war es? Selbst das Klima … Gewiß, es mußte tropisch sein wie das des ganzen Indischen Ozeans. Doch der tiefe Schatten, den die hohe Felswand auf einen Teil des Tales warf, sah so absonderlich dunkel aus, daß er allerlei Schlußfolgerungen weckte …
Diese und ähnliche Gedanken durchströmten die Hirne der drei Männer, die jetzt oben auf dem vielleicht sechs, acht Meter breiten Rand der riesigen Naturmauer standen und schweigend in die geheimnisvolle Tiefe starrten. Aber noch mehr … Da unten lag nun irgendwo die Ledertasche mit den Zeichnungen, – die letzte Hoffnung Harald Dörcksens und seiner Gefährten. Die Zeichnungen, ohne die alle Pläne, alle Hoffnungen wie Seifenblasen zu nichts zersprangen.
Denn – Harald Dörcksen war natürlich nur imstande, sein großes, neues Werk an Hand der Zeichnungen und Berechnungen auszuführen. All das Vielgestaltige, Komplizierte im Gedächtnis zu behalten, war unmöglich. Und das Ganze noch einmal neu schaffen, dazu hätte es vieler Monate bedurft, – falls es zum zweiten Mal überhaupt gelungen wäre.
Nein, die Tasche mußte er haben. Da half alles nichts. Er mußte sie haben; um jeden Preis. Unumwunden sprach er das jetzt auch den anderen gegenüber aus. Tiefes Schweigen folgte seinen Worten. Endlich war es Söder, der das Wort ergriff:
„Wir müssen uns an Seilen hinablassen. Schiffstaue sind genug an Bord des „Delphin“. Allerdings wird es eine ungeheure Strapaze werden, da hinunterzuklettern; und ob es je einem gelingen wird, wieder emporzuklimmen, ist sehr fraglich.“
„Das wäre ja nicht unbedingt notwendig.“
Die Drei drehten sich um. Burne, der inzwischen ebenfalls durch die Felsspalte auf den Rand der Felsmauer gestiegen war, hatte die Worte gesprochen.
„Nicht unbedingt notwendig,“ wiederholte er; „es ginge auch anders zu machen.“
„Anders? Wie?“
„Man müßte einen Tragkorb und einen Flaschenzug herstellen, in dem von hier zwei von uns hinabgelassen und nachher wieder emporgezogen würden.“
Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Es hieß nun, das Material dazu heraufzuschaffen. Das war sicherlich die schwerste Arbeit des Unternehmens. Die Felsspalte war eng, der Aufstieg gewunden und steil. Indessen, da der Ausführung nicht direkt unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstanden, mußte es geschafft werden.
Die Vier machten sich an den Abstieg. Wo mochte Harry Leakwoord geblieben sein? Das fiel ihnen unterwegs wieder ein. Er war so plötzlich verschwunden … Vielleicht kannte er noch eine zweite, abwärts führende Felsspalte? Er schien offenbar diesen Felskamm überhaupt schon genau zu kennen.
Unten erwartete sie dann Türck mit einer Neuigkeit, die diese Vermutung nur bestätigte. Der Kutter war fort. Harry Leakwoord war unbemerkt hinter Felsblöcken aufgetaucht und zum Kutter gelaufen. Erst als er schon an Bord des Schiffes war, hatte Türck ihn vom „Delphin“ aus bemerkt. Und dann – zeigte sich, daß der Kutter nur scheinbar verlassen dalag. Die anderen Insassen mußten sich vollzählig an Bord befunden haben. Denn kaum war Harry Leakwoord im Innern verschwunden, als auch schon der Motor ansprang, der Kutter Fahrt aufnahm und die kleine Bucht schnell verließ.
In der Erregung seines Temperaments hatte Türck dem Schiff einen Schuß nachgesandt. Allerdings ohne sichtbares Ergebnis, wie das ja in diesem Falle nicht anders zu erwarten war.
War nun der Kutter auch fort, so hatten die Zurückgebliebenen wenigstens die Genugtuung, allein auf der Insel zu sein und ungestört an ihr Unternehmen gehen zu können: die Ledertasche in der geheimnisvollen Tiefe des Inseltales zu suchen und heraufzubefördern.
Zum Glück war alles notwendige Material an Bord des „Delphin“ vorhanden. Bretter, leichtes, doch sehr festes Holz wurde zuerst hinaufgeschafft. Das sollte zur Herstellung des Tragkorbes dienen. Das heißt, als „Tragkorb“ war beschlossen worden, nur einen einfachen, zwei Personen Platz bietenden Sitz anzufertigen, der an den vier Ecken von Stricken gehalten werden sollte. Diese mußten in das Haupttau zusammenlaufen und dies wiederum von einem Holzgestell aus an einer doppelten Winde beweglich angebracht werden.
Doch das Hinaufschaffen nahm den Rest dieses Tages in Anspruch, so daß man den Beginn der Arbeiten auf dem oberen Rand des Felsenkammes für den nächsten verschieben mußte.
Die Nacht brach herein … An Bord des „Delphin“ schlief alles. Außer Mahadur Mirat, der die erste Wache übernommen hatte. Er ging unweit des Schiffes auf dem flachen Felsstrand auf und ab. Die Nacht war weich und warm. Kein Wind traf diese versteckte kleine Bucht. Oben, am Himmel, funkelten die Sterne in seltsamer Klarheit. Ihr Licht drang matt bis hier hinunter.
Mahadur Mirat blickte nach dem hellen Leib des „Delphin“ hinüber. Da drinnen schlief nun seine Welt, sein Alles, schlief die Tochter der Wolkenkönigin, schlief – Hella. Unnennbare Zärtlichkeit durchströmte den Radscha bei dem Gedanken an das schöne Mädchen. Und selig schaute er wieder empor zu den Sternen in die schweigende Nacht des Weltenraumes …
Da zuckte er zusammen. Jemand hatte ihn von rückwärts berührt! Rasch schlangen sich zwei volle, weiche Arme um seinen Nacken. Und eine lockende Stimme sprach:
„Da bist du, Mahadur Mirat. Und da bin ich. Sag’, stolzer, kühner Mann, bist du blind gewesen für die Liebe eines heißen Frauenherzens, das dir entgegenschlägt mit allen Fasern? Du hast die andere gewählt, die kühlere, blonde Deutsche. Wozu? Ah, du ahnst nicht, welche Wonnen ich dir zu bieten vermöchte. Ahnst nicht, wie stürmisch mein Blut nach dir verlangt. Ich muß dich haben, du Stolzer, hörst du, ich muß! Nimm mich, ich gehöre dir; laß die Blonde in das Land ihrer nüchternen Halbheiten fahren. Komm, ich will dir alle Wonnen des Paradieses schenken.“
Sanft, doch unwiderstehlich machte sich der Radscha aus den Armen des Weibes los.
„Sie hier, – Miß Crosterbroux?!“
„Ja, schau, ich hab’ mich fortgeschlichen aus dem Kutter, blieb hier, verbarg mich, weil ich dich haben muß, weil ich bei dir sein wollte!“
Wieder versuchte sie, an ihn gedrängt, ihn zu umschlingen. Doch er wehrte sie bestimmt ab.
„Nicht, Miß Ellen. Sie wissen, daß meine Liebe Hella Dörcksen gehört, ihr, zu der ich allein von Liebe spreche. Keine andere Frau gibt es für mich außer ihr. Vor allem keine, die sich mir anbietet!“
Nicht verächtlich, doch bestimmt abweisend hatte das geklungen. Ellen Crosterbroux wich einen Schritt zurück. Keuchend vor Erregung sagte sie:
„Ich bin hierhergekommen, – habe mich erniedrigt vor dir, weil ich nicht anders konnte, – und du verschmähst mich auch jetzt noch?“
Ganz außer sich war das heißblütige, durch Mewius’ hypnotischen Einfluß noch mehr aufgepeitschte Geschöpf. Des Radschas kühle Abweisung ließ ihr Inneres noch mehr aufschäumen. Nur – in anderer Weise.
„Warte, Mahadur Mirat, du wirst es bereuen, mich abgewiesen zu haben! Du sollst es büßen! Beide sollt ihr es büßen. Du und deine blonde deutsche Gans!“
Und lautlos und geschwind huschte sie davon. Verschwand im Dunkel der Nacht …
Der kommende Tag wurde mit den Arbeiten am oberen Rand des Abhanges ausgefüllt. Abends war alles fertig: das Gestell mit der Winde, der Sitz zum Hinablassen. Nun handelte es sich noch darum, wer in die Tiefe hinab sollte. Unbedenklich war das Unternehmen durchaus nicht. Wußte man doch nicht, welche unbekannten Gefahren dort unten lauerten.
Jeder der sechs Männer – Mirat, Dörcksen, Gari, Söder, Burne, Türck – war dazu bereit, ja, machte sogar Anspruch darauf, an der Expedition in die Tiefe teilzunehmen. Und selbst Hella wollte nicht zurückstehen. Endlich kam man überein, dem Los die Entscheidung zu überlassen.
Es traf Mahadur Mirat und Dörcksen. Unverzüglich wollte man ans Werk gehen, – doch nicht mehr heute, da die Sonne bereits im Sinken war und tiefe Schatten schon das Tal den Blicken der Beobachter entzogen. Morgen frühen also.
Wichtig war noch die Frage der Ausrüstung. Waffen für die in die Tiefe Steigenden schienen die Hauptsache. Aber auch einige Lebensmittel sollten sie mitnehmen. Für unvorhergesehene Zwischenfälle.
Von Ellen Crosterbroux war während dieses ganzen Tages nichts gesehen worden. Auch später tauchte sie nicht auf. Wo sie sich verborgen hielt, blieb unklar. –
Die aufgehende Sonne weckte die Männer am nächsten Tag zur entscheidenden Arbeit. Söder, Burne und Gari regierten die Winde, indes Türck mit den beiden Frauen zum Schutz des Schiffes unten geblieben war. Der Radscha und Harald Dörcksen nahmen auf dem primitiven Holzsitz Platz. Ein Bündel mit Lebensmitteln wurde an der Seite befestigt.
Dann ging’s abwärts. Langsam, vorsichtig. Es war nicht leicht, den Sitz vor dem Umkippen zu schützen. Mehr als einmal hakte der an vorspringende Felszacken an. Darauf mußten die beiden darin Sitzenden sehr scharf achten. Endlich, nach über einer Stunde, langten sie unversehrt unten an. Das heißt nicht ganz am Grund des Tales, da dessen Grund dicht bewachsen war.
In der Krone einer seltsamen Pflanze hing das Sitzbrett und an ihrem Stamm kletterten Mahadur Mirat und Dörcksen hinunter. Sie sah aus wie ein riesiger Schachtelhalm. Und – der ganze, dicht gewachsene Wald hier unten bestand hauptsächlich aus solchen Riesenschachtelhalmen. Sollte die Natur in diesem Tal infolge der Abgetrenntheit von der übrigen Welt in ihrer Entwicklung wirklich soweit zurückgeblieben sein, daß sie jetzt noch etwa auf dem Niveau der Steinkohlenzeit stand –?
Es schien so. Dann aber – existierten hier unten noch ganz andere, phantastische Möglichkeiten. Dann konnte es sehr leicht der Fall sein, daß sich auch die Tierwelt jener Zeit noch erhalten hatte, daß es hier noch – Saurier gab!
Ein Schauer durchrann Harald Dörcksen. Wie, wenn sie solch einem Ungetüm begegneten –? Ihre Schußwaffen wären in so einem Fall wohl wenig hilfreich.
Mühsam bahnten sie sich einen Weg durch das Dickicht. Insekten umschwirrten sie summend. Mit einem Mal rief der Radscha:
„Ah, – da, da –!“
Rascheln … eine riesige Eidechse von fast zwei Metern Länge schlüpfte durch die Stämme. Entfloh. Verschwand … Mahadur Mirat und Dörcksen sahen sich an. Nickten. Keiner sprach. Aber sie dachten das gleiche. Es gab hier also wirklich noch Riesentiere früherer Zeiten!
Dennoch mußten sie vorwärts. Nach einigen Strecken Wegs lief rasselnd ein achtbeiniges Panzertier an ihnen vorbei. Ein Trilobit!
Behutsam, mit ständig bereitgehaltenen Revolvern, drangen die beiden Männer weiter vor in diese grüne Wildnis. Kleines Tierzeug huschte hin und her an ihnen vorbei. Größere Tiere sahen sie nicht mehr. Im Umkreise hier mußte die Ledertasche niedergefallen, oder wohl schlimmer, in dem Astgewirr hängen geblieben sein. Stelle für Stelle suchten sie ab. Fanden nichts.
Seltsame Dämmerung herrschte hier unten, trotz des hellen Sonnenlichts von oben her. So dicht waren der Schachtelhalmwald und die Schlinggewächse. Warm und feucht war die Luft. Fast betäubend der Duft der vielen fremdartigen Blüten, die überall in großen Mengen wucherten. Bleich waren ihre Farben, schwer und fiebrig ihr Duft.
Und dann – kamen sie an den Rand eines ganz vom Wald überwucherten Gewässers … Vom oberen Rand der Felsmauer hatten sie es nicht sehen können. Schwarz, schweigend und unheimlich lag das Wasser da. Wenn die Tasche hier hineingefallen war … Mahadur Mirat sprach den Gedanken aus.
„Das wäre an sich nicht schlimm,“ entgegnete Dörcksen. „In der Tasche befand sich eine flache, wasserdicht verschlossene Metallkassette und in ihr erst die Papiere. Sie wären also geschützt. Nur, daß die Ledertasche infolge der Schwere der Metallkassette um so sicherer – auf den Grund des Wassers sinken mußte, falls sie überhaupt gerade hier hereingefallen ist.“
Bei diesen Worten war er nahe an das Wasser herangetreten. Eine helle Fläche schimmerte ihm entgegen. Hier war der Boden anscheinend mit weißem Sand bedeckt und ganz flach. Dann – stieß Harald Dörcksen einen Freudenschrei aus. Da – auf dem weißen, flachen Grund – lag die Ledertasche!
Auch Mahadur, durch den Ruf und die Geste des Erfinders aufmerksam geworden, entdeckte sie sogleich. –
„Die Klarheit des Wassers täuscht,“ meinte der Radscha, „es ist zweifellos mehr als einen Meter tief. Ich sehe das an den Fischen, die da herumschwimmen.“
Das Wasser wimmelte von phantastisch geformten Fischen. Dicke Köpfe, kleine Leiber; dazu riesige Kugelaugen. Man konnte an der Bewegung der Tiere sehen, daß der See doch tiefer sein müsse, als es beim ersten Anblick den Anschein erweckte. Aber das war ja nicht wesentlich.
Schon war Mahadur Mirat dabei, seine Kleider abzuwerfen. Dörcksen hielt sie. Dann stieg der Radscha ins Wasser … Einige Schritte entfernt lag die Tasche …
Da geschah Ungeheuerliches. Bewegung kam in das Wasser. Was die Beiden vorher für schwarze Tiefe gehalten hatten, bewegte sich, hob sich schwerfällig … Es war ein riesenhaftes Tier! Große, starre Augen wurden sichtbar, ein ungeschlachter Kopf … und dann öffnete das Untier einen schwarzen, schier endlosen Rachen! Brausen, wie das eines Wasserfalls, erklang …
Dörcksen schrie auf. Feuerte seinen Revolver auf das Untier ab. Einmal, ein zweites … Wie kindliche Spielerei erschien das angesichts solcher Abmessungen. Hatte keinerlei Wirkung. Nur das brausende Schnaufen verstärkte sich.
Schon hatte Mahadur Mirat die Gefahr erkannt. Tauchte, war bei der Tasche, packte sie, wandte sich wieder um … Da brach das Ungetüm aus dem Wasser. Fast besinnungslos flohen die Zwei, erreichten den Förderstuhl, klammerten sich daran … gaben das Signal zum Aufziehen, stiegen empor … und waren gerettet.
Wenn Dörcksen und Mahadur Mirat in späteren Zeiten an dies Erlebnis zurückdachten, erschien es ihnen immer wie ein Fiebertraum. Für die Wissenschaft war ja das Vorhandensein jenes Inseltales mit allem, was darinnen, von kolossaler Bedeutung. Harald Dörcksen hatte sich auch vorgenommen, seine Entdeckung später dieses Gebiet zur Erforschung bekannt zu geben. Doch es kam nicht dazu. Denn inzwischen trat ein Ereignis ein, das seine Absicht vereitelte. Doch wir wollen nicht vorgreifen.
Die Zeichnungen und Berechnungen waren wieder da. Das Werk Harald Dörcksens gerettet. Nun bestand keine Veranlassung, noch länger auf dieser Insel zu bleiben. Man rüstete zur Abfahrt. Dabei wurde an Ellen Crosterbroux gedacht. Sie weilte ja noch auf der Insel.
„Wir können sie doch nicht hier so ohne weiteres ihrem Schicksal überlassen,“ meinte Söder. Auch die anderen waren dieser Ansicht. Man suchte; suchte lange, fand aber weder sie, noch ihr Versteck. So entschloß man sich denn, ohne sie abzufahren. Ungern, schweren Herzens. Aber es blieb ja nichts anderes übrig. Und wenig später hatte der „Delphin“ die Bucht verlassen. – – –
„Hören Sie –?“
„Ja, ja – was mag das sein?“
„Es klingt wie fernes Gewitter. Aber der Himmel ist völlig wolkenlos.“
Sie standen auf Deck des „Delphin“ neben dem Steuerhaus. Alle, außer Türck. Unterhielten sich über das Abenteuer Dörcksens und Mahadur Mirats in jenem Inseltal. Etwa eine halbe Stunde nach ihrer Ausfahrt aus der Bucht. Da erklang es zum ersten Mal … Ein Rollen und Grollen, wie ferner Donner …
Und nach einer Weile wieder; stärker diesmal.
Dann –
„Da, – seht nur –!“
Die Oberfläche des Meeres, die bisher glatt gewesen war, kräuselte sich, als zittere sie … schäumte dann empor. Wellen sprangen auf. Riesige Wassersäulen. Dazu wieder und wieder das donnernde Grollen …
„Festhalten!“ schrie der Kapitän. „Ein Seebeben!“
So war es. Der hier überall vulkanische Boden bebte, bäumte sich. Der „Delphin“ wurde wie ein Ball hin und her geschleudert. Aber das vorzüglich gebaute Schiff hielt stand. Mit Staunen und Grauen blickten die Passagiere auf das Toben des Elements ringsum.
„Seltsam. Fast schaurig.“
Und dann bot sich ihnen ein überwältigendes Schauspiel. Mit ohrenbetäubendem Krachen barst die Insel, die sie vor wenig mehr als einer halben Stunde verlassen hatten, mitten auseinander! Die Riesenmauer stürzte in sich zusammen, das große Tal mit all seinen Geheimnissen, die letzten Zeugen einer längst vergangenen Zeit unter sich begrabend. Und über alles hin spülte die Flut des Indischen Meeres …
Eine Viertelstunde später war die Wasserfläche wieder ruhig, als sei nichts gewesen. Jene Insel aber gab es nicht mehr.
Mit dem „Delphin“ und seinen Passagieren hatte die Vorsehung es gut gemeint. Rechtzeitig waren sie aus der verderbenschwangeren Nähe der gigantischen Felswände gefahren. Und auch aus dem Seebeben waren sie davongekommen, alle, ohne Schaden zu nehmen.
Sonnige Tage an Bord des „Delphin“ folgten, auf der Fahrt nach Dörcksen-Land. Man saß abends beisammen unter dem Sonnensegel; noch lieber nach Sonnenuntergang.
„Kinder, ich werde wieder jung,“ sagte Harald Dörcksen mit leuchtenden Augen; „wir sind beisammen; auch Gari weilt wieder unter uns … Die Zeichnungen sind gerettet. Die Zukunft strahlt wieder …“
Gari, – ja, der war inzwischen ein anderer Mensch geworden. Glatt rasiert, zurückgekämmtes Haar. Der Anzug, den er trug, paßte ihm zwar nicht ganz. Das lag an der Eile, mit der der Einkauf in Kalkutta bewerkstelligt worden war. Dennoch – ganz anders sah er jetzt aus, als vorher als Gefangener in Thudsidsengi.
Wieder und wieder kam man auf die unselige Zeit zu sprechen, die furchtbaren Jahre, die Gari als Gefangener in dem Steingefängnis zubringen mußte.
Auch Amara mußte erzählen. Wie sie zu dem Elfenbeinstern gekommen. Viel war es nicht, was sie darüber wußte. Sie hatte ihn als eine Art Amulett von ihrer Mutter kurz vor deren Tod bekommen. Woher die ihn hatte oder was eigentlich er für sie bedeutete, wußte Amara nicht. Doch Mahadur Mirat, Dörcksen und den Übrigen war klar, daß die Mutter Amaras zur Gemeinde der „Wolkenkönigin“ gehört haben mußte.
„Jedenfalls ist,“ sagte Harald Dörcksen, „diese Sache ein Beweis, daß auch in Ägypten unsere Lehre – die neue, beglückende Lehre – bereits Fuß gefaßt hatte. Es geht vorwärts, Freunde, es geht vorwärts. Und wir werden das Land Olympia mit eigenen Augen wiedersehen, – ich mein Weib, ihr, Hella und Gari, eure Mutter. Ein neues Flugschiff will ich bauen, größer, leistungsfähiger, als das erste. Das soll uns alle aufnehmen. Auch Professor Herbst, Reverend Dixon und Gari Dingra, die immer noch auf dem Koralleneiland unser harren. Die Ärmsten! Wer weiß, wie wir sie antreffen werden. Hoffentlich haben sie sich noch nicht der Verzweiflung ob unseres langen Fernbleibens hingegeben. Hoffentlich ist auch sonst nichts geschehen. Kein Unglück. Etwa eine Katastrophe wie die, die wir jetzt mit jener Felseninsel erlebten, deren Mitte das wundervolle Stückchen Erdvergangenheit trug …“
Er schwieg. Wirklich sah der Erfinder jetzt trotz seines Ernstes viel jünger aus, als in den Zeiten vorher. Waren doch viele, schwere Sorgen von ihm genommen. Herrschte doch nun, da alles zum Guten sich gewendet hatte, eitel Sonne. Sonnige Tage an Bord des „Delphin“ …
Einer ging abseits von der Gesellschaft. Teils weil sein „Dienst“ es erfordere, teils aus anderen Gründen … Türck. Der kleine, vielseitige Sachse war ein guter, sehr guter Menschenkenner; verstand ausgezeichnet, in den Mienen der Menschen zu lesen.
Er beobachtete. Ging dann kopfschüttelnd und unverständliche Worte murmelnd an der Reling auf und ab. Seinen verehrten Kapitän beobachtete er. Und Amara, die zusammen mit Gari Dörcksen das Schiff in all seinen Teilen besichtigte. Aber Söder war doch nicht so ahnungslos, wie Türck mitleidsvoll wähnte.
Gestern hatte er Amara und Gari beobachtet, auf dem Promenadendeck. Sie schlenderten plaudernd … hatten einander dabei an der Hand gefaßt … Und irgendwo zurückgetreten in den Schatten stand Kapitän Söder, blickte gedankenverloren den zwei jungen Menschenkindern nach. Da trat Türck zu ihm. Sah erst jenen Beiden nach, dann zum Kapitän hin; sagte langsam nickend:
„Ja, ja …“
Söder blickte ihn eine Weile an. Antwortete dann auch:
„Ja, ja – man wird alt …“ Dann huschte ein Lächeln über sein wettergebräuntes Antlitz. „Aber – schadet nichts. Es war ja schön … Und die Jugend hat nun einmal das größte Recht auf Glück …“
Und so beobachteten diese beiden Wissenden, was allen sonst entging, beobachteten und behüteten es: das Zarte, Schöne, das da neu zwischen zwei jungen Menschenkindern keimen wollte … zwischen Gari Dörcksen und Amara.
Nacht über dem Indischen Ozean. In ihrer Kabine erwachte Hella Dörcksen mit Kopfschmerz. Sie hatte am Abend schon einen leisen Fieberanfall verspürt. Kapitän Söder hatte ihr Chinin gegeben. Sie war dann auch bald eingeschlafen. Nun aber wachte sie auf. Ihr Gesicht glühte. Das Fieber schien sich verstärkt zu haben.
Auf dem winzigen Tischchen neben dem schmalen Kajütenbett stand eine Flasche mit Chininpulver. Eine abgeblendete Birne verbreitete mattes Licht. Hella wandte sich um. Sie wollte eine zweite Dosis des fieberbekämpfenden Mittels einnehmen. Da – blieben ihre Blicke an einem schmalen Bild haften, das jedoch nur den Bruchteil einer Sekunde standhielt. Aus einem Spalt im Fußboden hatte ein Frauenantlitz geblickt! Haßvoll verzerrt. War blitzschnell wieder verschwunden, als Hella hinsah. Und dies Gesicht war das – Ellen Crosterbroux’!
Eine Fiebervision, nichts weiter, redete sich Hella ein. Doch der Anblick hatte sie sehr erregt. Vision –? Ein tiefes Mißtrauen gegen diese Annahme griff in ihr Platz. Rasch schluckte sie etwas Chinin. Legte sich dann wieder hin; doch jetzt so, daß sie jene Stelle im Fußboden im Auge behalten konnte.
Wartete … minutenlang … nichts ereignete sich. Schon glaubte Hella bestimmt an eine Fiebervision, als plötzlich sie bemerkte, daß sich ganz, ganz langsam, fast nur Millimeter um Millimeter eine Klappe im Boden hob! Hella hatte vorahnend die Augenlider nur wenig gehoben. Sie verhielt sich ganz still, lag, als ob sie schlief. Dennoch beobachtete sie genau … Jetzt hatte sich die Klappe etwa um zwei Zentimeter gehoben. Ein funkelndes Augenpaar ward in dem Spalt sichtbar. Und dann – hob sich die Klappe rasch. Ellen Crosterbroux schaute heraus!
Haßverzerrt waren ihre Züge. Sie atmete heftig, schaute starr nach der scheinbar in tiefem Schlaf Liegenden. Und ihre Lippen formten gehauchte Worte:
„Warte nur, blondes Weibsbild; bald schläfst du für immer. Und Mahadur Mirat auch. Ihr sollt nicht glücklich werden. Ihr nicht. Wenn ich auch mit untergehe, – was liegt mir daran? Er hat mich ja verschmäht …“
Geräuschlos senkte sich die Klappe wieder. Noch eine geraume Weile blieb Hella so liegen, ohne sich zu rühren. Dann richtete sie sich auf. Keine Vision war das gewesen! Wirklichkeit! Wie kam Ellen Crosterbroux hierher an Bord des „Delphin“? Wohin führte die Klappe im Fußboden? Und was hatte Ellen vor?
Wie unheimlich ihr Gesicht aussah? War das noch die lebenslustige heitere Ellen Crosterbroux, als die Hella sie einst kennen gelernt hatte? Eine unbestimmte Angst peinigte Hella. Was hatte Ellen Crosterbroux vor? Schlimmes zweifellos.
Hella glitt, jedes Geräusch vermeidend aus dem Bett. Beugte sich zu der Klappe im Boden hinab.
Es war eine Art Falltür. Sie schloß gut an den Rändern ringsum. An einer Stelle war ein kleiner Messingring zum Aufheben der Klappe. Hella lauschte … Ein undefinierbares Geräusch erklang da unten. Ganz regelmäßig. Es hörte sich beinahe an wie der Gang einer kleinen Maschine. Wieder stieg Furcht in Hella empor; stärker noch diesmal, als vorher. Sie faßte mit raschem Entschluß den Ring, hob die Klappe empor …
Ein einziger Blick enthüllte ihr die furchtbare Gefahr, in der das Schiff schwebte. Da war der Ballastraum, Sand lag da in Mengen aufgehäuft. An einer Stelle, seitlich, war er beiseite geschaufelt, so daß die eiserne Schiffswandung sichtbar war. Da stand Ellen Crosterbroux mit einem Drillbohrer in den Händen! Sie arbeiteten …
Hella stieß im Übermaß der Erregung einen gellen Schrei aus. Ellen fuhr herum, stürzte sich auf sie, umklammerte ihren Hals, würgte sie …
„Blonde Bestie!“ zischte die Millionärstochter. Hella wehrte sich verzweifelt. Aber ihre Gegnerin war stärker, die junge, sportgeübte Amerikanerin. Schon begannen rote und grüne Flammen vor Hellas Augen zu tanzen …
Da ward die Kabinentür aufgerissen … Kapitän Söder stand da. Hinter ihm drängte sich Mahadur Mirat hinein. Sie hatten den Schrei Hellas gehört.
„Was geht hier vor?!“
Ellen Crosterbroux ließ nicht von ihrem Opfer. Mit Gewalt mußten die Männer Hella befreien. Wie rasend gebärdete sich die Tochter des Platinkönigs. Es blieb Söder und dem Radscha nichts anderes übrig, als sie zu binden. Hella Dörcksen aber hatte eine tiefe Ohnmacht umfangen.
„Sie will das Schiff anbohren!“ hatte sie noch mit letzter, versagender Kraft gerufen. Dann schwanden ihr die Sinne. –
Als Hella wieder zu sich kam, lag sie noch in der Kabine. Aber – erstaunt sah sie sich um – Söder, Burne und Türck standen an ihrem Bett!
„Gottlob, sie hat kein Fieber mehr,“ hörte sie den Kapitän sagen. „Was war denn mit ihr geschehen? War das doch alles Fieberphantasie gewesen?“
„War ich krank?“ fragte sie mit matter Stimme. Knut Söder nickte.
„Sehr sogar. Schweres Fieber. Drei Tage haben Sie bewußtlos gelegen. Jetzt ist aber alle Gefahr endlich vorüber. Sie sind fieberfrei.“
„Und Ellen Crosterbroux? Ist die wirklich an Bord des „Delphin“, oder –?“
„Ah, Sie meinen, Visionen gehabt zu haben? Nein, nein, es war schon so, wie Sie es erlebt zu haben glauben. Ellen Crosterbroux ist an Bord. Sie hatte sich auf jener Felseninsel, deren Untergang wir nachher erlebten, verborgen und von da an Bord geschlichen. In diesem Ballastraum, der hier unten liegt, hielt sie sich versteckt. Sie wollte das Schiff anbohren und uns und sich damit auf den Meeresgrund versenken. Ihr mutiges Dazwischentreten hat die unheilvolle Tat verhindert. Ihnen danken wir die Erhaltung unseres Lebens und insbesondere ich die Erhaltung meines Schiffes.“
„Und wo befinden wir uns jetzt?“
„Auf Dörcksen-Land. Oder vielmehr, dicht dabei. Der „Delphin“ liegt an der windgeschützten Seite der Insel vor Anker. Wir ließen Sie hier, einmal, weil Ihr Gesundheitszustand einen Transport nicht ratsam erscheinen ließ, – und dann, weil auf der Insel selbst speziell die Schlafgelegenheiten alle Bequemlichkeit entbehren; – was für einen Kranken doch das Wichtigste ist.“
„Und Professor Herbst, Reverend Dixon, Gari Dingra, Crosterbroux und die Insel?“
„Sind alle wohlauf und werden sich freuen, Ihnen hier ihre Aufwartung machen zu können.“
„Hier –? Ah, nein, ich möchte hinaus!“ rief Hella und wollte sich erheben. Doch der Kapitän drückte sie mit sanfter Gewalt zurück.
„Nichts da! Sie bleiben hübsch liegen einstweilen! Sie wollen sich wohl einen Rückfall holen? Der würde wahrscheinlich so gut nicht abgehen.“
„Sie sprechen wie ein Arzt,“ entgegnete Hella lächelnd; „Kapitäne müssen ja wohl auch davon eine Ahnung haben.“
Söder nickte.
„Eigentlich ja. Aber wir auf dem „Delphin“ sind besser dran. Wir haben beinahe einen richtigen Arzt an Bord. Türck hat Medizin studiert, bevor der – entgleiste,“ schloß Söder mit einem Seitenblick auf den Vielseitigen. Der schnaufte.
„Nu wärd’ch ooch noch schlecht jemacht!“
„Inwiefern, Herr Türck? Im Gegenteil!“ lachte Hella.
„Nee, meenen Se nich –? Nu, dann bin ’ch zufrieden.“
„Wie hat denn Crosterbroux die Neuigkeiten über seine Tochter aufgenommen?“
Söder wiegte das Haupt.
„Je nun, besonders erfreut war er nicht. Er kann sich nicht erklären, wie wir anderen auch, was Ellen derart aus dem Gleichgewicht gebracht haben kann. Die Liebe, die aussichtlose Liebe, zu Mahadur Mirat? Damit hatte sie sich doch schon damals hier auf der Insel abgefunden …“
„Nun ja; aber bedenken Sie – ihre Flucht mit Leakwoord …“
„Allerdings.“ –
Da kamen Crosterbroux, Herbst und Dixon. Sie begrüßten Hella freudig, und das Fragen und Erzählen hätte noch lange kein Ende genommen, wenn nicht Türck energisch dazwischengerufen hätte:
„Meine Verehrtesten, – nu is aba Schluß! Uns’re Batientin muß Ruhe hamm!“
Dieser Aufforderung leistete man auch Folge. Hella nahm darauf ein Bad, wobei Amara sie liebevoll bediente, und dann nahm sie wieder der Schlaf, – diesmal kein Fieberschlummer, sondern der echte, tiefe, ruhige Schlaf der Genesung, in seine Arme.
Bald schlief auch sonst alles, auf der Insel und an Bord des „Delphin“. Alle schliefen sie nach all den Aufregungen der letzten Tage zum ersten Male ruhig und tief. Vieles lag hinter diesen Menschen, vieles aber ungeahnt auch noch vor ihnen. War es für alle auf Dörcksen-Land doch der Vorabend zum Beginn des neuen Werks. Ein neues großes Flugschiff sollte erstehen, das sie hinauftragen würde nach Olympia. Davon träumten alle in dieser Nacht. Vier Menschen aber träumten mehr, schöner, träumten von der Erfüllung ihrer großen, starken Liebe.
Eine nur warf sich unruhig und oft aufstöhnend auf ihrem Lager hin und her: Ellen Crosterbroux. Eine Verbrecherin?
Eine Unglückliche!