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Sechstes Buch: Aufbruch zum Himalaya

Sechstes Buch

Aufbruch zum Himalaya

 

Erster Teil

Das neue Flugschiff

 

1. Kapitel

„No, Mister, ich darf niemanden hereinlassen!“ wehrte der Diener den Fremden ab, der soeben, noch triefend vom Regen, die Treppe hinauf kam. Der nickte hastig.

„Weiß, weiß. Hier ist meine Legitimation.“

Flüchtig warf der Diener einen Blick auf die Karte. Trat gleich einen Schritt zurück.

„Ah, das ist etwas anderes. Bitte.“

Er öffnete die Tür. Stimmengemurmel drang einen Augenblick heraus. Erstarb sofort wieder. Der Fremde hatte die Tür hinter sich ins Schloß gezogen. Innen – wandten sich fünf schwarzgekleidete Herren, die um einen runden Tisch saßen, nach ihm um.

„Ah, Mister Crowdon! Nun, wie steht’s?“

Aufatmend warf sich der Ankömmling, des nassen Mantels nicht achtend, auf einen Sessel.

„Es ist gelungen,“ sagte er dann. „Die geheime Kommission der Regierung hat ihre einmütige Zustimmung zu unserem Plan gegeben.“

„Bravo! Und –?“

„Man ist auch in jenen Kreisen der Ansicht, daß die Olympiabewegung, die sich wie eine geheime Krankheit immer mehr ausbreitet, gefährlich ist. Wie viele Firmen, die sich der Fabrikation von Kriegsmaterial befleißigen, wären dann überflüssig! Wir –! Aber, wie schon gesagt, auch in maßgebenden Kreisen der Regierungen der verschiedenen Staaten ist man der Ansicht, daß jene Bewegung unterdrückt werden muß.“

„Nochmals: bravo! Und – wie soll das geschehen? Soll radikal vorgegangen werden?“

„Nein, dazu bietet die ganze Sache zu wenig Handhabe. Außerdem ist die Bewegung vermutlich zu sehr in die Breite gegangen. Es steht zu befürchten, daß ein Druck sofort einen viel stärkeren Gegendruck auslösen würde. Das soll auf alle Fälle vermieden werden.“

Einer der Fünf schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch.

„Immer wieder diese feige Vorsicht! Wie gedenken denn die Herren die Hydra überhaupt tot zu kriegen?!“

„Indem man die eigentlichen Urheber der Bewegung zum Schweigen bringt.“

„Zum Schweigen –? Ja, hört man sie denn noch? Sie sind doch längst spurlos verschwunden. Zuletzt der Platinkönig Crosterbroux und sogar Burne, unsere größte Hoffnung. Selbst Cheffri Ragindo, der Dreimalgewesene, wußte nichts mehr von ihrem Verbleib.“

„Nein; aber ich habe Kenntnis von einem Schreiben der New Yorker Polizei bekommen. Mahadur Mirat, Dörcksen und seine Tochter Hella sind dort gesehen worden; zusammen mit dem berüchtigten Schmugglerkapitän Knut Söder, der neuerdings den Olympiarummel mitzumachen scheint. Der hat sich dort übrigens toll aufgeführt. Hat eine Anzahl Damen der New Yorker Bürgerschaft schwer kompromittiert. Das heißt – hm, hm – eigentlich kommt das auf das Konto der Damen selbst. Doch das tut ja hier nichts zur Sache. Leider hat die Polizei in New York zu wenig auf die Namen des Kapitäns und der anderen in seiner Begleitung geachtet. Nachträglich erst kam sie darauf. Natürlich zu spät. Und was glauben Sie wohl, wer das Ganze verschuldet hat? Burne, – unser Stuart Burne!“

Überraschte, entrüstete Rufe.

„Wie? Burne? Der ehrgeizige, tüchtige Burne? Wie ist das möglich? Was bedeutet das?

Crowdon hob die Achseln.

„Das weiß ich so wenig wie Sie und die Kommission. Jedenfalls steht das eine fest, daß wir Burne als abgängig, ja, als Gegner betrachten müssen. Leider … Aber es gibt ja noch mehr gute Detektive in England. Ich bin noch nicht zu Ende, meine Herren. Habe noch eine Neuigkeit.“

„Ah, die Hauptsache spart er bis zum Schluß auf!“ wurde gerufen. Crowdon nickte; Verzog jedoch keine Miene. Fuhr dann fort:

„Es ist selbstverständlich, daß die Beschlüsse der internationalen Kommission streng geheim gehalten werden. Also ahnen die Dörcksen und Konsorten nichts von den Plänen, die sich gegen ihre Person richten.“

„Gegen ihre Person? Wie soll man das verstehen?“

„Wie ich schon vorhin sagte, – jene Urheber des Olympia-Rummels sollen zum Schweigen gebracht werden. Dagegen führten Sie, meine Herren, ins Feld, wie das möglich sei, da doch jene alle spurlos verschwunden seien. Nun, und das ist meine Neuigkeit –: das Schiff des Schmugglerkapitäns Söder ist seit einiger Zeit wieder beobachtet worden. Er selbst ist an Bord. Wer sonst noch, war nicht feststellbar. Ist vorläufig auch belanglos. Der Umstand war es überhaupt, der die Kommission auf den Plan brachte. Söder hat nacheinander mehrere große Häfen Amerikas und Europas besucht. Überall vergab er Aufträge an Metallwarenfabriken. Maschinenteile, alle nach besonderen Zeichnungen, deren Zweck und Verwendungsmöglichkeit niemand ergründen kann. Man vermutet – und wohl mit Recht –, daß das Ganze zum Bau eines großen, neuartigen Flugschiffes dienen soll. Jetzt ist es so weit, daß er all die ausgeführten Bestellungen einsammelt. Jetzt ist’s Zeit zum Handeln. Und so vernehmen Sie noch meine letzte Neuigkeit: Söder ist heute früh mit seinem „Delphin“ im den Hafen von Southhampton eingelaufen. Er wird ständig durch Detektive überwacht.“

Ein allgemeines Gemurmel erhob sich. Crowdon fuhr fort:

„Ist er erst in der Gewalt der geheimen Kommission, dann wird die ganze Angelegenheit rasch vorwärtsschreiten. Übrigens haben die Regierungen, angesichts der Wichtigkeit der ganzen Sache, der Kommission volle Handlungsfreiheit in der Wahl ihrer Mittel zugebilligt.“

Abermals zustimmendes, beifälliges Gemurmel der Versammelten. Man sah unschwer, hier herrschte eine seltene, völlige Übereinstimmung. – – –

*

Kapitän Knut Söder schüttelte Burne die Hand.

„Also nochmals, Vorsicht, lieber Söder!“

Der nickte lachend.

„Keine Bange, Mr. Burne. Was soll mir geschehen? In London ahnt keiner etwas von meiner Ankunft. Nun, und auffällig benehmen werde ich mich in keiner Weise. Was ich zu erledigen habe, ist bald geschehen. Mit dem Nachtzug bin ich dann wieder zurück.“

Damit schritt er über das Fallreep auf den Kai. Dicht vorbei an einem Hafenarbeiter, der auf einer Kiste saß und sein Frühstücksbrot verzehrte. Aber es schmeckte ihm anscheinend nicht recht. Er wickelte den Rest des Brotes wieder ein und schlenderte davon. In der Richtung, die Kapitän Söder soeben genommen hatte …

Der Kapitän fuhr mit dem nächsten Zug nach London. Machte dort eine Anzahl kleiner Besorgungen, speiste in einem Lokal und schlenderte dann ziellos durch die Straßen der großen Stadt. Es ging bereits gegen Abend. Bis zum Abgang seines Zuges aber waren noch einige Stunden.

Zum Viertel der India-Docks lenkte Söder seine Schritte. Das war doch immer die Gegend, die ihn in London am meisten anzog, weil sie mit Schiffahrt eng zusammenhing, was dem Kapitän allergrößtes Interesse abnötigte; und dann auch, weil allerlei Jugenderinnerungen sich an das Londoner Hafenviertel knüpften. Wie lange war das her –? Fast dreißig Jahre …

Damals war er auch hier gegangen, hatte den trüben Schein der Hafenlichter sich in den Fluten der Themse spiegeln gesehen. Plötzlich war ein Hilferuf aus weiblicher Kehle an sein Ohr gedrungen. Es war immer verrufen gewesen, das Viertel der India-Docks. Und Söder, hilfsbereit wie er stets war, sprang um die Straßenecke, sah eine weibliche Gestalt in verzweifelter Gegenwehr gegen einen brutalen Unhold … Griff ein, half … Sie wurde später seine Frau, die er damals gerettet. Schenkte ihm einige Jahre ungetrübten Glücks. Wenige Jahre nur; allzu wenige …

Söder seufzte auf. Das kam nicht wieder …

Weiter schritt er, in Gedanken an die Vergangenheit versunken. Schier endlose Schuppen liefen hier parallel des Themseufers hin. Grau wälzte der Strom seine Wassermassen dem Meer zu. Dunkel ward es allmählich. Nur matt erhellten Gaslaternen die Straßen des Hafenviertels. Da – – –

„Help! Help!“

Zwei gellende Hilferufe aus weiblicher Kehle. Wie damals! Erregt sah sich Söder um. Da lief eine Frau vor einem Mann die Straße entlang. Rief noch einmal:

„Help! Help!“

Verschwand dann in dem Torweg eines der Holzschuppen. Der Mann, der Verfolger ihr nach. Kein Mensch sonst weit und breit. Ohne sich zu besinnen eilte Knut Söder auf den Schuppen zu. Hinein in den Torweg. Da blieb er stehen. Dunkel war es hier drinnen. Das Auge mußte sich erst gewöhnen, bevor es Einzelheiten unterscheiden konnte. So stand der Kapitän und lauschte. Aber nichts war zu hören.

Was dann geschah, ging so blitzschnell vor sich, daß Söder gar nicht recht zur Besinnung kam. Zwei, drei Männer fielen über ihn her, rissen ihn zu Boden, steckten ihm einen Knebel in den Mund, ihn am Rufen zu hindern … Banden ihn dann mit schon bereitgehaltenen Stricken. Kein Glied konnte Söder rühren. Aber das war noch nicht alles. Eine Binde wurde ihm um den Kopf gelegt; die Augen verbunden. Kein Wort sprachen die Banditen während des ganzen Überfalles.

Darauf ward er emporgehoben, getragen … Er lauschte angestrengt. Bretterboden klang unter den Tritten der Männer. Also befand man sich noch in dem Schuppen. Dann – Glucksen von Wasser am Bollwerk oder Schiffswänden. Taue knarrten. Ab und zu ein Laut, als stieße Holz gegen Holz. Die Themse …

Wollte man ihn ermorden? Ertränken? Wer waren die Attentäter? Raubmörder? Gewiß, Geld hatte er ziemlich viel bei sich. Doch nicht so viel, daß es einen Mord lohnte. Außerdem, – wie konnten die Banditen wissen, ob –

Oh nein; nicht Mord. In ein Boot brachten sie ihn. Es mußte groß sein; hob sich nur langsam auf und ab in der Flut des Stromes, dann – sprang ein Motor an. Söder spürte deutlich die Vibrationen, als Fahrt aufgenommen wurde. Wohin ging es? Was hatte man mit ihm vor?

Auf eine halbe Stunde Dauer schätzte der Kapitän die Fahrt. Dann wurde angehalten. Söder wieder getragen. Eine kurze Treppe ging es hinauf. Er wurde auf einen Stuhl gesetzt. Dann nahm man ihm die Binde von den Augen und er sah – was er sah, war so phantastisch, unwahrscheinlich, daß Söder trotz des Ernstes der Situation lächeln mußte.

Ein anderer Schuppen. Ringsum an den Wänden aufgestapelt Kisten, Ballen. Ein schwerer Tisch in der Mitte. Da herum saßen etwa zehn Männer. Sie alle trugen talarähnliche Gewänder und Kapuzen über den Köpfen, in die Augenlöcher geschnitten waren. Wie ein mittelalterliches Femgericht mutete das Ganze an – im Jahre 1924! Auf dem Tisch brannte flackernd eine Kerze.

Knut Söder war sich jetzt darüber klar, daß es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Raubüberfall handelte. Das sollte er bald bestätigt bekommen.

Einer der Vermummten klopfte mit dem Fingerknöchel dreimal auf die Tischplatte und begann dann:

„Kapitän Knut Söder, auf Veranlassung der geheimen Kommission sind Sie hierhergebracht worden. Sie haben sich nach Ansicht der Kommission durch Umgang mit Weltrebellen und Hilfeleistungen für diese Schädlinge schuldig gemacht. Dennoch soll Ihnen nichts geschehen, – wenn Sie uns den Schlupfwinkel der Zentrale der Olympia-Bewegung mitteilen.“

Er hielt inne. Ah, also von der Richtung wehte der Wind! Nun wußte Söder Bescheid.

„Nun –?“ verlangte der Sprecher von vorhin aufmunternd. Söder zuckte die Achseln.

„Darauf kann ich nur erwidern, daß sich die sogenannte geheime Kommission bei mir der Freiheitsberaubung schuldig gemacht hat. Außerdem lasse ich mir nichts abpressen.“

„Daß Sie mit den Olympia-Rebellen Hand in Hand arbeiten, geben Sie also zu?“

„Da Sie es vorhin behauptet haben, müssen Sie es doch wohl wissen. Ich gebe nichts zu.“

„Sie wollen den Ort nicht nennen.“

„Soll ich’s Ihnen noch deutlicher sagen, daß ich mir nichts abpressen lasse?“

„Sie werden es bereuen.“

„Abwarten.“

„Wir haben Mittel und Wege, Sie zu zwingen!“

„Daran zweifle ich, trotz ihrer mittelalterlichen Aufmachung. Jedenfalls sehe ich Ihren – Mitteln mit größtem Interesse entgegen.“

„Der Ton wird Ihnen bald vergehen!“

Söder zuckte die Achseln. Schwieg. Was sollte er darauf noch sagen? Die Vermummten flüsterten leise miteinander. Sie schienen sich zu beraten. Dann begann der erste Sprecher wieder:

„Zum letzten Mal fragen wir Sie: Wollen Sie uns das Versteck Mahadur Mirats, Dörcksens und der Übrigen mitteilen oder nicht?“

„Sie hätten sich die Mühe der erneuten Fragestellung sparen können. Meine Antwort haben Sie bereits.“

„Also nicht?“

„Nein, zum Teufel, dreimal nein!“ schrie Söder. „Und nun hört endlich mit eurer blöden Fragerei auf!“

Da erhob sich der Sprecher.

„Schafft ihn fort!“

Und fast im selben Moment fiel wieder die Binde über des Kapitäns Augen. Jemand mußte die ganze Zeit über hinter ihm gestanden haben. Vier Hände packten ihn. Hoben ihn auf. Immer noch war er ja gebunden, so daß er sich nicht rühren konnte. Man trug ihn wieder.

„Sowie ich frei bin, geht’s euch schlecht, Burschen!“ rief der Kapitän. Doch niemand antwortete mehr. Eine Treppe hinab ging es. Dann noch eine. Beide nur kurz. Danach folgte ein langer Gang. Und dann – legten die Männer ihn auf den Boden. Einer zog ihm die Binde von den Augen. Dann entfernten sie sich.

Dunkel war es nun. Von den sich Entfernenden konnte Söder nur noch unbestimmte Schatten erkennen. Rasch verklangen die Schritte, und der Kapitän war allein. Er lauschte. Wasserplätschern –? Ja; dicht neben ihm. Da war eine hölzerne Wand. Dahinter mußte Wasser sein. Die Themse.

Hin und wieder kam auch Schiffsschraubengeräusch, das Rattern eines Motorbootes, oder klatschende Ruderschläge. Knut Söder lag und horchte. Dachte dabei nach …

So war also der Hilferuf jener Frauensperson fingiert zu dem Zweck, ihn in den Schuppen zu locken … Inzwischen war nun der Zug nach Southhampton längst abgefahren. Burne und Türck würden schön warten. Der Detektiv hatte sich Söder auf dieser zweiten Fahrt angeschlossen, auf der die vorher bei mehreren Firmen in verschiedenen Städten bestellten Maschinenteile und sonstigen Metallgegenstände – zumeist aus Aluminium – abgeholt werden sollten.

Außerdem waren zur Entlastung Türcks von Dörcksen-Land noch die beiden Inder mitgenommen worden. Wochenlang waren sie in den großen Häfen Europas unterwegs, Wochenlang war alles gut gegangen. Und jetzt, da alles an Bord des „Delphin“ verstaut war, da er von Southhampton aus die Fahrt nach den Lakkadiven anzutreten gedachte, – jetzt lag er hier als Gefangener der anscheinend zum Äußersten entschlossenen Gegner! –

Hatte ihn da nicht etwas berührt? Vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung. Aber – das leise Pfeifen … Kein Zweifel, Ratten mußten in dem Schuppen sein! Kein Wunder gar. Ein Schuppen nahe der Themse. Eins der eklen Tiere wußte ihn wohl berührt haben.

Und jetzt, – ah, verdammte Bestie! Gerade über das Gesicht war ihm eine gelaufen! Ordentlich schwer hatte sie sich angefühlt. Mußte eine ganz große Wasserratte gewesen sein. Und da – schon wieder! Das war Söder denn doch zu viel. Er stieß einen Ruf aus. Da pfiff, raschelte, flüchtete es ringsum. Nun war wieder alles still.

Nicht lange. Dann begann das Kratzen, Pfeifen, Scharren von neuem. Noch einige Male verjagte Söder die widerlichen Tiere mit Rufen. Aber bald half das auch nichts mehr. Sie hatten wohl gemerkt, daß der Mensch, der da lag, nichts weiter tun konnte, als rufen. Sie sprangen um ihn und auf ihm herum, liefen fortwährend über sein Gesicht. Trotz allen Schreiens.

Ein Gutes hatte die Sache doch. Der Kapitän kam dadurch auf den Gedanken, daß er wohl des Gebrauchs seiner Glieder beraubt war, doch nicht des Gebrauchs seiner Stimme. Und nun rief er mehrere Male so laut er konnte. Vielleicht, daß draußen jemand die Rufe vernahm.

Er wartete … Vergeblich. Niemand kam. Es war ja Nacht und der Schuppen möglicherweise, ja, wahrscheinlich sehr abgelegen. Trügerische Hoffnung! Die wohllöbliche Kommission hatte schon vorgesorgt, daß ihm auf diese Weise Befreiung von außen her nicht werden konnte.

Allmählich wurde die Rattenplage unangenehm. Manchmal ließ sich eine direkt auf seinem Gesicht nieder. Setzte sich hin und begann, irgend einen stinkenden Abfall, den sie irgendwo aufgelesen haben mochte, zu verzehren. Gewiß, durch eine ruckartige Bewegung des Kopfes verscheuchte er sie; aber wie lange, – und die nächste kam. Es mußte in dem Schuppen von Ratten geradezu wimmeln.

Es sollte noch ärger kommen. Plötzlich stieß der Kapitän einen Schmerzensruf aus. Eine Ratte hatte ihn in die Hand gebissen! Und er – konnte sich nicht rühren, konnte sich nicht wehren! Mit aller Deutlichkeit kam ihm jetzt die teuflische Scheußlichkeit seines Gefängnisses zum Bewußtsein. War es doch schon oft vorgekommen, daß Ratten Menschen, die durch irgend einen Umstand wehrlos geworden waren, angefallen und bei lebendigem Leibe langsam aufgefressen hatten. Ein gräßlicher Tod!

Und der sollte ihm jetzt auch bevorstehen? Nein, das wohl nicht. Ihn zu töten, lag nicht in der Absicht jener Männer. Nur Verrat erpressen wollten sie. Das würde Ihnen jedoch trotz allem nicht gelingen. Da kannten sie Kapitän Knut Söder denn doch schlecht.

Allerdings – die andere Seite der Sache war grauenvoll. Selbst wenn es nicht dazu kam, daß die Ratten ihn töteten, – schon ein Biß konnte ihn mit einer Krankheit infizieren oder Blutvergiftung hervorrufen, da die Ratten oft an verwesendem Getier fraßen …

Wenig erfreuliche Aussichten! Und der „Delphin“? Würden Türck und Burne ihn suchen? Wo hätten sie da wohl beginnen sollen?! Nein, das wäre zwecklos gewesen. In dem ungeheuren London verlor sich jede Spur. Nein, sie würden noch eine Zeitlang warten und dann ohne ihn nach den Lakkadiven fahren.

Wenn die „Kommission“ bis dahin das Schiff nicht längst beschlagnahmt hatte. Auch das war möglich. Wenn man Söder in London aufgefunden hatte, – war es da nicht denkbar, daß man ihm schon von Southhampton aus gefolgt war? Beschlagnahme des „Delphin“ – das erschien dem Kapitän als das Schlimmste. Saß er gefangen, das war kaum von Belang. Verraten würde er nichts. Aber wenn das Schiff mit den Materialien Dörcksen-Land nicht erreichte, dann war des Erfinders großer Plan auf unabsehbare Zeit undurchführbar und auf die Art die ganze Olympia-Sache schwer geschädigt.

So dachte Söder. Denn seit Harald Dörcksen ihn völlig eingeweiht, seit er von Hella und Mahadur Mirat noch mehr über die Wolkenkönigin, ihr Reich und ihre Ziele für die ganze Menschheit erfahren hatte, war er ein begeisterter Anhänger der Bewegung geworden. –

Nahten da nicht Schritte? Der Kapitän lauschte. Er hatte sich nicht getäuscht. Dann wurde irgendwo eine Tür aufgeschlossen. Laternenschein fiel in den Raum. Die Ratten huschten blitzschnell davon.

Drei Männer, wieder vermummt, traten zu Knut Söder heran.

„Nun, wie denken Sie jetzt über die Angelegenheit. Haben die Ratten Sie eines anderen belehrt?“

„Ja,“ gab der Kapitän zurück, „die Ratten haben mir bewiesen, daß ich es hier mit dem Auswurf der Menschheit, mit gemeinen Verbrechern zu tun habe.“

Der Sprecher lachte auf. Es klang gepreßt.

„Da sind Sie aber doch auf dem Holzweg. Wir sind Staatsbeamte von Rang, – die –“

„Das schließt ja nicht aus, daß Sie dennoch gemeine Verbrecher sind, – moralisch,“ unterbrach ihn Söder. Darauf ging der anderen nicht weiter ein, sondern fuhr fort:

„Wenn Sie jetzt noch nicht gewillt sein sollten, uns alles, was Sie über die Sache der sogenannten Wolkenkönigin wissen, ausführlich mitzuteilen, dann werden wir erst nach einiger Zeit wiederkommen, Sie zu fragen, – wenn die Ratten Sie schon ein Stück weit angefressen haben. Nun, was meinem Sie dazu?“

„Ich meine, daß Sie sich zum Teufel scheren mögen! Von mir erfahren Sie nie etwas, nicht die geringste Kleinigkeit! Nie!“

„Sie beharren immer noch auf Ihrer Starrköpfigkeit?“

Da Söder nichts erwiderte.

„Gut. Dann gehen wir!“

Damit wandten sich die Drei um, verließen den Raum und schlossen die Tür von draußen ab. Dunkel war es wieder. Und schon fing es abermals an zu rascheln und zu pfeifen. Die Ratten! Sollte das Gräßliche wirklich geschehen? Sollte Söder bei lebendigem Leibe angefressen werden?! Er riß, ruckte und zog an den Fesseln. Umsonst. Sie lockerten sich nicht. Waren allzu sachkundig gebunden.

Nach der Störung, ließen die widerwärtigen Tiere sich zunächst durch Rufe noch verscheuchen. Aber erneut dauerte es nur eine kurze Spanne Zeit. Dann hatten sie ihre alte Dreistigkeit wieder erlangt. Und – da – biß auch schon wieder eine Ratte in seine Hand!

Doch – was war das –? Da machte sich ja jemand an dem Schloß der Tür zu schaffen, durch die vorhin die Drei gekommen waren … Kamen sie schon wieder? Hatten sie neue Martern für ihn ausgedacht? Jemand trat ein. Der Schein einer elektrischen Taschenlampe blitzte auf. Schritte … Dann eine Stimme:

„Gottlob, da sind Sie!“

Die Stimme Burnes! Was nun kam, ging schnell. Im Nu war Söder von den Stricken befreit. Stand auf, dehnte die steifgewordenen Glieder. Dann gingen sie durch die Tür in den Nebenschuppen und von da hinaus in eine abgelegene Hafenstraße.

Burne hatte in Southhampton, während der Kapitän sich entfernte, jenen Hafenarbeiter beobachtet, der Söder dann gefolgt war. Des Detektivs geübter Spürsinn hatte sofort Verdächtiges gewittert. Und kurz entschlossen teilte er Türck seine Absicht rasch mit und folgte dann seinerseits den Beiden. Er blieb dauernd hinter ihnen. Auch von dem Überfall auf Söder in London wußte er. Hatte nur da noch keine Gelegenheit zum Eingreifen. Die sollte ihm überhaupt erst viel später kommen.

Doch es gelang ihm, die Spur des Kapitäns und seiner Gegner immer im Auge zu behalten. Am schwierigsten gestaltete sich die Verfolgung der Motorbootfahrt jener. Aber Burne hatte nicht umsonst als der genialste Detektiv Indiens gegolten. Die in dem Motorboot ahnten nicht, daß sie noch einen Mann an einem Tauende im Wasser mitschleppten … Am Tag wäre dies tollkühne Wagstück des Detektivs wohl kaum unbemerkt geblieben. Im Dunkel des Abends gelang es.

Das alles erzählte Burne dem Kapitän, während sie eilig ausschritten. Bald mußte der Morgen grauen.

„Die Eisenbahn benutzen, lohnt nicht,“ meinte der Detektiv. „Wer weiß, ob Ihre Flucht nicht bereits entdeckt worden ist. Dann sind zweifellos auch die Bahnhöfe alarmiert und wir wären sofort wieder in den Händen der Häscher, wenn wir die Eisenbahn benutzen wollen. Nach Southhampton aber müssen wir so schnell als möglich, wenn uns der „Delphin“ nicht doch noch verloren gehen soll. Es bleibt uns nichts anderes übrig, – hier hilft nur Gewalt.“

„Hm, wie verstehe ich das? Wie sollen wir –?“

„Kommen Sie nur. Ich habe schon meinen Plan,“ antwortete Burne. Der Kapitän wußte, daß Burne London wie seine Westentasche kannte. Er überließ sich auch sonst gern den Entschlüssen des erprobten Detektivs. So schritten denn die Beiden rasch aus …

 

2. Kapitel

Außer dem großen Hauptflughafen besaß London noch eine Anzahl Nebenflugstationen.

Noch kaum in ihren Umrissen erkennbar, lag einer dieser kleinen Startplätze im fahlen Grau des heraufsteigenden Tages. In einem Wellblechhäuschen, das wohnlich eingerichtet war, hatte ein Pilot Nachtwache.

Langsam begann die Dämmerung an Helligkeit zuzunehmen. Der Flieger schritt auf und ab in dem kleinen Raum. Noch zwei Stunden bis zur Ablösung … Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn sich umdrehen. Da – standen zwei unbekannte Männer vor ihm mit drohend vorgehaltenen Revolvern! Von denen einer nun sagte:

„Wieviel flugbereite Maschinen befinden sich zur Zeit auf der Station?“

„Nur eins.“

„Startbereit?“

„Ja.

„Dann vorwärts!“

„Was, – ich soll –?“

„Ja, Sie sollen uns sofort nach Southhampton bringen. – Sofort!“

„Aber – das ist ja unerhört. Das geht gar nicht!“

„Keine langen Redereien! Alles geht. Schnell, wir haben keine Zeit übrig!“

Was blieb dem Piloten übrig, als zu gehorchen? Die Revolvermündungen redeten eine deutliche Sprache. Die Beiden – Knut Söder und Burne – zwangen ihn, die Maschine startbereit zu machen. Burne setzte sich neben den Flieger. Söder nahm hinten Platz. Dann ging’s los.

Der Flug bis Southhampton dauerte nicht lange und ging glatt von statten. Natürlich durfte der Pilot nicht auf dem als Flughafen eingerichteten Feld bei Southhampton niedergehen, sondern mußte auf Rasenfläche in unmittelbarer Nähe der Stadt landen. Burne und Söder stiegen aus.

„So,“ sagte der Kapitän, „Sie fliegen jetzt unverzüglich nach London zurück. Sie können dort getrost alles erzählen, so wie es sich wirklich zugetragen hat. Und hier – für Ihre unfreiwillige Mühe.“

Damit reichte er dem ob der für ihn so angenehmen Wendung Überraschten eine Zwanzigpfundnote.

„Hoffentlich hat der arme Teufel in London keine ernstlichen Schwierigkeiten wegen dieser Exkursion,“ meinte er nachher.

„Das glaube ich kaum. Ein Überfall, – das ist doch nicht etwas gar so Seltenes, daß man ihm nicht glauben sollte. Außerdem wird Ihr Entweichen bald genug herauskommen. Man wird sich seinen Vers darauf machen. Wenn wir jetzt auch Zwei waren.. Aber ausgerechnet Southhampton – ja, die Sache ließ sich nun einmal nicht anders machen, als mit Gewalt, wenn wir nicht selbst festgehalten werden wollten.“

Schnellen Schrittes eilten sie dem Hafen zu. Eine unbestimmte Spannung, für die sie keinen Ausdruck fanden, lag in ihnen. Rascher und rascher schritten sie aus.

Endlich! Dort leuchtete schon das Wasser des Hafens, von der Morgensonne durchglitzert. Noch schneller schritten sie aus, liefen fast, bogen um die Ecke, kurz vor dem Kai … Da lag der „Delphin“ in strahlender Weiße.

Sie klommen das Fallreep empor. Nur die beiden Inder waren an Bord.

„Wo ist Türck?“ fragte der Kapitän.

„In der Stadt,“ lautete die Antwort, „Besorgungen machen.“

Warten also. Die Unruhe Söders wuchs. Und auch Burne zeigte sich nervös, – ganz gegen seine sonstige Art. Sie hätten auslaufen können, wenn Türck an Bord gewesen wäre. Ah, dort kam er! Er lief die Hafenstraße hinab zum Kai. Wahrhaftig, er lief! Mit größter Spannung sahen Burne und Söder ihm entgegen.

Nun hatte Türck das Schiff fast erreicht. Winkte schon vorher; rief:

„Fallreep hoch!“

Schoß dann wie eine Kugel selbst empor und – warf sich oben lang auf Deck hin. Er keuchte vor Erschöpfung:

„Gottlob, daß Se da sinn, Käpt’n! Durch Bestechung erfuhr ich alls. Von einem Angestellten des Telegraphenamtes. Aber nu – sinn se hinner mir her. Funkspruch von London. Wir solln verhaftet, der „Delphin“ beschlagnahmt werden!“

„Ah, dachte ich mir! Vorwärts also! Fallreep auf! Sie sollen uns nicht kriegen!“

Die Inder arbeiteten. Söder selbst eilte in das Steuerhaus. Einige Hebelschaltungen, – das Schiff fuhr an. Schneller und schneller. Natürlich mußte, so lange der „Delphin“ sich noch im Binnenhafen befand, die Fahrtgeschwindigkeit in gewissen Grenzen gehalten werden wegen der verhältnismäßig engen Fahrstraße.

Türck hatte sich inzwischen wieder erholt. Kam jetzt in das Steuerhaus und löste den Kapitän in der Bedienung der Motoren ab. Nicht weit mehr, und das Schiff hatte den Außenhafen erreicht und damit die freie Ausfahrt ins Meer. Da stieß Söder einen kräftigen Seemannsfluch aus. Seine scharfen Augen hatten etwas entdeckt …

„Diese verfl… Bande!“ wetterte er. „Haben die Hunde doch die Ausfahrt gesperrt!“

Wirklich! Am Ausgang des Binnenhafens war eine Stahltrosse quer über das Fahrwasser gespannt! Kein Zweifel, das galt dem „Delphin“! Söder und sein Schiff sollten hier festgehalten werden! Der aber lachte nur grimmig. Eine wilde Entschlossenheit prägte sich auf seinen Zügen aus.

„Mich fangen?“ rief er. „Ah, die Bande soll Kapitän Söder und seinen „Delphin“ kennen lernen! Vorwärts, Türck, volle Kraft voraus! Wir brechen durch!“

Mächtig schäumte gleich darauf das Wasser am Heck des Schiffes auf. Der „Delphin“ schoß vorwärts. Schneller und schneller. Voll Spannung beobachtete Burne das Ganze. Volle Kraft. Der „Delphin“ flog durch die Flut. Jetzt war er an der Stahltrosse, – jetzt mußte der Anprall erfolgen. Da – ein lauter Knall – und rechts und links flogen die Enden des Stahlseils in die Höhe. Es war glatt gesprengt!

Und rauschend schoß der „Delphin“ hinaus, dem freien Meer zu.

 

3. Kapitel

„Ich glaube nie und nimmer daran! Ellen Crosterbroux ist auf keinen Fall dort auf der Insel geblieben,“ erklärte Mewius, – im Lauf der Zeit nun schon zum zwanzigsten Mal. Harry Leakwoord hob die Achseln und entgegnete ärgerlich:

„Und wenn nicht, was nützt uns das? Fort ist sie. Ihr Einfluß hat also doch nicht vorgehalten.“

„Mein Einfluß hat bestimmt vorgehalten. Doch eben nur auf seinem Gebiet.“

„Nun, und –? Das ist ja alles gleichgültig. Hauptsache bleibt: Ellen Crosterbroux, unsere Geldquelle, hat uns verlassen. Was wir noch haben, ist bald alle. Was dann? Gewiß, Sie können wieder Experimentalabende veranstalten und reiche Besucher dabei im Schutz der Dunkelheit erleichtern. Ich könnte Ihnen dabei eventuell behilflich sein. Aber – die Sache ist gefährlich. Und jene Erwerbsquelle war so schön sicher …“

„Allerdings, aber was hilft das Lamentieren? Nichts. Wir müssen Ellen Crosterbroux finden. Das ist es. Haben wir sie erst wieder, dann fließt auch der goldene Strom weiter.“

„Ja, wenn – aber wie Auffinden? Zwei Möglichkeiten gibt es eigentlich nur: daß sie erstens auf jenem Felseneiland geblieben ist. In dem Fall dürfte sie kaum mehr am Leben sein, also uns auch nichts mehr nützten können. Oder aber, sie hat sich an Bord des „Delphin“ geschlichen, um dem Radscha nahe zu sein. In diesem Fall dürfte sie sich jetzt auf jener Koralleninsel der Lakkadiven befinden, die Dörcksen und seine Anhänger als die ihre betrachten. Ach, es war ein verwünschtes Pech, daß Sie das Weibsbild entwischen ließen!“

„Ich –? Nein, Verehrtester, Sie sind an diesem Mißgeschick ebenso schuldig, wie ich. Mindestens!“

„Nun schön, gut, wir wollen uns jetzt nicht darüber streiten, auf wessen Seite dabei die größere Schuld lag. Dadurch wird das Geschehene nicht mehr geändert.“

Solche Wortgeplänkel füllten seit dem mißglückten Überfall oft die Tage Harry Leakwoords und Heinz Mewius’ aus. Und währenddem ging das Geld, das sie noch besaßen, mehr und mehr zur Neige. Zwar – Heinz Mewius besaß noch ein früher gestohlenes Schmuckstück. Aber davon sagte er seinem neuen Komplizen nichts. Das behielt er als letzte Reserve für sich zurück. –

Jetzt war er wieder einmal ausgegangen. Trieb sich in den Straßen Kalkuttas herum; Harry Leakwoord wußte nicht, wo. Er erfuhr von Mewius auch nichts Genaues darüber. Diese „Spaziergänge“ beunruhigten Leakwoord jedesmal. Was mochte Mewius Geheimes treiben? Leakwoord war mißtrauisch gegen Mewius. Gauner unter sich …

Er lag auf der Veranda des kleinen Hauses, in dem sie Quartier genommen hatten, rauchte und grübelte über das alte Problem nach: Wie komme ich rasch und möglichst mühelos zu viel Geld? Ellen Crosterbroux war fort. Vielleicht unerreichbar. Dörcksen vorläufig auch erledigt. Das war eine kleine Genugtuung. Jene Schlucht inmitten der gigantischen, senkrechten Felsmauern war unzugänglich. Das hatte er genau erforscht. Da lag die Ledertasche mit den Berechnungen und Zeichnungen gut. Da mochte sie bleiben. Ohne jene Papiere, vermutete Leakwoord nicht zu Unrecht, war dem Erfinder die Ausführung seines Planes einstweilen unmöglich geworden.

Die Olympiaaffäre –! Das war immer noch ein Problem, über das er oft nachgrübelte. Man hörte viel davon. Allerlei Gerüchte, auch manches Tatsächliche. Alles aber beleuchtete die Sache von der religiösen oder gar politischen Seite. Beides interessierte Harry Leakwoord wenig.

Er dachte immer wieder an die zwei Goldbarren, die Harald Dörcksen seinem Vater damals gegeben hatte. Nein, für Harry Leakwoord stand, daß der eigentliche Hintergrund der Olympiaaffäre ein ganz anderer war, als Religion und Politik, und stärker als beide: Gold.

Er selbst hatte durch das Hinabschleudern der Tasche mit den Zeichnungen Harald Dörcksen die Ausführung seines weiteren Planes zunächst unmöglich gemacht. Und er bereute das auch keinesfalls, – wenn es auch nur eine Tat des Affekts gewesen war. Aber er konnte es sich auch nicht verhehlen, daß dadurch auf unabsehbare Zeit die ganze Angelegenheit zum Stillstand gekommen sei.

Seinem Kumpan Mewius hatte er all diese letzten Zusammenhänge nicht mitgeteilt, war sich nicht klar, ob das überhaupt ratsam sei. Jedenfalls wollte er ihn nur dann davon völlig in seine Hoffnungen, Pläne und Absichten einweihen, wenn es ihm unvermeidlich und dienlich schien. Der Zeitpunkt war bisher noch nicht gekommen. –

Heinz Mewius kam zurück. Er schwenkte schon aus der Ferne ein Zeitungsblatt; rief, als er angelangt war:

„Ich hab’s! Hier steht wieder allerlei über und gegen die Olympiabewegung in der Zeitung. Und nun habe ich –“ hier dämpfte er die Stimme, als fürchte er Lauscher, kam ganz nahe an Harry Leakwoord heran, „habe ich mich mit der hiesigen Regierung in Verbindung gesetzt. Wir – Sie und ich – das heißt, eigentlich nur Sie; aber das macht ja nichts – wissen doch die Lage jener Insel, auf der die Olympialeute hausen. Nun, das habe ich der britischen Regierung so mit Vorsicht angedeutet und – Erfolg gehabt! Die Regierung ist bereit, uns eine fürstliche Belohnung zu zahlen, wenn wir ihr die Lage jener Insel verraten!“

„Sie sind ein fürstlicher Dummkopf, Mewius!“ rief Harry Leakwoord aufspringend. Der andere sah ihn verdutzt an.

„Wieso denn das –?“

„Weil es selbstverständlich ist, daß, wenn Sie erst einmal der Regierung zu wissen gegeben haben, daß Sie vom Aufenthalt Dörcksens etwas wissen, wir sofort als verdächtig beobachtet und eventuell gezwungen werden, auch ohne Belohnung Aussagen zu machen.“

„Sie sehen zu schwarz, Leakwoord. Vor allem, die Regierung weiß ja nichts von uns. Keinen Namen, keine Adresse …“

„Ach, Sie naive Seele! Meinen Sie, in solch einem Fall säße Ihnen nicht sofort ein Spion auf den Fersen? Sehen Sie – da drüben? Da lungert schon so ein verdächtiges Individuum herum. Ich möchte wetten, daß –“

Er brach ab. Mewius schaute nach dem – vielleicht ganz harmlosen – Menschen hinüber. Wirklich – er nickte betrübt! Leakwoord lachte innerlich. Er hatte seine eigenen Worte gar nicht so ernst genommen. Wollte Mewius nur ein wenig „ducken“. Er merkte, daß es ihm gelungen, war zufrieden und fuhr nun fort:

„Nein, aber ich habe noch ganz anderes vor, wobei viel mehr herauskommen kann, als eine schäbige Belohnung der Regierung. So viel, daß wir beide für alle Zeit genug haben.“

Mewius’ Augen leuchteten habgierig auf.

„Und das wäre?“ forschte er.

Leakwoord sagte:

„Hinter der Olympiasache steckt – was Dörcksen und seine Anhänger anbelangt – etwas ganz Besonderes. Jenes geheimnisvolle Land, das da hinter Schnee- und Eisregionen ganz hoch oben auf dem Himalaya liegen soll – und wohl auch liegt – muß irgendwie ungeheure Schätze bergen. Eine Goldquelle, oder so etwas. Harald Dörcksen macht Anstrengungen, wieder dorthin zu gelangen. Die Pläne und Zeichnungen, die ich ihm raubte, waren die Unterlagen für ein neuartiges Flugschiff von höchster Leistungsfähigkeit. Damit wollen er und seine Getreuen nach Olympia fahren. Die Zeichnungen sind verloren. Nun wohl, Dörcksen wird neue anfertigen. Wir gewinnen dadurch Zeit. Die Insel der britischen Regierung verraten? Nie und nimmer! Mag Harald Dörcksen ruhig sein neues Flugschiff bauen und die Fahrt antreten. Wir aber – werden diese Fahrt dann mitmachen!“

„Ah; aber wie wollen Sie das bewerkstelligen?“

„Ich habe bereits meinen bestimmten Plan. Passen Sie auf.“

Und dann begann Harry Leakwoord dem Komplizen auseinanderzusetzen, was er vorhatte.

 

4. Kapitel

Er brauchte ziemlich lange Zeit dazu. Mewius bekam nun so ziemlich alles zu hören, was Leakwoord wußte. Und der Plan des Abenteurers … er mußte glänzend sein; denn immer mehr leuchteten Mewius’ Augen auf. Spät endlich trennten sie sich, um sich, jeder in seinem Zimmer zur Ruhe zu begeben.

Doch Harry Leakwoord ging noch nicht zu Bett. Nach einiger Zeit verließ er den Raum und das Haus. Mewius brauchte nicht wissen, daß er noch erheblich mehr Geld besaß, als er ihm erzählt hatte. Während jener wieder den gestohlenen Schmuck Harry Leakwoord verheimlichte. Gauner unter sich …!

Kalkutta bot viele Abwechslungen und Zerstreuungen. Und Harry Leakwoord wußte eine besonders schöne Stelle, wo es alles gab. Musik, Wein, Opium und schöne Mädchen …

Dahin wollte er auch jetzt wieder seine Schritte lenken. Die Uhr ging auf elf. Gerade die richtige Zeit für kleine Abenteuer dieser Art. Rasch schritt er aus ohne sich ein einziges Mal umzusehen. So ahnte er auch nicht, daß eine dunkle Gestalt ihm von dem Haus, in dem er mit Mewius wohnte, an nachschlich …

Gegen Morgen erst kam Harry Leakwoord heim. Schlief dann bis weit in den Tag hinein. Um Mewius kümmerte er sich nicht. Und der – ließ ihn auch in Ruhe. Es war schon Abend, als sie wieder zusammenkamen und weiter über Leakwoords Plan redeten. Die Ausführung wurde indessen für sobald noch nicht in Aussicht genommen.

Und am nächsten Abend, wieder kurz vor elf Uhr, entfernte sich Harry abermals heimlich aus dem Haus. Und wieder schlich ihm eine dunkle Gestalt nach. Aber auch diesmal merkte der Verfolgte nichts.

In einer engen Gasse betrat Leakwoord endlich nach ziemlich langer Wanderung durch die Straßen der großen Stadt einen nur spärlich erhellten Hauseingang. Passierte einen langen, schmalen Gang, an dessen Ende hinter einem Seidenvorhang Stimmen und gedämpfte Musik laut wurden. Er schlug das schwere Tuch zur Seite, – trat ein.

Eine Wolke süßlichen Qualms schlug ihm entgegen. Nur undeutlich waren bei dem mangelhaften Licht der bunten Ampeln Menschen und Dinge erkennbar. Ein bewegtes Bild. Matrosen aller Nationen, auch Zivilisten, dazwischen schlanke, braune Tanzmädchen, – und alle Paare und Gruppen in mehr oder minder intimen Situationen. Eine eintönige, doch sehr rhythmische Musik, die ganz wundersam zu der Umgebung hier paßte, klang leise aus dem Dunkel des Hintergrunds.

Harry Leakwoord schien all dies nichts Neues. Ohne sich besonders achtsam in dem Raum umzusehen, schritt er weiter und durch einen anderen Ausgang in ein zweites, kleineres Gemach. Da trat ihm der Wirt des Lokals entgegen, begrüßte den offenbar schon bekannten Gast kriechend unterwürfig und flüsterte ihm, ganz nahe an ihn herantretend, leise zu:

„Heute habe ich ganz etwas Auserlesenes für Sie, Mister!“

„So, – wird was Rechtes sein, – in dieser Bude!“ entgegnete Harry Leakwoord. Doch der Wirt schlug sich beteuernd auf die Brust.

„Sie werden sehen, Mister, daß ich nicht zu viel gesagt habe. Etwas Auserlesenes. Eine weiße Blume …“

„Eine weiße Blume –? Allright, her mit ihr!“

„Noch schläft sie –“ antwortete der Wirt mit geheimnisvoller Miene.

„Schläft –?“

„Ja, – dort hinten.“

Ah, – Leakwoord machte ein etwas enttäuschtes Gesicht. „Dort hinten“ – das war der Raum für die Opiumraucher. Eine Weiße, die dort lag und einen Opiumrausch ausschlief, – das konnte kaum etwas Reizvolles sein. Der Wirt deutete nochmals nach hinten.

„Sie ist allein,“ sagte er bedeutungsvoll. Blieb aber dabei vor Leakwoord stehen, so daß der nicht vorüber konnte. Er verstand. Steckte dem Wirt einen Geldschein zu, worauf der sich dienernd entfernte.

Harry Leakwoord trat ein in den Opiumraum. Stärker lag hier der süßliche Dunst in der Luft. Eine blaue Ampel verbreitete magisches Licht. Ringsum an den Wänden standen Ruhebetten, jetzt mit einer Ausnahme sämtlich leer. Darauf lag eine weibliche Person in europäischer Kleidung. Wahrlich, ein seltsamer und seltener Anblick in dieser Umgebung! Nun doch gespannt trat Harry Leakwoord näher.

Erstaunen malte sich in seinen Zügen. Diese Frau war schön! Nichts von Verkommenheit. Ein reines, edles Profil. Kopfschüttelnd richtete sich Leakwoord, der sich über die Schlafende gebeugt hatte, wieder auf. Dieses fremde Weib interessierte ihn … Jetzt bewegte sie sich ein wenig, griff einmal mit der Rechten durch die Luft, während die Linke, herabgesunken, noch die kleine Opiumpfeife hielt. Dabei formten ihre Lippen leise Worte.

Leakwoord horchte auf. Stand still … lauschte … Was war das? Was hatte die Fremde da soeben gesagt? Hatte er recht gehört? Ja! Noch einmal murmelte die Schlafende dieselben Worte:

„Das Land – der Wolkenkönigin … Nein, Ihr werdet den Weg nie erfahren! Nie! Ich sage ihn nicht! … Der Elfenbeinstern ist …“

Hier gingen die Worte in undeutliches Murmeln über. Harry Leakwoord verstand nichts mehr, so lange er auch noch lauschte. Aber was er gehört, hatte ihn erregt. Vom Land der Wolkenkönigin hatte die Fremde gesprochen; von einem Weg dorthin … Wußte sie einen? Es schien so. Auch von dem Elfenbeinstern hatte sie gesprochen.

Einen heißen Tanz führten die Fragen in Harry Leakwoords Hirn auf, während er regungslos die Schlafende beobachtete. Sie zeigte allmählich jene Unruhe, die dem Erwachen vorausgeht, und wirklich schlug sie bald danach die Augen auf. Blickte um sich, als müsse sie sich besinnen, wo sie war; sah Leakwoord und fuhr mit einem leisen Schrei empor.

„Erschrecken Sie nicht, Miß,“ sagte Leakwoord. Und dann – da der Wirt ihn speziell auf die Fremde aufmerksam gemacht hatte – lud er sie ein, eine Flasche Wein mit ihm zu trinken. Sie sagte mit großer Selbstverständlichkeit zu. So, als hätte sie es gar nichts anderes erwartet.

Und dann, – dann wurde Harry Leakwoord sehr zärtlich, was die Fremde ihm durchaus nicht verwehrte … Dabei vergaß er aber doch nicht, geschickt auf die Wolkenkönigin zu sprechen zu kommen. Aber er erfuhr nicht viel. Der Wein und diese verlockende Frau hatten seine Sinne zu sehr gefangen genommen. Das war es. Daran lag es.

Als sie, Stunden später, sich trennten, versprachen sie einander fest, in der nächsten Nacht wieder hier zusammen zu kommen. Fünf Schläge gab Harry Leakwoords Repetieruhr an, als er wieder in seinem Zimmer anlangte.

Rasch kleidete er sich aus und legte sich zu Bett. Doch zum Einschlafen kam er trotz seiner Müdigkeit nicht. Allerlei Gedanken hielten ihn wach. Und dann, als nach etwa einer Stunde er endlich nahe daran war, einzuschlafen, da wurde heftig an seine Tür gepocht.

„Wer ist draußen?“ fragte er, ungehalten über die Störung. Aber da trat der Einlaßbegehrende, da Leakwoord vergessen hatte, die Tür abzuschließen, ohne weitere ins Zimmer. Zwei Herren folgten dem nacheinander. Einer hielt ihm eine Art Ausweis vor. Kriminalpolizei, politische Abteilung!

„Sind Sie Harry Leakwoord?“ fragte der mit dem Papier. Harry bejahte.

„Dann verhaftet ich Sie im Namen des Gesetzes!“

Leakwoord fuhr auf.

„Und warum das?“

„Das werden Sie bei der Vernehmung erfahren.“

Mit den Zähnen knirschend fügte sich Harry. Es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Wenig später ward er im Auto zum Hauptpolizeibüro gebracht. Dort harrte seiner eine doppelte Überraschung. Im Vorraum des Vernehmungszimmers saß, ebenfalls verhaftet, Heinz Mewius. Und als er nach geraumer Zeit das Vernehmungszimmer betreten mußte, – stand er plötzlich seiner schönen Fremden aus der Opiumhöhle von gestern gegenüber!

Keines Wortes mächtig, starrte er sie an, die ein klein wenig lächelte. Der Anfang der Vernehmung, die dann begann, verschaffte ihm gleich Klarheit über den Zusammenhang und die Art seines „galanten“ Abenteurers von gestern. Die Fremde war – Polizeispionin! Harry Leakwoord hatte geglaubt, sie auszuforschen; doch es war anders gewesen. In Wirklichkeit hatte sie aus ihm herausgebracht, was sie wissen wollte: daß Leakwoord Kenntnis hatte, wo Mahadur Mirat, Dörcksen und ihre Anhänger sich aufhielten.

Der Tatbestand war einfach genug. Und als Leakwoord Mewius in schwarzen Farben ausgemalt hatte, was für Folgen seine Unvorsichtigkeit haben könne, ahnte er nicht, daß es fast genau so kommen sollte. Wirklich war Mewius an jenem Tag von Gebäude der Regierung aus sofort verfolgt worden. Seitdem blieben er und Leakwoord unter ständiger Bewachung. Rasch waren ihre Lebensgewohnheiten ausgekundschaftet und Harry Leakwoord war es dann, der auf den Trick der schönen Detektivin hereinfiel.

Die Vernehmung dauerte nur wenige Minuten. Daß die Verhafteten mit der Olympiaaffäre in irgend einem Zusammenhang standen, galt als erwiesen; und es wurde Leakwoord und Mewius eröffnet, daß sie so lange in „Schutzhaft“ bleiben würden, bis sie den Aufenthalt Dörcksens und der anderen verrieten.

Als sie in ihre Zelle geführt wurden, hatte Leakwoord Gelegenheit, Mewius unbemerkt zuzuflüstern:

„Bleiben Sie dabei, daß Sie nichts wissen!“

Welchen Rat Mewius dann auch prompt befolgte. Zweimal täglich wurden die Verhafteten verhört. Das Resultat war stets dasselbe. Mewius beteuerte, nichts zu wissen. Leakwoord weigerte sich, etwas zu verraten. Nun, die politische Kriminalpolizei sagte sich, einmal würden die Vögel schon kirre werden.

Da kam eines Morgens eine bestürzende Nachricht. Der Wärter hatte morgens Harry Leakwoord tot in seiner Zelle aufgefunden! Lag Selbstmord vor? Sichtbar nicht. Der Polizeiarzt war ratlos. Er meinte, es läge vielleicht eine Vergiftung vor. Doch er ließ in seiner Diagnose – wie jeder vorsichtige Arzt – ein Hintertürchen offen.

Die Hauptsache blieb: Harry Leakwoord war tot, und die britische Regierung wieder einmal um eine Hoffnung ärmer.

Die Leiche Leakwoords wurde in einen besonderen Raum gebracht. Dort sollte sie an einem der nächsten Tage eingesargt und zur Beerdigung gebracht werden, da der Verstorbene keinerlei Angehörige besaß.

Und als wiederum ein Tag vergangen war, erlebte die politische Polizei noch eine unangenehme Überraschung. Inspektor Cumming, ihr Leiter, bekam früh morgens per Boten einen Brief In dem Kouvert befand sich ein Zettel. Darauf stand:

„Lassen Sie Heinz Mewius ruhig laufen. Er weiß wirklich nichts. Harry Leakwoord.“

Verständnislos schüttelte Cumming den Kopf. Harry Leakwoord –? Der war doch tot? Unheil ahnend, begab sich der Inspektor selbst nach der Halle, in der die Leiche lag. Da sah er die Bescherung. Ein Fenster war zerbrochen; der „Tote“ fort!

Cumming „raufte“ sich die Stelle, an der andere Leute das Haupthaar sitzen hatten. Er war außer sich. Wie war das nur möglich gewesen? Er hatte nicht übel Lust, den Polizeiarzt wegen des Verdachts der Mitwisserschaft verhaften zu lassen.

Dafür wurde Mewius noch einem besonders strengen Verhör unterzogen. Doch der machte, als er von den Ereignissen hörte, einen so erschrockenen und ratlosen Eindruck, daß Cumming selbst die Überzeugung gewann, Mewius wisse nichts. Tatsächlich ließ man ihn dann drei Tage später laufen.

Er kehrte in sein altes Zimmer zurück. Harry Leakwoord war dort nicht wieder aufgetaucht. Dennoch war Mewius überzeugt, daß es sich um einen raffinierten Trick seines „Partners“ handelte, und seine Achtung vor ihm stieg. Nun lebte er ruhig und unauffällig die Tage hin. Einmal, dachte er, würde Leakwoord schon melden. Daß er dabei mit größter Vorsicht zu Werke gehen mußte, war klar. Zweifellos beobachtete die Geheimpolizei ihn, Mewius, seit seiner Entlassung aus der Haft ständig.

Als aber Tag um Tag verging, ohne daß Leakwoord sich sehen oder hören ließ, wurde Mewius unruhig. Entweder ist das, sagte er sich, noch immer Vorsicht, oder er will mich auf diese Weise los sein. Der Gedanke, das Letztere könne zutreffen, verursachte ihm einiges Unbehagen. Hatte er doch längst eingesehen, daß Harry Leakwoord von einigen Geheimnissen wußte, die mehr als nur einträglich zu werden versprachen.

Und so erhielt er eines Tages eine Postkarte. Darauf nur wenige Worte:

„Der bestellte Anzug ist zur Anprobe bereit. Wollen Sie sich bitte morgen vormittag bei mir einfinden. Hochachtungsvoll – H.L. Gordon.“

Und auf der Adressenseite prangte oben links in der Ecke der Firmenstempel: H.L. Gordon, Schneidermeister. Natürlich kannte Mewius weder einen Schneidermeister Gordon, noch hatte er einen Anzug bestellt. Sofort kam er auf den Gedanken, dies könne ein Wink Harry Leakwoords sein. Und da fiel ihm auch auf: H.L. Gordon! Das H.L. vor dem Namen des angeblichen Schneidermeisters konnte sehr wohl Harry Leakwoord bedeuten. Der Firmenstempel –? Dergleichen war bequem in zwei Tagen beschafft.

So machte sich Mewius dann tags darauf auf den Weg nach der auf der Karte angegebenen Adresse. Absichtlich sah er sich unterwegs nicht um. Wenn er von der Geheimpolizei auch jetzt noch bespitzelt wurde, dann wußten die wahrscheinlich auch um die Karte. Wurde er noch „beschattet“, so hieße, sich umsehen eventuell nur, sich verdächtig machen.

Vor dem Haus des angeblichen Schneidermeisters angekommen, stiegen Mewius schon wieder Zweifel an der Richtigkeit seiner Vermutungen auf. Prangte da nämlich neben dem Hauseingang ein großes Pappschild mit dem Aufdruck der gleichen Schneiderfirma. Mewius klopfte. Ein altes, dürres Männlein öffnete.

„Ich komme wegen des Anzuges. Mein Name ist Mewius,“ sagte er. Der Alte sah ihn an, als verstände er nicht. Da reichte ihm Mewius die Postkarte hin. Das Männchen nickte nur, winkte, ihm zu folgen. In der Schneiderstube saß auf dem Tisch ein einäugiger, buckliger Geselle mit blauer Säufernase und nähte.

Als Mewius eintrat, sprang der Bucklige auf die Beine, nahm das Pflaster vom Auge und sagte:

„Da sind Sie ja.“

Es war Harry Leakwoord.

Den bestochenen Schneider schickte er hinaus und dann saßen die Beiden in eifrigem Gespräch zusammen. Zunächst berichtete Leakwoord, wie er seine Flucht bewerkstelligt hatte. Er hatte bei seinem jahrelangen Aufenthalt in Indien, dem Land der Wunder, allerlei Seltsames kennengelernt. So hatte er auch einmal von einem alten Inder ein Gift bekommen, das nicht tötete, sondern den, der es nahm, nur eine gewisse Anzahl von Stunden in einen todesähnlichen Starrkrampf versetzte.

Darauf hatte Harry Leakwoord seine Hoffnung gebaut. Und, wie man sah, war er nicht getäuscht worden. Der Polizeiarzt, dem dieses Gift unbekannt war, konstatierte Tod durch Herzschlag. Die „Leiche“ kam in die für dergleichen Zwecke bestimmte Halle. Dort erwachte Leakwoord dann in der Nacht darauf, schrieb den Brief, der Mewius’ Freilassung im Gefolge hatte, quartierte sich dann bei dem ihm von früher her bekannten Schneider in einer Verkleidung als Geselle ein, erkaufte mit einer nicht zu großen Summe Geldes dessen Schweigen und bewog ihn, die Karte an Mewius zu schreiben.“

Soweit war war sein Plan gelungen. Mewius hatte hinter dem harmlos klingenden Inhalt der Karte das Richtige vermutet und war gekommen. Jetzt saßen die beiden Ehrenmänner beisammen, und Leakwoord setzte dem Kumpan seinen neuesten Plan auseinander.

 

5. Kapitel

Auf Dörcksen-Land, dem Koralleneiland der Lakkadivengruppe, herrschte „stille Zeit“. Kapitän Söder war mit seinem „Delphin“, mit Türck, Burne und den beiden Indern an Bord, ausgefahren, um die für den Bau des neuen Flugschiffes erforderlichen Materialien zu holen. Einige Wochen – vier mindestens – würden darüber vergehen.

Stille Zeit auf Dörcksen-Land. Das hieß aber noch lange nicht Langeweile. Einmal waren die Menschen nicht danach, die hier weilten, – nur Mittelmäßige und Dumme langweilen sich – und außerdem hatte Söder einen Teil der Schiffsbibliothek des „Delphin“ auf der Insel zurückgelassen.

Im übrigen brachte jeder die Zeit auf seine Art zu. Professor Herbst hatte lange Gespräche mit Harald Dörcksen und Reverend Dixon. Gari Dingra hatte sich mit wahrem Lesehunger über die Bücher des Kapitäns hergemacht, „verschlang“ eins nach dem anderen und war für sonst nichts zu haben. Crosterbroux pendelte zwischen diesen beiden Dingen – Lesen und Unterhaltung – hin und her; trieb bald dies, bald jenes und war bei keinem so recht bei der Sache.

Oft unternahm er einsame Wanderungen am Strand der Insel, saß auf Felsblöcken am Wasser und starrte lange hinaus in die Ferne. Seit Ellen wieder auf der Insel war, bestand die trübe Stimmung des Platinkönigs. Er konnte die „Entgleisung“ seiner Tochter noch immer nicht verwinden.

Ellen selbst war ruhig geworden. Sie sprach fast nichts. Man behandelte sie nicht mehr wie eine Gefangene. Zumal sie ja auf der Insel nichts anrichten konnte. Nur nachts wurde sie in eine der Felsenkammern, die eine starke Holztür besaß, eingeschlossen. Das tat man hauptsächlich Hellas wegen, da schon die Nähe der „Nebenbuhlerin“ auf Ellen sichtlich schlechten Einfluß ausübte. In einem Punkt waren sich alle einig, daß das Verhalten, der verbrecherische Anschlag Ellens auf die Passagiere des „Delphin“ krankhafte, noch ungeklärte Ursachen haben mußte. –

Herrliche Tage verlebten Mahadur Mirat und Hella, Gari Dörcksen und Amara. War allen anderen auf der Insel diese Zeit der Ruhe vollauf zu gönnen, so den vier Liebenden ganz besonders. Gari und Amara, weil sie sich neu gefunden, – Mahadur Mirat und Hella weil widrige Schicksalswinde sie immer wieder voneinander getrennt hatten. Nun endlich waren sie beisammen, konnten sich ungefährdet und ungehindert dem Genuß ihres Glücks hingeben.

Sie kletterten auf den äußersten Ausläufern der Klippen herum; suchten lauschige Plätzchen. Da saßen sie dann, eng aneinandergeschmiegt, kosteten ihre Nähe und die herrliche Weite des Meeres voll aus. Aber die Insel war nicht allzu groß; manchmal geschah es, daß eins der jungen Paare aus der Ferne das andere oder den einsam wandelnden Crosterbroux sah. Dann flohen sie unter Scherzen. Sie wollten allein sein. Niemand verdachte ihnen das. –

Ein Zwischenfall ernsterer Art unterbrach diese einförmigen Ruhetage. Crosterbroux ging eines Tages, wie immer, allein spazieren. War über die Felsen des Außenriffs bis weit hinaus geklettert. Setzte sich dort auf einen nur wenig aus dem Wasser hervorragenden Block.

Das Wetter war schwül. Kein Lüftchen regte sich. Das Wasser lag wie flüssiges Blei. Es würde Gewitter geben. Schon war der Horizont dunkel verhangen.

Etwas bewegte sich in den Wellen. Dicht vor der Stelle, wo Crosterbroux saß. Ehe er noch dazu kam, es recht zu beachten, fuhr etwas Schattenhaftes aus dem Wasser. Schoß auf Crosterbroux zu. Er fühlte sich plötzlich umschlungen und mit ungeheurer Kraft zum Wasser gezogen.

Im Bruchteil einer Sekunde ward ihm klar, was da war. Ein Riesenkrake, einer jener kolossalen Polypen, mußte hier in einer Felsspalte dicht unter der Wasseroberfläche sitzen. Er hatte genug von diesen Meerungeheuern gehört und gelesen, wußte, was es bedeutete, von solch einem Riesentier, das in seinen bis sechs Meter langen Fangarmen kolossale Muskelkraft besaß, ergriffen zu werden.

Nicht einmal eine volle Sekunde brauchte Crosterbroux zu diesen Gedanken. Denn schon fuhren zwei, drei neue Fangarme aus dem Wasser und schlangen sich um ihn. Er – hielt sich an der Kante des Felsblocks, klammerte sich dort mit aller Kraft fest. Doch die Arme des Riesenpolypen umstrickten ihn dichter und dichter, preßten ihn zusammen, daß ihm der Atem auszugehen drohte.

Mehr und mehr schwand seine Widerstandskraft dahin. Nicht lange mehr, kaum noch Minuten, dann mußte er loslassen, der ungeheuren Kraft des Tieres nachgeben. Und dann, wußte er, war er unrettbar verloren.

Da raffte er seine ganze Kraft, die letzte, die er noch zur Verfügung hatte, zusammen. Es gelang ihm, die Beine einzuziehen, die Füße auf den Felsboden zu setzen. Und dann stemmte er sich mit aller Gewalt hoch. Es – gelang! Aus dem Wasser tauchte der scheußliche Kopf und dann der plumpe Leib des Tieres auf. Crosterbroux hatte den Polypen aus seiner Felsspalte gerissen!

Aber die Kraft des Tieres hatte darunter nicht gelitten. Im Gegenteil. Wütender denn zuvor, begann es, die Glieder seines Opfers zusammenzupressen. Da, in der höchsten Not fiel des Platinkönigs Blick auf einen Felsbrocken zu seinen Füßen. Er ließ sich zu Boden sinken, ergriff mit der Rechten den Felsbrocken, hieb dann mit dem scharfkantigen Stein auf den Kopf des Tieres ein. Wieder und immer wieder. Bis der nur noch eine unförmige Masse war und die Fangarme sich langsam vom Körper Crosterbroux’ lösten.

Da war aber auch des Platinkönigs letzte Kraft erschöpft. Bewußtlos sank er neben dem erschlagenen Meerestier um … Ein Windstoß fegte über die Wasserfläche. Meer und Himmel waren grau. Große Tropfen fielen. Der erste Blitz zuckte. Ein neuer Windstoß. Das Gewitter brach los. –

Auf der Insel hatte sich schon vor Ausbruch des Unwetters alles unter schützendem Dach eingefunden. Nur Thomas Crosterbroux nicht. Man vermißte ihn. Fragte herum; fand ihn nicht. Man ward unruhig. Schauerlich heulte der Sturm. Blitze zuckten häufiger schon und greller. Donner krachte Schlag auf Schlag.

Wo war Crosterbroux geblieben? Trotz des Regengusses, der soeben einsetzte, machten sich Mahadur Mirat und Gari Dingra auf, das Felsplateau zu erklimmen, um nach dem Platinkönig Ausschau zu halten. Sie nahmen Harald Dörcksens Fernglas mit.

Oben angelangt, bot sich ihnen ein grausig – schönes Bild. Das Meer sah dunkelgrau aus. Weiße Schaumkämme tanzten auf den von Minute zu Minute größer werdenden Wogen. Am Himmel wirbelte der Sturm wuchtige Wolkenmassen von gigantisch – phantastischen Formen durcheinander. Das sah aus, als kämpften dort oben vorsintflutliche Riesentiere in den Lüften.

Nun war es fast dunkel geworden. Nur Blitze erhellten wieder und wieder das Bild. Großartig war das, schaurig und schön. Mahadur Mirat äugte mit dem Fernglas ringsum. Mit einem Mal streckte er den Arm aus, – rief:

„Dort, dort unten auf der äußersten Klippenspitze –!“

Er reichte das Glas Gari Dingra. Und auch der erblickte das dunkle Etwas, das dort lag. Es sah einem menschlichen Körper ähnlich. Schon beleckten die ständig wachsenden Wogen hin und wieder den Körper.

„Es kann nur Crosterbroux sein,“ schrie Mahadur Mirat. „Ich werde hinaus, ihn holen. Wer weiß, was ihm zugestoßen sein mag. Jedenfalls muß ihm schnell Hilfe gebracht werden, sonst kommt er in Gefahr, von den Wogen fortgespült zu werden.“

Damit wollte er dem schmalen Weg zuschreiten, der steil nach der Mitte der Insel hin abwärts führte. Doch Gari Dingra hielt ihn kopfschüttelnd am Arm zurück.

„Nicht du, Mahadur Mirat,“ sagte er ruhig; „ich werde gehen.“

„Warum das?“

„Auf dich wartet jemand. Der Weg ist gefährlich bei dem Sturm. Ich bin allein. Wenn ich nicht zurückkomme –“

Er brach ab, wandte sich, lief schon … Der Radscha spähte aus nach den Klippen. Minuten später, die Mahadur Mirat endlos dünkten, tauchte Gari Dingra unten am Felsen auf. Und dann begann er seinen halsbrecherischen Weg.

Die Klippen wurden von den höhergehenden Wogen schon oft und öfter überspült. Aber mutig hastete Gari Dingra von Klippe zu Klippe; schwang sich von Block zu Block. Mahadur Mirat, auf dem Plateau, verfolgte mit Hilfe des Fernglases den tollkühnen Mann mit äußerster Spannung. Würde es ihm gelingen, bis zur Spitze der Reihe, bis zur ersten Klippe vorzudringen? Und – würde er zur Zeit kommen?

Noch wuchsen die Wogen. Wenn eine der Wellen, die jetzt schon ständig die Klippe, auf der Crosterbroux lag, überspülten, den Körper des Mannes mitriß, war der Platinkönig – falls er noch lebte – unrettbar verloren.

Gegen Sturm und Wasserschwall kämpfte Gari Dingra sich weiter und weiter. In Dunkel gehüllt; hin und wieder nur grell von Blitzen beleuchtet. Auf dem Plateau waren inzwischen nach und nach auch die anderen erschienen, die unten durch das lange Fernbleiben der Beiden beunruhigt worden waren. Selbst Hella und Amara waren nicht zurückgeblieben. Jetzt standen sie alle und beobachteten mit angehaltenem Atem das schwierige Rettungswerk Gari Dingras.

Bange, lange Minuten. Kriechend, dann wieder springend arbeitete der Kühne sich weiter. Mehrmals schien es, als sollte er der Wucht der gegen ihn andringenden Wassermassen erliegen.

Und dann, – dann hatte er den auf der Klippe Liegenden erreicht, hob ihn, lud ihn sich auf … und begann den fast noch schwierigeren Rückweg. Jetzt verließen Mahadur Mirat und Gari Dörcksen das Plateau, um hinunter zu steigen und dem Retter soweit wie möglich entgegenzueilen. Die oben Bleibenden harrten weiter in atemberaubender Spannung, was das Licht der niederzuckenden Blitze ihnen bot.

Aber – es gelang. Glücklich brachte Gari Dingra den bewußtlosen Crosterbroux aufs sichere Land. Und der atmete. Ganz schwach nur ging sein Puls. Die Bemühungen um ihn hatten bald Erfolg. Der Platinkönig schlug die Augen auf …

Er erholte sich schnell. Eine Stunde später wußten sie bereits alle, was sich dort auf der Klippe abgespielt hatte. Von dem Körper des toten Polypen hatte Gari Dingra bei seinem Rettungswerk nichts bemerkt. Der war wohl von den Wogen in das Meer zurückgerissen worden. –

Das Gewitter war vorüber. Der Sturm jedoch tobte mit noch gesteigerter Heftigkeit weiter. Die ganze Nacht hindurch. Morgens endlich legte er sich, wich schnell völliger Windstille. Aber die hochgehenden Wogen rollten noch geraume Zeit hinterher, brachen sich donnernd draußen an den Klippen, wo Thomas Crosterbroux seinen furchtbaren Kampf mit dem Riesenpolypen ausgefochten hatte.

Der Mensch war Sieger über das Tier geblieben. Der Sturm aber sollte für die Bewohner von Dörcksen-Land noch ein weiteres Abenteuer im Gefolge haben. Nicht eigentlich der Sturm. Nur für sie sah es so aus, als wäre er der Urheber gewesen.

 

6. Kapitel

Auch eins der vier großen Rettungsboote des „Delphin“ hatte Kapitän Söder denen auf der Insel für alle Fälle zurückgelassen. Daß sie davon in irgend einer Weise einmal Gebrauch machen konnten, sollten sie bald erfahren.

Der Sturmnacht folgte eine Reihe auserlesen schöner Tage. Etwa fünf waren seit jener Nacht verflossen, als Amara, die allein auf das Felsenplateau gestiegen war, in größter Eile zurückkam und erzählte, auf See sei ein primitives Floß zu sehen, auf dem zwei Menschen anscheinend Notsignale gaben. Genaueres habe sie nicht ausmachen können.

Gari Dörcksen, der sogleich mit seines Vaters Glas mit seines auf die Spitze geeilt war, kam schnell zurück und bestätigte Amaras Beobachtungen. Das Floß sei ein offenbar ganz flüchtig zusammengezimmertes Ding, sehe auch sehr mitgenommen aus, und die beiden darauf befindlichen Schiffbrüchigen machten ebenfalls einen sehr erschöpften Eindruck. Der eine von ihnen schien verwundet zu sein. Jedenfalls trug er einen großen Verband um den Kopf, der fast das ganze Gesicht verdeckte.

Daß sie Notsignale gaben, war unverkennbar. Offenbar waren sie durch erlittene Strapazen so erschöpft, daß sie nicht mehr imstande waren, ihr Floß vorwärts zu treiben.

„Wir müssen ihnen Hilfe bringen,“ sagte Harald Dörcksen und alle anderen stimmten ihm bei. So machte man sich denn daran, das Boot zu Wasser zu bringen. Es lag in einer schützenden Felshöhle unweit des Wassers, und knapp zwanzig Minuten später fuhren Gari Dörcksen, Mahadur Mirat und Professor Herbst ab.

Es dauerte nicht allzu lange, bis sie das Floß erreicht hatten. Wieder, wie damals während des Rettungswerks Gari Dingras auf den Klippen, standen die übrigen Bewohner von Dörcksen-Land auf dem Plateau und beobachteten. Nur daß diesmal keine Gefahr bei dem Unternehmen war.

Die beiden Schiffbrüchigen wurden in das Boot aufgenommen. Sie trugen je ein Handbündel mit ihren letzten Habseligkeiten mit sich. Das Floß ließ man einfach treiben. Und wenig später waren sie auf der Insel angelangt. Die beiden nannten sich Henry Wood und Jack Field. Sie gaben an, bei dem kolossalen Sturm, der in den letzten Tagen in diesen Gegenden geherrscht hatte, Schiffbruch erlitten zu haben. Alle Rettungsboote seien zertrümmert gewesen. Mit größter Mühe sei es ihnen gelungen, das primitive Floß zu zimmern, mit dem sie nun schon tagelang auf dem Ozean umhertrieben.

Henry Wood erzählte weiter, daß bei den Arbeiten bei dem ungestümen Seegang er gestürzt und auf der linken Gesichtshälfte verletzt worden sei. Deshalb trage er den Verband, der das linke Auge, die Stirn und auch einen Teil der unteren Gesichtshälfte verdeckte. Sie seien beide englische Seeleute und stammten von dem Frachtschiff „King Edward“, das von London nach Kalkutta unterwegs gewesen sei. –

„Ja, Sie müssen nun schon damit vorlieb nehmen, einige Zeit auf dieser Insel zu bleiben. Regelmäßiger Verkehr mit dem Festland besteht hier nicht; und bis der „Delphin“ unseres Kapitän Söder sie mal irgendwohin bringen kann, wird wohl noch einige Zeit vergehen,“ erklärte Harald Dörcksen.

„Ach, das macht nichts. Wir sind im Gegenteil sehr dankbar, daß wir hier bleiben dürfen,“ entgegnete Field. Und Wood setzte hinzu:

„Wir sind arme Schlucker; haben überdies bei dem Schiffbruch noch sämtliche Papiere verloren, so daß der Heuerbaas uns schwerlich eine neue Stellung auf einem Schiff nachweisen wird. Wir wollen gern hier bleiben und für die Herren arbeiten. Mehr als Kost und Logis verlangen wir nicht.“

„Nun gut,“ entgegnete Dörcksen, indem er an den bevorstehenden Bau des neuen Flugschiffes dachte, „Arbeit gibt es hier genug. Wenn Sie das wollen, mögen Sie einstweilen überhaupt in unsere Dienste treten.“

Damit waren die beiden Schiffbrüchigen sehr einverstanden. Sie bedankten sich mit vielen Worten. Dann wurde ihnen Unterkunft zugewiesen. –

Eigentlich mußte, nach Dörcksens Berechnung, Kapitän Söder mit seinem „Delphin“ bereits zurück sein. Doch ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß er eintraf. Vielleicht war er bei der Aufnahme der Maschinenteile aufgehalten worden. Aber – konnte nicht auch der Sturm dem Schiff etwas zugefügt haben?

Jedenfalls bemächtigte sich der auf Dörcksen-Land der Rückkehr des „Delphin“ Harrenden allmählich eine immer größere Unruhe. Wie, wenn er nicht käme –? Man hätte zur Not bei stillem Wetter das Festland auch mit Hilfe des großen Beibootes erreichen können. Aber – handelte es sich darum? Nein, ein Ausbleiben des „Delphin“ und seiner Ladung hätte ein für allemal die Ausführung des großen Plans unmöglich gemacht worden.

Also, Hoffen, Hoffen und noch einmal Hoffen. Weiter blieb den Menschen auf Dörcksen-Land nichts übrig.

Endlich, eines Morgens kam Gari Dingra von dem Felsplateau mit der Nachricht herabgeeilt, daß ein Schiff sich der Insel nähere. Sogleich erstiegen mehrere die Höhe. Das Fernrohr zeigte … Ja, es war der „Delphin“, der dort herankam!

Nicht lange und das Schiff lief in die kleine Bucht der Insel, in den von Korallenriffen gebildeten, natürlichen Hafen ein. Söder und Burne wurden stürmisch begrüßt. Der Kapitän schüttelte lachend alle Hände, die sich ihm entgegenstreckten.

„Ja, Freunde,“ rief er, „nach mannigfachen Abenteuern bin ich endlich wieder hier angelangt! Aber, was zum Bau des neuen Flugschiffes notwendig ist, habe ich an Bord..“ –

Das Schiff war – wenn auch etwas verspätet – angelangt. Das Material zum Bau des neuen Flugschiffes war da. Nun konnte es an die Arbeit gehen.

Mit regstem Interesse lauschten alle den Erzählungen Söders und Burnes von ihren Abenteuern in London und Southampton. So rigoros also begann man in England gegen die Olympia-Leute vorzugehen. Mit allen Mitteln wurden sie bekämpft. Wie Verbrecher. Nun, das Flugschiff würde gebaut werden, und war es erst einmal fertig, dann konnte man ihnen nichts mehr anhaben. Im Besitz der genialen Erfindung Dörcksens waren sie allen Gegnern überlegen. –

In der Haltung Ellen Crosterbroux’ hatte sich während der Zeit nicht viel geändert. Sie schien völlig apathisch, sprach nicht; aber sonst betätigte sie sich ganz normal. Kochte hin und wieder sogar das Essen. Man hatte versucht, ihr probeweise auch nachts die Freiheit zu lassen, – natürlich nicht, ohne sie zunächst heimlich zu überwachen. Es ging. Sie unternahm nichts, legte sich abends nieder und schlief bis zum Morgen durch. Da gab man dann auch die Bewachung auf.

Inzwischen schritten die Arbeiten zum Bau des neuen Flugschiffes rüstig voran. Wieder zeigte sich die erstaunliche Genialität des Erfinders. Die einzelnen Metallteile, nach Dörcksens Zeichnungen hergestellt, erleichterten, zusammengesetzt, den Fortschritt des Unternehmens ungemein. Dörcksen selbst legte, so oft es nötig war, mit Hand an. Im übrigen genügten Gari Dingra, Gari Dörcksen, Burne, die beiden Inder und die zwei Schiffbrüchigen vollauf. Was Menschenkraft nicht vermochte, besorgte die Elektrizität, die die von Dörcksen schon vor dem Bau der „Wolke“ hier aufgestellte Sonnenmaschine lieferte.

Warum Mahadur Mirat nicht unter den „Mitarbeitern“ war, hatte einen besonderen Grund. Bei einer Kletterpartie auf den Felsen der Insel war er gestürzt und hatte sich an der rechten Schulter verletzt. Nicht schwer; dennoch so, daß der Radscha den Arm für Wochen hinaus nicht würde gebrauchen können und zur Untätigkeit verband war.

Knut Söder plante indessen seine nächste Fahrt. Und da hatte Mahadur Mirat geäußert, daß er sie gern mitmachen würde, da er zur Zeit doch nicht helfen könne. Dörcksen war davon nicht begeistert, doch als auch Hella erklärte, daß es sie sehr freuen würde, mit ihm zusammen die Fahrt mitzumachen, ließ er sich umstimmen.

Und noch jemand schloß sich ihnen an: Thomas Crosterbroux. So stach denn einen Tag später der „Delphin“ mit Söder, Türck, Mahadur Mirat, Hella und Crosterbroux an Bord nach herzlichem Abschied von den Zurückbleibenden in See. Fünf bis sechs Wochen würde die Fahrt dauern, und bei ihrer Rückkehr wäre dann das neue Flugschiff der Vollendung nahe.

Glückwünsche und Abschiedsrufe hinüber und herüber … So glitt der „Delphin“ auf das tiefblaue Meer hinaus.

 

7. Kapitel

Keine Unterbrechung entstand; kein Zwischenfall geschah. Rüstig schritt das Werk vorwärts. Mit welcher Begeisterung alle dabei waren! Unermüdlich. Als wäre es die Sache jedes Einzelnen. Und – war es nicht auch so? Auch die beiden Schiffbrüchigen erwiesen sich als brauchbare Helfer.

Wie ein Rausch war die Begeisterung für das im Entstehen begriffene Werk über alle gekommen. Selbst Reverend Dixon, dessen Körperkonstitution ihn sonst für grobe Arbeit ungeeignet machte, ließ es sich nicht nehmen, mitzuhelfen, so gut es eben gehen wollte. Und auch Professor Herbst wurde von diesem allgemeinen Eifer angesteckt. Sein Buch, an dem er seit einiger Zeit arbeitete, ließ er kurzerhand liegen, um sich gleichfalls Harald Dörcksen zur Verfügung zu stellen.

Kein Wunder, daß bei der Emsigkeit der Bau des Flugschiffes rasch vorwärtsging. Und ebenso war es kein Wunder, daß den eifrig Arbeitenden die Zeit wie im Fluge verging; daß eine Woche, die zweite verstrich, ohne daß sie es recht gewahr wurden.

Die dritte brach an. Und da standen an einem strahlend schönen Morgen die Bewohner von Dörcksen-Land aufatmend und ebenso strahlend um ein seltsames, großes Gebilde herum. Das neue Flugschiff. Es war fertig!

Sein Zweck und Ziel waren auf der Insel für niemanden mehr Geheimnis. Auch für die erst kürzlich aufgenommenen schiffbrüchigen Matrosen nicht. Denn, wenn das neue Flugschiff erst zum endgültigen Flug nach Olympia sich erhob, dann gab es nichts mehr, was es hindern, was ihm schaden könnte.

„Freunde,“ nahm Harald Dörcksen nun das Wort, „mein Werk ist fertig. Ihr seht es hier vor euch. Es soll uns nach Olympia tragen, zu Aspasia, der Wolkenkönigin. Das ist der erste Schritt, der bedeutsamste für uns, ein sehr bedeutsamer für die Welt. Ihr wißt, was dort oben auf dem Gaurisankar hinter der Schnee- und Eisregion besteht: ein sehr ideales Staatswesen, in dem Menschlichkeit und Geist mehr gelten als alles andere. Schon die erste Welle, die jetzt über die Erde rollt, ist von ihm ausgegangen: der Wille zum Guten, zum Menschlichen, zum Geistigen, – gegen Rohheit und Kriegsneigung. Zum zweitenmal soll sich dann ein Strom dieses Willens, angeregt von uns, über die Erde ergießen und Liebe säen, wo noch Haß blüht, Vernunft, wo Unvernunft wütet. Denn diese beiden Kräfte sind dazu angetan, den Menschen das verlorene Paradies zurückzugeben. – Aber die Liebe ist die größte unter ihnen …“

Er machte eine kleine Pause, schaute zu dem neuen Luftschiff hinüber und fuhr dann fort:

„Dort steht die Flugmaschine, die uns all den heißen Zielen zuführen soll. Wie ein Meteor wird sie den Raum durcheilen, uns dem Licht zuführend, der Menschheit den Anbruch des Lichts verkündend. Und so will ich denn ihr den Namen „Meteor“ heißen!“

Brausender Jubel erscholl aus den Kehlen aller anderen, als der Erfinder die Worte gesprochen. Man drückte ihm und sich untereinander die Hände in einem überströmenden Freudegefühl, an dem auch die beiden Inder teilhatten. Zwei nur waren still beiseite geschlichen: Field und Wood. –

Dieser Tag wurde als Feiertag begangen. Alle Arbeit ruhte heute. Morgen dann sollte der erste Aufstieg stattfinden. Nun alles fertig war, besichtigte man das Flugschiff auch innen noch einmal. Die Schlafkabinen, den gemeinsamen Wohnraum, die Kücheneinrichtung und den Führerraum. Zur Bedienung des „Meteor“ genügte eine einzige Person. Platz bot es sonst gut zwanzig Passagieren.

Der große Tag eines Probeaufstiegs kam. Außer den beiden Indern und Wood und Field hatte sich alles in das Flugschiff begeben. Harald Dörcksen stand vorn im Führerraum; neben ihm Gari, der das Lenken zu erleben wünschte. Die übrigen waren im Wohnraum versammelt, standen dort an den Fenstern.

Die Motoren sprangen an. Ein Zittern lief durch den Rumpf des „Meteor“. Und dann – langsam zuerst, dann schneller und schneller – rollte er auf den massigen Gummirädern über den ebenen Felsboden. Kein Stoßen war spürbar, nur ein sanftes Schaukeln. So gut ausgefedert war das Flugschiff.

Mit einem Mal hörte auch das leise Schaukeln auf. Der „Meteor“ schwebte! Glitt zuerst dicht über den Boden hin, dann höher, immer höher; überflog das Felsplateau und – befand sich über dem Meer! Dreimal umkreiste der „Meteor“ die Insel. Fuhr Kurven und Schleifen, sank, stieg, – alles rasch und leicht, wie sein Herr es haben wollte und mit leisem Hebeldruck vorschrieb. Darauf senkte das Flugschiff sich wieder und landete glatt auf der Talsohle von Dörcksen-Land.

Der „Meteor“ hatte die Probe glänzend bestanden! Neuer Jubel erklang. Die letzten Besorgnisse hatten einer köstlichen Sicherheit weichen müssen. Und auch Harald Dörcksen selbst äußerte, daß er dem „Meteor“ die erforderliche Leistungsfähigkeit zutraue, die die „Wolke“ nicht gehabt hatte. Getrost könne die große Reise angetreten werden. Und das sollte bald geschehen.

Der Mensch denkt, das Schicksal lenkt. Es kam anders. Der für diese Tage erwartete „Delphin“ erschien nicht. Man wartete – vergebens. Aus Tagen ward eine Woche. Dörcksen begann, um seine Tochter zu bangen. Aber er tröstete sich: Mahadur Mirat war ja bei ihr. Der würde sie schützen und nötigenfalls sein Leben für sie einsetzt.

Die zweite Woche verging – nichts. Tiefste Niedergeschlagenheit herrschte auf Dörcksen-Land. Oft machte der „Meteor“ Rundflüge, man versuchte, dabei vielleicht das herannahende Schiff Söders zu entdecken. Aber immer wieder wurde die Hoffnung enttäuscht.

Was war geschehen? Das war die bange Frage, die alle beschäftigte. War Knut Söder trotz der Vorsicht, die walten zu lassen er fest versprochen hatte, in Amerika erkannt und festgehalten worden? Dann teilten sicherlich Mahadur Mirat, Hella und Thomas Crosterbroux sein Schicksal. Eigentlich konnte es sich bei dem Grund für das Fernbleiben des „Delphin“ kaum um etwas anderes handeln.

Und nach acht Wochen vergeblichen Wartens beschloß man, nach New York zu fliegen und dort nach dem Schiff Ausschau zu halten.

Die beiden Inder, ferner Field, Wood und Reverend Dixon sollten auf der Insel bleiben. Alle anderen richteten sich auf dem „Meteor“ häuslich zu längerer Fahrt ein. Das Flugschiff stand vor einer großen Probe seiner Leistungsfähigkeit: Einer Fahrt über den Ozean!

Stunden später schwebte der „Meteor“ bereits hoch, hoch über dem Meer. Wie eine kleine Landkarte war Dörcksen-Land unten sichtbar. Allmählich verschwand die Insel aus dem Gesichtsfeld. Andere Eilande tauchten auf … verschwanden. Und dann hatte das Flugschiff die Inselzone hinter sich. Dann war unten nichts weiter zu sehen, als die schier endlose, glitzernden Fläche des Ozeans. –

Sturm kam auf. Harald Dörcksen versuchte in verschiedenen Höhen, ruhigere Luftschichten zu finden. Aber es war überall dasselbe. Eine gewaltige Luftströmung flutete nach Süden. Sie war so umfangreich und so gewaltig, daß der „Meteor“ vom Kurs abgetrieben wurde.

Das wäre nicht geschehen, wenn das Flugschiff direkt gegen den Wind hätte gesteuert werden können. Doch da auf dem kürzesten Weg New York erreicht werden sollte, mußte Dörcksen es schräg zum Wind halten.

„Eine durchgehend nach derselben Richtung gehende Luftströmung pflegt niemals lange anzuhalten,“ meinte der Erfinder, „nehmen wir diese kleine Verzögerung ruhig in Kauf. Sie wird höchstens ein paar Stunden betragen.“

Aber er irrte sich diesmal. Der Sturm hielt nicht nur an, er verstärkte sich noch. Ein wahrer Orkan, brauste er daher. Der „Meteor“ hatte schwer zu kämpfen. Wurde oft dreißig, vierzig Meter nach unten oder oben geschleudert. Schwankte und bebte. Die Insassen hielten sich krampfhaft festgeklammert, um nicht gegen die Wände geschleudert zu werden.

Unmöglich, das Flugschiff in diesem Sturm auch nur annähernd in der Richtung zu halten, die man einschlagen wollte. Man mußte sich damit begnügen, die Geschwindigkeit, mit der es abgetrieben wurde, möglichst einzudämmen. Aber viel wurde auch daraus nicht.

Das ging die ganze Nacht hindurch so. Gegen Morgen endlich war ein geringes Nachlassen des Windes zu merken. Und als die Sonne emporstieg, legte er sich plötzlich und machte – wie es oft in diesen Breiten zu sein pflegt – völliger Windstille Platz. Die Insassen des „Meteor“ atmeten auf. War es doch immerhin recht strapaziös gewesen, so viele Stunden in dem wild umhergeworfenen Flugschiff zuzubringen. Nicht einmal ein Fenster hatte man wegen des Sturmes öffnen können. Das holte man nun gründlich nach.

Strahlend blau lag tief unten das Meer. Nichts war zu sehen, als Himmel und Wasser. Im Flugschiff war es ganz still. Alle waren von dem überstandenen Sturm erschöpft. Hatten sie doch die ganze Nacht nicht schlafen können. Das holten sie zum Teil nach. Die übrigen schwiegen auch; hingen ihre Gedanken nach. Die weilten meistens bei dem ausgebliebenen „Delphin“. Was mochte geschehen sein? Waren Söder, Mahadur Mirat und Hella wirklich in die Hände der nordamerikanischen Behörden gefallen, dann mußte man auf Schlimmes gefaßt sein. Nach den Erfahrungen Söders in London zu schließen, würde mit ihnen nicht allzu sanft umgegangen werden.

Harald Dörcksen hatte noch eine andere Sorge. Wo mochte sich das Flugschiff befinden? Wie weit war es abgetrieben worden? Das jetzt während des Fluges durch Berechnung festzustellen, war ebenso unsicher wie schwierig. Nach des Erfinders Schätzung mußte es jedenfalls eine erhebliche Strecke sein.

Plötzlich durchbrach eine Stimme die Stille in dem Flugschiff.

„Dort – dort unten – ah, seht!“

Gari Dingra hatte die Worte ausgerufen. Sofort blickten alle, die nicht gerade schliefen, hinunter. Da schwamm, weiß inmitten des blauen Meeres, eine Eisscholle. Und auf der Scholle lag ein länglicher, dunkler Gegenstand. Was es war, konnte man von hier oben nicht genau erkennen. Dörcksen nahm sein Fernglas zu Hilfe. Blickte hindurch, – ließ es gleich darauf betroffen sinken. Sagte ernst:

„Auf der Eisscholle liegt ein Mensch!“

„Ein – Mensch –?!“

„So ist es. Ich werde den „Meteor“ sinken lassen. Vielleicht gelingt es, auf die Meeresoberfläche niederzugehen und die Leiche näher anzusehen.“

„Sind Sie sicher, daß es eine Leiche ist?“ fragte Burne.

„Ich glaube,“ entgegnete Dörcksen zögernd und blickte erneut nach unten, „es ist auch kaum anders denkbar.“

In großen Spiralen senkte sich das Flugschiff. Burne hatte des Erfinders Fernglas genommen und sah damit gespannt auf die Eisscholle nieder. Da entrang sich ihm ein Schrei der Überraschung. Die anderen sahen sich erstaunt um.

„Das ist ja – Thomas Crosterbroux –!!“

„Wie?!“

Maßloses Staunen prägte sich auf allen Gesichtern. Hatte Burne recht gesehen? Aber da war der „Meteor“ schon so weit gesunken, daß man den Toten auf der Eisscholle mit bloßem Auge erkennen konnte. Es war wirklich der Platinkönig!

Man war bestürzt. Wie war Thomas Crosterbroux ums Leben gekommen? Wie kam seine Leiche hierher auf diese Eisscholle? Was war dann mit dem „Delphin“ geschehen? Was mit Hella, Mirat, Söder und Türck?

Bange Fragen! Niemand wagte sie auszusprechen. Konnte man – bei diesem Anblick – noch hoffen, die anderen jemals lebend wiederzusehen?

Klatschend setzte der „Meteor“ auf die Wasserfläche auf. Wenig später war die ganz steif gefrorene Leiche Crosterbroux’ in das Innere des Flugschiffes gebracht. Dort wurde sie in einer besonderen Kabine einstweilen niedergelegt. Im Rock des Platinkönigs fand sich ein Pack eng mit Bleistift beschriebenen Papiers, vom Seewasser durchweicht, doch noch einigermaßen gut lesbar.

„Vielleicht gibt dies Manuskript uns Aufschluß über die Ereignisse, deren tragischen Abschluß wir hier vor uns haben,“ meinte Dörcksen und nahm das Papier an sich. Gleich darauf stieg der „Meteor“ wieder empor. Aber er flog nicht weiter, kreiste langsam über der Stelle des traurigen Fundes. Wußte man doch nach dem letzten Ereignis nicht mehr, ob es überhaupt noch Zweck hatte, nach New York zu fliegen.

Die Insassen des „Meteor“ aber nahmen die beschriebenen Blätter des Toten vor. Nach der Anordnung der Schrift schien es eine Art Tagebuch zu sein. Sie lasen …

 

 

Zweiter Teil

Das Tagebuch eines Toten

 

1. Kapitel

„4. April. – Ich könnte nicht sagen, was mich veranlaßt, dies Tagebuch zu beginnen. Ein sehr unbestimmtes, aber ebenso starkes Gefühl treibt mich dazu.

Wir sind von Dörcksen-Land abgefahren. Eine innere Stimme sagt mir, daß ich es und die Menschen darauf nicht wiedersehen werde. Vielleicht ein närrischer Gedanke. Vielleicht –? Nein, sicher. Ich mit meinen neunundvierzig Jahren – Todesgedanken? Nein. Und doch –

Besonders schwer wurde mir der Abschied von meiner Tochter. Hoffentlich wird ihr Geist einmal wieder klar. –

5. April. – Tagebuch! Ich, Thomas Crosterbroux, einst genannt der Platinkönig, führe ein Tagebuch! Wie ein romantisch angehauchtes Mädchen oder ein verliebter Student. Aber beides war ich gottlob nie im Leben: weder romantisch, noch verliebt. Hätte es sonst wohl nicht so weit gebracht im Leben.

Wirklich, je länger ich mir diese Tagebuchsache überlege, desto läppischer scheint sie mir. Soll ich weiterschreiben? Ich werde nicht weiterschreiben.

6. April. Ich werde doch weiterschreiben. Nun ich es schon einmal angefangen habe … Mag daraus werden, was will. Gestern nacht gab es einen kleinen Knall in der Maschine. Seitdem fährt der „Delphin“ viel langsamer als bisher. Kapitän Söder macht ein bedenklich ernstes Gesicht. Aber er sagt nichts. Ob wir New York je erreichen werden? In mir hat sich jenes unbestimmte Gefühl, das sich nicht beschreiben läßt, noch verstärkt.

7. April. Da haben wir es schon. Der „Delphin“ treibt steuerlos auf den Wogen. Heute früh wiederholte sich der Knall in der Maschine. Seitdem steht sie und ist durch nichts wieder in Gang zu bringen. Was soll werden? Ich glaube, der Kapitän ist selbst ratlos. Er ist, wie er es stets gern zu machen pflegt, außerhalb der Schiffahrtsstraßen gefahren. Quer hindurch. Hier kommt mein Lebtag kein Schiff vorbei, das uns ins Schlepptau nehmen könnte. Nette Aussichten!

8. April. Soeben erzählte mir Kapitän Söder, er habe für ein halbes Jahr Konserven an Bord. Als ich ihn darum fragte, ob er der Ansicht sei, daß wir diese Menge brauchen werden, lachte er nur und ging hinaus. Aber es klang nicht echt, dies Lachen.

Sehr unbekümmert ist Türck. Und Mahadur Mirat mit Hella nicht minder. Nun ja, Türck ist Philosoph und der Radscha und Hella Dörcksen lieben sich.

Ich aber kann jenes fatale Gefühl nicht loswerden.

Wir werden langsam nach Süden getrieben. Wohin? Wind springt auf. Recht starker Wind.

9. April. Es ist schwierig, heute zu schreiben. Das Schiff schlingert entsetzlich. Das macht, weil es steuerlos ist und ohne Eigenbewegung. Der Wind ist nachtsüber zu einem regelrechten Sturm angewachsen. Wir treiben ziemlich rasch nach Süden. Vielleicht werden wir doch noch einem Schiff ins Gesichtsfeld kommen. Hoffen wir es.

10. April. Der Sturm rast. Immer nach Süden. Wie soll das enden? Schreiben ist fast unmöglich.

11. April. Alles unverändert: der Sturm, die Fahrt nach Süden, die Einsamkeit. Kein Schiff. – Bewahrheitet sich meine Ahnung auf diese Weise?

12. April. Immer noch nach Süden. Mit rasender Geschwindigkeit. Kapitän Söder hat versucht, die Maschine in Gang zu bringen. Nach wie vor erfolglos.

13. April. Soll das Datum mit der Unglückszahl uns verhängnisvoll werden? Eisberge tauchen auf. Ganz fern noch. Der Sturm rast unvermindert. Wenn wir mit solch einem Eisungeheuer zusammenstoßen –! Die „Imperator“-Katastrophe vor Jahren fällt einem wieder ein. Und alle Schauergeschichten, die man sonst über Eisberge gehört und gelesen hat. Doch – wenn man die Sache recht durchdenkt, besteht die Gefahr eines Zusammenstoßes für uns eigentlich kaum. Die Eisberge schwimmen ja doch auch frei, werden also ebenfalls vom Wind getrieben; wenn auch wohl nicht ganz so schnell wie der bedeutend leichtere „Delphin“.

14. April. Eis kommt hinzu. Große Schollen und kleine. Es sieht fast aus, als ströme es von verschiedenen Seiten hier zusammen. Merkwürdig.

Der Sturm scheint ein wenig nachzulassen.

15. April. Das ist nun wirklich sehr seltsam. Nachts flaute der Sturm völlig ab. Das ist nun schon gut sechs Stunden her; dennoch treibt das Schiff mit unverminderter Geschwindigkeit nach Süden weiter. –

Söder hat eine bedeutsame Entdeckung gemacht. Wir werden nicht mehr vom Sturm getrieben, unsere Vorwärtsbewegung ist auch nicht mehr der nachträgliche Schwung, sondern: wir befinden uns in einer Meeresströmung! Der Kapitän warf eine Papierkugel ins Wasser. Sie blieb an der Seite des Schiffes! Das Wasser muß sich also ebenso schnell vorwärts bewegen wie unser „Delphin“!

Auch aus einem anderen Umstand kann man das sehen. Die Eisschollen rings um uns bleiben gleichfalls auf gleicher Höhe mit dem Schiff. Auch den großen Eisbergen sind wir noch nicht nähergekommen. Selbst die müssen sich mit genau derselben Geschwindigkeit bewegen wie wir.

Welch eine mächtige Strömung! Noch nie hat man von einer so breiten und raschen Meeresströmung gehört. Die Rätsel des Weltmeeres sind eben noch lange nicht alle aufgedeckt. Söder macht eifrig Aufzeichnungen, stellt Berechnungen an; wenn auch die Besorgnis nicht aus seinem Gesicht weicht. Er meint, wir müssen bereits südlich der Breite von Feuerland sein. Also südlicher als die Südspitze des amerikanischen Kontinents! Wenn das stimmt, dann … Warum soll es nicht stimmen? Es ist bereits empfindlich kühl. Wir schoben das bisher auf die Nähe der Eisberge. Aber es wird wohl in unserer raschen Annäherung an das südliche Polargebiet seinen Grund haben.

16. April. Nein, die Rätsel des Weltmeeres sind noch lange nicht alle gelöst! Die Meeresströmung, die den „Delphin“ immer weiter nach Süden entführt, nimmt an Schnelligkeit zu. Das Meer ist glatt. Kein Wind weht. Dennoch bewegen wir uns mit fast beängstigendem Tempo weiter. Es ist, als würden wir auf einen Punkt zugerissen.

All die alten Märchen werden wieder wach. Vom Magnetberg, der Schiffe anzieht und zerschellen läßt. So etwas gibt es natürlich nicht. Die Erscheinung hier ist auch eine ganz andere. Wir werden von einer Strömung getragen. Genau so wie die Eisschollen ringsum, wie die Eisberge dort fern. Die Erscheinung ist eine andere. Aber – ist sie darum weniger seltsam?

Wo kommt diese gewaltige Strömung her? Wohin führt sie? Worin besteht ihre Ursache? Das alles sind unlösbare Fragen. Vorläufig wenigstens. Das Wohin werden wir schon einmal ergründen können. Zum Südpol? Vielleicht. Wozu darüber nachdenken? Es kommt doch kein positives Resultat dabei heraus. Ich will nicht mehr grübeln.

Aber die Gedanken kehren ganz von selbst immer wieder zu dem Punkt zurück.

17. April. Das Meer rast. Die Strömung nimmt an Geschwindigkeit immer noch zu. Außer Hella Dörcksen hat niemand von uns in der verflossenen Nacht geschlafen. Nur sie. Sie ist ein wundersames Geschöpf.

Ein unbestimmtes, unbestimmbares Geräusch ist in der Luft. Wie eine ferne Brandung klingt es. Und doch anders. Wenn es eine Brandung wäre, müßte irgendwo Land zu bemerken sein. Aber es ist nichts zu sehen. Das ist eben das Merkwürdige.

Der Zustand zerrt an den Nervensträngen, daß sie zu zerreißen drohen. Wenn das noch lange so geht … Oben höre ich Söder und Türck rufen. Ich will hinaufgehen.

 

2. Kapitel

24. April. Das Schreiben will noch nicht so recht gehen. Seit acht Tagen zum erstenmal. Die Hand zittert noch leicht. Ein wenig Kopfschmerz habe ich auch.

Acht Tage – und was hat sich alles ereignet in der Zeitspanne! Ich schrieb von dem unerklärlichen Brausen in der Luft, das deutlicher und deutlicher ward. Ja, man konnte es nur mit Brausen bezeichnen. Wie eine ungeheure Brandung; doch noch etwas anders.

Als ich Söder und Türck rufen hörte, eilte ich an Deck. Da nahm ich auch sogleich die neuen Veränderungen wahr, die inzwischen vor sich gegangen waren. Die Schnelligkeit der Strömung war in ein geradezu wahnwitziges Tempo übergegangen. Und das stieg noch fast von Sekunde zu Sekunde! Am Horizont aber, – ja, das war das Grausigste dabei – der Horizont schien eine Wolke von Gischt zu sein. Dorther kam das Brausen, das jetzt ohrenbetäubend wurde. Dorthin stürzten all die unendlichen Wassermassen.

Und dann sah ich schaurig Großartiges. Kurz nacheinander erreichten die beiden großen Eisberge die Gischtzone. Da war es erst, als ob eine Riesenfaust sie höbe. Dann kippten sie um, wurden rundum gewälzt, wieder und wieder – und dann waren sie – verschwunden. Wir, auf Deck des „Delphin“, erstarrten beim Anblick dieses grandiosen Schauspiels vor Entsetzen. Was mochten dort vorn für gigantische Kräfte am Werk sein! Dort vorn, wohin wir mit unwiderstehlicher Gewalt gerissen wurden!

„Wir sind verloren,“ hörte ich Söder, der dicht neben mir stand, sagen. Die anderen haben die Worte in dem Lärm der Wasser sicherlich nicht vernommen. Wie hypnotisiert starrten wir alle dorthin, – auf das Verhängnis, das mit rasender Geschwindigkeit nahte. Kaum noch nach Minuten konnte die Frist zählen, die uns blieb. Kaum noch – noch – Minuten …

Dann – begann der „Delphin“ sich zu bäumen. Der Lärm drohte uns das Trommelfell zu sprengen. Ringsum nichts wie Gischt. Das Meer kochte, brodelte. Das Schiff war eingehüllt in weißen Gischt.

Etwas Massiges, Dunkles tauchte plötzlich auf. Jemand packte mich am Arm. Es war der Kapitän. Ganz dicht brachte er seinen Mund an mein Ohr. Anders war keine Verständigung möglich. Schrie:

„Das ist das Ende!“

Dann war es auch schon heran. Ein ungeheurer Stoß schleuderte uns vorwärts. Wassermassen stürzten auf uns ein. Ich wurde fortgerissen. Suchte einen Halt. Schlug mit dem Kopf irgendwo gegen. Verlor das Bewußtsein …

Nun, ich lebe noch. Ich erwachte von dem gleichen Brausen des Wassers wie vorher. Erwachte auf einer kleinen Felseninsel, die inmitten dieses rasenden Meeresstromes liegt, haushoch umtost von anstürmendem Gischt. Der „Delphin“ liegt unweit der Insel, tief eingewühlt, – nur noch ein Wrack. Er war auf eine Sandbank gelaufen, die der Insel dicht vorgelagert ist. Das hatte den Stoß gemildert. An der Insel selbst wäre das Schiff unfehlbar zerschellt.

Ich lebe. Ich bin gerettet. Die anderen auch. Alle. Doch auch nur wir. Nichts sonst. Keine Geräte, keine Lebensmittel. Was soll daraus werden?

Südlich dieser Felseninsel, die sehr klein und völlig kahl ist, liegt eine größere. Die ist jetzt das Problem, das uns beschäftigt. Sie ist anscheinend recht groß, hat hohe Felsufer. Doch dahinter sproßt Grün hervor. Allerlei Pflanzen. Und das bei einer Temperatur, die sich nur wenig über den Nullpunkt erhebt.

Aber die Vegetation da drüben macht in nichts den Eindruck von antarktischer! Ein neues Rätsel. Doch wir raten nicht daran herum. Das ist zwecklos und müßig. Wie wir dort hinübergelangen könnten, das ist unser einziger Gedanke. Wenn da große Vegetation besteht, ist doch möglich, daß sich auch für uns irgend etwas Genießbares findet.

Großmütig hat uns das Meer, neben Balken und Planken von dem zertrümmerten „Delphin“, eine kleine Tonne mit Pökelfleisch angespült, deren Inhalt uns bei sparsamster Einteilung wohl einige Tage ernähren kann. Das ist aber auch alles.

Augenblicklich sind Söder, Türck und der Radscha dabei, aus angespülten Balken und Planken des „Delphin“ ein Floß zu bauen. Mit dem soll dann versucht werden, die begrünte Insel drüben zu erreichen. Das wird weder schwierig, noch sonderlich gefährlich sein. Die Strömung des Wassers geht dorthin. Und zwischen diesen beiden Inseln ist das Wasser – verglichen mit dem Toben ringsum – verhältnismäßig ruhig.

25. April. Es ist gelungen. Wir fuhren heute ganz früh morgens ab. Brauchten zur Überfahrt etwa eine Viertelstunde. Und nun sitzen wir auf dieser neuen Insel und verzehren unser Frühstück: etwa hundert Gramm Pökelfleisch pro Kopf. Viel wesentlicher jedoch ist für uns: wir haben wundervoll klares Trinkwasser gefunden. Es sprudelt den Felsen hinab ins Meer. Schmeckt eisenhaltig, was außerordentlich erfrischt. Wenn nur das Fleisch nicht so rasch zu Ende ginge! Söder und Türck sind bewaffnet ausgegangen, um das Innere der Insel zu erforschen. Waffen … Es ist nur gut, daß wir wenigstens im Besitz von drei brauchbaren Revolvern nebst einiger Munition sind! Falls uns hier irgendeine ernstliche Gefahr entgegenträte …

Nach zwei Stunden: wir waren schon in Sorge. Hatten mehrere Schüsse in der Ferne gehört. Mahadur Mirat war bereits drauf und dran, dem Kapitän und seinem Begleiter nachzugehen, aber da tauchten die beiden schon auf. Die Schüsse galten nur der Jagdbeute. Ein uns unbekanntes, rehähnliches Tier hatten sie erlegt. Jetzt sind Türck und der Radscha dabei, es auszuweiden und zuzubereiten. Wie gut, daß Seeleute ihre Streichhölzer oft in wasserdichten Behältern tragen! Nun können wir Rostbraten machen. Trockenes Holz findet sich hier genug.

Freilich, einmal wird das alles aufhören: die Streichhölzer, die Munition … Und keine Aussicht, von hier fortzukommen! Meine Ahnung, die mich veranlaßte, dieses Tagebuch zu beginnen, hat sich bewahrheitet. Es ist Außerordentliches geschehen. Vielleicht – der Anfang vom Ende. Aber wir denken nicht daran. Noch leben wir ja.

Söder und Türck haben auf ihrer Streife etwas erlebt. Es sind Menschen auf der Insel! Anscheinend „Wilde“. Jedenfalls scheinen sie, ihrem Verhalten nach, noch nie mit Weißen in Berührung gekommen zu sein.

Der Kapitän hatte sich gerade nach irgend etwas gebückt. Als er sich aufrichtete, sah er zwei schwarze Gesichter aus einem nahen Gebüsch lugen. Doch sogleich verschwanden sie blitzschnell. Er lief ihnen ein Stück nach, konnte sie aber nicht mehr entdecken.

Später ereignete sich noch etwas Kurioses. Türck und Söder hatten eine Anhöhe erstiegen, von der aus sie einen etwas weiteren Blick hatten. Da sahen sie etwa zehn der Schwarzen in einiger Entfernung zusammenhocken. Gleich darauf lief dem Kapitän jenes rehähnliche Tier über den Weg. Er schoß zwei-, dreimal kurz hintereinander. Beim Knall dieser Schüsse sprangen die Wilden erschreckt empor, liefen auseinander und waren im Nu verschwunden.

Das alles läßt sich also bisher nicht einmal ungünstig an. Wir wissen noch nicht, wie groß die Insel, noch nicht, wie zahlreich die Bevölkerung ist. Aber die Schwarzen haben offensichtlich ungeheure Angst vor uns. Gefahr droht uns von ihrer Seite also nicht.

Bleibt die Ernährungsfrage. Aber vielleicht wird die sich auch bequemer lösen, als wir jetzt noch glauben. Wenn unser Munitionsvorrat verschossen ist, wir also keine Jagdbeute mehr erlegen können, vielleicht brauchen wir dann nur Schwarze in ihren Lagern aufzustöbern, zu verjagen und zu nehmen, was an Eßwaren sie zurücklassen. Gewiß, keine vornehme Handlungsweise; aber der Selbsterhaltungstrieb gebietet sie.

28. April. Drei Tage sind vergangen ohne die geringste Veränderung. Was sollte sich auch verändern? Abwechselnd gehen Söder und Türck, oder Mahadur Mirat und ich auf Jagd. Erlegen irgendein Tier – manchmal sind es auch Seevögel, die aber tranig schmecken – und kehren heim. In der Zeit haben die Zurückgebliebenen Holz gesammelt. Hella Dörcksen begleitet Mahadur Mirat oft auf den Jagdstreifen.

Die Insel scheint ziemlich umfangreich zu sein. Jedenfalls haben wir noch nie das südliche Ufer erreicht. Es ist klar, daß die Vegetation, die für diese südliche Breite erstaunlich üppig ist, ihr Dasein nur der Bodenwärme vulkanischen Ursprungs verdankt. Die Luft hält sich zwar über dem Gefrierpunkt, doch nicht viel.

In der Mitte der Insel befindet sich eine öde, felsige Stelle. Dort dringt aus Ritzen und Spalten Schwefeldampf. Wir umgehen diesen Platz stets in großem Bogen, da man in seiner Nähe kaum noch atmen kann.

30. April. Heute hat Söder die letzte Revolverkugel verschossen.

5. Mai. Wir teilten das Fleisch des letzterlegten Tieres gut ein. Es reichte ziemlich lange. Vielleicht war das ein Fehler … Das Verhalten der Schwarzen beginnt sich zu ändern seit wir nicht mehr schießen. Sie beschleichen uns. Auch nachts. Wir müssen abwechselnd wachen. Erblickt einer von uns einen Schwarzen, flieht der zwar blitzschnell. Dennoch kommen sie immer wieder.

Wir unterhalten jetzt ständig ein kleines Feuer, denn auch die Streichhölzer werden bald alle sein.

Nun heißt es, auf andere Weise Nahrung suchen.

6. Mai. Bisher machten wir oft auch einzeln Streifen ins Innere. Das geht nicht mehr. Gestern überfielen etwa zehn der Schwarzen Türck. Man weiß nicht recht, wozu. Sie waren unbewaffnet. Zum Glück war der Kapitän in der Nähe. Auf Türcks Rufen kam er herzu. Als sie ihn sahen, entflohen die Schwarzen. Zu zweien wagen sie uns anscheinend nicht anzugreifen.

Essen –? Wir haben Artischocken gefunden, die an verschiedenen Plätzen der Insel reichlich wachsen. Wir essen die Knollen geröstet. Sie schmecken nicht besonders reizvoll, aber was soll man machen?

 

3. Kapitel

7. Mai. Die Sache wird ernst. Wir haben eine furchtbare Entdeckung gemacht. Die Schwarzen auf dieser Insel sind Kannibalen! Wir stießen bei einer Wanderung auf einen verlassenen Lagerplatz. Die Stelle des Lagerfeuers war deutlich erkennbar. Auch die Stelle, an der die Wilden ihr Mahl gehalten hatten. Und da – fanden wir, sauber abgenagt, Menschenknochen. Auch einen Schädel.

Wollten sie Türck dazu, als sie ihn überfielen? Wahrscheinlich. Schaudervoller Gedanke! Dabei werden die Schwarzen immer kühner. Sie fliehen nicht mehr so panikartig. Laufen wohl noch ein Stück, bleiben aber dann stehen und beobachten uns aus der Ferne. Ob das weiße Fleisch sie besonders lockt? –

Rings um die Insel tobt die unerklärliche Strömung in wilden Strudeln. Allerdings scheint es, als ob ihre Kraft nachgelassen hat und noch abnimmt. Ob sie nur eine periodisch auftretende Erscheinung ist? Wie gesagt: die Rätsel des Weltmeeres sind noch lange nicht gelöst.

9. Mai. Nun ist es sicher: die Strömung nimmt ab. Sie beruhigt sich zusehends.

Doch was nützt das uns? Unsere Lage wird immer verzweifelter. Auch zu zweien können wir nicht mehr ausgehen. Gestern gegen Abend wurden Mahadur Mirat und ich von einer Rotte Schwarzer überfallen. Diesmal ward Hella zur Retterin, die mitgekommen und nur ein Stück zurückgeblieben war. Als sie dann – im rechten Augenblick – hinzukam, flohen die Angreifer wieder.

Aber – wie lange noch, und sie werden auch vor unserer Gesamtzahl nicht mehr zurückschrecken … Wir haben viel Artischocken gesammelt und leben nun davon. Gehen fast gar nicht mehr ins Innere der Insel. Trostlos. Wie lange soll das noch so gehen? Wie lange kann das noch so gehen? Das Verderben ist unausweichlich. Wir sind sehr niedergeschlagen.

Am gefaßtesten sind noch Hella und Mahadur Mirat. Sie gehen einher, Hand in Hand, mit einem stillen, unerschütterlichen Leuchten in den Augen. Welch eine Wundermacht ist doch die Liebe! –

11. Mai. Nun bin ich am Ende. Kaum vermögen meine steifgefrorenen Finger noch den Bleistift zu halten. Ich sitze auf einer großen Eisscholle. Treibe auf der ganz ruhig gewordenen Strömung. Sie umkreist die Insel, so weiß ich jetzt, und geht dann nach Norden.

Ich bin ganz allein und mir ist klar – ich bin verloren. Ich werde nicht verhungern; ich werde erfrieren. Ein schöner, sanfter, schmerzloser Tod.

Wie ich in diese abschließende Situation kam? Durch eine Unvorsichtigkeit. Ich hatte mich von unserer Lagerstätte entfernt. Nicht weit; doch so, daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich sammelte trockenes Holz für das Feuer. Und bei dem wiederholten Bücken verlor ich – wie das ja leicht passiert – die Richtung. Doch das merkte ich erst später.

Ein Geräusch ließ mich plötzlich aufsehen. Da fiel mein Blick auf vier, fünf Schwarze, die hinter mir standen, bereit, sich auf mich zu werfen! Da sprang ich in langen Sätzen davon, nicht beachtend, wohin. Nahm wohl an, dem Lager zu, hatte aber, wie erwähnt, die Richtung verloren.

Die Schwarzen hinter mir her. Ich rannte um mein Leben. Noch nie war ich so rasch gelaufen, auch als junger Mensch nicht. Ich versuchte allerlei Finten, schlug Haken beim Laufen usw. und was ich eigentlich dabei nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein: die Verfolger verloren mich. Als ich sie nicht mehr hinter mir hörte, als ich endlich stehen zu bleiben wagte, waren sie fort.

Ich war völlig erschöpft. Sank an der Stelle um, ganz apathisch. Lag eine Weile da … Dann erst kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich in einer Umgebung befand, die ich noch nie gesehen hatte. Wohin sollte ich mich wenden? Nach links? Nach rechts? In welcher Richtung lag unser Lagerplatz? Ich wußte es nicht.

Aufs Geratewohl begann ich dann, nach links zu wandern, stets ängstlich ausspähend, ob nicht irgendwo Schwarze auftauchten. Grauenvolle Situation! Allein und waffenlos in dieser Wildnis unter Kannibalen!

Gründlich verlaufen hatte ich mich. Das merkte ich bald. Aber nun blieb mir nichts anderes übrig, als geradeaus zu gehen, ganz gleich, wohin ich kam. Vielleicht gelangte ich ans Meer und konnte mich dann orientieren. Vielleicht – rief mir ein anderer Gedanke zu – stieß ich auch auf Insulaner, die mich dann endgültig mitnahmen, schlachteten und fraßen. Ich sah mich schon als besonderen Leckerbissen von schmatzenden Fratzen umringt.

Und da, als hätten meine Gedanken sie angezogen, sah ich wirklich drei der Wilden in der Ferne! Auch sie hatten mich erblickt. Sie schienen sich miteinander zu verständigen, und dann – kamen sie auf mich zugelaufen! Ich – eilte davon. Rannte ohne Besinnung fort, nur fort. Immer geradeaus.

Aber ich war schon zu ermüdet. Ich merkte, daß es mir diesmal nicht gelingen würde, den Verfolgern zu entgehen. Ich lief und lief. Schwitzend und keuchend. Dann vernahm ich Meeresrauschen von rechts her. Noch eine Weile durch Dickicht gerannt und ich hatte den Strand erreicht.

Aber was für einen Strand! In anderer Situation wäre ich wahrscheinlich mit einem Ausruf des Erstaunens stehengeblieben. Das ging jetzt natürlich nicht.

Welch ein Strand! Felsig, von wuchtiger, regellos wilder Formation. Zwischen den Felsen und vor dem grünen Dickicht, aus dem ich kam, Sand. Richtige Dünen. Das Seltsamste aber war die Farbe: alles weiß! Der Übergang von warm zu kalt vollzog sich hier auf einem Raum von noch nicht fünfzig Metern Breite! Hinter mir der grüne Wald, vor mir ein regelrechtes antarktisches Meer mit einzelnen Eisschollen und einem vereisten Strand! Ein höchst merkwürdiges Bild. Aber in dem Augenblick hatte ich, wie gesagt, keinen Sinn dafür. Erst jetzt nachträglich fällt mir das wieder ein.

Ich hatte nicht im Laufen innegehalten. Zugleich jedoch bemerkte ich, daß rechts und links am Strand mir steile Felsen den Weg versperrten! Was nun? Hinter mir Kannibalen, vorn nur das Meer! Tod überall. Aber – lieber ertrinken, als unter wer weiß was für Qualen geschlachtet zu werden.

In diesem Augenblick hatte ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich wollte mich ins Meer stürzen. Ich lief, lief über die Düne, die flachen Uferfelsen, dem Wasser zu. Da war am Rande eine Eisschicht. Vielleicht zehn Meter breit. Sie sah dick und fest aus, mochte aber am Rande des wärmeren Landes mürbe sein. Als ich auf diese schmale Eisfläche gelaufen war, brach sie mit dumpfem Krachen ab und begann sofort aufs Meer hinauszutreiben. Als die Schwarzen am Rand des Wassers anlangten, war die Spalte zwischen Insel und Scholle bereits zu breit, als daß sie sie hätten überspringen können.

Genützt hätte es ihnen doch nichts mehr. Sie wären höchstens selbst dabei in Gefahr gekommen. Vielleicht hielten sie auch das plötzliche Loslösen der großen Scholle vom Ufer für Zauberei von mir. Jedenfalls wandten sie sich plötzlich kurz um und rannten ins Innere zurück.

Ins Meer springen wollte ich erst, doch das Schicksal hatte es anders bestimmt. Nun sitze ich hier auf der treibenden Eisscholle, dennoch den unausweichlichen Tod vor Augen. Ich vervollständige mit kaum noch meinem Willen gehorchenden Händen hier meine Aufzeichnungen, die ich immer bei mir trug. Vielleicht fallen sie doch einmal Menschen in die Hände.

Für den Fall will ich hier noch meinen letzten Willen niederlegen: Sorgt dafür, daß mein Vermögen nicht an den Staat fällt, sondern meiner Tochter Ellen, geboren am 29. Februar 1902 zu Oakhurst bei New York, erhalten bleibt.

Thomas Crosterbroux.“

 

4. Kapitel

Soweit die Aufzeichnungen des Toten. Harald Dörcksen hatte sie laut vorgelesen. Jetzt herrschte tiefstes Schweigen. Alle waren erschüttert.

Der „Delphin“ verloren! Mahadur Mirat, Hella, Söder und Türck vermutlich auch nicht mehr unter den Lebenden. Vermutlich … Ganz sicher war das nicht. Hatten sie sich auch weiterhin gegen die Schwarzen schützen können? Oder waren sie bereits Opfer der schaurigen Gelüste jener geworden?

Am 11. Mai hatte Crosterbroux das letzte Blatt seiner Aufzeichnungen geschrieben. Das konnte kaum mehr als einen Tag nach seiner Flucht gewesen sein. Heute schrieb man den 1. Juni. Rund drei Wochen … Bestand da überhaupt noch Hoffnung, daß Mirat, Hella, Söder und Türck noch am Leben waren. Den Kannibalen konnten sie zum Opfer gefallen sein, oder dem eigenen Hunger. Welches war das schrecklichere Schicksal?

„Hoffnung –?“

Das Wort, das, fühlbar fast, zwischen den Insassen des „Meteor“ geschwebt hatte, – Harald Dörcksen sprach es aus. Und dann wurden seine klugen, grauen Augen größer, trat ein Ausdruck festester Entschlossenheit in sie.

„Ich will sie finden! Sei es lebendig oder tot!“

Keiner war da, der diesen Entschluß nicht gebilligt hätte. Wie ein Schwur war es, als alle nacheinander dem Erfinder die Hand drückten.

Nach Süden also, in die Südsee! Das neue Flugschiff, das sich bisher bei dem großen Flug über den Ozean so glänzend bewährt hatte, einem der gewaltigsten Stürme so glänzend standgehalten, sollte nun vor eine neue, große Aufgabe gestellt werden.

Vorher aber war noch ein Dienst zu verrichtet. Thomas Crosterbroux mußte bestattet werden. Der Leib des Platinkönigs wurde nach Seemannsart ins Meer versenkt. Eine Viertelstunde später hob sich der „Meteor“, stieg, zog große Kreise, um endlich in tausend Meter Höhe Kurs nach Süden zu nehmen.

Die Fahrt begann. Würde sie von Erfolg gekrönt werden? Im Innern des Flugschiffes wurde eifrig diskutiert. Würde man die richtige Insel auffinden? Zweifellos! Mit einem Schiff wäre das schwer gewesen, oder gar unmöglich. Hier jedoch lag der Fall ganz anders. Der „Meteor“ flog hoch über dem Wasser dahin. Dadurch wurde das Blickfeld auf die Meeresfläche, die seine Insassen überschauen konnten, ungeheuer erweitert.

Außerdem hatten sie noch eine – wenn auch nur unbestimmte – Handhabe: die Aufzeichnungen Crosterbroux’. Südlich Feuerland, stand da angegeben. Und weiterhin wußte man, daß es sich bei der in Frage kommenden Insel um die einzige begrünte handeln mußte, da sonst größere Vegetation in jenen Breiten nicht mehr vorkam.

Finden würde man die Insel schon. Ob auch noch die gesuchten Personen selbst – das blieb eine offene Frage. Sicher war nur, daß nichts seit langer Zeit von den Insassen des „Meteor“ mit so unbedingter Anteilnahme behandelt wurde. Das lag nicht nur an der Beliebtheit, deren sich sowohl der Radscha und Hella, als auch Söder und der unverwüstliche und vielseitige Türck erfreuten, das entsprang auch noch einem anderen Empfinden. Ein Gefühl der unbedingten Zusammengehörigkeit einte all diese Menschen um Harald Dörcksen. Sie waren durch mannigfache Abenteuer vom Schicksal zusammengeführt und verbunden, hatten das gleiche Ziel und den gleichen Glauben: an Aspasia, die Wolkenkönigin, ihr Reich und ihre Lehre! Das war es.

Und nun steuerte der „Meteor“ nach Süden. Dörcksen hielt das Flugschiff immer in Sicht der südamerikanischen Küste. Chile, Bolivien lagen da unten. Höchste Geschwindigkeit. Dreihundert Kilometer pro Stunde. Dennoch war, sah man nach draußen, die Fahrtgeschwindigkeit kaum zu merken. Das machte die Höhe. Wie eine Landkarte erschien die Küste von hier oben aus. Wälder zeigten sich als Moosteppiche und Dampfer auf See wie dicke Wasserkäfer. –

Feuerland kam in Sicht. Dörcksen ließ den „Meteor“ tiefer gehen, bis auf zweihundert Meter herab, und verlangsamte die Fahrt. So strich das Flugschiff dahin, den Insassen bequeme Ausblicke auf das seltsame, interessante Land gewährend; den südlichsten Teil der Erde. Was dann noch kam, waren öde, kahle Inseln, die, abgesehen von den Kerguelen, auf denen sich eine Walfischfängerstation befand, unbewohnt waren. Bis auf –

Ja, bis auf jene rätselhafte Insel im antarktischen Meer, von der Thomas Crosterbroux in seinen Tagebuchaufzeichnungen geschrieben hatte; bis auf jenes unbekannte Land, wohin wohl außer Söder, Türck, Mahadur Mirat, Hella und Crosterbroux noch nie ein Weißer gelangt war. –

Die ersten Eisschollen zeigten sich. In der Ferne tauchten bereits Eisberge auf. Harald Dörcksen ließ seit Feuerland den „Meteor“ in der Höhe von zweihundert Metern fliegen. So konnte man besser, genauer beobachten. Einzelne kleine Inseln zogen vorüber. Auf der Meeresoberfläche mehrten sich die Eisschollen zusehends, nahmen an Größe zu.

Und dann – tauchte am Horizont eine dunkle, ausgedehnte Masse auf. Eine große Insel. Sollte es die gesuchte sein? Rasch näherte man sich ihr. Die Spannung in dem Flugschiff erreichte ihren Höhepunkt. Was würde man zu sehen bekommen? War Hoffnung vorhanden, die Letzten des „Delphin“ noch lebend anzutreffen?

Es war müßig, darüber nachzugrübeln und trotzdem kehrten die Gedanken aller immer wieder zu diesen Fragen zurück.

Mehr und mehr entstieg die große Insel dem Nebel, der hier lagerte. Und da – ein Ausruf der Überraschung entfuhr allen im „Meteor“ – da zeigte sich, daß das Innere der Insel Grün trug! Sie war es! War die richtige!

Harald Dörcksen ließ das Flugschiff bis auf fünfzig Meter hinabgehen, ließ die Motoren ohne Kraft laufen, so daß der „Meteor“ nun fast geräuschlos dahinglitt.

Und dann plötzlich –

„Dort – seht, dort –!“

Aller Augen richteten sich auf die Stelle, die Gari Dingra soeben bezeichnet hatte. Eine große Zahl Schwarzer war da auf einer Lichtung inmitten des niedrigen Waldes versammelt. Regellose Haufen der Insulaner umstanden einen Kreis weiterer, die in ihrer Mitte einen freien Platz ließen. Und inmitten dieses Platzes befanden sich – vier Europäer, drei Männer und eine Frau! Das konnten nur die Gesuchten sein!

Harald Dörcksens Augen suchten einen geeigneten Landungsplatz in der Nähe. Fanden ihn in Gestalt einer zweiten Lichtung, die von der, auf der die Insulaner versammelt waren, nicht weit entfernt lag. Gleich darauf setzte der „Meteor“ sanft auf den Boden auf.

„Ob die Insulaner uns schon bemerkt haben?“

„Das ist anzunehmen. Aber es ist meiner Ansicht nach ohne Belang. Wenn diese Schwarzen bisher noch so gut wie gar nicht mit Weißen in Berührung gekommen sind, werden sie auch noch kein Flugschiff gesehen und aller Voraussicht nach davor großen Respekt haben. Ich denke mir,“ fuhr der Erfinder fort, „ich denke mir außerdem unsere Befreiungsaktion weder schwierig, noch gefährlich. Zunächst einmal, wenn die Insulaner den „Meteor“ bereits gesehen haben, was wahrscheinlich ist, haben wir den Schrecken des Neuen, Unerhörten, den dieser Anblick auf die Naturkinder zweifellos ausüben muß, für uns. Thomas Crosterbroux schrieb von der Wirkung der Revolverschüsse auf die Eingeborenen. Der Knall erschreckte und verjagte sie vollkommen. Erst als jene all ihre Munition verschossen hatten, wurden die Wilden allmählich dreister. Nun, wir besitzen Revolver genug, haben Munition in Hülle und Fülle. Ich meine, wir stürmen ganz einfach auf die Lichtung und schießen dabei unsere Revolver in die Luft ab. Das wird genügen, die Schwarzen zu verjagen. Vielleicht lassen sie dabei ihre weißen Gefangenen zurück. Vielleicht … wenn nicht, nun, dann müssen wir sie eben weiter verfolgen. Jedenfalls – vorwärts, meine Freunde!“

Damit sprang Harald Dörcksen als Erster aus dem Flugschiff heraus. Die anderen folgten ihm. Im Laufschritt ging es durch die Wildnis – so schnell oder so langsam das Unterholz es gestattete. Sie hatten nicht mehr weit zu laufen. Bald lichtete sich das Gehölz. Stimmengemurmel klang ihnen entgegen. Die Insulaner schienen erregt, debattierten wohl über die Erscheinung des „Meteor“.

Auf das Kommando Harald Dörcksens: „Los!“ stürmte das kleine Häuflein Weißer auf die Lichtung hinaus. Zugleich dröhnte der vielfache Knall ihrer Revolver. Und – schreiend, hastend, einander stoßend und drängend, stob die Menge der Schwarzen in panischem Schrecken davon. Die vier Gefangenen – blieben allein auf dem Platz zurück!

Ein leichter und vollkommener Sieg. Mahadur Mirat, Hella, Knut Söder und Türck starrten in fast ungläubigem Staunen auf die so unverhofft aufgetauchten Retter. Hatten sie doch schon alle Hoffnung aufgegeben.

Man schnitt die vier, die an Pfähle gebunden waren, los. Die Befreiten waren völlig erschöpft. Nur mühsam schleppten sie sich die kurze Strecke bis zu Harald Dörcksens Flugschiff.

 

5. Kapitel

Frei! Gerettet! Während das Flugschiff schon wieder in großen Spiralen von der Insel aufwärts strebte, bereitete man den Befreiten eine erlesene Mahlzeit. Mit wahrem Heißhunger machten sie sich darüber her. Legten sich danach in die Ruhekabinen und schliefen bis zum anderen Morgen. Und ruhig, in großer Höhe, zog der „Meteor“ seine Bahn.

Dann ging’s ans Erzählen.

*

Thomas Crosterbroux war verschwunden! Nur eine ganz kurze Strecke hatte er sich vom Lagerplatz entfernen wollen. War dann nicht wiedergekommen. Man suchte nach ihm. Doch die stete Vorsicht, die man jetzt walten lassen mußte, erschwerte das Suchen. Und – wohin sollten sie sich auch wenden?

Sie gaben es bald wieder auf, wandten sich zum Lagerplatz zurück. Nun waren sie nur noch vier Personen. Zu zweien konnten sie nicht mehr auf Nahrungsuche ausgehen, weil sie jetzt ständig fürchten mußten, überfallen zu werden. Zu dreien ging’s erst recht nicht; dann hätte einer allein im Lager zurückbleiben müssen.

Und alle vier –? Nein, sie blieben lieber zusammen auf ihrem Lagerplatz. Tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Selbst der sonst unverwüstliche Türck war still geworden. Die Artischockenvorräte hielten wohl noch einige Zeit vor. Aber – hatte es Zweck, das Leben noch zu fristen? Was stand bevor? Der Tod. Nichts anderes. Und ein grausiger Tod: als Opfer von Menschenfressern!

Dennoch war der Lebenstrieb stärker. Sie aßen, um am Leben zu bleiben. Bis dann eines Tages doch alles vorbei schien. Mit Geheul waren da von allen Seiten her wohl fünfzig Schwarze auf den Lagerplatz gestürmt, hatten die vier umringt und dann fortgeschleppt. Sie wähnten ihr letztes Stündlein gekommen. Aber noch sollte es nicht so weit sein; noch war der Abschluß ihrer Leidenskette nicht da.

Die Wilden schleppten sie ein weites Stück ins Innere der Insel. Dort banden sie sie mit sehr festen Baststricken in primitiven Hütten an Pfähle. Sich befreien und entfliehen war unmöglich, da die Schwarzen sie ständig bewachten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrem Schicksal zu überlassen. Gräßliche Aussicht: geschlachtet und verzehrt zu werden!

Wenn es nur erst alles vorbei wäre! Aber keiner der vier klagte. Einmal nur sagte Mahadur Mirat zu Hella:

„Hätten wir wenigstens noch jeder eine Revolverkugel für uns. Die wäre barmherziger als die Schwarzen es sind, machte schneller ein Ende. Aber nichts …“

„Laß gut sein, Geliebter,“ entgegnete das Mädchen gefaßt, „schon einmal befanden wir beide uns in ähnlicher Situation. Auch damals wollten wir unserem Leben ein Ende durch Erschießen machen. Damals hätten wir auch die Möglichkeit gehabt. Es kam nicht dazu. Heute haben wir die Möglichkeit nicht. Wer weiß, wozu das gut ist …“

Mahadur Mirat nickte nur, sagte nichts. Hoffnung? Er hatte keine mehr. Aber er bewunderte Hella, die, obwohl sie sicherlich ähnlich empfand, ihn zu trösten suchte. –

Was mochte nur die Schwarzen zu der Verzögerung veranlassen? Tag um Tag verging, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Regelmäßig wurde den Gefangenen Nahrung gebracht. Eine Art Brot, aus feuchtem, grobem Teig, schwärzlich und rund, etwa tellergroß. Anfangs empfanden sie Ekel vor der unbekannten Speise, wohl hauptsächlich infolge des Gedankens, daß sie von Kannibalen herrührte.

Aber der Hunger siegte. Da stellte sich dann heraus, daß die brotähnlichen Stücke keineswegs schlecht schmeckten. Im Gegenteil. Nun zögerten sie auch weiterhin nicht mehr, zu essen. Das Gefühl des Ekels war verschwunden.

Aber ein Tag nach dem anderen zog herauf, dehnte sich endlos, versank. Ein Tag nach dem anderen; ohne Ereignis. Vielleicht sollten sie für irgendein besonderes Fest der Schwarzen als „Festtagsbraten“ aufbewahrt werden. Das hatte Türck gesagt, sich damit nach langer Zeit wieder einmal zu einem Witzwort aufraffend.

Tags darauf wurden sie geholt, alle vier, auf einen grünen Platz mitten im Wald geführt und dort wiederum an Pfähle gebunden. Auch hier blieben Wachen bei ihnen zurück, während die übrigen Insulaner sich wieder entfernten. War es jetzt soweit?

Es schien so. Nach und nach erschienen immer mehr Schwarze auf der Lichtung. Standen in Gruppen, eifrig schwatzend. Immer wieder zeigten sie auf die vier Gefangenen. Da war klar: die Gefangenen bildeten den Mittelpunkt des Interesses.

Allmählich hatte sich der Platz mit den Schwarzen gefüllt. Daß heute ein besonderer Tag für sie sein mußte, konnte man aus dem Schmuck, den sie trugen, ersehen. Männer und Weiber unterschieden sich nur wenig darin.

Jetzt kam eine Reihe älterer Männer auf den Platz, denen ehrerbietig eine Gasse geöffnet wurde. Dreimal umschritten diese Alten die Pfähle mit den Gefangenen. Blieben dann stehen, indem sie den Kreis geschlossen hielten.

Die übrigen Insulaner umdrängten dicht den Kreis der Alten, starrten neugierig und unverwandt auf die Mitte des freigebliebenen Platzes, wo an Pfählen angebunden die weißen Gefangenen standen. Plötzlich begannen die Alten eine eintönige, seltsam rhythmische Melodie zu singen, wobei sie gleichmäßig den Takt mit den Füßen stampften.

Das dauerte eine geraume Weile. Dreimal sangen die Alten. Zögernd und vereinzelt fielen die Umstehenden ein. Endlich tönte der eintönige Sang aus den Kehlen aller über den Platz. Bis ein Schrei der Alten alle mit einem Schlag verstummen ließ. Ruhe trat ein. Kein Laut störte die unheimliche Totenstille. Auch die Gefangenen verhielten sich schweigend. Sie fühlten, daß jetzt ihr Stündlein gekommen war.

Der Alte, der den Schrei ausgestoßen hatte, trat in die Mitte des Kreises, in der Rechten trug er ein beilartiges Instrument. Den Gefangenen schien das Blut in den Adern zu stocken. Würde es nun geschehen, das Gräßliche?

In diesem Augenblick höchster Spannung entstand eine Bewegung unter den Schwarzen. Stimmengemurmel wurde laut. Der Kreis der Alten löste sich auf. Der mit dem Beil lief zu den anderen. Alle richteten ihre schwarzen, glänzenden Gesichter nach oben …

Auch die Gefangenen sahen unwillkürlich in die Höhe und erblickten – ein riesenhaftes, seltsames Etwas durch die Luft kommen; ein großes Flugschiff, das jedoch mit den bisher bekannten überhaupt keine Ähnlichkeit aufwies. Wie ein fliegendes Riesenautomobil sah es beinahe aus. Rechts und links ragte ein stumpfes kurzes Flügelpaar aus dem massigen Körper des Flugschiffes hervor.

Nur wenige Sekunden lang konnten sie das merkwürdige Luftfahrzeug sehen. Dann hatte es sich hinter die Bäume des Waldes gesenkt. Die Schwarzen standen wie von Furcht gebannt da. Sie flüsterten in Gruppen über diese Erscheinung, dabei immer wieder ängstlich emporblickend. Hin und wieder deutete der einer oder der andere auf die Gefangenen. Vielleicht brachten sie die Erscheinung mit diesen in Zusammenhang.

Ein Flugschiff! Die Gefangenen dachten wohl eine Sekunde lang an Harald Dörcksens neuen großen Plan. Doch wie sollte er jetzt gerade hierher kommen?! Aber dann krachten plötzlich eine Anzahl Schüsse vom Rand des Waldes. In die Massen der Schwarzen kam Bewegung. Schreiend stoben sie auseinander, liefen über den Platz, verschwanden auf der anderen Seite im Dickicht.

Die Gefangenen aber trauten ihren Augen nicht. Dort kam auf den Platz ein kleines Häuflein Weißer gestürmt, Revolver in den Händen. Allen voran ein Alter mit grauem Bart …

„Vater!“ rief Hella jauchzend.

Ja, es war Harald Dörcksen!

 

6. Kapitel

Erschüttert hatten alle in dem Flugschiff der Erzählung Kapitän Söders gelauscht. Wirklich, was jene auf der Insel der Kannibalen erlebt hatten, mußte grauenvoll gewesen sein.

„Welch glückliche Fügung des Schicksals, daß wir es gerade sein mußten, die Thomas Crosterbroux’ Leiche auf der Eisscholle schwimmend entdeckten!“ sagte Harald Dörcksen. Söder nickte.

„In der Tat. Es hat doch etwas für sich, an die Vorsehung zu glauben.“ –

Nun steuerte der „Meteor“ dem Festland Südamerikas zu, dessen Küste bereits nebelhaft in der Ferne aufzutauchen begann.

„Wir haben nun,“ nahm Harald Dörcksen wieder das Wort, „noch eine Pflicht zu erfüllen. Die Tagebuchaufzeichnungen Thomas Crosterbroux’ schlossen mit der Bitte an den eventuellen Finder, er möge dafür sorgen, daß sein Erbe seiner Tochter Ellen erhalten bliebe. Seine daraus hervorgehende Besorgnis, es könnte eventuell nicht geschehen, daß das rechtmäßige Erbe des Platinkönigs Ellen Crosterbroux zufiele, ist durchaus berechtigt. Denn einmal ist das Mädchen seit einiger Zeit geisteskrank, außerdem wird Crosterbroux seit seinem Verschwinden aus Agra, das man ganz richtig mit mir und meinen Plänen in Zusammenhang bringt, von der britischen Regierung als Schädling angesehen. Und da in der Olympia-Frage alle Regierungen Europas und Amerikas einig sind, steht zu erwarten, daß sie, wenn der Tod des Platinkönigs bekannt würde, sein Vermögen einfach als dem Staat verfallen erklären würden. Selbstverständlich wäre das Raub; doch das kümmert den Staat wenig, wie seine Angehörigen das bezeichnen. Wenn er nur den Nutzen davon hat. Ist es nicht mit einem gut Teil der Steuern ganz dasselbe? Also –: Man müßte mit List vorgehen. Jedenfalls hoffe ich, meine Freunde, daß ihr alle mit mir der Meinung seid, daß wir diesen letzten Wunsch des Toten respektieren und Ellen Crosterbroux zu ihrem Erbe verhelfen müssen. Und das um so mehr, als Crosterbroux ja eigentlich längst einer der Unseren war. Wenn Ellen uns zu schaden getrachtet hat, dann entsprang das nur ihrer unglücklichen Erkrankung. Die hoffnungslose Liebe zu Mahadur Mirat und ihre von Natur aus unbändige Leidenschaft haben ihr den Verstand geraubt. Aber sie wird hoffentlich noch einmal von ihrem Wahn genesen. Nun, wie denkt ihr darüber, Freunde?“

Der Erfinder stieß auf keinerlei Widerspruch. Im Gegenteil; alle waren der Ansicht, daß es unbedingt Pflicht sei, des Toten letzten Wunsch zu erfüllen. Es wurde beschlossen, zunächst noch einmal nach Dörcksen-Land zu fliegen und danach unverzüglich an die neue Aufgabe heranzugehen. Der „Meteor“, der mit dem großen Flug nach Süden bis ins antarktische Meer seine Probe glänzend bestanden, würde auch weiterhin den Anhängern der Wolkenkönigin als bestes Hilfsmittel Dienste leisten.

Ohne Zwischenfall ging die Fahrt vonstatten. Glatt verlief die Landung auf Dörcksen-Land, wo die Ankommenden stürmisch von den Zurückgebliebenen begrüßt wurden. Die hatten schon geglaubt, dem Flugschiff wäre ebenso wie dem „Delphin“ etwas zugestoßen.

Nur Kapitän Söder und Türck schlichen umher, still und bedrückt. Wer mochte es ihnen verdenken. Daß ihnen der Verlust ihres prachtvollen Motorschiffes sehr nahe ging, war ohne weiteres verständlich.

Zuerst gönnten sich nun alle auf Dörcksen-Land einen Ruhetag. Das bevorstehende neue Unternehmen wurde besprochen. Es würde nicht leicht werden, Ellen Crosterbroux das Vermögen ihres Vaters zu retten.

Es würde riskant werden, sich mit dieser Sache anzunehmen. Wußte man doch seit Söders Gefangensetzung in London ganz genau, wie scharf die Regierungen hinter den Anhängern oder gar den Führern der Olympia-Bewegung her waren. Dennoch kamen Dörcksen und die Seinen nicht etwa auf den Gedanken, den Entschluß aus diesen Gründen fallen zu lassen. Nein, sie hatten sich gelobt, dem letzten Wunsch ihres verstorbenen Freundes zu entsprechen. Und dabei blieben sie auch.

Eine andere Frage war es, die sie viel mehr und angestrengter beschäftigte: wie das Unternehmen in die Wege geleitet werden sollte. Man konnte unmöglich mit dem „Meteor“ einfach nach New York fliegen und dann da mit der Arbeit beginnen. Jedes Aufsehen zu vermeiden, war das erste Gebot, das Erfolg verhieß.

Nur List und geheimes Vorgehen konnten da etwas ausrichten, und wer wäre für diese schwierige, Schlauheit, Umsicht und Kühnheit erfordernde Aufgabe mehr geeignet gewesen, als Burne, der ehemalige politische Detektiv? Hella Dörcksen war es, die diesen Gedanken aussprach. Er wurde von allen übrigen mit Begeisterung aufgenommen. Man bestürmte den Detektiv sogleich mit Fragen, ob er gewillt sei, die Aufgabe zu übernehmen. Burne schwieg eine Weile, sah dabei nachdenklich vor sich hin. Nickte dann langsam.

„Ich werde die Sache machen,“ sagte er einfach. Harald Dörcksen streckte ihm die Hand hin.

„Wetten, daß Sie bereits einen bestimmten Plan haben –?“

Burne lächelte.

„Allerdings, den habe ich. Hatte ihn schon, bevor Sie darauf kamen, daß ich es sein könnte, der … Aber nun entschuldigen Sie mich. Es ist spät. Ich bin müde. Wir wollen schlafen gehen.“

Man stimmte ihm allgemein zu und brach auf. Ein Teil der Bewohner von Dörcksen-Land schlief jetzt immer in den Kabinen des Flugschiffes. Gleichsam als Bewachung, obwohl die hier auf der Insel durchaus nicht nötig war. Die übrigen bewohnten nach wie vor die Felsengemächer im Innern des großen, hohen Felsens.

Wenig später lag alles in Dunkel und Schlaf. Wachen wurden hier nie ausgestellt. Wozu auch? An die Insel kam schwerlich ein fremdes Schiff heran. Nachts schon gar nicht. Und auf der Insel selbst befand sich niemand, um dessentwillen man hätte wachsam sein müssen. Ellen Crosterbroux war mehr und mehr in Apathie verfallen, vegetierte nur so dahin. Auch von ihr war also nichts mehr zu befürchten.

Alles schlief. Alles war dunkel. In einer der kleineren, abgelegenen Felsenkammern nur glomm noch ein mattes Licht. Dort saßen noch zwei Männer in leisem Gespräch beisammen. Die beiden Schiffbrüchigen Wood und Field waren es.

„Ich habe so ziemlich alles hören können,“ sagte Wood soeben, „es handelt sich um das Vermögen des Platinkönigs. Burne wird versuchen, es für dessen Tochter zu retten. Wenn’s ihm gelingt, – nur zu. Je mehr Geld hier ist, desto besser für uns, falls die Fahrt nach dem Land der Wolkenkönigin mißlingt.“

Der andere machte eine unbestimmte Handbewegung, brummte etwas Unverständliches.

„Ach ja,“ fuhr Wood eifriger fort, „du hast kein Talent zum Abenteurer großen Stils. Die Geduld verlieren? Das ist verkehrt. Wie lange bin ich schon hinter der Möglichkeit her, zu dem Goldschatz von Olympia zu gelangen! Ich lasse nicht nach. Es ist das sozusagen zu meiner Lebensaufgabe geworden. Und – leben wir hier nicht ganz gut. Mag es doch dauern! Wir haben nichts zu verlieren, können nur – gewinnen.“

Field hob die Achseln.

„Man wird uns vorher von dieser Insel entfernen. Solange jene durch allerhand Zwischenfälle mit sich selbst stark genug beschäftigt waren, vergaßen sie uns. Jetzt aber … ich glaube nicht daran, daß wir die Fahrt nach Olympia mitmachen werden.“

„Eher sprenge ich den „Meteor“ mit allem, was darin ist, in die Luft, ehe ich zulasse, daß jene ohne uns die Fahrt zum Land der Wolkenkönigin antreten.“ Bei den letzten Worten hatte er mit der Linken den Verband, den er angeblich wegen Eiterung der bei dem Schiffbruch erlittenen Verletzung an der rechten Stirnhälfte immer noch trug, herabgerissen. Aber diese Stirn wies nicht die Spur einer Verwundung auf …

Fast unheimlich, in einem wilden Entschluß, starrte das Gesicht dieses Abenteurers in die flackernde Kerzenflamme, – dies Gesicht, das die Zeichen aller bösen Leidenschaften trug, das Gesicht – Harry Leakwoords …

 

 

Dritter Teil

Um Crosterbroux’ Millionen

 

1. Kapitel

„Schiff ahoi!“ rief der Mann im Wasser. Die Insassen der Segeljacht waren bereits auf ihn aufmerksam geworden. Das zierliche Schiff beschrieb eine elegante Kurve. Es langte damit genau an die Stelle, wo der Mann im Wasser um Hilfe gerufen hatte. Dann wurde der Fremde am Heck empor ins Schiff gezogen. Das war nicht ganz einfach, da er schon sehr erschöpft war. Aber es gelang.

Einen Moment sank der Fremde zurück und schloß die Augen, während das Wasser in kleinen Bächen aus seinem Anzug rann, der gut bürgerlich aussah.

Er erwachte nun wieder. Die vier Herren der Segeljacht gaben ihm Kognak, der ihn sichtlich belebte.

„Wie sind Sie denn in diese Situation gekommen?“ fragte man ihn.

„Ja, wenn ich das wüßte! Ich habe mit einigen Herren, die ich auf einer Reise von Philadelphia nach New York kennen gelernt hatte, eine Motorbootpartie unternommen. Ich saß auf dem Bootsrand am Heck. Da muß mich wohl ein Schwindel befallen haben … Jedenfalls kam ich zu mir, als ich im Wasser trieb.“

„Und das Motorboot mit den anderen?“

„Von denen war nichts mehr zu sehen.“

Die Herren schüttelten die Köpfe.

„Merkwürdig, höchst merkwürdig.“

Der Fremde nickte.

„Ja, das muß ich zugeben. Aber es ist wirklich so, wie ich es gesagt habe. Sie können mir glauben. Mein Name ist Stuart Clerk! Ich betreibe ein Konditorgeschäft in Philadelphia. Wenn Sie es wünschen, – hier ist meine Legitimation.“

Dabei griff er mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes, zog sie aber mit einem Ruf der Überraschung wieder leer heraus.

„Ich bin bestohlen! Meine Brieftasche –!“ rief er.

„Bestohlen –? Brieftasche? War viel darin?“ wurde durcheinandergefragt. Der Fremde nickte aufstöhnend.

„Für meine Verhältnisse war es viel. Achthundert Dollar! Ich hatte das Geld seit langer Zeit zusammengespart, um endlich mein Geschäft zu vergrößern. Wollte mir in New York dafür eine neue Speiseeismaschine nebst Motor kaufen. Und nun ist alles weg!“

Er raufte sich förmlich das Haar. Die vier sahen ihn mitleidsvoll an. Einer von ihnen hatte inzwischen einen Reserveanzug aus der Kajüte geholt. Der Fremde begann sich umzukleiden.

„Hatten Sie mit Ihrer Reisebekanntschaft von dem Grund Ihrer Fahrt nach New York gesprochen?“

„Ja …“

„Ah – sehen Sie!“ Sich zu den anderen wendend: „Das ist auch wieder so ein Fall von leichtsinniger Unvorsichtigkeit. Man kann doch nie wissen, wer es ist, den man kennenlernt. Der Fall“ – wandte er sich zu dem Fremden zurück – „liegt meiner Meinung nach völlig klar. Jene Leute hatten es nur auf Ihr Geld abgesehen. Aus dem Grunde luden sie Sie zu der Motorbootfahrt ein. Sie werden wohl nicht infolge eines Schwindels ins Wasser gefallen sein, – das hätte doch zweifellos bemerkt werden müssen, und man würde Sie herausgezogen haben – sondern man wird Sie betäubt haben. Tranken Sie mit jenen Leuten irgend etwas während der Fahrt?“

„Ja, Wein.“

„Ah, da haben wir es ja schon! Wein! Sie sind betäubt, beraubt und ins Wasser geworfen worden, worauf die sauberen Herrschaften einfach davonfuhren. Mit anderen Worten: Raubmordversuch.“

Während Clerk sich umzog und dann kräftig der vorgesetzten ausgezeichneten Mahlzeit zusprach, wurde noch viel über den unerhörten Fall gesprochen. Inzwischen wandte sich das Schiff Hoboken zu, von wo es gekommen war. Die vier Herren waren anscheinend die Besitzer der eleganten Jacht.

„Sie haben nun wohl auch kein Geld, nach Philadelphia zurückzufahren?“ fragte der eine.

„Allerdings – nein!“ gab der Fremden zurück.

Darauf reichte ihm der andere eine Zehndollarnote.

„Hier, Herr Clerk. Sie können es mir ja von Philadelphia aus zurückschicken. Ich gebe Ihnen meine Adresse.“

Erfreut griff der Konditor nach dem Geld.

„Ah, Sie wollen wirklich –! Das ist schön. Ich habe doch wirklich noch mehr Glück wie Verstand, so menschenfreundliche Retter zu finden!“ –

Knapp zwei Stunden darauf hatte die Segeljacht Hoboken, den Hafen New Yorks, wo die großen Überseedampfer anlegten, erreicht. Unter vielen Dankesworten verabschiedete sich der Gerettete und entfernte sich mit dem ihm gar nicht passenden Anzug, das Paket mit seinen eigenen, noch nassen Sachen unter dem Arm. Die vier sahen ihm nach.

„Komischer Kauz,“ meinte der eine, „der Mensch sah mir eigentlich wenig vertrauenerweckend aus. Und was er erzählte, klang so – na, ich weiß nicht, wie ich mich da ausdrücken soll. Ob wir wohl die zehn Dollar und den Anzug jemals wiedersehen werden?“

Sie hätten vielleicht noch viel mehr Ursache gehabt, sich zu wundern und an Herrn Clerk zu zweifeln, wenn sie Gelegenheit gehabt hätten, ihm weiter zu folgen. Der Konditor schritt mit offensichtlicher Ortskenntnis dahin, suchte die nächste Untergrundbahnstation auf, fuhr ein Stück weit und – stieg dann in einem Hotel ab.

„Ist doch nur gut, daß es Klebstoff gibt, der sich in Wasser nicht auflöst,“ murmelte er und betupfte seinen Schnurr- und Vollbart mit einer wasserhellen Flüssigkeit aus einem Fläschchen, das wohlverwahrt in einer Tasche seines durchnäßten Anzuges geruht hatte. Dann zog er beide Teile langsam vom Gesicht ab. Sehr verändert sah Herr Clerk aus Philadelphia nach dieser Prozedur aus. Er ähnelte jetzt ganz und gar dem – Detektiv Burne. War es natürlich auch.

„So,“ sagte er und ließ sich behaglich aufs Sofa fallen, „in New York wären wir glücklich angelangt. Auf Umwegen zwar, ohne eigenen Paß usw. – Aber das ist gleichgültig. Nun an die Arbeit. Doch noch ist’s zu hell.“ –

Nach Einbruch der Dunkelheit begann Burne dann eine seltsame Tätigkeit. Wieder in der Maske des „Konditors“, begab er sich nach Hoboken zurück. Die Anlegestelle der Segeljacht hatte er sich genau gemerkt. Sie war in einer Gegend, wo eine ganze Anzahl von Bootshäusern nebeneinander lag.

Leise und vorsichtig schlich Burne heran. Harte Tritte erklangen irgendwo. Als wenn jemand mit schweren Stiefeln langsam über Steinpflaster schritt. Ein Wächter –? Der Detektiv drückte sich in den tiefen Schatten einer Nische. Richtig, da bog der Mann um die Ecke. Ahnungslos ging er dicht an Burne vorüber, verschwand hinter einem großen Kistenstapel …

Burne huschte aus seinem Versteck hervor. Schlüpfte in den schmalen Gang zwischen zwei Bootshäusern … erreichte das Wasser …

Da lag, leise schaukelnd, die Segeljacht der „Retter“. Burne schwang sich behende und geräuschlos an Bord, ging zum Heck, beugte sich weit über die Reling und tauchte die Hand ins Wasser. Als er sie wieder herauszog, hielt er einen starken Strick darin. Zog daran … zwei, drei Meter zog er aus dem Wasser und dann – einen viereckigen Gegenstand, von dem das Wasser ablief, als sei er fettig. Der Gegenstand sah fast aus, wie ein kleiner Handkoffer, der mit Öltuch bezogen war.

Burne trat den Rückweg an. Vorsichtig lauschend und spähend. Der Wächter war nicht zu sehen. Wie ein Schatten huschte der Detektiv mit dem Paket davon. Wenig mehr als eine halbe Stunde später war er wieder in dem Hotel angelangt. Er packte den Koffer auf. Da war alles darin, was er brauchte: Schminke, Bärte und allerlei anderes Handwerkszeug des Detektivs. Ferner verschiedene Papiere.

Der Plan war gelungen! Er war unbemerkt und unerkannt nach New York gekommen. Harald Dörcksens Flugschiff hatte ihn bis in die Nähe des Hafens gebracht. Gewiß, das Meer war hier von Schiffen belebt, und der „Meteor“ war ohne Zweifel gesehen worden. Aber – wer achtete heute noch besonders auf ein Flugzeug, selbst wenn es ein etwas absonderliches Aussehen hatte –? Man sah wohl mit Interesse nach ihm, vergaß es aber bald wieder. Man war an dergleichen in dieser Zeit schon gewöhnt.

Kein Schiff war in der Nähe, als Dörcksen das Luftschiff auf die Wasserfläche niedergehen ließ. Und dann sprang der Detektiv einfach ins Meer. Der „Meteor“ hob sich und verschwand bald in der Ferne.

Burne aber war folgendermaßen ausgerüstet: mit einem Arm hielt er sich an einem ledernen Griff, der an einem kurzen Brett befestigt war, stark genug, ihn über Wasser zu halten. Seine andere Hand hielt an einem etwa drei Meter langen Seil einen viereckigen Gegenstand, – eben jenen vorhin beschriebenen kleinen, wasserdicht geschlossenen Handkoffer mit den erwähnten Utensilien.

So schwamm er nun. Ruderte sich langsam der Küste zu. Und das erstbeste Schiff, das vorbeikam, rief er um Hilfe an. Das war die Segeljacht der vier Amerikaner gewesen. Was dann geschah, ist bekannt. Sein Plan war geglückt. Ohne daß er Paß, Einreisevisum oder dergleichen gebraucht hätte, war er in New York. So ahnte kein Mensch etwas von seiner Ankunft; am allerwenigsten die politische Polizei, die sicherlich neben Harald Dörcksen, Mahadur Mirat und den übrigen Beteiligten der Olympia-Bewegung auch nach ihm fahndete. Vor Nachstellungen von dieser Seite also einstweilen völlig sicher, konnte er mit seiner Tätigkeit beginnen.

 

2. Kapitel

Bankhaus Gould & Co. Die Zeit des größten Geschäftsverkehrs. Die Angestellten hatten alle Hände voll zu tun. Alle, vom Abteilungschef bis zum Liftboy. In langen Reihen standen vor den Schaltern die Menschen, die abgefertigt werden wollten; Geld holen oder bringen. Der Andrang in diesen Vormittagsstunden war immer groß. Aber die Abfertigung ging mit unbürokratischer, amerikanischer Präzision und Geschwindigkeit vor sich.

Kein Besinnen. Maschinenhaft schnell und exakt arbeiteten die Angestellten.

„John Smith – sechstausend Dollar –? Allright!“

Ein Vermerk – der Scheck flog in einen kleinen elektrischen Förderkorb, mit diesem zu der nächsten Dienststelle, die ihn prüfte, der übernächsten, die ihn eintrug – und so weiter; alles in Sekunden. Inzwischen hatte sich der Bankkunde Smith mit der ihm ausgehändigten und auf dem Scheck vermerkten Nummer zum Kassenschalter begeben. Dort wurden nacheinander die Nummern aufgerufen; erfolgten die Auszahlungen.

„Thomas Crosterbroux – eine Million und dreihunderttausend Dollar –? Allright!“

Der Scheck sauste mit dem Vermerk los. Die Nummer flog dem vor dem Schalter Stehenden entgegen. Kein Zögern ob der hohen Summe. Dazu war die Prüfungsstelle da. Als die Nummer zu Crosterbroux’ Scheck am Kassenschalter aufgerufen wurde, flog dem Empfänger jedoch nur eine weiße Karte zu, auf der das eine Wort „Beanstandungsschalter“ gedruckt war. Ah, da mußte etwas nicht stimmen!

„Ihr Konto wäre mit diesem Scheck um dreihunderttausend Dollar überhoben,“ sagte der Beamte. Crosterbroux aber zog den beanstandeten Scheck ohne weiteres an sich. An einem der vier Schreibpulte schrieb er gelassen ein neues Scheckformular aus, das bereits seinen Namenszug trug. Dann ging die Sache von neuem los.

Wenig später ging Stuart Burne in der tadellosen Maske Thomas Crosterbroux’ mit der „geretteten“ Million hinaus. Nicht weit. Er verschwand in einer der Toiletten des Bankhauses. Doch wer den Hineingehenden beobachtete und etwa auf sein Wiedererscheinen gewartet haben würde, mußte endlose Geduld haben. „Crosterbroux“ kam nicht wieder. Burne hatte in anderer Maske längst das Haus verlassen.

Unterwegs grübelte er über eins nach. Nach den Papieren, die Crosterbroux bei sich hatte, hätte sich auf dieser Bank noch ein Depot von einer Million und dreihunderttausend Dollar befinden müssen. Wo waren die dreihunderttausend geblieben? Seltsam. Sollte der Platinkönig seine eigenen Zahlen falsch notiert haben. Das war bei solch einem Geschäftsmann eigentlich undenkbar. Woher dann aber die Differenz?

Natürlich kam Burne bei dieser Grübelei zu keinem Resultat. Schließlich war das ja auch keine Frage von besonderer Bedeutung. Hauptsache blieb doch, daß er das Geld, das Crosterbroux auf dieser Bank liegen hatte, für Ellen mit List und des Platinkönigs gefälschter Unterschrift bekommen hatte. Noch zwei ähnliche Depots waren jetzt zu heben und der Verkauf der anderen Papiere zu arrangieren. Letzteres konnte leider nicht ohne Verluste vor sich gehen. Die einzige Möglichkeit war da, daß der Detektiv die Papiere auf der Börse weit unter Kurs verkaufte.

Blieb dann noch das Haus Crosterbroux’ in New York und das in Agra. Mit den beiden wollte Burne nichts unternehmen. Es konnte doch sein, daß die Gebäude Ellen gelassen wurden. Verkaufte er sie, waren sie nie mehr zu ersetzen. Denn beide waren nach persönlichstem Geschmack erbaut und bargen sicherlich für Ellen eine Menge Erinnerungen.

Den Verkauf der Papiere auf der Börse wollte Burne noch heute vornehmen. Er fuhr nach Wallstreet, und dort ging denn auch alles schnell und glatt vonstatten. Die beiden Bardepots ließ der Detektiv für den nächsten Tag. Doch der sollte ihm eine besondere Überraschungen bringen.

Bei der ersten Bank ging es ihm genau so wie tags zuvor. Das Konto war nicht mehr so groß wie es hätte sein müssen nach Crosterbroux’ Notierungen. Diesmal sondierte der Detektiv vorsichtig. Da erfuhr er dann, daß der fehlende Betrag vor kurzem erst abgehoben worden war, – zu einer Zeit, als der Platinkönig bereits tot war!

Wie hing das zusammen? Tief in Gedanken gelangte Burne zur dritten Bank. Ging an den Schalter … Mehrere Personen standen noch vor ihm. So mußte er eine kleine Weile warten.

Da sah er von der anderen Seite des Raumes, wohl von den Kassenschaltern her, einen Herrn kommen … und dieser Herr – war er selbst! Das heißt: war Thomas Crosterbroux! Sekundenlang starrte der Detektiv hinter jenem her. Fieberhaft arbeitete sein Hirn. Crosterbroux –? Dort ging also der Schwindler, der in der Maske des Platinkönigs und wohl ebenfalls mit seiner gefälschten Unterschrift die Differenzbeträge abgehoben hatte! Wer mochte es sein?

In diesem Augenblick legte sich eine Hand von hinten schwer auf die Schulter des Detektivs.

„Im Namen des Gesetzes; Sie sind verhaftet!“

Burne fuhr herum. Zwei Männer standen hinter ihm. Auch der zweite wollte jetzt nach Burne fassen. Doch der schüttelte hastig den Kopf, riß sich den Bart ab, deutete nach dem anderen „Crosterbroux“ hin.

„Dort, meine Herren, geht der, den Sie suchen. Ein Schwindler. Ich bin hinter ihm her …“

Die beiden Kriminalbeamten folgten unwillkürlich mit den Augen der Richtung, die Burnes Arm wies. Sahen den anderen … Sie waren verblüfft. Was sollten sie davon halten. In der momentanen Verwirrung wußten sie es nicht. Jenem nachgehen? Bei Burne bleiben und sich seiner versichern? Es kam auf Sekunden an.

Endlich verständigten sie sich mit ein paar abgerissenen Sätzen. Einer von ihnen sollte jenem Schwindler nacheilen; der andere wollte diesen hier festhalten. Der zurückbleibende Kriminalbeamte wandte sich nach Burne um. Aber der war verschwunden. Er hatte den Augenblick der Verwirrung der beiden Beamten benutzt und war – „verduftet“.

Auf Umwegen fuhr Burne zu seinem Hotel zurück. Einmal war es ihm, als verfolge ihn ein verdächtiges Individuum. Aber dann glaubte er wieder, sich getäuscht zu haben. Den Rest des Tages verbrachte er in seinem Zimmer. Nur die Zeitungen ließ er sich kommen. Richtig stand da schon in einem der Abendblätter von dem Auftauchen eines Betrügers in der Maske des bekannten Platinkönigs.

Mit Spannung las Burne den Bericht. Darin war aber nur von einem Schwindler die Rede. Und der war den Beamten nach längerer Verfolgung doch entwischt. Davon, daß eigentlich zwei Crosterbroux’ zugleich aufgetaucht waren, nicht ein Wort. Wie war das zu erklären? Jener Beamte, dem Burne entwischt war, mußte doch durch seine Flucht erkannt haben, daß auch er nicht einwandfrei und nicht als Detektiv hinter dem anderen her war, wie er angegeben hatte.

Aber wahrscheinlich hatten die beiden Kriminalbeamten den Zwischenfall mit Burne sowohl ihrer Behörde als auch dem Reporter der Zeitung verschwiegen, um sich nicht zu blamieren.

Was nun? Das Depot des Platinkönigs, das letzte, das Burne noch nicht abgehoben hatte, mußte er nun wohl vergessen, wollte er sich nicht doch noch in die Gefahr begeben, verhaftet zu werden. Denn, daß jene Bank jetzt besonders scharf bewacht wurde, daß man intensiv nach „Crosterbroux“ fahndete, war anzunehmen. Wenn dann die Polizei obendrein noch erfahren hätte, daß er der „abtrünnige“ Burne war, dann war alles verloren. Und das durfte auf keinen Fall geschehen.

 

3. Kapitel

„Verehrter Mitkämpfer! Wir werden das Geld dennoch bekommen! Zusammen, auf andere Weise! Seien Sie heute abend elf Uhr im „Krokodil“, Bowery 112! Der Andere!“

Kopfschüttelnd drehte Stuart Burne das Papier in der Hand. Er hatte es morgens in der Türritze gefunden. Das Blatt selbst, wie auch der Umschlag, in dem es steckte, waren billigster Sorte. Die Handschrift aber wies einen eleganten Schwung aus.

Sofort erinnerte sich der Detektiv jenes Individuums, das er gestern auf dem Heimweg in dem Verdacht gehabt hatte, daß es ihn verfolge. Dem war also wohl wirklich so gewesen. Jener zweite falsche Crosterbroux konnte es nicht gewesen sein. Demnach wohl ein Komplize, der mit jenem Hand in Hand arbeitete. Die beiden Schwindler sahen nun anscheinend in ihm einen Artgenossen, der zufällig auch auf den Gedanken gekommen war, die Banken in der Maske des Platinkönigs zu brandschatzen.

Soweit war der Fall klar. Jener Komplize hatte also Burne bis hierher ins Hotel verfolgt. Der „Andere“ schrieb dann den Zettel und brachte ihn hierher. Das „Krokodil“ in der Bowery! Er kannte das Lokal, wie er die ganze Straße kannte. Die Bowery, die verrufenste Verbrechergegend New Yorks; das „Krokodil“ eins der wüstesten Lokale darin. Einen geeigneteren Treffpunkt zum Abschluß dunkler Verträge hätte man kaum finden können. –

Als die Zeit heranrückte, machte Stuart Burne sorgfältig Maske, steckte seinen siebenschüssigen Browning zu sich und noch einiges andere und machte sich auf den Weg. Die Maske war notwendig. Der Zufall konnte es fügen, daß dieser oder jener von der Polizei ihn erkannte. Also lieber Vorsicht. Kurz nach elf Uhr betrat er das bezeichnete Lokal. Einige Stufen führten von der Straße aus zum Eingang hinunter.

Der Raum war gut besetzt. Nur wenige Tische noch frei. Der Auswurf der Weltstadt verkehrte hier. Wer dementsprechende Studien machen wollte, hätte hier die beste Gelegenheit dazu gehabt. Doch dazu war Stuart Burne nicht hierher gekommen, wollte es nicht.

Er setzte sich an einen freien Tisch, bestellte ein Getränk und – wartete. Eigentlich war er auf die Entwicklung dieser Sache gespannt. Jener Unbekannte kannte Burne nicht von Angesicht. Burne ihn erst recht nicht. Ein Erkennungszeichen hatte der in dem Brief nicht angegeben. Wie sollten sie denn nun zusammenkommen?

Je nun, das war ja schließlich Sache des anderen. Im Grunde genommen hatte ja Burne an der ganzen Angelegenheit nur zweitrangiges Interesse. Lediglich aus alter Gewohnheit, weil das Kriminelle dabei ihn reizte, war er dem Ruf gefolgt. Bis der „Meteor“ Harald Dörcksens ihn wieder abholen kam, blieben noch einige Tage. Die mußten doch irgendwie ausgefüllt werden.

Er wartete. Trank ein zweites Glas. Wartete weiter. Um die mißtrauischen Blicke, die ihn von den Nachbartischen ringsum trafen, kümmerte er sich nicht. Er war sich dessen bewußt, daß seine Maske gut war, daß er sich in nichts von den Stammgästen dieses Lokals unterschied. Nur, daß er hier fremd war, immer noch allein saß, konnte auffallen.

Nichts ereignete sich. Zwei Stunden saß der Detektiv vergeblich da. Schon faßte er den Entschluß, zu gehen, als der Wirt ihm unaufgefordert ein neues, volles Glas vorsetzte. Also blieb er noch eine Weile. Langsam trank er, schaute zwischenein durch den Tabakqualm in den Raum … Die Rauchwolken dichter und dichter. Ganz seltsam. Die Gestalten ringsum verschwanden fast darin. Aber recht sich darüber wundern, dazu kam Burne nicht mehr. Denn da war sein Kopf schon vornüber auf die Tischplatte gesunken. Burne – schlief!

*

Das war ja eigentlich ein genialer Trick der Polizei gewesen, ihn mit Hilfe des Wirtes der Spelunke zu betäuben. Und nun drangen sie auf ihn ein, alle auf einmal, er solle gestehen. Dabei wußte er gar nicht, was er gestehen sollte. Das machten sie ihm bald klar: daß er Banken beraubt, Unterschriften gefälscht und noch allerlei andere Verbrechen begangen habe. Aber das Schlimmste sei doch der Mord an Thomas Crosterbroux, den er im antarktischen Meer erschlagen und dann auf einer Eisscholle ausgesetzt habe. Ob er das gestehe?

Burne wandte gequält den Kopf hin und her. Die Schläfen hämmerten. Wenn er nur hätte sehen können, woher die grellen Lichtstrahlen kamen, die ihn blendeten. Aber da waren so viele Menschen … und viele Stimmen; die redeten alle durcheinander. Empört waren sie über soviel Verworfenheit. Den armen Platinkönig zu erschlagen! Wenn der Mörder wenigstens gestanden hätte. Aber der war verstockt. Und so etwas war einmal in Diensten der politischen Geheimpolizei gewesen! Schrecklich.

Er glaube doch nicht etwa, daß man ihm einen langen Prozeß machen werde? Nein, abgeurteilt werde er sofort und auch sofort bestraft. Man sei sich schon einig, was mit ihm zu geschehen habe. Er solle den gleichen Tod erleiden, wie sein beklagenswertes Opfer, man würde ihn erschlagen und auf einer Eisscholle im Meer ausgesetzt. Eigentlich sei das noch viel zu gut für ihn. Ob er denn wenigstens gestehen wolle um des guten Abgangs willen?

Burne hoffte, daß man ihn endlich in Ruhe ließe. Er hatte Kopfschmerzen. Das Licht blendete ihn und die vielen Stimmen dröhnten in seinen Ohren. Was wollte man nur von ihm? Er hatte Crosterbroux nicht erschlagen. Der war doch südlich Feuerland auf der Eisscholle tot gefunden worden.

Das sei alles faule Ausrede, hieß es da. Er wolle nur sich auch hier herauslügen, wie er bisher die ganze Welt getäuscht und belogen habe. –

Er wußte wohl, daß das alles Unsinn war; wußte, daß er dalag und träumte. Sekundenlang wußte er es ganz gewiß. Dann verschwamm wieder alles. –

Durst hatte er. Es war aber auch unerträglich heiß. Dazu die mühselige Wanderung in dem tiefen Wüstensand. Denn nun hatte er den Zeitpunkt des Treffens mit Dörcksen und dem „Meteor“ versäumt und mußte zu Fuß hinterdrein. Die Sonne blendete ihn. Oder war es die Lampe im Vernehmungszimmer der Polizei?

Die waren sich immer noch nicht einig, welche Strafe er verdient hatte. Nur, daß er fluchwürdige Verbrechen begangen habe, sagten alle.

Endlich war es heraus. Er sollte den Tod des Verdurstens leiden. – Ein Bottich mit Wasser stand da; Burne dahinter, an die Wand geschmiedet. Durst hatte er. Furchtbaren Durst. Sah das Wasser; ganz dicht vor sich. Und konnte es doch nicht erreichen. Über dem Faß hing eine elektrische Lampe. Deren Schein spiegelte sich im Wasser. Das blendete Burne. Er wendete den Kopf hin und her. Aber es nützte nichts.

Durst – – –

Und dann war es doch wieder die Wüste, durch die er wanderte. Durch heißen, tiefen Sand. Dort vorn war eine Wasserstelle. Dahin schleppte er mit seinem quälenden Durst. Aber als er näherkam, war das, was er für eine glitzernde Wasserfläche gehalten hatte, nur eine Salzablagerung, die in der Sonne glitzerte. Die Strahlen der weißen blinkenden Fläche blendeten ihn. Er wollte die Augen schließen und ermattet zu Boden sinken. Aber er mußte weiter, weiter. Die Polizei war ja hinter ihm her.

*

Da war Burne plötzlich hell wach, all seine Traumvisionen verschwunden. Nur das blendende Licht blieb. Eine elektrische Birne hing dicht über seinem Kopf. Ihre Strahlen fielen ihm gerade in die Augen. Burne blinzelte. Da hörte er eine Stimme:

„Er ist aufgewacht …“

Burne öffnete die Augen ganz. Sah jetzt erst recht, wo er sich befand, in einem einfach möblierten kleinen Zimmer. Er lag gefesselt auf einem Diwan. Zwei ihm gänzlich unbekannte Männer saßen an einem Tisch. Einer von ihnen hatte eben die Worte gesprochen. Sie sahen beide nach ihm hin.

Burne war sofort im Bilde. Man hatte ihn in eine Falle gelockt. Der Wirt stand wohl mit den Verbrechern in Verbindung; hatte ihm ein Schlafpulver in das Getränk getan. Und nun saß er fest. War in die Falle getappt wie ein grüner Anfänger.

Einer der beiden Fremden stand auf, trat an Burne heran. Der Detektiv sah jetzt, daß sich mit einigem Geschick und Hilfsmitteln aus dem Gesicht dieses Mannes leicht dasjenige Crosterbroux’ nachbilden ließe. Die Vermutung wurde in ihm wach, daß dieser Mann der „andere“ Platinkönig gewesen sein konnte.

„Wer sind Sie?“ fragte der Fremde.

Burne gab die gleiche Frage zurück. „Wer sind Sie?“

Sein Gegenüber hob die Achseln.

„Wir wollen uns doch nichts vormachen. Du wolltest die Banken erleichtern und kamst zufälligerweise auf den gleichen Gedanken wie wir, dies in der Maske des verschollenen Crosterbroux zu tun. Nur, daß du es gründlicher machtest. Wir sind also – Kollegen. Und da unter den Kollegen unserer Gilde so eine Art Kommunismus besteht, wie du wohl weißt, wirst du uns einen Teil deiner Beute abgeben müssen.“

Burne schwieg. Überlegte. Gut, daß er das Geld – es handelte sich doch immerhin um ganz erhebliche Summen – nicht bei sich trug, sondern verborgen hatte …

„Ich denke nicht daran,“ erwiderte er endlich; „überdies seid ihr bezüglich meiner Person im Irrtum. Ich bin nicht eigentlich euer Kollege –“

„Nun, sondern –?“ ermunterte der andere; zuckte aber gleich darauf die Achseln.

„Ist ja auch gleichgültig, wie du es nennst. Du hast die Banken um große Summen erleichtert. Das genügt. Wir werden dir einen Teil davon abnehmen.“

„Wird euch schwerfallen.“

„Meinst, weil du es nicht bei dir hast. Macht nichts, mein Junge, wir kommen schon dahinter, wo du es verkratzt hast. Wirst es uns sagen müssen. Bleibst eben solange hier.“

„Ich denke nicht daran, es euch zu verraten,“ entgegnete Burne. Die beiden sahen sich grinsend an.

„Wirst dich schon noch besinnen. Einstweilen wollen wir noch human sein und dir bis morgen früh Bedenkzeit lassen. Wenn du es dann nicht sagen willst, geht es dir nicht mehr so gut wie jetzt.“

Auch der andere der beiden Gauner hatte sich erhoben. Nun verließen sie das Zimmer. Nach einer Weile kam der eine nochmals zurück. Brachte Burne zu essen und zu trinken. Machte ihm den rechten Arm frei und wartete – doch mit der größten Vorsicht – bis der Detektiv fertig war. Band ihn dann wieder sehr geschickt und ging hinaus. Wenig später fiel irgendwo eine Tür ins Schloß.

Der Gefangene dachte über seine Lage nach. Wenn es ihm nicht rechtzeitig gelang, freizukommen … Harald Dörcksen wollte zu einer bestimmten Zeit unweit Hoboken über dem Meer kreuzen. Verabredetermaßen sollte Burne dann mit einem Motorboot hinausfahren und im geeigneten Moment ins Wasser springen. Dörcksen würde den Vorgang genau beobachten und rechtzeitig an dünnen Stricken ihm eine Art Trapez hinunterwerfen, an dem er dann emporgezogen werden sollte. Bis dahin waren zwar noch etwa vierundzwanzig Stunden Zeit. Aber – konnte er wissen, was hier noch geschah? Wie lange es noch dauern würde, bis er freikam?

Nun, versuchen wollte er wenigstens alles, was zu tun möglich war. Es war ja nicht das erstenmal in seinem Leben, daß er sich in solch einer Situation befand. Und – diese hier schien noch nicht einmal sonderlich gefährlich zu sein. Vorläufig wenigstens nicht. –

Nach vielleicht einer halben Stunde sah Burne jedoch schon ein, zu fesseln verstanden die Verbrecher. Es gelang ihm nicht, auch nur ganz wenig die Stricke zu lockern. Es waren auch keine gewöhnlichen Hanfseile, sondern gedrehter Bast, der, einmal gut geknotet, nicht mehr nachgibt.

Nach Stunden gab er es auf. Wenn nicht eine andere Möglichkeit sich ihm bot …

Er war müde geworden. Schlief trotz der wenig bequemen Lage, in der er sich befand, ein. Als er wieder erwachte, war es Tag. Er mußte sehr lange geschlafen haben. Wunderte sich selbst darüber. Nun verspürte er Hunger.

Niemand kümmerte sich um ihn. Niemand ließ sich sehen. Kein Geräusch drang in dies kleine Gemach. Wo waren die beiden geblieben? Bis heute früh wollten sie ihm Bedenkzeit lassen. Und nun kamen sie ganz einfach nicht –? Merkwürdig.

Vielleicht stimmte da etwas nicht; vielleicht –

Burne unterbrach seinen Gedankengang. Begann wieder, mechanische Bewegungen zu machen, um die Fesseln vielleicht mit der Zeit doch zu lockern. Er arbeitete unermüdlich. Und niemand kam.

 

4. Kapitel

Das Hotel „Atlantic“ war ein Haus dritten Ranges, was nicht in dem Sinne zu verstehen war, wie etwa die gleiche Bezeichnung für die Güte eines Hotels in Deutschland bewertet wurde. Das sehr fortschrittliche New York beherbergte naturgemäß viel mehr verschiedene Arten Hotels als die europäischen Großstädte. Und wer etwa in Berlin im Hotel „Fürstenhof“ logierte, wohnte sicherlich keineswegs schlechter als in New York in einem Hotel, das dort als drittklassig bezeichnet wurde.

Das Hotel „Atlantic“ war es, in dem Burne ein Zimmer genommen hatte, bevor er seine Aktion zur Rettung Crosterbrouxscher Gelder für Ellen begann. Hier war es auch, wo er die großen Summen Bargeldes versteckt hatte. Allerdings an einer Stelle, die so leicht nicht aufgestöbert werden würde.

Das Personal wunderte sich. Der Herr von Nummer 144 war schon seit so bedenklich langer Zeit fortgeblieben. War ihm etwas zugestoßen? Dergleichen war in New York leicht möglich. Besonders, daß fremden Reisenden etwas zustieß, wobei dunkle einheimische Elemente nachhalfen, war gewissermaßen an der Tagesordnung.

Das Personal wunderte sich. Merkwürdig genug für einen Fremdenbetrieb im New York. Man lebte dort schnell; hatte nicht viel Zeit, – oder besser: nahm sich nicht die Zeit, viel auf seine Mitmenschen zu achten. Aber das Hotel „Atlantic“ war trotz seines Umfanges von zweihundert Zimmern und seines pompösen Namens ein ruhiger, ein wenig abseits gelegener Betrieb, in dem das für die amerikanische Weltstadt Typische wenig galt.

Darum war das Fernbleiben Burnes dem Zimmerpersonal aufgefallen. Und darum wunderte es sich etwas. Mehr Anteil noch nahm das sehr hübsche Stubenmädchen, das um den liebenswürdigen und – sehr freigiebigen Gast beinahe besorgt war. Mit Burne ging eben die alte Leidenschaft für alles, was Frau und jung und hübsch war, nach wie vor von Zeit zu Zeit durch. Und da dies Stubenmädchen das krasse Gegenteil eines plumpen, ungehobelten Dienstboten war, sondern vielmehr sauber, appetitlich, intelligent und gar ein wenig gebildet, war weiter nicht verwunderlich, daß diesmal des Detektivs Wahl auf dies zierliche Persönchen gefallen war. Und deshalb war das Persönchen um den Gast, der so „very nice“ war, besorgt.

Ihre Besorgnis ging so weit, daß sie das merkwürdige Fernbleiben des Gastes der Hotelleitung meldete. Die bestand aus drei Herren; von denen der eine nun die Achseln zuckte und sagte:

„Was geht es uns an, wie lange ein Gast ausbleibt? Wenn nur das Zimmer regelmäßig bezahlt wird. Das ist die Hauptsache.“

Der zweite zwinkerte ahnend mit den Augen.

„Es war wohl ein angenehmer Gast, der Herr?“

Der dritte endlich wiegte ernst das Haupt.

„Je nun, New York ist eben New York. Ich habe zufällig Gelegenheit gehabt, jenen Herren mehrmals zu sehen. Dies Gesicht … mir kam er jedenfalls so vor, als wenn er eher zu jener Sorte von Gentlemen gehören könnte, vor denen andere sich vorsehen müßten.“

Das war das ganze Resultat der Meldung des hübschen Stubenmädchens. Aber in der Nacht darauf erlebte die Hotelleitung einen wenig angenehmen Zwischenfall. Kurz vor Morgengrauen ertönte plötzlich ein Schuß in einem Zimmer der vierten Etage. Darauf Türenschlagen, Rufe, Laufen treppauf, treppab. Alles war sogleich alarmiert: Gäste, Personal, Direktion. Alle strömten auf dem betreffenden Korridor zusammen, wo eine junge Dame den entschiedenen Mittelpunkt des Interesses bildete.

Das war aber auch keineswegs verwunderlich. Bot doch die junge Dame einen nicht alltäglichen, sehr reizvollen Anblick. In entzückendem Negligee stand sie da und – ihre zierliche Rechte hielt einen noch rauchenden Revolver! Sie war es gewesen, die den Schuß abgefeuert hatte.

„Schade –! Dort ist er hinaus!“ rief sie und zeigte auf ein offenes Fenster des Korridors. Erregte Stimmen der Gäste und des Personals – in deren Mitte die Schützin ganz ruhig stand – wurden laut. „Was ist geschehen? Durchs Fenster? Unmöglich! Wer denn?“ so schwirrte es durcheinander. Allmählich klärte sich, was vorgefallen war. Miß Tompsen war über ein Geräusch erwacht. Es hatte so geklungen, als stieß jemand mit dem Fuß gegen einen Stuhl oder dergleichen. In ihrem Zimmer! Mitten in der Nacht!

Geistesgegenwärtig hatte die junge Amerikanerin mit der Rechten den auf ihrem Nachttisch liegenden Revolver ergriffen und gleichzeitig mit der linken Hand das Licht eingeschaltet. Da war ein schwarz gekleideter, maskierter Mensch aus dem Zimmer hinaus auf den Korridor geeilt. Miß Tompsen, ohne sich lange zu besinnen, schoß hinter dem Fliehenden her. Traf jedoch nicht. Der Räuber hatte bereits die Tür erreicht, riß sie vollends auf, stürmte auf den nur matt erhellten Korridor hinaus. Doch schon war die mutige Frau hinter ihm drein.

Dennoch zu spät; sie sah gerade noch, wie der Maskierte sich durch das offenstehende Fenster schwang. Dann kamen auch schon die von dem Schuß herbeigerufen Hotelgäste aus ihren Zimmern. –

Noch sprach man in der ersten Erregung wild durcheinander – da fiel plötzlich der Blick des vorhin erwähnten Stubenmädchens, das sich auch unter den Alarmierten befand, auf die Tür des neben Miß Tompsen gelegenen Zimmers. Und diese Tür stand jetzt handbreit offen! Sie machte darauf aufmerksam. Man ging daran, nachzusehen …

Man fand nichts ungewöhnliches. Das Zimmer des verschollenen Gastes war leer; das Bett nach wie vor unberührt. Geraubt schien nichts. Auch bei Miß Tompsen fehlte nichts. Die ganze Affäre erschien höchst rätselhaft.

Diese Feststellungen hatten kaum zehn Minuten gedauert. Da drang von unten her Lärm herauf. Die Polizei war gekommen, hatte den Eindringling unten, als er an Mauervorsprüngen und der Regenröhre mit geradezu tollkühner Geschicklichkeit herabgeklettert war, beobachtet und zugleich mit einem Komplizen, der ihn unten erwartete, festgenommenen.

Die beiden Einbrecher, die nicht sagten, was sie im Hotel beabsichtigt hatten, wurden zur nächsten Wache gebracht. Damit war der Fall für das Hotel und seine Bewohner erledigt.

Aber er hatte noch ein Nachspiel. Auf der Polizeistation sollten zunächst einmal die Personalien der beiden festgestellt werden. Vorher aber ereignete sich noch ein kleiner Zwischenfall. Einer der beiden Polizeibeamten, die die Einbrecher transportierten, sah zufällig, daß einer von ihnen – eben jener Fassadenkletterer – ein Papierkügelchen fortwarf. Der Polizist nahm es auf. Er hatte gut daran getan. Aus dem zusammengeknüllten Papier ging eine Adresse hervor, und es war nicht schwer, aus dem Umstand, daß der Bursche sich dieses Zettels zu entledigen wünschte, zu schließen, daß jene Adresse mit ihnen in engem Zusammenhang stand, – vielleicht gar die eigene war.

Auch beim Verhör enthielten sich die Verhafteten jeder Aussage. So beschlossen die Beamten denn, die Adresse, die aus dem Zettel ersichtlich war, aufzusuchen, um dort vielleicht näheren Aufschluß zu finden. Zwei von ihnen machten sich unverzüglich auf den Weg. Der Zettel aber bezeichnete das Haus, in dem Burne gefangen gehalten wurde …

 

5. Kapitel

Stuart Burne hatte Geduld. Beharrlichkeit führt zum Ziel, dachte er und arbeitete bis tief in die Nacht hinein. Es wäre doch gelacht, wenn auch diese Fesseln sich nicht lösen lassen wollten … Doch irgendwann nahm ihn vor Ermattung der Schlaf auf, zum zweiten mal.

Als er wieder erwachte, war es noch Nacht. Aber, – was war das? Hatten die Fesseln sich schon vorher gelockert, ohne daß er – bei seiner Mattheit leicht möglich – es gemerkt hatte? Jedenfalls schien es ihm so. Und dieser Umstand belebte ihn unvergleichlich. Wieder machte er sich an die Arbeit. Mit schmerzenden Gliedern, die längst wundgerieben waren. Millimeter um Millimeter.

Und endlich, endlich ward ihm Erfolg beschieden! Die Fesseln fielen. Er war frei! Wenigstens innerhalb dieser Wohnung, dieses Zimmers. Wenn man ihn eingeschlossen hatte … Natürlich war dem so, doch das Bund Dietriche, das er stets bei sich trug, hatten sie ihm nicht abgenommen, nur seinen Revolver.

Rasch war die Tür offen. Ein anderes Zimmer. Fenster darin. Burne spähte hinaus. Auf die Bowery ging die Aussicht. Ziemlich hoch mußte diese Wohnung gelegen sein. Ja, nur noch zwei Stockwerke lagen über ihm; dann schon das Dach.

Burne schloß das Fenster wieder. Zwar war auch dies Zimmer verschlossen. Aber ebenso leicht wie das vorige ließ es sich öffnen. Danach gelangte er in einen Korridor. Die Doppeltür hier führte wohl ins Treppenhaus. Dies Gebäude mußte recht alt sein. Anlagen dieser Art wurden schon seit Jahren nicht mehr gebaut.

Gerade als er sich anschicken wollte, die Flurtür mit einem Dietrich zu öffnen, stutzte er. Waren da nicht gedämpfte Laute? Draußen im Treppenhaus? Er lauschte … Er hatte sich nicht getäuscht. Stimmen drangen verhalten herein. Und jetzt – jetzt wurde von außen ein Schlüssel ins Schloß gesteckt! Nein, kein Schlüssel, – ebenfalls ein Dietrich! Burne erkannte das am Geräusch.

Vertrackte Situation! Was tun? Fieberhaft hasteten Gedanken durch des Detektivs Hirn. Im Bruchteil einer Sekunde. Was erwartete ihn jetzt? Er war unbewaffnet … Aber die Leute, die ihn hier gefangen hielten, konnten es nicht sein. Die hätten weder gedämpft sprechen, noch mit Dietrichen die Tür öffnen brauchen.

Also – Einbrecher? Oder gar – Polizei? Lag darin der Grund, weshalb jene Männer, die ihn gefangen genommen hatten, nicht mehr zurückgekommen waren? Waren sie gar verhaftet worden? Wenn jetzt hier Polizei eindrang, war die Situation für Burne fast noch heikler. Er konnte sich nicht ausweisen, hatte nur die Papiere Crosterbroux’ bei sich, die er nicht vorweisen durfte. Denn dann hätten man ihn auf jeden Fall festgehalten. Die Anhänger der Olympia-Bewegung waren ja gehetzt und verfehmt. Und doppelt er als Überläufer.

Die draußen probierten nun schon den dritten Nachschlüssel. Innen stand Burne, sprungbereit. Ganz gleich, wer es war, der da eindrang, Burne mußte hinaus. Um jeden Preis. Heute – schon begann die Morgendämmerung langsam heranzukriechen – war der Tag, an dem mittags auf dem Meer vor Hoboken der „Meteor“ ihn erwartete. Er mußte hinaus. Es waren Momente höchster Spannung.

Dann – sprang die Tür auf. In einer Zehntelsekunde übersah Burne die Situation. Polizei! Er hatte richtig vermutet. Vorn zwei in Zivil, dahinter ein Uniformierter. Jetzt hatten sie ihn erblickt. Das hatten sie nicht erwartet. Man sah es ihren Mienen an.

„Halt – im Namen des Gesetzes!“ wollte der Vorderste schreien. Aber er kam nicht dazu, denn da hatte ihm Burne schon einen kräftigen Stoß versetzt, daß er gegen den hinter ihm Stehenden fiel. Der stolperte dabei, und beide stürzten zu Boden. Währenddem sprang der Detektiv die Treppe empor.

Das alles ging blitzschnell; doch fast ebenso schnell hatten die Beamten sich wieder aufgerafft. Eilten hinter dem Fliehenden her. Dennoch hatte der schon einen recht erheblichen Vorsprung. Er raste, mehrere Stufen auf einmal nehmen, empor bis zur Bodentreppe. Die Beamten keuchten hinterher. Das Treppenhaus lag noch fast im Dunkeln. – Oben erblickte Burne geistesgegenwärtig mit einem Mal zweierlei: eine Luke, die offenbar aufs Dach führte, und eine völlig finstere Nische auf dem Bodenraum zwischen Schornstein und Wand.

Was dann kam, war das Werk eines Augenblicks. Burne stieß die Dachluke auf und ließ sie mit Gepolter wieder zuschlagen; zugleich sprang er in die dunkle Nische. Klemmte sich dort ganz ein, das Gesicht zur Wand gekehrt, dessen hellerer Schein ihn möglicherweise hätte verraten können.

Da waren die Beamten auch schon heran. Sie hatten das Zuschlagen der Bodenluke gehört; schlossen daraus, was sie schließen sollten: daß der Fliehende dort hinaus sei. Und – eilten ihm nach! Darauf hatte der Detektiv gerechnet. Den Augenblick wollte er zum Entweichen benutzen.

Aber: der Mensch denkt, das Schicksal lenkt. Nur zwei der Beamten stiegen auf das Dach hinaus; der dritte blieb vor der Luke zurück. So mußte Burne in seinem Versteck ausharren. Er überlegte. Sollte er versuchen, diesen Dritten zu überrumpeln? Das war riskant – und die Möglichkeit nun vertan. Die beiden vom Dach kamen schon zurück. Sie hatten wohl, da sie den Flüchtigen nirgend mehr sahen, von der weiteren Verfolgung Abstand genommen.

Sie kamen zurück und begaben sich hinunter in jene Wohnung. So blieb Burne ein Fluchtweg offen, der aufs Dach. Ohne Besinnen stieg durch die Bodenluke, die er hinter sich leise schloß. Einen Augenblick blieb er stehen. Welch wundersamer Anblick: New York bei Sonnenaufgang!

Soeben färbte den Himmel das erste Rosa. Die Dunstmassen über der Weltstadt schimmerten seltsam graulila. Über die unabsehbare Menge der Dächer flog der rosige Schein, der Vorbote der Sonne. Wieviel Geheimnisse lagen wohl darunter verborgen!

Stuart Burne war dieser Anblick nicht neu. In New York hatte er ihn schon einmal erlebt; in London oft. Dennoch war es heute anders. Früher war er immer als Verfolger in ähnliche Situation gekommen. Heute als Verfolgter. Konnte nun auch einmal sehen, wie das war … Und es gefiel ihm – als Abwechslung – nicht schlecht.

So wanderte er nun über die Dächer. Das war keineswegs schwierig. Höher und tiefer gelegene Gebäude waren meist durch Feuerleitern verbunden. Und wenig später hatte er bereits eine offene Bodenluke gefunden, durch die er hinabsteigen konnte.

Schnellstens eilte Burne nun zum Hotel „Atlantic“ zurück. Dort erzählte er den ihn neugierig umdrängenden Angestellten irgendeine erfundene Geschichte von einer plötzlich notwendig gewordenen Reise, die ihn solange ferngehalten habe. Dann aber lauschte er mit großem Interesse dem Bericht jener über das, was sich in der Zwischenzeit im Hotel abgespielt hatte.

Ihm war der Zusammenhang sofort klar. Aber davon ließ er natürlich nichts laut werden. Ohne Zweifel waren jene beiden Einbrecher dieselben, die ihn gefangen gesetzt hatten: also der falsche Crosterbroux und sein Komplice. Sie hatten Burnes Zimmer nach dem Geld durchsuchen wollen. Wie sie dabei in das Zimmer Miß Tompsens geraten waren, war unklar, aber belanglos.

Nachdem beide Teile ihre Berichte beendet hatten, begab sich Burne in sein Zimmer. Er schloß die Tür hinter sich ab, verhängte auch noch das Schlüsselloch. Dann begann er den Waschtisch von der Wand zu rücken, langsam, jedes unnötige Geräusch vermeidend. Kniete auf der Stelle hin und fuhr mit der starken Klinge seines Taschenmessers zwischen zwei Dielenstücke. Eins davon war mit einer feinen Säge durchgetrennt, ließ sich herausheben. Burnes Werk. Darunter ward ein Hohlraum sichtbar. Und darin – lag das Geld Crosterbroux’!

Der Detektiv nahm es an sich, legte alles in einen schon zu dem Zweck mitgebrachten wasserdicht verschließbaren Rucksack. Nicht lange danach verließ er das Hotel und fuhr nach Hoboken. In der Hafengegend New Yorks hatte man Gelegenheit, alle möglichen Schiffe zu mieten; vom einfachsten Handkahn bis zur elegantesten Lustjacht. Burne suchte ein kleines, aber seetüchtiges Fahrzeug aus. Der Besitzer selbst bediente den Motor.

Unterwegs erzählte ihm Burne, daß er eine Wette gemacht habe, er wolle draußen auf offener See sich mit seinem Rucksack und einem Korkgürtel aussetzen lassen, um schwimmend in vierundzwanzig Stunden wieder Hoboken zu erreichen. So verrückt das klang, der Motorbootsbesitzer zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß es sich wirklich so verhielt. In Amerika waren ja die blödsinnigsten Wetten alltäglich.

Nur ein Bedenken hatte der Yankee: wenn nun der Zufall es fügen sollte, daß Burne trotz des Korkgürtels etwas zustieß und er nicht mehr lebend den Hafen erreichte, dann könnten die Behörden ihm, dem Bootsbesitzer, eventuell Unannehmlichkeiten bereiten … Er war eben ein Gemütsmensch … Aber Burne schüttelte lachend den Kopf. Sagte:

„Erstens wird das nicht geschehen; zweitens, wenn doch, dann wüßte doch niemand, daß gerade Sie es gewesen, der mich hinausgefahren hat. Zufrieden …“

Er lachte, und der Yankee war es zufrieden.

Sie fuhren hinaus. Nicht lange und – Burne hätte laut schreien mögen vor Freude – dort oben, hoch im Äther schwebte der „Meteor“! Das Motorboot sauste in großer Geschwindigkeit dahin. Ob man ihn vom Flugschiff aus bemerkte? Sicherlich. Die Stunde, die er mit Dörcksen verabredet hatte, war da. Und der besaß ein sehr gutes Fernglas.

Der Detektiv überlegte. Schon hatte er den Bootsbesitzer davon in Kenntnis setzen wollen, daß es jetzt so weit sei. Aber da bemerkte er, daß jener ganz gedankenverloren in die Weite starrte. Vielleicht war es noch besser, sich heimlich davonzumachen?

Gedacht – bald getan. Den Korkgürtel umgeschnallt, noch einmal geprüft, ob der Rucksack auch sicher saß, – und dann – über Bord! Mit einem eleganten Hechtsprung verschwand der kühne Detektiv in den Fluten. Hoch oben kreiste der „Meteor“ wie ein großer, seltsamer Vogel, oder eigentlich mehr die ein Urwelttier, ein Flugsaurier, der aus Vorsintfluttagen übriggeblieben …

Stuart Burne aber schüttelte das Wasser aus Gesicht und Ohren und schaute dem Motorboot nach. Das enteilte. Der Führer hatte nichts bemerkt. Hoffentlich merkte er auch noch recht lange nichts. Immerhin, – eine schöne Überraschung würde das für ihn doch sein, wenn er plötzlich merkte, daß er allein im Boot war, dachte Burne.

Dann sah er wieder nach oben. Hatte man ihn bemerkt? Aus der Höhe? Doch – ja! Es schien, als ob der „Meteor“ in großen Schleifen herunterkam. Wenig später war es gewiß, das Flugschiff senkte sich. Näher und näher kam es. – Jetzt sah Stuart Burne auch schon das Trapez, das jene herunterließen. Es hieß geschickt zupacken, wollte er es beim Vorbeifliegen rechtzeitig ergreifen.

Tiefer und tiefer war das Flugschiff gesunken. Nun schwebte es etwa fünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Das Trapez am Drahtseil schleppte im Wasser nach. Der „Meteor“ beschrieb eine große Kurve. Und jetzt kam er direkt auf Burne zu. Aufmerksam verfolgte der Detektiv die beiden Striche der Drahtseile, an denen die Querstange hing. Noch ein paar Sekunden …

Da –

„Halt, im Namen des Gesetzes!“

Ein Motorboot schoß heran. In der gespannten Erwartung des Flugschiffs hatte Burne das Knattern des Motors überhört. Hatte man ihn doch aufgespürt, wieder verfolgt und nun hier entdeckt? Doch –? Es mußte wohl so sein.

Zum weiteren Nachdenken blieb keine Zeit. Das Motorboot sauste heran. Vorn stand, hochaufgerichtet, ein Zivilist; hinter ihm uniformierte Polizisten. Und von der anderen Seite nahte – schneller als das Polizeiboot – das im Wasser schleppende Trapez.

Schon war es da, Burne bekam es zu fassen, packte fest zu, wurde mitgerissen … Wasser umrauschte ihn. Er hielt fest. Dann ging es aufwärts. Der Detektiv hörte unten den vielstimmigen Staunensruf der Polizeileute. Dann aber krachte ein Schuß. Burne fühlte einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm. Er war getroffen!

Doch krampfhaft klammerte er mit der Linken das Seil. Der rechte Arm gehorchte seinem Willen nicht mehr. Noch einmal schoß man von dem Polzeiboot aus. Fehlte diesmal jedoch. Das Flugschiff entfernte sich zu schnell. Die Fahrtgeschwindigkeit nahm rapide zu. Auch die Höhe.

Stuart Burne blickte nicht mehr nach unten zum Polizeiboot, auch nicht nach oben zum „Meteor“. Ihn interessierte nur noch eins. Würde es ihm gelingen, so lange mit einem Arm auszuhalten, bis man ihn ganz emporgezogen hatte? Gewiß, es ging verhältnismäßig schnell. Das Seilende, an dem das Trapez mit Burne hing, wurde zusehends kürzer. Aber dennoch …

Die Wunde am rechten Arm schmerzte stark. Er schien viel Blut zu verlieren. Und tanzten rote feurige Kreise vor seinen Augen. Das Bewußtsein begann ihm zu schwinden. Mit seltsamer Deutlichkeit dachte Burne noch die Worte: Es hat nicht sollen sein. Dann –

Ja, dann streckten sich schon helfende Hände nach ihm aus, packten ihn, zogen ihn in den „Meteor“ hinein. Für einen Augenblick sah der Erschöpfte noch das gütige Gesicht Harald Dörcksens über sich. Dann verlor er die Besinnung.

 

6. Kapitel

„Also auf morgen, lieber Jefferson! Good bye!“

Händeschütteln. Hüteschwenken. Dann war er draußen. Dumpf fiel hinter ihm die Pforte ins Schloß.

Jefferson, der Prokurist der „Bank von England“, Zweigstelle Agra, der sich soeben von seinem Chef, dem Direktor der Bank, verabschiedet hatte, schaute sich um. Die Straße war menschenleer. Sie lag in einem grünlich violetten Zwielicht. Die großen Wedel der Palmen winkten verschlafen in dem trägen, warmen Wind.

Eigentlich ein Leichtsinn, so spät abends erst nach seiner Wohnung zu gehen, die noch weiter außerhalb der Stadt lag als das Bankgebäude selbst, – fuhr es Jefferson durch den Kopf. Aber die Zigarren und der Wein bei seinem Chef, der ihm so wohlgesinnt war, mundeten so vortrefflich, und mit Daisy, dessen Tochter, plauderte es sich so reizvoll, daß er sich nicht so leicht hatte entschließen konnte, aufzubrechen.

Gern überließ sich der Prokurist der Erinnerung an die letzten Stunden. Schön war es gewesen … auf der Terrasse des großen Hauses hatten sie gesessen, den Blick auf den parkartigen Garten, in dessen Mitte ein Teich war mit großen, schwankenden Tropenblumen und zahmen Riesenschildkröten. Hatten Brasilzigarren geraucht und Haut-Sauterne getrunken. Direktor Wright wußte prachtvoll zu erzählen. Von Hochwildjagden in Schottland. Von indischen Abenteuern. Von tausenderlei anderen Dingen. Daisy und Jefferson waren gute Zuhörer. Oft aber irrte des Prokuristen Blick hinüber; tauchte in des Mädchens helle Augen, in die kühlen und doch so schönen grauen Augensterne dieses Mädchens, das – seine Frau werden sollte … Daisy seine Frau, und er seines Chefs Schwiegersohn, später sein Nachfolger … Das war der Traum, der Jefferson in letzter Zeit ständig umgaukelte, – auch jetzt auf dem Heimweg.

Aber heute stieg doch wieder und wieder ein Gefühl von Unsicherheit durch den Traum in des Prokuristen Bewußtsein. Zwar hatte er diesen Weg schon hunderte Male gemacht. Er wußte, daß man in Indien, besonders abends, als Engländer stets vorsichtig sein mußte. Sie waren nicht beliebt, – was auch weiter kein Wunder war.

Einmal war Jefferson auch bereits angefallen worden. Aber das war dem Betreffenden schlecht bekommen. Der Prokurist war ein guter Boxer.

Außerdem trug er stets einen Browning bei sich. Aber heute … so spät war es doch noch nie geworden. Und der Wein, doppelt wirksam nach der Hitze des Tages, hatte Jefferson unsicher gemacht. Furcht –? Nein, die kannte er nicht. Trotzdem … wieder und wieder sah er sich um. Er hatte kaum Wertsachen bei sich. Aber darum ging es ja hier in Indien meist nicht. Der alte Haß der Hindus, der besonders manche fanatischen Kreise beseelte, war die Triebfeder fast aller an Weißen begangenen Verbrechen.

Die Straße war menschenleer. Palmen und Bosketts säumten sie ein. Dahinter begannen jetzt vereinzelt Bungalows zu stehen. In einem dieser entfernteren Gartenhäuser wohnte der Prokurist. Nicht mehr lange …

Aber da nützte des noch zurückzulegenden Weges kaum. Plötzlich flog ihm, von irgendwoher aus dem Dunkel geschleudert, eine Schlinge um den Hals. Er spürte die Berührung, erschrak, wollte danach greifen, – da war es schon zu spät. Von einem Ruck wurde die Schlinge zugezogen. Jefferson taumelte rückwärts, strauchelte, stürzte zu Boden.

Da waren auch schon zwei braune Kerle über ihm. Knieten rechts und links auf seinen Armen. Hindus –! Etwa Thugs, – Anhänger der alten Würgersekte? So sehr auch immer behauptet wurde, die Sekte der Thugs sei längst ausgerottet, – in Wirklichkeit bestand sie noch immer. Jefferson gab sich verloren. Aber – er irrte sich doch. Die beiden dachten nicht daran, ihn zu ermorden. Sie durchwühlten nur seine Taschen. Also gewöhnliche Straßenräuber!

Nun, das war nicht schlimm. Geld hatte er so gut wie keins bei sich. Nur die Uhr …

Die Räuber aber nahmen weder das Geld, noch die Uhr. Sie entwendeten ihm nur sein – Schlüsselbund. Sprangen dann auf und waren im Nu in der Nacht verschwunden. Jefferson entfernte rasch die Schlinge um seinen Hals, stand auf, klopfte den Staub vom Anzug – sah sich dann etwas ratlos um. Die Straße war menschenleer. Nur die Palmen zu beiden Seiten des Weges winkten leicht mit den großen Blättern.

Sein Hirn begann zu arbeiten. Was war das gewesen –?! Thugs jedenfalls nicht. Sie hatten ihn nicht erwürgt. Straßenräuber –? Es sah so aus. Doch seine goldene Uhr hatten sie ihm gelassen und nur die Schlüssel … merkwürdig, merkwürdig. Warum nur gerade die Schlüssel –? Er konnte nun nicht in sein Haus hinein. War das der Zweck? Kaum. Und der Schlüssel zu seinem Bücherschrank … Der konnte sie doch auch kaum reizen. Oder der Schlüssel zu seinem Schreibtisch auf der Bank. Da war bestimmt nichts Wesentliches, nichts Wertvolles drin.

Der Schlüssel zum Tresor der Bank –?

Jefferson stutzte. Das war möglich. Aber – der nützte ihnen ja nichts. Zwei Schlüssel gehörten dazu, den Tresor zu öffnen. Den anderen hatte Direktor Wright. Also … nein, es blieb unverständlich. Was sollte er tun? Nach Hause konnte er nicht. Es sei denn, er schlug Lärm und ließ sich öffnen. Doch das tat er ungern. Umkehren –? Ja, dazu verspürte er noch die meiste Neigung. Eine Unruhe trieb ihn dazu. Wer konnte wissen …

Er drehte sich um; schritt den Weg, den er soeben gekommen war, schnellen Schrittes zurück.

*

Ob Jefferson sie wirklich liebte? Oh, es war wohl so. Mußte so sein … Daisy Wright stand am offenen Fenster und sah in die Nacht hinaus. Soeben hatte ihr Vater sich von ihr verabschiedet.

„Es ist spät geworden, Kind,“ hatte er noch gesagt; „geh schlafen. Und – laß das Fenster nicht zu lange offen. Das tut nicht gut in Indien. Zuviel Getier fliegt da herein.“

Dann war er gegangen. Und nun stand Daisy noch ein wenig am Fenster und träumte in die Tropennacht hinaus. Von ihm, den sie liebte … Jefferson … Das Fenster … oh ja, ihr Vater hatte schon recht, wenn er ihr riet, es bald zu schließen. Sie kannte die indischen Nächte gut; diese lauen, summenden, geheimnisvollen Nächte. Es war wirklich nicht gut, die Fenster offen zu lassen. Nicht nur wegen des fliegenden Kleintierzeugs, das hereinkam und die Menschen belästigte. Noch andere Gründe waren da … Unheil kommt herein, läßt man in Indien nachts ein Fenster offen! Ein alter Aberglaube …

Daran dachte sie einen Augenblick. Wandte sich dann ins Zimmer. Begann mit der Nachttoilette. Das Fenster blieb offen. Nur ein paar Augenblicke noch, dachte das Mädchen; es weht heute so ein erfrischender Wind.

Unheil kommt herein … Ein alter Aberglaube … Oder war mehr daran?

Ein Schatten tauchte vor dem Zimmer auf. Daisy sah ihn nicht. Sie stand gerade dem Fenster abgewandt. Der Schatten wuchs, ward zur Gestalt eines Mannes, – die jetzt lautlos über die Brüstung ins Zimmer glitt. In dem Augenblick wandte Daisy sich um. Ein Sprung … Der Schatten war bei dem Mädchen, umklammerte ihren Hals, riß sie zu Boden, drückte ihr ein Tuch auf Mund und Nase.

Seltsam süßlich roch es. Daisy wollte sich wehren. Aber die Glieder versagten ihr den Dienst. Kraftlos sank sie zurück; wußte nichts mehr … schlief.

Geräuschlos huschte der Schatten weiter. Nun flammte ein winziger Lichtstrahl auf. Hier eine Tür … dann der Korridor. Wieder eine Tür. Verschlossen? Nein, sie gab nach. War auch gut geölt. Nur ein ganz kleines, klickendes Geräusch verursachte der Drücker.

Und doch erwachte Wright, der bereits eingeschlafen war, davon. Richtete sich halb auf. Lauschte … was war das für ein Geräusch gewesen? Oder hatte er es nur geträumt. Er starrte in das Zimmer, in die undurchdringliche Finsternis. Dann – dann wiederholte sich, was sich kurz vorher schon in Daisys Schlafzimmer abgespielt hatte. Eine Gestalt sprang plötzlich den Bankier an. Umspannte einen Moment seinen Hals. Drückte dann das Tuch mit der betäubenden Flüssigkeit auf sein Gesicht.

Wenig später flammte Licht auf. Da lagen die Kleider. Der Eindringling hob sie auf. Ein feines Klirren erklang. Die Schlüssel …

Tappen treppab. Da – die Büroräume … der Tresor. Leise, nur mit winzigem Lichtstrahl arbeitend, machte sich der Fremde daran zu schaffen. – – –

Die innere Unruhe trieb Jefferson zu immer größerer Eile an. Schweißgebadet gelangte er endlich wieder vor das Bankgebäude. Alles dunkel. Der Prokurist ging um das Haus herum. Auf der Rückseite lagen die Privaträume des Chefs, auch der Eingang dazu.

Blitzte da nicht ein Licht auf? Eine Sekunde kaum. Und so seltsam … Jefferson stand und überlegte. Seine innere Unruhe war wohl nicht umsonst gewesen. Eine Ahnung sagte ihm, daß hier nicht alles in Ordnung sei. Er zog seinen Revolver, näherte sich der Haustür …

Die ging in dem Augenblick auf. Heraus huschte eine schwarze Gestalt. Zugleich flammte der breite Schein einer sehr hell brennenden elektrischen Taschenlampe auf, traf voll Jeffersons Gesicht, blendete ihn. Dann traf ein derber Schlag seine Hand. Der Revolver klirrte zu Boden. Das Licht erlosch jäh. Die Gestalt war fort.

Alle Türen standen offen. Jefferson ging ins Haus und schlug ohne alle Bedenken Lärm. Minuten später hatte man sowohl den Direktor, als auch dessen Tochter in ihren Zimmern betäubt vorgefunden.

Wright und auch Daisy kamen bald wieder zu sich. Man suchte die Geschäftsräume der Bank auf. Der Tresor stand offen …

„Fast alles Bargeld geraubt!“ konstatierte der Direktor.

Fast alles … Wirklich, ein Teil des Geldes war noch da. Das hatte der Einbrecher einfach liegen gelassen. Weshalb wohl? Jefferson bückte sich nach einem Papier, das am Boden lag. Was – war – das –?! Er reichte es seinem Chef. Der las. Wachsendes Staunen prägte sich auf seinen Zügen. Da stand in Maschinenschrift:

„Hiermit erkläre ich, daß ich nach Entnahme der Gesamtsumme meines Kontos in Höhe von dreihundertachtzigtausend Dollar keinerlei Forderungen an die Bank mehr habe.

Thomas Crosterbroux.“

Die Unterschrift wies die markanten Züge der Handschrift des Platinkönigs auf, die sowohl Wright, als auch der Prokurist so gut kannten. – Der verschollene Crosterbroux?? Wright und Jefferson standen da und sahen sich wortlos an.