In Europa, speziell in Deutschland und England, vertrieben die Städte die Wälder. In Indien wäre es umgekehrt gewesen, hätte man nicht Sorge getragen, daß dies nicht geschah. In Indien wuchs der Dschungel in die Siedlungen hinein. Selbst innerhalb der Städte kannte man das, was man in Deutschland Sicherheit nennt, nicht, und außerhalb war ein solches Unternehmen des Nachts nur als Leichtsinn zu bezeichnen. Jeder Gang vor die Tore der Stadt ohne Bewaffnung oder bewaffnete Begleitung war in Indien geradezu Tollkühnheit.
Das kam nun allerdings weit weniger auf das Konto des dortigen Verbrechertums, das bei uns stets gemeint war, wenn von Unsicherheit gesprochen wurde, sondern auf das Konto der Tierwelt des Landes, der giftigen Schlangen und der Tiger, welch beiden Tiergattungen heute noch jährlich tausende Menschen in Indien zum Opfer fallen. Freilich waren auch Überfälle nicht selten. –
Die Sonne war eben erst über den Horizont geklettert. Unweit Agras lag ein niederer Wald, wenig Bäume, aber viel Gestrüpp – so recht eine Gegend für Raubtiere – den ein einzelner Wanderer zu der Zeit durchschritt. Undurchdringlich lag zu beiden Seiten des schmalen, gewundenen Pfades Dickicht. Meistens waren es Pflanzen mit langen, starken Dornen, die selbst die stärkste Kleidung zerrissen, von der Haut ganz zu schweigen, und jedes Abweichen vom Pfad unmöglich machten.
Der einsame Wanderer trug einen Rucksack. Noch stand die Sonne nicht so hoch, daß ihre sengende Glut hätte voll wirken können. Aber sie stieg rasch. Lugte bald über die Spitzen dieses niederen Waldes hinweg, vertrieb den angenehmen Schatten aus dem Fußpfad und beleuchtete nun das Gesicht des Mannes. Das Gesicht – Stuart Burnes.
Der Detektiv schritt rasch aus. Er war sich dessen wohl bewußt, was für ein Wagnis es war, hier allein durch die Wildnis zu wandern. Aber er war gut bewaffnet; trug zwei Revolver griff- und schußbereit bei sich. Was er sonst noch mit sich führte, barg der Rucksack …
Allmählig lichtete sich das Dickicht etwas, um dann plötzlich ganz aufzuhören. Burne sah schon die Stelle, wo der Pfad auf freies Feld mündete. Das hieß: Feld konnte man das eigentlich nicht nennen. Es war einfach eine sandige, völlig ebenen Fläche, auf der hie und da Büschel harter Gräser standen und ab und zu ein Strauch.
Noch hatte der Detektiv das freie Stück nicht erreicht – da stutzte er plötzlich. Ein Laut war an sein Ohr gedrungen. Er stand still, lauschte … vernahm nichts, ging ein paar Schritte weiter – und blieb abermals wie gebannt stehen. Dicht neben ihm hatten Zweige geknackt. Und dann war ein großes, gelbschwarzes Etwas mit einem Satz hervorgesprungen, hatte sich fauchend geduckt.
Ein Tiger!
Schon hatte Burne die Hand am Revolver. Aber er wußte, nur eine tödlich treffende Kugel konnte ihn retten. Seine Hand durfte nicht zittern. Aber – konnte er ihr das zutrauen? Sein rechter Arm, der vor wenigen Tagen den Streifschuß des Polizeibeamten aufgefangen hatte, war nur eben erst geheilt.
Der Tiger kauerte. Ein prächtiges Tier. Doch das nahm Burne jetzt nicht wahr. Hätte es vielleicht beachtet, wenn zwischen ihm und dem Tier ein solides Gitter gewesen wäre. So aber … Sekunden – endlose Sekunden. Reglos Auge in Auge die beiden Gegner. Burne wußte, daß er sich nicht regen dürfte. Auch der Tiger tat es nicht.
Dennoch hob der Detektiv langsam die Waffe, ganz langsam, Millimeter um Millimeter mit ungeheurer Geduld. Aus der Ferne erklang jetzt ein anderes Geräusch. Motorsurren. Das Flugschiff Harald Dörcksens. Der freie Platz hier war als Treffpunkt verabredet worden. Diese Stelle inmitten der Wildnis, weil man möglichst unbeobachtet bleiben wollte. Und nun – nun würde Burne sich nicht einmal bemerkbar machen können!
Wenn er schoß … ja, er mußte schießen. Einmal würde der Tiger springen, und besser, er schoß vorher. Immer noch hob er die Waffe langsam höher. Das Surren der Motoren des Flugschiffes kam näher und näher, entfernte sich, kam zurück. Der „Meteor“ schien über dem Platz Schleifen zu ziehen.
Burne sah ihn nicht. Er starrte nur auf das buntgestreifte Fell der Riesenkatze vor sich, den flachen Kopf und besonders die grünlich schillernden Augen. Der Tiger begann unruhig zu werden; so, als setze er zum Sprung an.
Da drückte Burne ab. Und es geschah in blitzschneller Folge dreierlei. Der Tiger schien getroffen; machte einen Satz hochauf; doch gleich noch einen zweiten auf den Detektiv zu, der sich dessen nicht versehen hatte. Er wollte schnell zurückweichen, strauchelte, fiel. Der Tiger schlug eine Pranke in seine Schulter. Beide stürzten hin, wälzten sich übereinander.
Aber fast gleichzeitig dröhnte es über ihnen. Ein riesiger Schatten kam heran. Dicht über ihnen, ganz tief flog der „Meteor“ vorbei. Ein Schuß krachte. Noch einmal bäumte sich der Tiger auf; fiel dann zur Seite, rollte auf den Rücken, jetzt tödlich getroffen.
Mühsam erhob sich Burne. Was schon lange in seinen Adern gebrütet hatte, schien durch dies Renkontre mit dem Tiger auf einmal zum Ausbruch gekommen zu sein. Ein plötzlicher Fieberanfall schüttelte ihn. Schwankend nur schleppte er sich auf die große Lichtung, wo mittlerweile der „Meteor“ niedergegangen war. Stand da, bereit, ihn aufzunehmen. Doch kurz bevor Burne das Flugschiff erreichte, brach er zusammen. – – –
Eine Stunde später. Harald Dörcksen und Mahadur Mirat standen nebeneinander in der Führerkabine.
„Sie haben noch eine sehr sichere Hand,“ sagte der Radscha bewundernd.
„Weil ich den Tiger so gut traf? Das war Zufall, purer Zufall. Ich bin in meinem ganzen Leben nie auf Jagd gewesen. Halte es für ebenso verwerflich, Tiere zu töten wie Menschen …“
Mahadur Mirat nickte verständnisvoll. Diese Auffassung der Unantastbarkeit des Lebens war ihm als Inder sehr gemäß. Dann aber lächelte er fein. Sagte:
„Und zu denken, daß es Menschen gibt, die sehr anders über Leben und Töten denken, die sich für Kriege begeistern können …“
Dörcksen nickte.
„Die sind viel weniger wert als jener Tiger!“
„Burne hat Erfolg gehabt,“ fuhr er nach einer längeren Pause fort, „er brachte das Geld. Nur kann er uns vorläufig nicht erzählen, wie alles ging.“
„Was macht er?“
„Das Fieber hielt sich bis vor wenigen Minuten auf der gleichen Höhe. Ich werde wieder nach ihm sehen. Wenn Sie mir Gari zur Ablösung holen wollen –“
„Gern.“
Mahadur Mirat ging. Gleich darauf kam Gari. Harald Dörcksen hatte ihn inzwischen so gründlich in die Geheimnisse des „Meteor“ eingewiesen, daß er ihm getrost die Führung für einige Zeit überlassen konnte. Dann begab er sich in die Kabine, in der Stuart Burne lag. Hella hatte sich des Kranken angenommen. Später sollte sie von Ellen Crosterbroux abgelöst werden.
In deren Befinden war keine Änderung eingetreten. Sie verharrte nach wie vor in jener apathischen Starre, sprach nichts, aß und beschäftige sich jedoch sonst wie jeder normale Mensch. Es war, als schliefe sie mit wachen Augen. Ein seltsamer, unerklärlicher Zustand. Würde sie je aus ihm zu voller Geistesgegenwart erwachen? –
Harald Dörcksen trat an das Lager des Detektivs.
„Das Fieber ist noch gestiegen,“ flüsterte Hella. Burne schlief, aber er murmelte fortwährend unverständliche Worte.
„Armer Kerl!“ sagte der Erfinder. „Hat Pech gehabt in letzter Zeit. Erst der Armschuß, dann der Tiger, jetzt das Fieber. Nun, hoffen wir, daß es bald vorübergeht.“
Als er wieder zu der Führerkabine zurückgehen wollte, traf er auf dem Gang Kapitän Söder.
„Nun, wie steht’s?“ fragte der, nach der Tür der Kabine Burnes deutend. Harald Dörcksen hob die Achseln.
„Noch nicht abzusehen. Das Fieber steigt …“
Söder wiegte das Haupt.
„Armer Kerl!“ brummte auch er. Nach einer Weile: „Und sonst?“
„Sonst alles gut. Unsere Missionen sind erfüllt. Jetzt geht es nach unserer Koralleninsel zurück und dann endgültig nach Olympia.“
„Wenn nichts dazwischenkommt!“
Dörcksen bestätigte seufzend:
„Ja – wenn nichts dazwischenkommt.“ Dann begab er sich in den Führerraum. Löste Gari ab. Mahadur Mirat entfernte sich ebenfalls. Von oben unmerklich in der Bewegung, trotzdem sehr rasch, durchschnitt das Flugschiff das Luftmeer. Harald Dörcksen schaute gedankenverloren in die Weite. Unten wölbte sich der blaue Ozean. Glitzerte das Sonnenlicht darin wie flüssiges Gold.
Flüssiges Gold … Einen Sturm von Gefühlen und einen Strom von Erinnerungen entfachten diese beiden Worte in ihm. An seinen Aufenthalt in den Gefilden der Seligen dachte er zurück, an die Jahre des Glücks mit Aspasia, der Wolkenkönigin, – mit Aspasia, seinem Weibe! Würde er sie je wiedersehen? Soviel Jahre waren seit jenem unglückseligen Tag vergangen, da er das ungeschriebene Gesetz des Gefildes der Seligen übertrat. Wenn sie wieder dorthin gelangten – würden sie – er und Gari Dingra – Gnade finden? Er zweifelte eigentlich nicht daran. Denn – soviel hatte sich in diesen Jahren geändert. Die Olympia-Bewegung, die Mahadur eigentlich erst ins Leben gerufen hatte, war mittlerweile machtvoll angewachsen. Wie ernst die Regierungen der Welt sie nahmen, bewies die Rigorosität, mit der sie gegen ihre Anhänger vorgingen. –
Dörcksen-Land kam in Sicht. Noch lag es in ganz weiter Ferne, nur mit dem Fernglas als dunkler Strich erkennbar. Aber in einer Stunde würde man dort sein. Harald Dörcksen sehnte sich nach dieser Ankunft auf seiner Insel. Sollte sie doch die letzte sein vor seiner Fahrt nach dem Himalaya.
Auch die übrigen sahen der bevorstehenden Landung mit freudigen Gefühlen entgegen. Des Erfinders Brust aber schwellte, wenn auch unausgesprochen, Stolz über sein Werk, den „Meteor“ – dies Flugschiff, das sich in jeder Situation auf der großen Reise ins südliche Eismeer so überaus glänzend bewährt hatte. Seine Augen leuchteten, wenn davon gesprochen wurde.
In der Tat – es war bewunderungswürdig. Nicht ein kleinster Defekt war nach diesen Tausenden zurückgelegten Kilometern zu verzeichnen. Alles funktionierte tadellos.
Näher und näher kam die Insel. Alle Insassen des Flugschiffes – außer dem kranken Burne – standen an den Fenstern. Plötzlich stieß Türck, der gerade das Fernrohr vor den Augen gehabt hatte, einen zornigen Ruf aus.
„Nee – diese Pande, diese infamen Ludersch!“
Man wandte sich um nach ihm; fragte, was los sei. Da deutete das dürre Männchen erregt in die Tiefe.
„Nu – sähn Se mal runter! Fremde Leite sin da!“
So war es wirklich! Ein Schiff lag da unten in dem kleinen natürlichen Hafen der Koralleninsel, eine große Dampfbarkasse. Und auf dem „Strand“, dem niedrigen Felsplateau, schritt langsam, das Gewehr im Arm, ein Mann auf und ab, ein Soldat! Gari Dörcksen eilte zu seinem Vater in die Führerkabine.
„Wir sind entdeckt, Vater!“ rief er. „Militär ist auf der Insel!“
„Da haben wir es wieder –!“ rief Major Howe und schlug mit der Hand krachend auf den Tisch. „Hören Sie, was die „Bombay-Post“ hier schreibt: Gestern gegen Abend ist wieder dasselbe, seltsam geformte und anscheinend sehr große Flugschiff gesehen worden, das uns schon seit einiger Zeit beunruhigt. Unter den Hindus geht das Gerücht, daß es sich um ein neues Flugschiff handelt, mit dem Harald Dörcksen und der Radscha Mahadur Mirat nach Olympia fahren wollen. Wenngleich noch lange nicht feststeht, ob an dem Olympiagefasel überhaupt etwas Wahres ist, sollte die Regierung doch unbedingt Schritte zur Untersuchung dieses Falles unternehmen.“
Wieder schlug der Major mit der Faust auf den Tisch und rief:
„Das ist doch um auf die Akazien zu klettern! Sollte unbedingt Schritte unternehmen … Eine Frechheit ist das von den Zeitungsschmierern! Als ob sie nicht wüßten, daß wir seit Monaten hinter dem Olympia-Rummel her sind! Allerdings – Erfolge waren keine zu verzeichnen. Der Bande ist nicht beizukommen. Der Henker hole diese Geschichte.“
Da trat ein Unterbeamter ein, meldete:
„Herr Major, die beiden Fischer sind wieder da.“
„Was für Fischer?“
„Die die Insel –“
„Ah – das ist gut. Lassen Sie sie sofort hereinkommen,“ rief Major Howe aufspringend. „Ein Lichtblick wenigstens. Wollen sehen, was daraus zu machen ist. Wenn die Angaben –“
Da traten die beiden Fischer ein. Sie drehten verlegen ihre großen Hüte; blieben gleich an der Tür stehen. Howe winkte sie näher heran.
„Nun, was bringt ihr?“
„Wir waren an der Insel,“ entgegnete der eine ängstlich. Man sah es den beiden an, daß sie es nicht fertig bekommen würden, im Zusammenhang zu erzählen. Deshalb zog es auch Major Howe vor, zu fragen.
„Ihr habt vor einiger Zeit zwei Fremde in die Nähe einer Insel fahren müssen?“
„Ja, Sahib.“
„Die beiden Fremden hatten ein selbstgezimmertes Floß mit, auf dem sie nachher der Insel zuruderten? War es so?“
„Genau so – Sahib.“
„Und unterwegs habt ihr die beiden belauscht, ja?“
„Ja, Sahib.“
„Und wovon sprachen sie?“
„Oh, viel, Sahib, allerlei. Auch von einem Flugschiff, das auf der Insel sein sollte.“
Das war es, was Howe wissen wollte. Insel und Flugschiff. Das konnte der Zufluchtsort Mahadur Mirats sein. Gelang es ihm, das Nest der Olympia-Leute zu entdecken und diese unschädlich zu machen, dann war ihm ein neuer großer Sprung aufwärts in seiner Karriere gewiß.
„Ihr meint, die Insel wiederfinden zu können?“ fragte er weiter. Die Fischer bejahten eifrig.
„Ja, ja, ganz gewiß, Sahib!“
„Nun gut; ihr werdet morgen früh mit einem unserer Boote fahren; uns die Insel zeigen. Erweisen sich eure Angaben als richtig, dann ist euch eine gute Belohnung sicher. Habt ihr uns aber irregeführt, dann werdet ihr eingesperrt, verstanden?“
„Ja, Sahib,“ nickten die Fischer. Aber sie sahen gar nicht furchtsam aus; schienen ihrer Sache schon ganz sicher zu sein, so daß sie die in Aussicht gestellte Belohnung schon im voraus heiter stimmte. –
Früh am nächsten Morgen wurde eine Dampfbarkasse ausgerüstet. Inspektor Williams, der Leiter der politischen Polizei, fuhr mit sechs Kriminalbeamten und ebenso vielen Soldaten mit. Dann kamen die Fischer an Bord. Das Schiff, das für solch ein Unternehmen eigentlich zu klein war, hatte jedoch eine glatte Fahrt, da das Meer in diesen Tagen völlig ruhig war. Nicht der geringste Windhauch wehte. –
„Dort, dort – das ist sie!“ riefen die beiden Fischer zugleich, als wieder einmal eine größere Insel in Sicht kam. Und kaum eine halbe Stunde später war die Barkasse dicht bei Dörcksen-Land angelangt. Und dann? Die wenigen Zurückgebliebenen konnten natürlich nicht daran denken, Widerstand zu leisten, und so wurde die Insel von dem kleinen Häuflein der Polizeibeamten und Soldaten besetzt. Da leicht festzustellen war, daß es auf der Insel außer einem Rettungsboot, das in der natürlichen Hafenbucht lag, keinerlei Möglichkeit gab, von dem Eiland fortzukommen, ließ man sie ruhig frei, wie bisher. Nur der Hafen und das Boot wurden bewacht.
Inspektor Williams besichtigte in aller Ruhe die ganze Insel. Ihre Anlagen und Einrichtungen nötigten ihm unverhohlenes Erstaunen ab. Das Flugschiff war nicht anwesend, war in letzter Zeit über verschiedenen Städten Indiens gesehen worden. Daraus konnte man wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, daß es bald hierhin zurückkehren werde.
Der Inspektor beschloß, ruhig hier auf seine Rückkehr zu warten. Mit zwölf Leuten, sämtlich gut bewaffnet, hoffte er die Ankommenden mühelos überwältigen zu können. Ah, das würde ein Erfolg werden, wenn er mit den Führern der Olympia-Bewegung als Gefangenen zurückkehrte! Auch Williams träumte bei dem Gedanken von einem Aufschwung seiner Karriere. Ganz wie sein Vorgesetzter, Major Howe.
Irgendwo abseits, hinter ein paar Felsen verborgen, saßen die beiden Schiffbrüchigen Wood und Field eng beieinander und unterhielten sich eifrig.
„Was machen wir nun, Harry?“ fragte der eine. „Wenn man uns zwingt, die Insel zu verlassen? Wenn die Polizei Dörcksens Fahrt nach dem Himalaya verhindert?“
Wood kaute an seiner Unterlippe.
„Das darf nicht geschehen,“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Wir wollen und müssen um jeden Preis nach Olympia kommen. Die Fahrt muß unternommen werden.“ Er lachte: „Die Sache Mahadur Mirats und Dörcksens ist somit die unsere geworden.“
„Gewiß ja; aber – was ist zu tun?“ fragte Field dagegen. Wood antwortete nichts. Starrte eine ganze Weile vor sich hin. Dann erst sagte er:
„Wir müssen versuchen, wenn das Flugschiff sich naht, die Aufmerksamkeit seiner Insassen auf uns zu lenken. Planken liegen genug herum, Stricke ebenfalls. Wir wollen versuchen, daraus heute noch eine Art Floß herzustellen und aufs Meer zu entkommen. Vielleicht gelingt es uns, von einer der umliegenden kleinen Felseninseln dem „Meteor“ ein Signal zu geben.“
„Und dann?“
„Dann –? Nun, ich nehme an, daß wir dann von Dörcksen aufgenommen werden. Wir warnen ihn, auf der Insel zu landen, und er kann in Ruhe entsprechende Maßnahmen treffen.“
„Hm – nicht übel. Wenn’s nur glückt!“
Wood hob die Achseln.
„Das kann man natürlich nur abwarten. Wenn –“
In dem Augenblick packte Field des anderen Arm. Deutete nach oben.
„Da – da kommen sie!“
Auch Wood blickte empor.
„In der Tat! Damned – doch zu früh!“
Sie beobachteten beide das Flugschiff. Wie es näher und näher kam, wie es in großen Spiralen tiefer ging … Und dann –
„Es kreist!“ flüsterte Wood gespannt. „Das Flugschiff kreist über der Insel. Es geht nicht mehr tiefer herunter. Vielleicht haben die da oben bereits die Barkasse der Polizei entdeckt … Ah, sieh nur … Wirklich, der „Meteor“ steigt wieder höher! Sie fliegen fort!“
Fast triumphierend hatte Wood das gesagt. Field sah ihn verständnislos an.
„Sie fliegen wieder fort. Nun ja – aber was ist uns damit genützt –?“
Wood wiegte das Haupt.
„Hm – wer weiß; ich habe meinen besonderen Plan. Jedenfalls steht vorläufig eins fest, heute Nacht wird ein Floß gebaut …“
„Ist das nicht sehr riskant?“ fragte Field zweifelnd. –
Wood schüttelte energisch den Kopf: „Laß mich nur machen.“
Auch die folgende Nacht begnügten sich die Beamten damit, die einzige Fluchtmöglichkeit den Inselbewohnern zu nehmen, indem sie Wachen am Hafen stellten. Zwei Mann, die alle drei Stunden abgelöst wurden. Die übrigen schliefen. Die Insel war so leicht zu bewachen! Daß auf der anderen Seite des Eilandes zwei Männer eine emsige Tätigkeit entfalteten, ahnte niemand von ihnen …
Was war zu tun? Das war die Frage, die alle im Flugschiff Dörcksens beschäftigte. Die Insel war besetzt, die Zufluchtsstätte der Olympia-Leute entdeckt worden. Sollte man nun einfach gleich die Reise zum Gefilde der Seligen antreten? Das war aber schon rein technisch, ohne vorher noch einmal nach Dörcksen-Land zurückzukehren, schwer durchführbar. Und dann ging es doch auch nicht an, daß man die auf der Insel Zurückgebliebenen einfach im Stich ließ.
Nein, ein anderer Weg mußte gefunden werden. Aber welcher? Nachdem man die feindliche Barkasse und die Besatzung auf Dörcksen-Land entdeckt hatte, war der „Meteor“ eine Strecke westwärts geflogen, hatte sich auf ein kahles, ganz kleines Felseneiland niedergelassen. Da saß man nun und überlegte. Kam aber zu keinem rechten Resultat.
Sicherlich warteten jene dort unten nur auf des Flugschiffes Rückkehr, um über die Besatzung herzufallen und sie gefangen abzutransportieren. Dieser Gefahr durfte man sich unter keinen Umständen aussetzen. Darüber waren sich Mahadur Mirat, Harald Dörcksen und alle übrigen im „Meteor“ einig. Man hätte damit der Olympia-Sache nie nützen, nur schaden können.
Aber ein Weg mußte ausfindig gemacht werden. Als die Nacht hereingebrochen war, stieg der „Meteor“ wieder von dem kleinen Felseneiland auf, flog in gemäßigter Fahrt auf Dörcksen-Land zu. Gedankenvoll saß Harald Dörcksen selbst am Steuer. Schaute still in die dunkle Tiefe. Gari und Amara kauerten neben ihm. Auch sie schwiegen.
Plötzlich glomm ein roter Funke dort unten auf, wuchs höher, – um gleich darauf zu heller, weithin leuchtender Glut aufzuflammen. Intensives Rot goß sich über die Stelle des Meeres. Das gab den Wellen ein phantastisches Aussehen. Inmitten dieses Lichtes aber, grell bestrahlt, sahen die Insassen des Flugschiffes etwas Seltsames: zwei Männer auf einem Floß. Es war eigentlich kaum ein Floß zu nennen, dies Gebilde. Nur ein paar Balken oder Planken, mit Stricken zusammengebunden. Die beiden Männer aber winkten unablässig …
Fast unheimlich, gespenstisch sah es aus, die beiden von der roten bengalischen Fackel grell beleuchteten Gestalten auf dem dunklen Wasser.
„Sie winken uns,“ sagte Amara erschauernd. Doch Gari schüttelte den Kopf.
„Nein, Amara, das kann nicht sein. Sie können uns ja hier oben nicht sehen. Es ist Nacht –“
„Doch, doch,“ unterbrach Dörcksen seinen Sohn, „doch, Gari, sie können uns sehen. Wir haben ja Licht an Bord. Amara hat schon recht. Sie winken uns. Außerdem – hier, Gari, sieh einmal durch das Fernglas. Erkennst du die beiden wieder?“
Gari nahm das Glas, blickte hindurch. Sagte dann, es sinken lassend:
„Sind das nicht die zwei Schiffbrüchigen, die damals von uns aufgenommen wurden?!“
„Du hast recht gesehen. Es sind die beiden englischen Seeleute Field und Wood.“
„Wie mögen die aber in diese Situation gekommen sein? Seltsam, seltsam …“
„Ja, seltsam scheint es; aber wir werden die Erklärung bald haben.“
„Du willst hinunter?“
„Ja, und die beiden an Bord des „Meteor“ nehmen. Sie waren doch solange auf Dörcksen-Land; vielleicht können wir von ihnen Näheres über die Stärke der Besetzer der Insel erfahren.“
In großen Spiralen ging der „Meteor“ auf das Wasser nieder. Die bengalische Fackel unten erlosch; doch gleich darauf flammte eine neue auf. Die beiden wollten offenbar dem Flugschiff die Richtung weisen.
Dicht neben dem primitiven Floß setzte das Flugschiff klatschend auf das Wasser auf. Wenig später waren Field und Wood an Bord des „Meteor“. Und dann erfuhren die anderen, wie die Besetzung der Insel vor sich gegangen war. Erfuhren auch, daß sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatten: die Soldaten erwarteten die Rückkehr des „Meteor“. Und zuletzt kamen die ehemaligen Schiffbrüchigen damit heraus, daß sie, um die Insassen des Flugschiffes zu warnen, sich mit dem gebrechlichen Floß des Nachts von der Insel fortgeschlichen und aufs Meer gewagt hatten.
Nun, Mahadur Mirat und Harald Dörcksen bekundeten ihnen ihre aufrichtige Dankbarkeit dafür. Als der Erfinder dann nach der Stärke der Engländer gefragt und von ihnen erfahren hatte, daß außer Inspektor Williams nur noch zwölf Mann da seien, nahm sein Gesicht einige Augenblicke einen nachdenklichen Ausdruck an. Dann sagte er langsam:
„Wir werden die Insel wiederhaben! Wenigstens, solange wir sie noch brauchen. Das heißt also, bis wir alles zu der endgültigen Reise nach Olympia Notwendige an Bord genommen haben, – das und auch die noch auf der Insel befindlichen Unseren. Danach – mögen sie sie haben; wir werden nicht mehr dorthin zurückkehren!“
Der Erfinder nickte ernst, seine Augen leuchteten auf, als er fortfuhr:
„Nun, meine Freunde, ist es an der Zeit, euch auch noch das Letzte mitzuteilen. Noch eine Erfindung habe ich gemacht, die nun – in unserem Kampf um Dörcksen-Land – zum ersten Mal zur Anwendung kommen soll. Wir alle wissen, daß das Kriegshandwerk der Kulturmenschen unwürdig ist. Nur rückständige, rohe Kreaturen sind für Krieg. Die Besten unter den Menschen sind gegen ihn. Da aber die Guten den Bösen gegenüber noch immer in der Minderzahl sind, muß der Kampf der Guten sich nicht allein gegen die Kriegsidee richten, sondern auch gegen die Kriegswaffen. Die tötende Waffe muß verschwinden. Aber nicht, um die Kriegsgegner allein waffenlos, nicht, um die Menschen in jedem Falle wehrlos zu machen. Sie muß durch eine andere ersetzt werden. Und – eine solche habe ich gefunden! Eine Waffe, die ihren Besitzer schützt, den Gegner aber weder tötet, verwundet, noch sonst irgendwie schädigt. Sie betäubt ihn nur für kurze Zeit; ohne daß diese Betäubung irgendwelche schädlichen Wirkungen im Gefolge hat. Und nur bei notwendiger Notwehr soll diese Waffe gebraucht werden. Niemals sonst. Denn für Kriegsgebrauch wäre sie ja sowieso untauglich. Mit Hilfe dieser Waffe, meine Freunde, werden wir unsere Insel zurückbekommen. Für lange wird es nicht mehr sein.“
Voll Staunen und ehrlich begeisterter Zustimmung hatten alle den Worten des Erfinders gelauscht. Als er geendet hatte, wollten sie nun die neue Waffe mit den so schätzenswerten Eigenschaften sehen.
„Da ist nicht viel zu sehen,“ entgegnete Harald Dörcksen, indem er einem Kasten eine Pistole entnahm und sie vor sich hinlegte. „Das ist so ein Exemplar. Ein ganz gewöhnlicher alter Browning. Die Änderung liegt lediglich in den Patronen, die allein neuer Konstruktion sind.“
Damit öffnete er den Rahmen, nahm eine der Patronen aus dem Magazin heraus, die sich nur wenig von den früher gebrauchten unterschied, und erklärte ihre Bauart.
„Und nun,“ sagte er damit zum Schluß kommend, „wollen wir auf jenes kleine Felseneiland, das uns einstweilen Zufluchtsort war, zurück. Noch ein paar Stunden Ruhe, – dann werden wir bei Tagesanbruch die Gegner unserer Friedensidee mit der neuen, friedlichen Waffe von unserer Insel vertreiben!“
Kaum war das erste Morgengrauen angebrochen, da erhob sich das Flugschiff Harald Dörcksens von seinem nächtlichen Ruheplatz. Lautlos schwebte es über der Meeresfläche dahin, in ganz geringer Höhe. Kaum eine Stunde dauerte die Fahrt bis Dörcksen-Land. Dann war der „Meteor“ über der Insel.
Etwas höher war Dörcksen nun gegangen. Er flog Schleifen über der Insel. Beobachtete, was unten vorging. Dort hatte man das Flugschiff längst bemerkt. Stand in Gruppen zusammen. Debattierte, heftig dabei gestikulierend. Lief hin und her. Man schien sich nicht ganz klar darüber zu sein, was man tun sollte.
Jedenfalls waren alle anwesenden Beamten und Soldaten auf dem Platz in der Mitte der Insel, auf dem Dörcksen mit seinem Flugschiff zu landen pflegte, versammelt. Mahadur Mirat zählte vierzehn Mann. Das konnte stimmen. Sechs Kriminalbeamte, sechs Polizeisoldaten, Inspektor Williams – der Vierzehnte war dann wohl der Führer der Dampfbarkasse.
„Sie werden uns angreifen!“ meinte Kapitän Söder. – Harald Dörcksen wiegte das Haupt.
„Das glaube ich kaum. Aber – ich hoffe es.“
Jetzt liefen die unten auseinander. Das Flugschiff senkte sich auf die Talsohle hernieder, landete glatt. Harald Dörcksen stand an der Tür, die von der Führerkabine ins Freie führte. Aber er öffnete sie noch nicht. Lauschte; wartete.
Stimmen klangen dort draußen. Die Beamten und Soldaten kamen näher. Waren wohl befremdet darüber, daß das Flugschiff nicht geöffnet wurde. Endlich klopfte jemand an. Rief:
„Hallo!“
Da erst öffnete Dörcksen. Inspektor Williams stand vor ihm. Dahinter die Kriminalbeamten und Soldaten. Alle bewaffnet. Der Erfinder hatte vorher schon seinen Getreuen genaue Instruktionen erteilt. Alles mußte programmgemäß verlaufen.
„Kommen Sie heraus. Sie haben zu Ende gespielt!“ rief Williams siegessicher. Dörcksen zuckte nur die Achseln.
„Kommen Sie herein. Wir sind noch lange nicht am Ende,“ entgegnete er. Der Inspektor machte ein wütendes Gesicht. Schwieg eine Weile. Man sah ihm an, wie angestrengt er nachdachte, was er tun solle. Dann warf er einen raschen Blick hinter sich. Übersah wohl die Macht, die hinter ihm stand, bereit, ihn zu schützen, wenn es darauf ankam. Erklärte:
„Ich weiß zwar nicht, was ich da drinnen soll; aber gut, ich will kommen. Hüten Sie sich, irgend etwas gegen mich zu unternehmen. Meine Leute würden mich schwer rächen.“
Harald Dörcksen lächelte.
„Kommen Sie nur, Herr Inspektor. Ihnen geschieht nichts. Wir können hier in aller Ruhe verhandeln.“
Und Williams stieg wirklich hinein. Das mußte man ihm lassen: feige war er nicht. Staunend, doch möglichst betont kühl, blickte er sich im Innern des „Meteor“ um. Dörcksen beobachtete ihn.
„So großartig haben Sie sich die Sache wohl doch nicht gedacht, wie?“
Williams tat, als habe er die Frage überhört. Dörcksen zuckte die Achseln; wies auf einen Stuhl.
„Bitte Platz zu nehmen!“
Auch das überhörte der Inspektor. So blieb denn auch Harald Dörcksen stehen.
„Ich muß Sie und Ihre Anhänger verhaften, Mr. Dörcksen. Hier ist der Haftbefehl!“
Der Erfinder nahm das Papier, überlas es, zuckte dann aber erneut die Schultern und reichte es dem Inspektor wieder.
„Tut mir leid; aber dies Papier kann ich nicht anerkennen. Es ist von einer englischen Behörde ausgestellt; ich bin aber kein Engländer.“
„Ich denke, Sie sind international?“ entgegnete Williams, einen Augenblick verwirrt. Dörcksen nickte:
„Nun ja, eben darum bin ich ja auch kein Engländer. Geboren bin ich in Deutschland, ein Teil meiner Freunde in Amerika, einer auch in England: Burne, ihr ehemaliger Kollege …“
„Ist der hier??“ fragte Williams, den Erfinder unterbrechend. Dörcksen bejahte.
„Allerdings. Wenn Sie ihn sehen wollen … Er liegt zu Bett; hat soeben einen schweren Fieberanfall überstanden, ist jedoch schon wieder soweit hergestellt, daß er Sie begrüßen kann.“
„Nein, danke,“ antwortete der Inspektor mit süßsaurer Miene. „Für den – habe ich einen besonderen Haftbefehl.“
„Hm, schön. Oder vielmehr, nicht schön. Kehren wir zu unserem vorigen Thema zurück. Der Rest meiner Freunde sind Hindus. Sie werden also einsehen, daß –“
Wieder unterbrach Williams den Erfinder, diesmal mit heftiger Handbewegung.
„Gar nichts sehe ich ein. Ich habe Sie und Ihre Anhängerschaft gefangen zurückzubringen. Weiter nichts. Keine Verhandlungen. Wie käme ich dazu, mit Ihnen mich in Verhandlungen einzulassen? Sie gehen mit auf die Barkasse. Fertig! Widerstand ist nutzlos. Wir sind vierzehn Mann und alle bewaffnet.“
Dörcksen lächelte.
„Meinen Sie, wir sind weniger? Und nicht bewaffnet? Nein, Verehrtester, so einfach ist die Sache denn doch nicht. Wir könnten es getrost auf einen Kampf ankommen lassen. Wenn das nötig wäre! Aber es wird nicht nötig sein. Sie werden mit Ihren Leuten wieder abziehen, und zwar sofort. Das ist alles. Lassen Sie sich gesagt sein: Wir besitzen Mittel und Wege, Sie zu zwingen!“
„Oho, welche Sprache! Das wollen wir doch sehen –!“
„Bitte. Sofort!“ entgegnete Dörcksen und klopfte dabei dreimal an die Zwischenwand, die diese Kabine von der danebenliegenden trennte. Das war das verabredete Signal. Im nächsten Augenblick wurde ein Fauchen und Zischen hörbar. Dann einige Schreie draußen. Harald Dörcksen wies auf das kleine Fenster der Kabine.
„Wollen Sie sich bitte überzeugen, Herr Inspektor!“
Williams sprang auf. Ein Ausruf des Schreckens entfuhr ihm. Draußen sah er vier seiner Leute regungslos am Boden liegen. Die anderen umstanden sie, ratlos, gestikulierend. Wieder und wieder zeigten sie mit ganz erschreckten Gesichtern nach dem Flugschiff. Und dann – dann geschah etwas Unerklärliches, – vor des Inspektors eigenen Augen. Irgendwoher aus dem Flugschiff fuhren unter neuerlichem Fauchen und Zischen Strahlen eines bläulichen Dampfes, hüllten vier weitere der Beamten ein, – die fast in derselben Sekunde wie tot zusammenbrachen.
Bleich im Gesicht, wandte sich Williams zu Harald Dörcksen zurück.
„Tot –??“ fragte er heiser. „Ohne Knall – tot?“
„Sie sehen ja –“ antwortete Dörcksen ausweichend. Und da zischte und fauchte es draußen schon wieder. Diesmal sanken die letzten Vier um. Nur der Maschinist der Dampfbarkasse, der sich etwas abseits gehalten hatte, war noch übrig. Der floh jetzt in wilden Sprüngen, ohne sich noch einmal umzuwenden. Inspektor Williams sah nicht mehr, wie aus anderen Ausgängen des „Meteor“ Gari Dörcksen, Kapitän Söder, Türck und Professor Herbst – dieselben, die vorhin die Revolver mit dem betäubenden Pulver abgefeuert hatten – hervorstürzten und die Bewußtlosen rasch entwaffneten und fesselten.
Das sah er nicht mehr. Völlig sprachlos hatte er nur noch zu Harald Dörcksen hinübergestarrt, der nun mit erhobener Stimme rief:
„So – und nun kommt die Reihe an Sie! Sie werden jetzt mit Hilfe des Maschinisten der Barkasse Ihre zwölf Leute auf dem Dampfboot verladen und dann mit ihnen abfahren. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen sagen, daß die Männer nicht tot, sondern nur für einige Stunden betäubt sind. Wir aber, meine Getreuen und ich, werden mit dem „Meteor“ endgültig von hier verschwinden. Wir fahren nach Olympia!“
Inspektor Williams senkte den Blick, starrte düster vor sich hin. Er sah nun wohl ein, daß mit den alltäglichen Machtmitteln der Polizei und des Militärs hier nichts auszurichten war. Er ergab sich.
Dörcksen sah es ihm an. Er hatte gesiegt.
„Sie und Ihre Leute sollen ungefährdet wieder von hier abziehen können. Fahren Sie zurück und – berichten Sie dort getrost wahrheitsgemäß, was sich hier abgespielt hat. Wie Sie und Ihre Leute wehrlos gemacht wurden, ohne daß einer von ihnen getötet, geschädigt oder verwundet worden wäre. Erzählen Sie das – und Sie werden unserer Sache einen Dienst erweisen. Denn die Wirkung auf die Öffentlichkeit wird nicht ausbleiben.“
Der Inspektor war sehr nachdenklich geworden. Nicht so sehr, weil er sich überwunden fühlte, sondern mehr, weil er sah, daß er augenblicklich machtlos war. Wenig später hatte er bereits den geflohenen Maschinisten zurückgeholt und trug mit ihm einen seiner Mannschaft nach dem anderen in die Barkasse. Die beiden Inder halfen ihnen dabei.
Inzwischen entfalteten die anderen eine fieberhafte Tätigkeit. Alles zur endgültigen Abreise von Dörcksen-Land Notwendige, Geräte und Lebensmittel, wurde im Flugschiff verstaut. Konserven waren noch reichlich für einen Monat vorhanden. Ebenso Schwarzbrot in Blechbüchsen, das sich lange frisch hielt und jede Menge Schiffszwieback.
Das dauerte kaum eine Stunde. Die beiden Inder hielten indessen Wache, mit den neuen Rauchpatronenrevolvern bewaffnet, bei dem Boot der Soldaten. Dörcksen und Kapitän Söder begaben sich noch einmal dorthin.
„Sie dürfen abfahren!“ rief der Erfinder Inspektor Williams zu, der grimmig ob seines Mißerfolges auf dem Verdeck der Barkasse stand. „Meine Leute nehme ich mit mir. In einer Viertelstunde werden wir mit dem Flugschiff diese Insel für immer verlassen haben!“
Williams erwiderte nichts.
Wenig später dampfte die Barkasse aus dem kleinen Hafen der Insel auf See hinaus. Zu gleicher Zeit bestiegen die Bewohner von Dörcksen-Land das Flugschiff. Field um Wood gedachte der Erfinder irgendwo an der Küste Indiens abzusetzen. Aber die beiden Schiffbrüchigen zögerten immer noch, in den „Meteor“ hineinzugehen.
„Nun, wo sollen wir euch absetzen?“ fragte Harald Dörcksen endlich. „Habt ihr Geld genug, euch noch eine Weile durchzuschlagen?“
Die beiden Seeleute standen vor ihm und antworteten zunächst gar nichts. Sie schienen verlegen. Endlich nahm Field das Wort:
„Mr. Dörcksen,“ sagte er, „wir haben es uns in der letzten Zeit überlegt; wir möchten gern hier auf der Insel bleiben. Lebensmöglichkeiten sind vorhanden, auch noch Vorräte für einige Zeit, die sonst einfach zurückgelassen würden …“
Er stockte. Der Erfinder nickte.
„Das ist wahr. All die Konserven konnten nicht im Flugschiff verstaut werden. Ein Teil mußte zurückbleiben. Ihr wollt also hierbleiben und so eine Art Einsiedlerleben führen? Hm, nun, wie ihr meint. Ihr denkt wohl, daß sei immer noch besser als arbeiten. Ansichtssache. Aber – meinetwegen. Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Ich mache euch jedoch darauf aufmerksam, daß Inspektor Williams aller Wahrscheinlichkeit nach noch einmal mit verstärkter Macht hierher zurückkehren wird. Kalkuliere, er glaubt nicht an unsere endgültige Abreise.“
„Oh, das macht nichts, Mister. Wir werden mit den Leuten schon fertig werden,“ entgegnete Field zuversichtlich. Dörcksen zuckte die Achseln.
„Nun, wie Ihr wollt. Wie gesagt, ich habe nichts dagegen. Mir kann es ja auch schließlich gleichgültig sein.“
So blieb es dann dabei: Wood und Field wollten auf der Koralleninsel bleiben. Alle übrigen befanden sich bereits im Flugschiff. Als letzter stieg Dörcksen ein. Innen hatte man begonnen, sich für eine längere Reise einzurichten. Nun alle Beteiligten diese Fahrt mitmachten, war der Raum natürlich nicht mehr so reichlich wie vordem. Dennoch war für alle bequeme Unterkunft vorhanden.
Niemand achtete dabei darauf, was außerhalb des Flugschiffes vorging. Nur Dörcksen trat einen Augenblick an eins der Fenster und sah hinaus. Die beiden neuen „Robinsons“, Wood und Field, waren nirgends zu entdecken. Vielleicht hatten sie sich nach den Felsenkammern begeben, wo die Vorräte lagen. Oder –
Dörcksen dachte nicht weiter darüber nach. War er doch viel mehr mit der Zukunft beschäftigt. Jetzt galt es … jetzt wurde der Flug nach Olympia angetreten, von dem so viel abhing. Für ihn, für alle die anderen, die mitfuhren; letzten Endes auch für die Welt. Aber der Erfinder war gar nicht mehr so zuversichtlich. Düstere Ahnungen bedrückten ihn. Würden sie ohne Zwischenfall das „Gefilde der Seligen“ erreichen? Würden sie dort noch alles so vorfinden, wie es damals war? –
Fertig. Alles war bereit. Mahadur Mirat, Hella und Gari traten zu ihrem Vater in die Führerkabine.
„Du siehst so ernst aus, Vater,“ sagte Hella, indem sie dem Erfinder über das Haar strich. Der lächelte ein wenig, ließ seinen Blick über seine Tochter und den Radscha gleiten, der den Arm um des Mädchens Schultern gelegt hatte. Dann antwortete er:
„Ich habe nur an das Glück gedacht, das ich einmal genossen habe … Ein paar rasch verfliegende Jahre. Jäh ging es zu Ende. Durch meine Schuld. Aspasia konnte, durfte mich nicht zurückhalten, nicht zurückrufen. Auch sie stand unter jenen ungeschriebenen Gesetzen des Landes, in dem das Liebesglück des einzelnen natürlich weniger galt als das Glück der Gesamtheit. Damals – haderte ich mit diesem Gesetz. Heute sehe ich das anders. Heute überschaue ich klarer die Zusammenhänge: daß die Gesamtheit in Olympia in ihrem Zusammenwirken doch wiederum nichts anderes als das Glück jedes einzelnen erstrebt.“
Und nach einer kurzen Pause, während der die anderen ihn nicht zu stören wagten:
„Einer für alle und alle für einen … der Grundsatz der Idealgemeinschaft von Menschen … dort zum ersten Mal in völliger Reinheit verwirklicht. Ob es mir beschieden sein wird, noch einmal in Olympia zu leben?“
Als er zu sprechen aufhörte, schwiegen alle. Die Größe des neuen Gedankens des Allmenschheitsstaates hatte sie angerührt. Dann drang von der großen gemeinsamen Kabine nebenan eine kräftige Stimme herein, die Stimme Kapitän Knut Söders:
„Hallo, alles klar an Bord! Wann fahren wir?“
Zugleich trat der Sprecher selbst durch die Tür. Sein wettergebräuntes Gesicht und die leuchtenden Augen strahlten vor Lebensfreude. Da atmete Harald Dörcksen tief auf. Auch über sein Gesicht flog ein hellerer Schimmer. Er erhob sich von dem Klappsitz, auf dem er gesessen.
„Nun denn also, – fahren wir!“
„Hurra!“ rief Söder. Harald Dörcksen trat an den Führerstand. Ein, zwei Handgriffe … der Motor sprang an. Ein Zittern lief durch den Leib des Flugschiffes. Gleich darauf begann es langsam vorwärts zu rollen. Das Tempo verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Noch wenige Augenblicke und der Riesenvogel hob sich vom Boden, schwebte ruhig und ohne Schwanken über den Felsen und Korallenriffen von Dörcksen-Land und gleich darauf über dem tiefblauen Meer.
Irgendwo aber, unterhalb des Flugschiffrumpfes kauerten zwei Gestalten – Wood und Field, alias Leakwoord und Mewius …
Zum ersten Mal waren nun alle Bewohner von Dörcksen-Land beisammen. Die trübe Stimmung des Erfinders war verflogen. Helle Zuversicht herrschte bei allen. Mahadur Mirat und Hella, Gari und Amara genossen die Stunden der ruhevollen Zweisamkeit voll aus. Stärker und stärker strahlte ihre Liebe von Tag zu Tag auf.
Hella war durch die magnetische Behandlung Mahadur Mirats von der Sucht nach dem verderblichen Gift, durch das sie sich früher von Zeit zu Zeit Tatkraft geholt hatte, völlig geheilt. Burnes Fieber war verschwunden. Auch er konnte wieder als gesundet angesehen werden, wenngleich noch eine große Schwäche von dem Anfall in ihm zurückgeblieben war. Doch die würde mit der Zeit schon verschwinden.
Ellen Crosterbroux lebte nach wie vor in einer Art Dämmerzustand dahin. Sie aß, trank, schlief wie ein gesunder Mensch, nahm jedoch von den Ereignissen um sie herum keinerlei Notiz. Mahadur Mirat hatte sie oft in letzter Zeit beobachtet. Und dann sprach er einmal mit Dörcksen über den Zustand der Tochter des Platinkönigs.
Er endete mit den bedeutsamen Worten: „Und so bin ich zu dem Schluß gekommen, daß sie unter dem Willen irgendeines Fremden steht.“
Dörcksen wiegte das Haupt.
„Wie sollte das möglich sein? Bei uns ist doch niemand, der –“
„Das ist ja auch nicht nötig. Die Willensbeeinflussung kann schon vor längerer Zeit geschehen sein. Dergleichen ist sehr gut denkbar.“
Kapitän Söder, der die Unterredung mit anhörte, horchte plötzlich auf. Willensbeeinflussung? Vor längerer Zeit? Ihm fiel mit einem Mal ein, was er damals mit Ellen Crosterbroux erlebte, – jene Fahrt durch das Mittelmeer, der dann die Abenteuer mit ihr in Ägypten gefolgt waren. Schon damals war er auf den Gedanken gekommen, daß Ellen Crosterbroux’ Handlungsweise nicht eigenen Überlegungen, sondern dem Gehirn eines anderen entstammte. Harry Leakwoord und sein Komplice? Hatten die damit etwas zu tun? War die Erklärung in der Richtung zu suchen?
Er gab seinen Vermutungen den anderen gegenüber Ausdruck. So kam das Gespräch wieder einmal auf Harry Leakwoord. Wo mochte der alte Feind der Olympia-Sache stecken? Er war verschollen. Aber Mahadur Mirat glaubte fest, daß er zu einer anderen Zeit schon wieder auftauchen würde. Der war zäh in seinem Haß gegen den Radscha, der ihm damals auf den Felsen von Dörcksen-Land durch Foltern das Geständnis abgepreßt hatte, wo Gari Dörcksen sich befand. Dies Geheimnis, das seine beste und einzige Handhabe gegen den Erfinder war, – seine beste Aussicht, alle Unternehmungen jenes bezüglich des Gefildes der Seligen zu kontrollieren und letzten Endes vielleicht für sich auszunutzen.
„Es ist durchaus nicht unmöglich, daß Leakwoord und sein Komplice dahinterstecken,“ meinte Mahadur Mirat.
„Ja, aber –“ wandte Dörcksen zweifelnd ein, „sollte ein Einfluß wirklich solange nach der persönlichen Berührung des Befehlsgebers mit dem Medium nachwirken?“
Der Radscha nickte bestimmt.
„Oh, doch. Solange der Befehlssender lebt. Es kommt auf dessen Willensstärke an, ob er die Person, die er beeinflussen will, aus der Ferne nur in seinem Bann halten oder auch nach seinem Willen lenken kann. Letztere Fähigkeit findet sich fast nur bei den Yogis Indiens.“
„Und Ellen Crosterbroux –?“
„– scheint mir nach allen Anzeichen unter dem Willen eines Magnetiseurs zu stehen, dessen Willenskraft jedoch – wie meistens bei europäischen Hypnotiseuren – nur dazu ausreicht, das Medium von fern willenlos, das heißt in diesem Fall, apathisch zu machen. Ich werde einmal versuchen, jenem fremden Willen entgegenzuarbeiten.“
Mahadur Mirat führte seine Absicht dann auch bald aus. Doch er ließ den Beeinflussungsversuch bald wieder, um Ellen Crosterbroux nicht zu quälen. Denn der einzige Erfolg, den seine Bemühungen hatten, war, daß das Mädchen in Weinkrämpfe verfiel. So nahm der Radscha Abstand von weiteren Experimenten, und es blieb alles beim Alten.
Es war am Tag nach dem Aufbruch von der Insel. Absichtlich folgte Harald Dörcksen einem westlichen Kurs. Er wollte Britisch-Indien für alle Fälle nicht überfliegen, sondern lieber einen Umweg machen. Die Reisenden ahnten nicht, daß ihnen dieser Tag noch eine große und wenig erfreuliche Überraschung bringen sollte.
Harald Dörcksen hatte seinem Sohn die Führung des Flugschiffes vorübergehend überlassen und saß mit den anderen in dem großen, gemeinschaftlichen Wohnraum in angeregter Unterhaltung. Amara weilte bei Gari in der Führerkabine. Plötzlich stürzte die Ägypterin mit schreckensvollen Zügen in den Aufenthaltsraum. Zugleich ertönte ein schrilles, grelles Kreischen. Harald Dörcksen sprang auf, sah Amara fragend an. Doch die wies nur, keines Wortes mächtig, nach der Führerkabine. Dörcksen rannte hin.
„Was ist geschehen?“ rief er Gari zu, der bleich war und vor Erregung bebte.
„Ich weiß nicht … dieses Knirschen … vielleicht eine falsche Schaltung …“
Aber da hatte der Erfinder auch schon mit einem Blick die Situation überblickt, sprang hinzu, riß einen Hebel herum. Sofort wurde das alles durchdringende Geräusch leiser, verstummte endlich.
„Die Diamanten der Lagerung werden zerstört sein, – ein unersetzlicher Verlust. Sollen wir denn nie nach Olympia kommen –?“
Ohne besondere Erregung sagte Harald Dörcksen das und ohne ein Wort des Vorwurfs für Gari. Er war sich dessen bewußt, wie schwierig und kompliziert die Bedienung des „Meteor“ war. Und doppelt noch, wenn die Geliebte neben einem stand … Nein, er war Gari wirklich nicht gram. Nur sehr ernst machte ihn dieser neue Zwischenfall, der alles in Frage stellte, ja den Erfolg vorläufig in unabsehbare Ferne rückte.
Gewisse bewegliche Teile der Maschine des „Meteor“, die besonders große Reibung auszuhalten hatten und außerdem elektrischen Strom nicht leiten durften, isolierend wirken mußten, waren auf Diamanten gelagert. Kapitän Söder hatte einige große Steine, die er von einer seiner Fahrten nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika als „Verdienst“ mitgebracht hatte, dem Jugendfreund zum Bau des Flugschiffes zur Verfügung gestellt.
Die waren nun wohl durch eine falsche Schaltung Garis zerstört worden. Wurden sie nicht ersetzt, war der „Meteor“ binnen kurzer Zeit flugunfähig. Gari war untröstlich, überhäufte sich selbst mit den bittersten Vorwürfen wegen seiner Unachtsamkeit. Doch das einmal Geschehene ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Darüber zu klagen war müßig. Und Harald Dörcksen ließ auch den Umstand, das Amara neben Gari gestanden hatte, voll als Entschuldigung gelten. Er dachte dabei an Aspasia … Und so tröstete er denn Gari mit ein paar liebevollen Worten.
Die Folgen dieses Mißgeschicks zeigten sich gar bald nur allzu deutlich. Die Geschwindigkeit, die Manövrierfähigkeit des „Meteor“ ließen erheblich nach, und als gegen Abend dieses Tages der Nordwind zum Sturm anwuchs, hatte das Flugschiff jede Möglichkeit verloren, dagegen anzukämpfen. Fast haltlos wurde es abgetrieben. Die ganze Nacht hindurch. –
Inzwischen saß man im Hauptraum zusammen und beriet.
„Weiterzufahren hat keinen Zweck mehr,“ erklärte Harald Dörcksen, „wohl könnte ich die Maschine ruhig weiterlaufen lassen. Doch wir würden unser Ziel kaum erreichen und außerdem die Antriebsteile dadurch außerordentlich wenn nicht sogar unreparierbar schädigen. Ich schlage darum vor, daß wir von unserem bisherigen Kurs abgehen und bei Sansibar landen. Die Insel liegt nicht allzu weit entfernt. Wenn wir den jetzt herrschenden Sturm, der gerade in jener Richtung weht, ausnützen, können wir in den ersten Morgenstunden dort sein. Es bleibt uns eigentlich keine andere Wahl, wenn wir nicht riskieren wollen, in Indien den Engländern in die Hände zu fallen oder ins Meer zu stürzen.“
Alle waren mit dem Vorschlag des Erfinders einverstanden. Erst einmal mit dem „Meteor“ in Sicherheit kommen. Dann mußte man weiter sehen. So wurde denn gewendet und bald sauste das Flugschiff mit großer Geschwindigkeit südwestwärts.
Als der Morgen graute tauchte in der Ferne Sansibar auf. Nur eine halbe Stunde später senkte sich das Flugschiff zur Erde nieder und landete glatt.
Afrikanischer Boden! Wenn auch nicht der des Kontinents selbst, so doch jenem ganz eng verwandt. Allen außer Kapitän Söder und Türck war er etwas Neues.
Das Flugschiff war auf einer öden Ebene niedergegangen, die ziemlich die einzige Stelle in dieser Gegend war, die einigermaßen günstige Landungsmöglichkeiten bot. Ringsum lagen üppige Farmen und Wälder. Selbstverständlich war der „Meteor“ längst gesehen worden. In hellen Haufen strömten Neger herbei, um das da gelandete Wunder zu bestaunen. Wenngleich Sansibar längst Post und Telegraph besaß, ja selbst in irgendeinem scheunenähnlichen Holzbau ein Kinotheater mit jämmerlich abgenutzten amerikanischen und französischen Filmen, – ein Flugzeug hatten die Neger wohl doch noch nie gesehen. Nun gar eins von der Größe und Form des „Meteor“!
In großen Haufen umstanden sie das vom Himmel gefallene Vehikel, redeten mit einem Riesenaufwand an Temperament und Stimmkraft durcheinander, hielten sich im übrigen aber in respektvoller Entfernung. Auf Knut Söders Rat verließ einstweilen niemand das Flugschiff. Vorsicht konnte niemals schaden. Obgleich mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen war, daß die Schwarzen ganz friedlich gesonnen waren. Es handelte sich wohl nur um Arbeiter der umliegenden Farmen.
Jetzt sah man von fern einen Weißen sich nähern. Harald Dörcksen empfand bei seinem Anblick doch einige Besorgnis. War die Kunde von der Olympia-Bewegung bereits bis hierher gedrungen? Waren die Anfeindungen und Verfolgungen ihrer Anhänger auch hier schon bekannt?
Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Türck riß die Tür auf, sprang mit einem Satz in den Sand hinunter und lief mit dem Ruf: „Henry Zillich, – nee gan das sin!“ auf den Weißen zu. Der blieb stehen, stutzte, als er das kleine dürre Männchen auf sich zukommen sah, das er fast um einen Meter überragte. Dann glitt Erkennen über seine Züge. Nun streckte er Türck zum Willkomm beide Hände entgegen, schüttelte dessen kräftig. Sie wollten sich gar nicht mehr loslassen. Kamen, immer noch Hand in Hand, zum Flugschiff zurück. Türck bugsierte den Fremden in den „Meteor“ hinein. Stellte ihn vor: „Henry Zillich aus Dresden!“
Dann wunderte er sich weiter.
„Nee, nee, gann das sind? Die Welt is en Dorf. Hier,“ wandte er sich an die Umstehenden, „das is meen Schulfreund. Och, was ham mir angeschdellt in der Benne! Nee, war das scheen!“
Als er einmal Atem holte, fragte Henry Zillich den Jugendfreund:
„Wie kommst du denn mit einem Mal hierher?“
Da sah Türck ihn ganz ernst an:
„Nu, soll ich verleicht so nach un nach gomm?“
Alles ringsum lachte. Dann wurde erzählt. Henry Zillich war hier Farmer; hatte sich in zehn Jahren vom Kolonisten zum wohlhabenden Mann emporgearbeitet. Türck allerdings konnte mit seinen Abenteuern nicht anfangen, denn dazu war die Zeit jetzt nicht. So begnügte er sich mit einer kurzen Skizze des Weges, der ihn hierher geführt.
Zillich hatte begreiflicherweise großes Interesse an dem Flugschiff. Harald Dörcksen zeigte und erklärte ihm gern alles. Dem deutschen Erfinder war es sehr lieb, daß der erste Europäer, den sie hier antrafen, gewissermaßen Beziehungen zu ihnen hatte. Türck war ihm längst als Prachtmensch bekannt. Wenn nun jener mit Türck befreundet war – und wie es schien, freute er sich über das Wiedersehen ebenso – konnte man wohl glauben, daß er auch ein schätzenswerter Mensch sei. Und noch etwas las Dörcksen gleich aus dem Benehmen und der Miene des Farmers heraus, nämlich, daß jener von der ganzen Olympia-Affäre keine Ahnung hatte oder – falls er von ihr in der Zeitung gelesen – sie wenigstens nicht mit dem „Meteor“ in Verbindung brachte. –
Als man sich etwa eine Stunde unterhalten und Henry Zillich das Flugschiff besichtigt hatte, erkundigte der sich nach dem Reiseziel. Das brachte Dörcksen wieder auf die fatale Tatsache, daß diese Landung ja eine Notlandung gewesen war und daß sie augenblicklich gar keine Aussicht hatten, die Weiterfahrt ermöglichen zu können. Er hielt es aber für besser, das zu verschweigen, sagte daher:
„Wir beabsichtigen, einstweilen hierzubleiben und uns die Gegend anzusehen.“
„Oh, das ist ja prachtvoll. Da darf ich Sie wohl bitten, meine Gäste zu sein. Platz ist genug da.“
„In Ihrem Haus? Wir sind vierzehn Personen –“ entgegnete der Erfinder zweifelnd. Zillich schüttelte lachend den Kopf:
„Und wenn es vierundzwanzig wären! Kommen Sie nur. Das macht nichts. Und glauben Sie nur nicht, daß uns das besondere Umstände macht. Hier ist alles weitläufiger, großzügiger, reichlicher als drüben in Europa. Oh, und Sie werden es sich kaum vorstellen können, wie glücklich man ist, hier einmal Besuch zu bekommen. Und nun gar noch solch einen interessanten!“
„Nun, wir nehmen die liebenswürdige Einladung mit herzlichem Dank an. Einige von uns werden übrigens stets im Flugschiff schlafen. Zur Sicherheit.“
„Oh, das Flugschiff steht auf dem Hof meiner Farm, der völlig geschlossen ist, so sicher. Aber, wenn Sie meinen –“
Dörcksen nickte.
„Ja, es ist besser.“
„Nun gut. Wie werden wir aber das Flugschiff auf den Hof bekommen. Das Tor wird wohl doch nicht breit genug dafür sein.“
„Vielleicht ist der Hof geräumig genug, daß ich dort regelrecht landen kann?“
„Oh, das ist möglich. Ich will dann gleich hinübergehen und anordnen, daß umherstehende Wagen und Geräte beiseite geschafft werden.“
„Schön. Und dann wollen Sie bitte inmitten des Hofes ein Feuer mit feuchtem Holz oder Stroh entfachen. Der Rauch bezeichnet mir dann die Stelle, wo ich niederzugehen habe.“
Zillich entfernte sich. Die Neger standen noch immer in großem Umkreis und starrten nach dem „Meteor“ herüber. Die Insassen aber setzten sich zu einer Beratung zusammen. Türck hatte an der Auskunft, die Dörcksen dem Farmer gab, sofort gemerkt, daß er den wahren Sachverhalt zu verschweigen wünschte. –
Der Erfinder sagte nun: „Ich halte es für besser, daß niemand erfährt, daß wir gezwungen sind, hier Aufenthalt zu nehmen und auch beim besten Willen gar nicht abreisen könnten. Man kann nie wissen, was sich ereignen wird.“
Die anderen stimmten ihm zu, und so ward denn beschlossen, in jedem Fall daran festzuhalten, daß die Landung hier zum Vergnügen der Mitreisenden geschehen sei.
„Wir dürfen andererseits nicht vergessen, daß unsere Lage eine recht ernste ist. Gelingt es uns nicht, die zerstörten Diamanten in den Lagerungen durch neue zu ersetzen, dann ist ausgeschlossen, daß wir unser Ziel jemals erreichen. Und wie wir die Diamanten ersetzen sollen, ist mir zur Stunde noch unklar.“
Mahadur Mirat wiegte das Haupt.
„Wenn es daran liegt … Diamanten besitze ich genug; auch große, die für die Lagerung in der Maschine geeignet wären. Doch die liegen in meiner Heimat … Ich müßte dorthin und –“
Doch da wurde er unterbrochen. Harald und Hella Dörcksen protestierten gleichzeitig dagegen.
„Nein, nein, niemand von uns soll mehr seine Sicherheit aufs Spiel setzen. Das ist oft genug geschehen.“
Der Radscha schwieg wie alle anderen in der Runde. Burne dachte, wir haben wohl Geld genug an Bord; könnten einfach kaufen, was wir brauchen; aber es gehört Ellen Crosterbroux, und deren Zustand ist nicht derart, daß man ihr die Verfügung über so große Summen zumuten könnte. Außerdem ist sie an unserer Reise und deren Ziel auch kaum interessiert. So dachte der Detektiv. Aber er sprach es nicht aus.
Harald Dörcksen erhob sich.
„Es nützt nichts, jetzt weiter unsere Köpfe über dem Problem zu zerbrechen. Fahren wir erst einmal nach der Farm. Einstweilen haben wir eine Unterkunft, die uns Sicherheit und Schutz vor Entdeckung und Verfolgung zu bieten scheint. Das Weitere muß die Zeit mit sich bringen. Vielleicht –“
Er unterbrach sich; ging in die Führerkabine. Gleich darauf sprang der Motor an; setzte das Flugschiff sich in Bewegung. Die Neger stoben auseinander. Als der „Meteor“ sich jedoch von der Erde hob, rasten sie in wilder Flucht davon. Sie waren wohl der Meinung, das Riesenlufttier würde sich in die Lüfte erheben, um dann auf sie zu stürzen.
Harald Dörcksen hielt das Flugschiff ganz niedrig, beschrieb ein paar Schleifen. Da sah er schon vom Hof der Farm Rauch aufsteigen. Das Gelände war geräumig, doch für die Landung eines Flugschiffes von den Ausmaßen des „Meteor“ bedenklich eng. Aber es gelang. Das Flugschiff setzte in der Mitte des Hofes auf, rollte noch eine kleine Strecke auf dem Boden und hielt dicht vor einer Scheune.
Sogleich wurde es wieder von Negern – Männern, Frauen und Kindern umringt. Aber auch hier getrauten sie sich nicht dicht heran. Dann kam Henry Zillich und schickte sie fort. Die Insassen stiegen sämtlich aus. Im Haus hatte der Farmer inzwischen Anordnungen für den Empfang der Gäste getroffen. Eine reich gedeckte Tafel erwartete sie da. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnten sie sich des Genusses frischer Speisen an Stelle der ewigen Konservenkost erfreuen. Da gab es Wildbraten, frisches Gemüse, Obst, und alle aßen mit großem Appetit.
Danach wurde die Farm besichtigt. Glänzend eingerichtet war sie – für afrikanische Verhältnisse, – primitiv für europäische. Immerhin, Dampfpflüge waren vorhanden, und ein Windmotor sorgte sogar für ein wenig elektrisches Licht. –
Reges Leben und Treiben herrschte hier. Das war alles so interessant, so neuartig für die Reisenden, daß die Zeit wie im Fluge verging und sie ihre Sorgen für Stunden fast ganz vergaßen.
Schon senkten sich die Schatten der Dämmerung hernieder. In dem großen Eßsaal der Farm – die Bezeichnung „Zimmer“ paßte für den ausgedehnten Raum nicht mehr recht – stand wieder ein gediegenes Mahl. Nach dem Essen vereinigte eine Stunde Unterhaltung die Reisenden mit dem Gastgeber. Dann ging man zur Ruhe. Auf die zahlreichen Gemächer des großen Hauses waren die Gäste zu je zweien verteilt. Die beiden Inder und Gari Dingra schliefen im „Meteor“.
Besondere Wachen waren, wie Zillich mehrfach versicherte, nicht notwendig. Der Hof war von einer drei Meter hohen Steinmauer umgeben, die oben mit Stacheldraht unübersteigbar gemacht worden war, und die Tore wurden nachts verrammelt. Außerdem patrouillierten die ganze Nacht hindurch Wächter – jahrelang erprobte, treue Neger – auf dem Hof.
Nur eins war seltsam, Hunde gab es auf der Farm nicht. Henry Zillich hielt sich keine, duldete das auch bei seinen Leuten nicht. Sein Bruder war vor Jahren an einem Hundebiß, der eine Blutvergiftung im Gefolge hatte, gestorben. Daher datierte seine krasse Abneigung gegen die Tiere. –
Bald lag alles still da. Das Haus schlief. Der Gastgeber und seine Gäste waren zur Ruhe gegangen, in den Nebengebäuden die Angestellten der Farm, die weißen Inspektoren, drei an der Zahl, und fast hundert Neger. In einer Wachstube saßen bei einer kleinen Laterne zwei Negerwächter und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspiel. Regelmäßig machten sie einen Rundgang durch die Stallungen um nach drei Stunden abgelöst zu werden.
Alles schlief. Alles lag dunkel und still. Ab und zu nur drang Kettengerassel irgendeines Tieres aus den Ställen. Nach einer Stunde aber öffnete sich die Tür des Farmhauses leise und langsam. Heraus trat eine weiße Frauengestalt, schritt langsam an der Außenmauer des Hofes entlang bis zu einer schmalen Pforte, die ins Freie führte; schob den Riegel lautlos zurück und verschwand im Dunkel der afrikanischen Nacht …
Nicht übel gestaltete sich der Aufenthalt der Reisenden auf der Farm. Henry Zillich überbot sich immer wieder in ihrer Bewirtung, und Türck war stolz darauf, daß er gewissermaßen der Vermittler gewesen war. In den nächsten Tagen wurden Jagdausflüge unternommen. Man erlegte ein Kudu, eine große Antilopenart und einige afrikanische Steinböcke.
Die Reisenden hatten beschlossen, ruhig einige Zeit hier zu leben und die Ruhe, die Sicherheit und die Bequemlichkeit zu genießen. Kommt Zeit, kommt Rat. Diesem alten Spruch wollten sie sich – trotz allem – anvertrauen. Sie ahnten nicht, wie richtig sie damit handelten; wie bald durch unvorhergesehene Zwischenfälle ihnen Rat werden sollte. Vorher aber traten noch andere Ereignisse ein, die alle eine Weile in Atem hielten.
Wie einst auf dem leider verlorengegangenen „Delphin“ war jetzt auf dem „Meteor“ Türck die Verwaltung der Lebensmittelvorräte übertragen worden, und er nahm diese Gelegenheit wahr, die noch vorhandenen Vorräte zu sichten und zu prüfen.
Schon hatte er diese Tätigkeit an einem Tag begonnen, sie dann aber aus irgendeinem Grund wieder unterbrochen, um sie tags darauf fortzusetzen. Am nächsten Morgen entdeckte er dann, daß einige Konservenbüchsen, die er abseits gestellt zu haben sich ganz genau entsann, fehlten. Was war das? Die beiden Inder, die in dem Flugschiff schliefen, sagten, daß sie die ganze Nacht hindurch nichts vernommen hätten. Die Konservenbüchsen etwa selbst entwendet zu haben, kamen die erprobten Leute auf keinen Fall in Betracht.
Es konnte höchstens sein, daß einer der Neger, die oftmals gern stahlen, sich nachts eingeschlichen hatte. Unmöglich war das nicht, da die Türen des Flugschiffes nicht verschließbar waren, also jedermann leicht zugänglich. Anderseits aber sprach auch manches Moment gegen diese Annahme. Die Neger hatten sich bisher immer noch sehr scheu dem „Meteor“ gegenüber gezeigt, hatten sich noch nie auch nur in seine unmittelbare Nähe gewagt.
War auch der Wert der paar Konservenbüchsen nicht erheblich, so war doch interessant, wo sie geblieben sein mochten. Diese Frage wurde an dem Tag so nebenbei bei Tisch erörtert, aber niemand kam deshalb Auf den Gedanken, etwa extra eine Wache zu stellen. Zumal Türck zuletzt doch nicht einmal ganz sicher war, ob er sich nicht getäuscht habe.
Der Zufall fügte es, daß Stuart Burne in der nachfolgenden Nacht schlecht schlief. Er erwachte mehrmals hintereinander, blieb dann längere Zeit wach liegen, stand endlich auf und trat ans Fenster. Sein Zimmer befand sich im Parterre. Eine Hälfte des Hofes lag in tiefstem Schatten; die andere war vom Vollmond hell beschienen. Stuart Burne stand und blickte hinaus.
Plötzlich stutzte er. Eine weibliche Gestalt in langem fließendem Gewand glitt hinter dem Rumpf des Flugschiffes hervor und schritt langsam quer über den Hof der äußeren Mauer zu. Mit großer Eile fuhr Burne in seine Beinkleider, zog das Jakett über und verließ lautlos das Zimmer. Beleuchtete mit der Taschenlampe den Korridor; huschte ihn entlang …
Die Haustür stand handbreit offen! Burne öffnete sie vollends, schritt hinaus. Der Detektiv in ihm war erwacht. Er mußte dem Geheimnis des Konservendiebstahls auf die Spur kommen. Wer mochte die Gestalt sein?
Nun stand auch er auf dem Hof; in tiefem Schatten. Die Gestalt, – dort ging sie an der Außenmauer entlang. Fast gespenstisch. Und nun, – ah, nun öffnete sie eine schmale Seitenpforte; wußte hier offenbar sehr genau Bescheid, und verschwand.
Schon wollte Burne hinterhereilen, als er abermals innehielt. Eine zweite Gestalt war aufgetaucht. Diesmal eine schwarze. Ein Neger. Aus einer dunklen Nische. Und auch er entschwand durch die schmale Pforte.
Jetzt eilte der Detektiv, jedes Geräusch vermeidend, hinterdrein. Rechts hinter der Mauer begann hochgewachsenes Gestrüpp. Pechschwarz lag es da. Nur hin und wieder unterbrach ein Mondreflex die Finsternis. Von den beiden Gestalten, der dunklen und der hellen, war nichts mehr zu erblicken.
Ein kaum erkennbarer Fußpfad führte von der Pforte ab, geradewegs in die Wildnis hinein. Burne folgte ihm, unterwegs nach seinem Revolver fühlend. Er kam nicht schnell voran, da in der Dunkelheit er oft an Dornengestrüpp geriet und mit den Kleidern hängen blieb.
Wo waren die beiden geblieben?
Nach etwa hundert Schritten erblickte Burne ein Stück weiter vorn eine Lichtung. Hell lag das Mondlicht darauf. Und da – stand auch die weiße Frauengestalt! Soeben noch schritt sie langsam vorwärts; nun war sie stehengeblieben; so, als lausche sie. Burne schlich näher. Noch konnte er das abgewandte Gesicht der Gestalt nicht erkennen.
Mit einemmal flog wie ein böser Schatten die andere, dunkle Gestalt über die Lichtung. Der Neger! Eilte heran, warf sich auf die Frau. Die strauchelte, fiel … Der Neger über sie … Da jagte Stuart Burne auf die beiden zu. Ein Faustschlag warf den Neger zu Boden. Die Frau richtete sich langsam auf. Burne sah ihr ins Gesicht. Es war Ellen Crosterbroux! Am Boden lagen zwei Konservenbüchsen …
*
Welch eine rätselhafte Sache! Ellen Crosterbroux der Dieb der Konservenbüchsen! Weshalb ging sie nachts allein in die Wildnis!
Eifrig wurden diese Vorgänge am nächsten Morgen besprochen. Aus Ellen Crosterbroux selbst war nichts herauszubekommen. Sie war apathisch wie zuvor; gab auf keine Frage Antwort. Was hatte das alles zu bedeuten? –
Als Stuart Burne den Neger zu Boden geschlagen hatte, beschäftigte er sich mit dem Mädchen. Rief sie an, fragte, doch sie reagierte nicht, machte den Eindruck einer eine Schlafwandlerin.
Inzwischen war der Neger wieder zu sich gekommen, war wohl überhaupt nur für Sekunden betäubt gewesen. Aber er ließ sich nichts merken. Blieb ganz ruhig liegen. Dann, mit einem Mal, sprang er auf; floh ins Dunkel der Büsche, ehe Burne daran denken konnte, ihm zu folgen. So war auch der Anhalt verloren gegangen. Der Detektiv kehrte mit Ellen, die sich willenlos führen ließ, zur Farm zurück. Die beiden Konservenbüchsen hatte er gleichfalls mitgenommen.
Ein Teil dieser merkwürdigen Ereignisse war durchaus erklärlich. Der Neger, der zufällig wach gewesen war, hatte das Mädchen gesehen, war ihr gefolgt und hatte sie im Wald überfallen. Aber viel wichtiger –? Was suchte Ellen Crosterbroux nachts im Freien? Zu welchem Zweck hatte sie die Konservenbüchsen mitgenommen? Sie selbst gab keine Auskunft; reagierte auf keine diesbezügliche Frage. Der Fall lag völlig im Dunkel.
Jemand kam darauf, daß Ellen mondsüchtig sein könne. In diesen Tagen hatte man gerade Vollmond gehabt. Immerhin eine Möglichkeit. Aber ohne besonders große Wahrscheinlichkeit. Die Reisenden waren doch schon lange genug mit Ellen Crosterbroux zusammen gewesen. Hätten längst etwas von solch einem Zustand merken müssen. Das war aber nicht der Fall gewesen.
Kurz, man kam zu keinem Ergebnis. Stuart Burne aber hatte bei sich den Entschluß gefaßt, den Schleier, der über diesen Ereignissen lag, zu lüften. In der kommenden Nacht ging er zum Schein mit den anderen zugleich schlafen; aber als im Haus alles ruhig war, erhob er sich, schlüpfte in seine Kleider und stellte sich am Fenster auf die Lauer. Wieder war heller Mondschein; doch solange der Detektiv auch wartete, – es ereignete sich nichts. In alterprobter Geduld – die zu den unumgänglichen Haupteigenschaften eines jeden Kriminalisten gehört – wartete Burne bis zum ersten Morgengrauen. Vergebens. Dann erst legte er sich zu Bett, um noch ein paar Stunden Schlaf nachzuholen.
Am kommenden Tag war er dann auf einen neuen Gedanken gekommen. Er verließ den Hof durch die schmale Seitenpforte und folgte dem Fußpfad durch das Gestrüpp. Am Tage war der Weg viel leichter zu verfolgen, da er nun deutlich sichtbar war. Nach einer Weile kam der Detektiv auf jene Lichtung, auf der die nächtliche Szene sich abgespielt hatte. Sie war nur klein und fast kreisrund.
Der Stelle, wo der Pfad auf die Lichtung mündete, genau gegenüber führte ein gleicher schmaler Pfad weiter nun in Wald hinein, der da noch dichter und zugleich hügelig zu werden begann. Burne untersuchte den sandigen Boden der Lichtung genauer. Deutlich waren noch die Spuren der nächtlichen Szene auf ihm zu sehen. Der nackte Fuß des Negers, des Detektivs Stiefel und der zierliche Fußabdruck des Mädchens.
Aber noch andere Spuren fanden sich. Abdrücke von Männerstiefeln. Die führten in den schmalen Weg jenseits der Lichtung. Burne folgte ihnen. Noch ein erhebliches Stück weit schlängelte sich der Pfad durch Dickicht. Dann wurden die Hügelhänge steiler, das Pflanzengewirr lichter – und plötzlich stand der Detektiv vor dem Eingang einer Höhle. Und dahinein führten die Spuren!
Burne sah sich um. Rings nichts als grüne Wildnis. War es ratsam, sich als einzelner in die Höhle zu wagen? Wer von Weißen in diesem Land, das nur wenig Europäer beherbergte, sich verborgen halten zu müssen glaubte, war von vornherein verdächtig.
Er lauschte in den dunklen Schlund hinein … Nichts, kein Laut drang heraus. Da schaltete er seine Taschenlampe ein, bückte sich und trat hinein. Der Gang bog bald rechtwinklig ab; mündete sodann in eine geräumige Höhle. Mit einem Blick übersah Burne den Raum. Niemand war anwesend. Aus verschiedenen Anzeichen war jedoch deutlich erkennbar, daß eine oder mehrere Personen sich hier häuslich eingerichtet hatten.
Was Burne aber vor allem in die Augen fiel, waren – die verschwundenen Konservenbüchsen, die in einer Ecke der Höhle lagen! Leer!
Kopfschüttelnd sah der Detektiv umher. Die Rätsel mehrten sich, statt sich zu lösen. Wer war es, der hier hauste, dem Ellen Crosterbroux Konserven brachte?? Nun, er mußte auf jeden Fall dahinter kommen. Das stand für ihn fest. Und sollte er auch noch mehrere Nächte hindurch dem Schlaf entsagen müssen. –
Auch in der nächstfolgenden Nacht wartete Burne bis nach Mitternacht am Fenster. Als sich nichts ereignen wollte, ging er mit Taschenlampe und schußbereitem Browning versehen, wieder den Pfad entlang. Er erreichte die Lichtung; überquerte sie; schritt den Pfad weiter ab; kam zu der Höhle … Ein matter Lichtschein schien heraus. Burne blieb stehen, horchte … Nichts rührte sich. Da schritt er kurz entschlossen mit bereitgehaltenem Revolver auf die Höhle zu. Betrat den Gang, bog um die Ecke, blickte in das Innere der Höhle …
Eine Kerze brannte flackernd; verbreitete mattes Licht. Dann fiel der Blick des Detektivs auf den Boden, blieb dort an einem Gegenstand haften. Staunen prägte sich auf seinem Gesicht aus. Die Entdeckung, die Burne gemacht hatte, war mehr als merkwürdig …
Der Leser möge zum Augenblick des Abflugs des „Meteor“ von Dörcksen-Land zurückkehren. Harald Dörcksen hatte sich damals gewundert, daß er vom Fenster aus die auf ihren Wunsch auf dem Koralleneiland zurückbleibenden Schiffbrüchigen Wood und Field nicht mehr sah.
Die hatten den Augenblick bereits ausgenutzt und sich unter dem Flugzeug verborgen, um die Fahrt nach Olympia als „blinde Passagiere“ mitzumachen. Das Gestänge bot genug Möglichkeit, sich während des Fluges ohne Gefahr unter dem Flugschiff aufzuhalten. Harry Leakwoord und Heinz Mewius wähnten sich nahe am Ziel. Es ging gen Olympia!
Doch mit des Geschickes Mächten … Es sollte wieder einmal anders kommen. Der Sturm, das Abgetriebenwerden in anderer Richtung, endlich der Flug in der neuen Richtung weiter, bildeten für die beiden Abenteurer nicht gerade angenehme Überraschungen. Direkt heikel aber wurde die Situation für sie, als der „Meteor“ auf Sansibar landete.
Das Luftschiff setzte auf, – stand. Leakwoord und Mewius rührten sich nicht in ihrem Versteck. Sie waren auch von außen nicht so leicht zu entdecken.
Das Flugzeug stand. Niemand stieg aus. Neger kamen gelaufen, scharten sich im Umkreis um den „Meteor“, kamen jedoch glücklicherweise nicht näher heran. Jeden Augenblick konnte der beiden Entdeckung drohen. Und was dann –? Es waren höchst ungemütliche Minuten.
Aber es ging alles gut. Nach einiger Zeit erhob sich das Flugschiff nochmals, fuhr einige Kurven und Schleifen in geringer Höhe und landete dann auf dem Hof einer großen Farm. Nun stiegen die Reisenden aus. Entfernten sich. Die Neger aber, von dem Farmer fortgeschickt, kamen nur noch vereinzelt an dem Flugschiff vorbei. Dicht heran kam keiner.
Und dann sank der Abend hernieder. Der Hof ward still. Von Wächtern oder Hunden war nichts zu sehen. Leakwoord und Mewius konnten sich endlich hervorwagen. Sie sahen sich um. Wo man sich befand, mochte der Teufel wissen. Die Temperatur war tropisch. Dennoch konnte dies Stück Land kaum in Indien liegen. Aber das war ja schließlich gleichgültig.
Harry Leakwoord entdeckte die Wächterbude; beobachtete die beiden Neger darinnen beim Würfelspiel, das sie ganz und gar in Anspruch nahm. Er schlich wieder fort und an der Umfassungsmauer des Hofes entlang. Da hatte er dann bald das Seitenpförtchen entdeckte, das in den Wald führte.
Wo steckte Heinz Mewius? Ah, – da kam er. Er hatte inzwischen ebenfalls eine Entdeckung gemacht. Und zwar eine, die vielleicht noch wesentlicher war. Ein Fenster im Parterre war offen gewesen. In dem Raum brannte noch Licht. Heinz Mewius hatte vorsichtig hineingespäht. Und da sah er, daß links und rechts neben dem Fenster in dem kleinen Raum zwei Betten standen. Darin lagen unter Moskitonetzen Amara und – Ellen Crosterbroux! Die Ägypterin war gerade dabei das Licht zu verlöschen. Das Fenster aber blieb offen.
Leise tauschten die beiden Abenteurer außerhalb des Hofes ihre Meinungen aus. Mewius hatte einen Plan, und er wollte dessen Ausführung versuchen. Es war eine Art Vabanquespiel. Sie setzten alles auf eine Karte. Möglich war, daß die Sache ihnen viel half, möglich aber auch, daß sie dadurch alles verloren und entdeckt wurden. Aber – irgend etwas mußten sie doch unternehmen. Sie konnten doch nicht einfach tatenlos bleiben.
Heinz schrieb auf ein Blatt seines Notizbuches das Wort „Komm!“. Nichts weiter. Dann wickelte er ein Steinchen in das Papier, ballte es zu einer kleinen Kugel, schlich damit zu jenem offenen Fenster und schleuderte es auf Ellen Crosterbroux’ Bett, das voll vom Mondlicht beschienen wurde. Das Mädchen erwachte erschreckt. Sah sich um, erblickte die Papierkugel, griff nach ihr …
Soweit beobachtete Mewius. Nun schlich er zu den ihn erwartenden Leakwoord zurück.
„Und –?“ fragte der gespannt. Heinz Mewius zuckte die Achseln.
„Sie ist erwacht; hat das Papier genommen. Wenn mein Einfluß noch wirkt, wird sie kommen. Ich schlage vor, daß wir unterdessen einmal sehen, wohin dieser Pfad führt.“
„Wird sie uns denn auch finden?“
„Wenn sie überhaupt kommt, findet sie uns auf jeden Fall. Solch ein Gedankenbefehl leitet vorzüglich.“
Sie gingen – und entdeckten nach kurzer Zeit die Höhle. Die war völlig leer. Nur einige Geckos – eidechsenartige Geschöpfe – huschten über die Wände.
„Hier können wir uns einstweilen einquartieren;“ meinte Harry Leakwoord. „Wenn wir vorsichtig sind, entdeckt uns sobald niemand.“ Sie sahen sich die Gelegenheit genauer ab. Freilich, hart war das Lager, nur ein wenig Sand konnten sie zusammenkratzen. Doch, es blieb ihnen nichts anderes übrig, als hier zu bleiben. –
Nach kurzer Zeit triumphierte Mewius. Auf den vom Mondlicht erhellten Fleck vor dem Eingang der Höhle trat eine weiße Gestalt: Ellen Crosterbroux. Heinz Mewius nahm sofort die Gelegenheit wahr, das Mädchen weiter zu beeinflussen. Er befahl ihr, in der nächsten Nacht in das Flugschiff zu gehen, von den Konservenvorräten einige zu holen und in die Höhle zu bringen.
Ellen entfernte sich wieder. Harry Leakwoord sagte:
„Ist das nicht riskant, das Mädchen solch einen Auftrag ausführen zu lassen? Jemand kann es nachts beobachten, ihm folgen, – und wir sind entdeckt.“
Mewius hob die Achseln.
„Riskant oder nicht, – wir müssen doch essen!“
Aber am zweiten Tag schon kam Ellen nicht mehr. Einmal nur hatte sie einige Konservenbüchsen gebracht. Harry Leakwoords Bedenken wuchsen.
„Wir müssen uns auf andere Weise Lebensmittel zu verschaffen suchen,“ entschied er, „ich schlage vor, jeder von uns durchstreift morgen in einer Richtung den Wald. Vielleicht treffen wir irgendwo auf eine andere Farm.“
„Und wenn man uns da nach unserem Woher fragt? Hierzulande, wo nur so wenige Weiße leben, kennt einer den anderen genau.“
Harry Leakwoord zuckte die Achseln, schwieg. Aber am nächsten Tag führten sie seinen Vorschlag dennoch aus. Zwei andere Steige zogen sich von dem Platz vor der Höhle ab durch das Waldesdickicht. Jeder von ihnen wollte nun einem dieser Wege folgen. Vor Sonnenuntergang wollten sie sich dann wieder in der Höhle treffen.
Sie brachen auf, bewaffnet und jeder mit etwas Eßbarem versehen.
Der Pfad, den Mewius verfolgte, lief sanft abwärts. Die Wildnis wurde hier womöglich noch dichter. Und allmählich ging der Charakter dieser grünen Waldlandschaft ins Wildromantische über. Die sanften Hügel wuchsen zu Bergen, die Täler wurden tiefe Gründe, und an die Stelle der gerundeten Hänge traten schroffe Felsen.
Heinz Mewius spähte aufmerksam umher. Er durchwanderte zum ersten Mal in seinem Leben solch eine Gegend. Angst hatte er nicht gerade; nur etwas beklommen war ihm zumute. Bei jedem Geräusch, daß irgendwo erklang, zuckte er zusammen. Wie, wenn nun plötzlich ein Leopard oder ein anderes Raubtier ihm begegnete –?
Aber es begegnete ihm keins. Überhaupt kein größeres Tier, außer hin und wieder einigen Affen, die laut schnatternd flohen, wenn sie seiner ansichtig wurden. Vögel flatterten kreischend von Ast zu Ast. Kurzum, alles sprach dafür, daß dieser Wald selten von Menschen betreten wurde. –
Jetzt schritt Mewius durch ein tiefes Tal. Zu beiden Seiten hoben sich steile Felsen zu beträchtlicher Höhe. Vor ihm aber begann der Pfad wieder anzusteigen. Und dort, wo er die Höhe erreichte, schien sich eine Lichtung zu befinden. Mewius atmete auf. Dort hinauf wollte er gehen. Vielleicht konnte er von dort oben aus eine menschliche Siedlung sehen.
Nach kaum zwanzig Minuten war er oben. Eine Ansiedlung sah er nicht. Dafür aber etwas anderes sehr Seltsames. Eine Lichtung war da, von Wald umgeben. Die Lichtung war mit Gras bestanden. Kein Baum, kein Strauch. In der Mitte dieser Lichtung aber standen, saßen, lagen Affen. Eine ganze Herde. Sicherlich mehrere hundert Exemplare, große und kleine.
Alle waren eng zusammengedrängt. Manche schnatterten lebhaft. Wie eine Versammlung sah es aus. Aber sogleich entdeckten sie den Menschen, der da am Rand der Lichtung stand. Das Geschnatter hörte im selben Moment auf. Alle starrten zu Mewius hinüber. Das war ein überwältigend komischer Anblick. Heinz Mewius konnte nicht anders, – er mußte laut loslachen.
Da hob das Geschnatter wieder an; so, als ärgerten die Affen sich über sein Lachen. Und einer, noch ein ziemlich kleiner, löste sich aus der Herde, lief ein Stück auf Mewius zu, setzte sich hin und schnitt ihm allerlei Grimassen. Kopfschüttelnd sah Mewius sich das an. Wie eigenartig das Gebaren dieser Tiere war! Und wie frech dieser Kleine –!
Mewius hob einen Stein auf. Es war ein kantiges Stück. Das schleuderte er nach dem Affen. Er hatte nicht beabsichtigt, ihn zu treffen. Aber es war, als ob das Schicksal seine Hand führte. Der Stein flog dem kleinen Affen an die Schläfe. Der tat einen Satz, fiel um und blieb liegen.
Sie waren einen Moment starr, Mewius – und die Affen. Dann erhob sich Geschnatter, das hier und da gar kreischend klang. Sie liefen auf den kleinen, am Boden Liegenden zu, umringten, beschnupperten ihn, stießen ihn an. Doch er wollte nicht aufstehen. Da sahen sie denn alle zu Mewius hinüber, der immer noch regungslos stand; sahen zu ihm hin und – irrte er sich? – ihre Blicke waren voll Wut, Haß und Rachsucht.
Mewius – stand, dachte: Was werden sie nun tun? Ihm ward bange. Wie eine Ahnung überkam es ihn.
Und plötzlich griff ein Affe, ein großer, alter, nach einem der zahllos umherliegenden Steine und schleuderte ihn mit einer Wucht, die man dem Tier nie zugetraut hätte, nach Mewius. Nur knapp konnte der Abenteurer dem sausenden Stein ausweichen. Und als wäre dies ein Signal gewesen, hatten plötzlich alle Affen kantige Steinstücke in den Händen und rückten gegen Mewius vor. Kein Geschnatter mehr. Drohend waren all die hunderte Augen, in denen Rache stand, auf den Menschen gerichtet.
Im Nu erkannte Mewius, was er heraufbeschworen, was ihm bevorstand. Und ohne sich auch nur noch den Bruchteil einer Sekunde zu besinnen, machte er kehrt und jagte in vollem Lauf bergab, den Weg zurück, den er vorher gekommen.
Die Affenherde, nun wieder schnatternd und kreischend, hinterher. Schon flog ein Stein dicht an Mewius’ Kopf vorbei. Da wußte der Abenteurer, daß dies ein Lauf ums Leben war.
Er legte an Geschwindigkeit noch zu, entwickelte das Äußerste, das seine Beine leisten konnten. Aber schon nach ganz kurzer Frist wußte er, daß er dies Tempo nicht lange beibehalten konnte.
Er rannte, rannte –
Die Affen hinterdrein …
Jetzt mußte seine Schnelligkeit wohl schon nachgelassen haben. Ein Stein traf ihn schmerzhaft an der Hüfte. Mewius mußte hinken. Um seine Schnelligkeit war’s geschehen. Und da sauste auch schon ein Hagel von Steinen auf ihn nieder. Ohne einen Laut stürzte Mewius blutüberströmt zu Boden.
Die Affen hielten inne. Kamen langsam näher, stießen ihn an. Aber er wollte nicht aufstehen. Da machten sie allesamt wie auf Kommando kehrt und trotteten auf das Plateau, auf die Lichtung zurück. Auf ihren Mienen lag Befriedigung …
Mewius aber lag da, bleich, mit Schweiß und Blut bedeckt. Noch atmete er.
So fand ihn Harry Leakwoord, der auf anderen Wegen diese Stelle erreichte. Er konnte sich zuerst den Hergang nicht erklären, kam dann aber wohl auf das Richtige. Mewius lebte noch. Leakwoord versuchte, ihn ins Bewußtsein zurückzurufen. Es gelang ihm nur halb und nur für Sekunden. Da lud er sich den Körper des Komplizen kurzerhand auf den Rücken und trug ihn in die Höhle. Dort angekommen, mußte er jedoch erkennen, daß er nur noch eine Leiche trug. Heinz Mewius war unterwegs gestorben.
Harry Leakwoord legte ihn auf den Boden der Höhle. Dann zündete er den Lichtstumpf, den sie noch besaßen, an. Sah eine Weile auf den toten Komplizen nieder, nickte langsam, zuckte die Schultern, wandte sich und ging. Er verließ die Höhle, um nicht mehr dahin zurückzukehren. Er hatte auf seinem Weg durch den Wald eine zweite Farm entdeckt. Dorthin wollte er. Das Licht in der Höhle brannte noch stundenlang; bis tief in die Nacht hinein …
Das war das Bild, das Stuart Burne erblickte, als er in die Höhle einbog: ein völlig heruntergebranntes Licht und auf dem Boden einen blutüberströmten Mann. Der Detektiv beugte sich über ihn. Sah, dem da war nicht mehr zu helfen. Wer mochte der Tote sein? Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit, fiel Burne ein, mit einem jener Schiffbrüchigen. Aber die waren doch auf Dörcksen-Land zurückgeblieben.
Die Rätsel verdichteten sich nur. Diesem Fremden hatte Ellen Crosterbroux Konservenbüchsen gebracht? Wer war er und in welchem Zusammenhang stand er mit der Tochter des Platinkönigs –? Er konnte nichts mehr aufklären. Er war tot. Und da Ellen nicht sprach, würde das Geheimnis dieser Ereignisse wohl für alle Zeit in Dunkel gehüllt bleiben.
In dem Augenblick sank der Kerzendocht um. Die kleine Flamme erlosch. Finsternis umgab den Detektiv. Er ließ seine elektrische Taschenlampe aufflammen. Durchsuchte bei deren Schein die Taschen des Mannes. Er fand ein Notizbuch nebst Bleistift und eine lederne Brieftasche. Er nahm die Dinge, steckte sie zu sich, ohne noch einen Blick darauf zu werfen. Sie genauer auf ihren Inhalt hin prüfen, das konnte er auf der Farm besser machen.
Vielleicht erhielt er dadurch Aufschluß, wer der Tote war und inwiefern Ellen Crosterbroux mit ihm im Zusammenhang stand.
Er machte sich auf den Rückweg. Als er den Hof der Farm wieder betrat, sah er zu seinem Erstaunen Licht in mehreren Fenstern des Hauses. Jetzt mitten in der Nacht? Was bedeutete das? Er schritt schneller aus, betrat das Haus …
Eine neue Überraschung erwartete ihn. Kapitän Söder kam ihm entgegen.
„Oh, das ist gut, daß Sie kommen, lieber Burne. Hier hat sich in dieser Nacht Merkwürdiges ereignet.“
„Schon wieder? Mir scheint, die merkwürdigen Ereignisse nehmen gar kein Ende mehr.“
„In der Tat, fast scheint es so. Aber diesmal ist es wenigstens etwas Erfreuliches.“
Und während sie den Wohngemächern der Reisenden zuschritten, erzählte Söder. Ellen Crosterbroux sei plötzlich mit einem Schrei aus dem Schlaf aufgefahren, sei furchtbar unruhig und ängstlich gewesen. Amara, die ebenfalls erwacht war, habe sie gefragt, wo sie sei und wie sie hierher komme. Sie wollte fliehen. Nur mit Mühe hatte die Ägypterin es geschafft, sie davon abzubringen, und erst Hella und Harald Dörcksen sei es gelungen, sie zu beruhigen. Nun säßen sie alle zusammen und erzählten Ellen, was in der letzten Zeit vorgegangen war. Und Ellen sei jetzt wieder ganz bei sich, könne klar und logisch denken und spreche auch so. Alle seien sie sehr erfreut darüber.
Dann betrat Burne mit dem Kapitän das Zimmer, in dem jene zusammensaßen, und konnte sich mit eigenen Augen von der erfreulichen Änderung im Befinden Ellens überzeugen. Die Tochter des Platinkönigs wußte nichts von alledem, was sie in der letzten Zeit durchlebt hatte. Seit ihrem Aufenthalt in Zoppot war ihr Gedächtnis ausgelöscht. Die anderen konnten ihr diese Lücke freilich auch nur soweit ausfüllen, wie sie selbst die Dinge miterlebt hatten.
Das taten sie denn auch sogleich. Niemand dachte mehr an Schlaf in dieser Nacht. Direkt entsetzt aber war Ellen Crosterbroux, als sie von ihren Attentaten auf das Leben der anderen erfuhr. Daß sie Hella Dörcksen hatte ermorden, den „Delphin“ anbohren und versenken wollen, flößte ihr Grauen vor sich selbst ein.
Wie hatte das alles geschehen können? Wie war sie auf all diese Taten ohne eigentliches Bewußtsein gekommen? Hella Dörcksen und Mahadur Mirat … Gewiß, sie hatte den Radscha leidenschaftlich geliebt, liebte ihn wohl noch immer. Es würde ihr schwer, wenn nicht unmöglich sein, darüber hinwegzukommen; aber sie besaß doch Geist genug, sich nicht so hemmungslos ihren Gefühlen zu überlassen.
Wie also war das möglich gewesen? Spielte da ein fremder Einfluß mit? Söder kam nun wieder auf seine Abenteurer in Ägypten zu sprechen. Damals schon hatte es ihm geschienen, als stünde Ellen unter fremdem Willen. Und ebenso Mahadur Mirat hatte das erkannt und ja auch ausgesprochen.
Und – wie hatte er doch gesagt? Wie lange hielt der Einfluß solch eines Gedankenbefehlgebers an? Bis zu seinem Tod, – hatte Mahadur Mirat gesagt. Ellen Crosterbroux war jetzt plötzlich wieder zu sich gekommen. Demnach müßte der, unter dessen Willen sie gestanden hatte, tot sein …
Dergestalt wurde gesprochen. Stuart Burne aber stand wie von einem Blitz beleuchtet jenes Bild wieder vor Augen: das Innere der Höhle, das flackernde, herabgebrannte Stearinlicht, der blutüberströmte Leichnam am Boden … Ellen Crosterbroux hatte ihm Konserven gebracht. Sollte er es gewesen sein, der –? Das war wahrscheinlich. Und sein Tod hatte dem unglücklichen Mädchen nun endlich die Erlösung gebracht.
Burne erzählte nun seine nächtlichen Erlebnisse den anderen. Man war ganz seiner Meinung. Nur so konnte es gewesen sein. Wer aber war jener Fremde? Wie kam er hierhin? Auf welche Art kam er zu Tode? Das waren Fragen, die einstweilen noch ungelöst blieben.
Doch nein, nicht alle. Burne entsann sich der Papiere, der Sachen, die er dem Fremden abgenommen hatte. Er holte sie vor und begann sie beim Lampenschein zu untersuchen. Viel war es nicht, was dabei herauskam. Aber immerhin etwas. Das Notizbuch war völlig leer, wies nur Stellen auf, wo Blätter herausgerissen waren. Die Brieftasche enthielt außer einer Summe Geldes in größeren und kleineren englischen Banknoten Papiere, die auf den Namen eines Artisten Heinz Mewius aus Hamburg lauteten.
Unter den Papieren war auch ein Auslandspaß mit dem Bild des Toten. Kapitän Söder und Harald Dörcksen warfen zugleich einen Blick darauf.
„Das ist ja Field!“ rief der Erfinder. Und Söder – erkannte in dem Fremden jenen Mann, mit dem Ellen damals in Ägypten zusammengewesen war. So näherte man sich der Aufklärung der Zusammenhänge. Wie der Fremde von Dörcksen-Land hierherkam, blieb dunkel.
Auch an Wood, den anderen Schiffbrüchigen, wurde kurz gedacht. Doch nur insofern, als man auch an der Echtheit dieses Mannes zweifelte. Das war alles. Der Wahrheit, daß jener Harry Leakwoord war, kam man also nicht näher.
Der kommende Tag begann in allgemein guter Stimmung. Die Gesundung Ellen Crosterbroux’ fand in den Herzen aller so aufrichtig freudigen Widerhall, daß man alles übrige für Stunden vergaß. Und es war doch so mancherlei Schwerwiegendes da … So wußte beispielsweise Ellen Crosterbroux noch nichts vom Tode ihres Vaters. Man mußte es ihr schonend beibringen.
Das geschah denn auch im Laufe des Tages. Ellen war sehr niedergeschlagen, überwand den Schmerz über das nun einmal Geschehenen jedoch tapfer. Gerührt und dankbar war sie über die liebevolle Sorgfalt, mit der Hella und Amara sich ihrer annahmen. Dankbar zeigte sie sich auch Stuart Burne gegenüber, als man ihr erzählte, daß er mehr als einmal um ihretwillen sein Leben aufs Spiel gesetzt habe und nur mit knapper Not davongekommen sei. Und in ihre Dankbarkeit mischte sich eine leise Verlegenheit …
Am Nachmittag dieses Tages unterhielt man sich über das Mißgeschick und das eigentliche Ziel des „Meteor“. Ellen Crosterbroux fragte voll Interesse und Anteilnahme, und Harald und Gari Dörcksen berichteten ihr bereitwillig. Mehr und mehr nahmen ihre Züge dabei einen nachdenklichen Ausdruck an. Endlich sagte sie, während es in ihren Augen warm aufleuchtete:
„Ich habe viel gutzumachen an Ihnen, Ihren Freunden und Ihrem Werk, Mr. Dörcksen. Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen – allerdings unbewußt – antat! Mein Vater ist nicht mehr. Ich stehe nun ganz allein auf der Welt. Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben. Ich will dem Olympia-Bund beitreten und ihn mit allen Kräften fördern. Auch ein Teil meines Vermögens, das Burne und Sie mit gerettet haben, steht Ihnen zur Verfügung. Und was die Diamantenlagerung des „Meteor“ anbelangt, – auch da weiß ich eventuell Rat.“
Dörcksen horchte auf.
„Sie wüßten Rat, Miß Crosterbroux? Das wäre allerdings sehr schätzenswert. Darf man hören?“
„Gewiß. Mein Vater war, bevor er sich auf den Platinhandel spezialisierte, der ihm den Beinamen „Platinkönig“ eintrug, Besitzer dreier Diamantengruben im Kapland. Zwei gab er dann ab, eine blieb in seinem Besitz. Ist es also noch. Sie warf niemals besonders viel ab, so daß nur alle Jahre ein Transport an ihn abging. Nun wurde der Transport des vorigen Jahres aus besonderen Gründen auf dies Jahr verlegt. Er wäre in etwa acht Wochen vor sich gegangen. Man kennt mich dort. Templing, unser alterprobter Verwalter, der die Transporte stets selbst begleitet, zählte zu meinen heftigsten Verehrern. Das nebenbei. Wenn ich dorthin käme, würde er nicht anstehen, mir das, was an rohen Diamanten zurzeit da ist, zu übergeben. Falls nicht die britische Regierung auch dort schon Hand auf die Besitztümer meines Vaters gelegt hat – was allerdings kaum anzunehmen ist. Daß die dritte Grube noch in unserem Besitz verblieb, wurde ziemlich geheim gehalten. Templing galt als Eigentümer. Wir kamen auf diese Weise bei der Besteuerung billiger weg. Der getreue Verwalter, der bei der Schiebung mithalf, hat auch sein Gutes dabei gehabt.“
„Hm, Miß Crosterbroux, das wäre allerdings ein unschätzbarer Liebesdienst, den Sie uns da erweisen würden. Ich würde Ihnen lebenslang dankbar sein –“
Ellen hob die Hand.
„Nicht nötig, Mr. Dörcksen. Wie ich schon sagte: ich habe viel gutzumachen an Ihnen und Ihrem Vorhaben. Und – so kann ich’s vielleicht!“
Der Erfinder streckte dem Mädchen in aufwallender Empfindung beide Hände entgegen.
„Das wäre herrlich, Miß Crosterbroux, wenn wir auf diese Weise doch noch zum Ziel gelangen könnten. Ich hatte, offen gesagt, schon fast alle Hoffnung aufgegeben. Wie groß kann ungefähr die Menge der Steine sein?“
Ellen hob die Achseln.
„Darüber weiß ich Ihnen gar nichts anzugeben. Das Jahresergebnis war stets sehr schwankend. Größtenteils war die Zahl der gefundenen Steine gering, ihre Größe aber erheblich.“
„Oh, das ist ja besonders günstig; denn ich brauche gerade möglichst große Steine,“ entgegnete Dörcksen erfreut. Rasch sprach sich dann die neue Wendung der Dinge unter den Reisenden herum. Auch Zillich wurde jetzt eingeweiht. Man hatte ihn in diesen Tagen als einen Menschen von so liebenswertem Charakter kennen gelernt, daß es unverantwortlich gewesen wäre, vor ihm, dem großzügigen und hochherzigen Gastgeber in dieser Beziehung noch länger Geheimnisse zu haben.
Neue Hoffnung –! Wenn es gelang, für die Lagerung in der Maschine des „Meteor“ die erforderlichen Diamanten herbeizuschaffen, dann war ja wieder alles gut.
In gehobener Stimmung begann man nun, zu beraten, was zuerst zu tun sei. Ellen Crosterbroux mußte persönlich nach der Diamantengrube ihres Vaters. Das stand fest. Und nun kam der Farmer mit einem Vorschlag, der gern akzeptiert wurde. Man solle aus Mitgliedern der Reisegesellschaft eine kleine Expedition zusammenstellen, während die übrigen solange als Gäste auf der Farm blieben. Er selbst wolle sich der Expedition anschließen, um als alter Kenner südafrikanischer Verhältnisse ihr mit Rat und Tat beistehen zu können. Seine Farm könne er solange getrost seinen beiden Inspektoren überlassen. Und auch das Flugschiff sei hier völlig sicher.
Gerührt dankten Mahadur Mirat und Harald Dörcksen dem Farmer, der sich ihrer Sache so liebevoll annahm. Und unverzüglich ging man daran, zu besprechen, wer an der Expedition teilnehmen sollte. Professor Herbst, Harald Dörcksen und selbst Reverend Dixon waren sofort bereit, wenngleich die Reise in das wüstenähnliche und von allerhand räuberischem Gesindel durchstrichene Gebiet strapaziös und keineswegs gefahrlos war.
Aber Mahadur Mirat schüttelte den Kopf.
„Das ist nur etwas für die Jugend. Ich werde mich Miß Crosterbroux und Mr. Zillich anschließen. Die beiden Inder können uns als Hilfe und eventueller Schutz begleiten.“
„Dann gehe ich mit dir, Geliebter!“ sagte da Hella Dörcksen fest. „Ich trenne mich nie mehr von dir, am allerwenigsten, wenn du dich in eventuelle Gefahr begibst!“
Der Radscha neigte leicht das Haupt, während ein Strahl grenzenloser Zärtlichkeit aus seinen Augen das Mädchen traf.
„Es sei! Komm’ mit mir, Geliebte!“
„Ich halte es für besser,“ ließ sich da der Farmer vernehmen, „wenn die beiden Inder zum Schutz des Flugschiffes hierbleiben. Ich würde ein paar meiner zuverlässigsten Schwarzen mitnehmen. Die können uns auch mehr nützen, da sie mit dem Land und seiner Art vertraut sind.“
Auch dieser Vorschlag fand den Beifall der anderen.
Sogleich wurde dann mit den Vorbereitungen begonnen. Da war allerhand zu bedenken. Zillich, der Südafrika viel bereist hatte und sehr genau kannte, erwies sich dabei als unschätzbarer Berater. Man hatte an ihm eine kaum zu übertreffende Hilfe.
Sehr günstig war es, daß in den nächsten Tagen ein Dampfer, der soeben Sansibar angelaufen hatte, nach Kapstadt abgehen sollte. Es war ein alter schwerfälliger Kasten, der nur afrikanischen Küstendienst versah. Er fuhr von Arabiens Küste nach allen anderen Häfen der afrikanischen Ostküste bis hinunter nach Kapstadt mit Waren aller Art. Zwar nur langsam, da seine Maschine, ein veraltetes Modell war. Aber das machte nichts aus. Die Reisenden mußten doch froh sein, daß sie überhaupt so bald eine Transportmöglichkeit fanden.
Wohlausgerüstet und auch mit Geld reichlich versehen, standen sie zwei Tage später auf der Mole, bereit, an Bord des „Black Star“ zu gehen. Die Expedition setzte sich aus Mahadur Mirat, Henry Zillich, Ellen Crosterbroux, Hella Dörcksen und drei Negern der Farm zusammen. Alle übrigen hatten sie natürlich begleitet. Auch die Leute von der Farm und noch viele Neger aus der Umgegend. Ganz abseits, das Gesicht obendrein noch mit einem Tuch halb verdeckt, stand auch ein Weißer da und starrte nach der Gesellschaft auf der Mole hinüber. Seine Augen blickten kalt und berechnend, aber zufrieden. Er sah aus wie jemand, dem ein Plan programmäßig abrollt.
Dieser Weiße war Harry Leakwoord. –
Jetzt waren die Teilnehmer der Expedition an Bord des Dampfers. Ihre Gepäckstücke waren schon vorher im Laderaum verstaut worden. Die Taue wurden losgeworfen, und langsam löste sich das Schiff von der Molenmauer. Dann tat die Maschine die ersten Kolbenstöße. Das Schiff kam in Fahrt. Rufe und Tücherschwenken auf beiden Seiten. Noch lange Zeit, während Mole und die Menschen darauf mehr und mehr schrumpften und endlich verschwanden.
An der Reling standen Mahadur Mirat und Hella Dörcksen. Der Radscha hatte den Arm um des Mädchens Schultern gelegt, die in die Weite starrte.
„Du blickst so ernst, Geliebte –“
„Mir ist bange. Mir ist, als ständen uns neue Gefahren und Abenteuer bevor. Darum wollte ich dich nicht allein fahren lassen, wollte bei dir bleiben.“
„Ist nicht bisher doch zum Schluß noch immer alles gut ausgegangen? Wir stehen unter dem Schutz der Wolkenkönigin!“
„Du hast recht, Liebster. Ich will nicht mehr diesen trüben Gedanken nachhängen.“
Sie schmiegte sich eng an den Radscha. Und der küßte sie lange und innig.
Nach einer langweiligen, aber glatten Fahrt langten die Teilnehmer der kleinen Expedition in Kapstadt an. Sie gedachten, sich so wenig wie irgend möglich in der teilweise ganz modern europäisch anmutenden Stadt aufzuhalten. Eine genaue Karte – genau nach afrikanischen Begriffen – war schnell beschafft. Aus ihr ließ sich ersehen, daß, wenn man Reit- und Lastkamele mietete, man etwa in zwei Tagesreisen die Diamantgrube erreicht haben könne.
Zillich, von einem der Schwarzen begleitet, machte sich auf den Weg, während die anderen auf der schattigen Veranda des Hotels, in dem sie abgestiegen waren, blieben. Er war nicht lange fort. Nach knapp zwei Stunden kam er zurück. Er hatte vier Reitkamele gemietet und ebensoviel Lastkamele, die von einem Führer, einem Angestellten des Vermieters, begleitet werden sollten. Die drei Neger Zillichs mußten auf je einem der Lastkamele Platz finden.
Der Führer kam am späten Nachmittag dieses Tages ins Hotel, sich der Reisegesellschaft vorzustellen. Er machte einen sympathischen, vertrauenerweckenden Eindruck. Aber in der Frühe des nächsten Tages, als aufgebrochen werden sollte, erschien ein anderer Führer; sagte, sein Kollege sei plötzlich erkrankt und darum müsse er die Karawane begleiten. Dieser Neue aber sah nichts weniger als vertrauenerweckend aus. Er schielte auf einem Auge nach außen und vermied es konsequent, beim Sprechen sein Gegenüber anzusehen.
Kurzum, er gefiel keinem der vier. Aber schließlich – was hätte es ihm genützt, wenn er wirklich mit schlechten Absichten gekommen wäre? Mahadur Mirat und der Farmer mit seinen drei treuen Negern hätten all seine eventuellen Pläne ja doch leicht durchkreuzen können. Außerdem – jetzt noch einmal zu dem Vermieter der Tiere hin und einen anderen Führer verlangen oder die Angaben dieses nachprüfte lassen –? Das hätte zuviel Zeit gekostet. Und man wollte doch so rasch als möglich zum Ziel gelangen.
So wurden die Tiere gepackt, die Reitkamele gesattelt, und eine gute Stunde später begann die Karawane ihren Marsch. Zur Stadt hinaus ging es, noch eine Weile an der Bahnlinie entlang. Dann bog man links ab ins Land hinein.
Nicht übel gestaltete sich diese Art zu reisen. Es gehörten nur gute Magennerven dazu. Die schaukelnde Gangart der Kamele rief bei Leuten, die nicht gewohnt waren, Kamele als Reittiere zu benutzen, leicht Seekrankheit hervor. Unsere vier indessen waren durchaus „seefest“.
In einer langen Reihe zog die Karawane dahin. Als erster Rafik, der Führer, auf einem der Lastkamele. Hinter ihm die drei anderen Lasttiere mit je einem der Neger. Danach Hella Dörcksen und Ellen Crosterbroux auf je einem Reitkamel. Dann folgte Mahadur Mirat. Den Schluß machte Henry Zillich. So war die lange Reihe der hintereinander schreitenden Tiere am besten zu übersehen.
Während der Stunden der größten Mittagshitze sollte Rast gemacht werden. Der Farmer hatte dafür gesprochen und Rafik ihm lebhaft zugestimmt. Schatten traf man natürlich nicht an. Kein Baum, kein Strauch, soweit man sehen konnte. So mußte denn, wohl oder übel, daran gegangen werden, das Zelt, das der Vermieter der Kamele mitbesorgt hatte, aufzustellen. Schatten mußte geschaffen werden. Eine Rast ohne Schatten in dem glühenden Sonnenbrand hätte keinerlei Nutzen gebracht.
Das Zelt erwies sich auch nachts als sehr nützlich. Denn – so heiß die Tagesstunden waren, so empfindlich kühl wurde es nachts. Diese Landstriche waren außerordentlich großen Temperaturschwankungen unterworfen. Ja, es kam vor, daß auf Tage mit tropischer Hitze eine Nacht mit einigen Graden unter dem Nullpunkt folgte. Doch die große Anzahl der Decken, die mitgenommen worden waren, schützten nun vor dem Frieren. –
Der zweite Tag der Reise verlief ebenso ohne Zwischenfall wie der erste. Wenige Stunden nach der Mittagsrast wurden die ersten Anzeichen der Annäherung an Hope-Valley, die Diamantenmine Crosterbroux’, gesichtet. Ellen war vor Jahren einmal hier gewesen. Dennoch fand ihr Auge sich nicht sogleich zurecht. Erstens hatten sie sich der Mine damals von der anderen Seite her genähert; und dann – ein Grubengelände verändert sich doch in einigen Jahren erheblich.
Rasch waren die Häuser der Siedlung erreicht. Seltsam still lag alles da. Nur wenige Männer waren zu sehen, keine Spur von Frauen und Kindern. Besonders Ellen wunderte sich darüber. Sie hatte von ihrem damaligen Aufenthalt hier doch noch speziell das Familienleben der Miner im Gedächtnis, was sich zum großen Teil im Freien abspielte. Nun, erst richtig angelangt, würde man ja sehen.
Dann war man da und sah … Drei Kinder – mehr waren in der ganzen Siedlung nicht zu entdecken – kamen der Karawane ein Stück entgegen. Henry Zillich ritt vor.
„Hallo, Boys, where is Mr. Templing?“
Die drei sahen erst eine Weile den Farmer, dann sich untereinander an.
„Mister Templing is not here,“ entgegnete dann er eine gleichmütig.
„Herr Templing ist nicht hier? Wo ist er denn?“
Achselzucken. Schweigen.
„Ihr müßt doch wissen, wo der Master steckt. Ist er in den Gruben? Ist er verreist?“
„No!“
„Ja, zum Teufel, wo ist er denn?“
„Fort!“
„Was heißt – fort –?“
„Mister Templing ist auf und davon. Lange schon. Wir wissen nicht, wohin.“
Zillich und Ellen Crosterbroux sahen sich verwundert an. Sie wußten nicht, was sie davon halten sollten. Der Farmer fragte dann wieder:
„Und habt ihr denn jetzt keinen Master? Das ist doch ganz undenkbar?“
„Doch – wir haben einen.“
„Wo ist er?“
„In dem Haus dort,“ entgegnete der Sprecher und wies nach einem niedrigen, langgestreckten Holzbau. Zillich und Ellen Crosterbroux gingen zu Fuß dorthin. Die Karawane folgte ihnen. Da trat auch schon ein Mann aus dem bezeichneten Haus.
„Sind Sie der neue Verwalter von Hope-Valley?“ rief der Farmer ihm entgegen. Der andere, ein wüst aussehender Kerl, musterte frech die Ankommenden. Sagte dann:
„Das wird wohl so sein!“
Nun stellte Zillich Ellen und sich vor.
„Diese Dame hier,“ fuhr er fort, „Miß Ellen Crosterbroux ist die Tochter des Besitzers dieser Mine. Sie ist, zusammen mit mir, hierhergekommen, um dem Besitz ihres Vaters einen Besuch abzustatten.“
„Hm, Hm, so, so. Nun ja – ich heiße Sie willkommen auf – Ihrem Grund und Boden, Miß. Bitte, darf ich für Unterbringung der Karawane sorgen?“
Ellen nickte. „Ja, tun Sie es, Herr Verwalter – Herr – –“
„Skinn,“ sagte der mit einem Kratzfuß.
„Herr Skinn. Ich dachte, noch Herrn Templing, Ihren Vorgänger, hier vorzufinden –“
„Templing –? Ja, der ist fort. Seine Frau starb plötzlich. Da verließ er die Mine und kam nicht wieder.“
„Ohne meinem Vater Mitteilung davon zu machen? – Merkwürdig!“
„Ohne Mitteilung? Das glaube ich kaum. Vielleicht ist der Brief verloren gegangen?“
Ellen nickte. Allerdings, das war möglich. Nicht, daß der Brief verloren gegangen war. Das war nicht einmal notwendig. Aber sowohl sie, wie auch ihr Vater waren so lange von Agra fort, daß die Mitteilung sie wohl nicht mehr angetroffen hatte. Dennoch konnte sie sich eines Gefühls nicht erwehren … Aber das lag wohl nur an dem wüsten Aussehen des neuen Verwalters.
„Und wer hat Sie dann zum Verwalter ernannt?“
„Die Miner haben mich gewählt,“ entgegnete Skinn. Dann wandte er sich, um für die Unterbringung der Karawane Anordnungen zu treffen. Bald waren die Kamele versorgt und Wohnräume angewiesen.
Als dann Mahadur Mirat, Hella, Ellen und Zillich allein beisammen saßen, sagte der Farmer:
„Hier stimmt etwas nicht. Der Verwalter macht keinen guten Eindruck. Die ganze Siedlung liegt leer und verwahrlost aus. Ich weiß ja nicht, ob das früher schon so war, kann es mir aber nicht recht vorstellen.“
„Nein,“ warf Ellen ein, „es war damals, als ich hier war, nicht so. Auch mir ist die Veränderung aufgefallen. Doch sonst –? Warum soll das, was der neue Verwalter sagt, nicht stimmen? Möglich ist es doch, daß es sich so verhält.“
Der Farmer wiegte das Haupt.
„Möglich – ja; meinem Empfinden nach aber wenig wahrscheinlich. Ich könnte dafür gar keinen treffenden Grund angeben. Dennoch – ich kann mich des Gefühls nicht erwehren …“
Er unterbrach sich, sprang mit einem Satz zur Tür, stieß sie auf … Kam dann mit grimmigem Lächeln zurück.
„Wir wurden belauscht. Wir müssen von jetzt an vorsichtiger sein.“
„Ich glaube fast, Sie sehen Gespenster, Mr. Zillich,“ sagte Ellen Crosterbroux kopfschüttelnd.
„Hofften wir’s!“ antwortete der Farmer ernst. „Dennoch bitte ich Sie, meinen Ratschlägen einstweilen zu folgen. Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht – aber ich glaube es nicht. Darum verschwieg ich dem Verwalter auch den wahren Grund unseres Kommens. Es ist vorläufig besser so.“
Ellen nickte.
„Nun gut. Meinetwegen. Wir werden ja sehen, wie die Dinge sich weiter entwickeln. Mr. Mirat, Sie sagen ja gar nichts. Was meinen Sie zu der Geschichte?“
Der Radscha sah geradeaus in unbekannte Fernen.
„Alle Männer hier haben keinen guten Blick,“ sagte er dann langsam, „am allerwenigsten der Verwalter!“
„Hm! Sie teilen also die Ansicht Mr. Zillichs?“
„Wie man’s nimmt. Eigentlich – ja. Ich möchte –“
In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. Der Radscha schwieg. Auf das „herein“ des Farmers trat ein riesiger Neger ein. Er brachte das Abendessen für die vier. Der Verwalter selbst ließ sich entschuldigen. Er habe noch dringend in den Minen zu tun.
Der Neger verließ das Zimmer. Zillich blickte ihm nach. Sagte dann:
„Nette Garde!“
„Sie haben vorher Ihren Satz nicht beendet,“ wandte sich Ellen wieder an den Radscha.
„Ja, Miß, ich wollte sagen, ich möchte einmal mit dem Verwalter sprechen; doch – auf besondere Weise.“
„Wie denn –?“
„Unter Ausschaltung seines Willens. Damit er auf alle Fragen unbedingt wahrheitsgemäß antworte!“
”Können Sie das?“
Mahadur Mirat hob die Achseln.
„Es gibt Mittel und Wege … Aber lassen wir das jetzt. Morgen. Sie werden auch müde sein.“
Ja, das war Ellen rechtschaffen. Die anderen nicht minder. So beschloß man denn, bald zur Ruhe zu gehen. In zwei nebeneinanderliegenden Räumen waren Schlafgelegenheiten für Mirat und Zillich, Hella und Ellen hergerichtet worden. Sie wünschten sich „gute Nacht“ und zogen sich zurück. Zillich und der Radscha gingen erst noch einmal nach dem Nebengebäude hinüber, überzeugten sich, daß die Kamele gut untergebracht und versorgt waren, sahen auch nach den drei Negern des Farmers. Den Führer Rafik fanden sie nirgends. Die Schwarzen sagten, er sei fortgegangen. Sie wüßten nicht, wohin.
Dann legten sie sich schlafen. Fenster und Türen der Zimmer waren von innen zu verriegeln. Davon hatte der Farmer sich vorher ausdrücklich überzeugt. Nachts eindringen konnte also niemand. Zillich aber untersuchte noch Fußboden und Wände genau.
„Man kann nie wissen,“ sagte er zu Mahadur Mirat, der ihm zusah. Der nickte nur.
Nacht. Finsternis. Die Sichel des jungen Mondes verbreitete fast keine Helligkeit. Tiefe, regelmäßige Atemzüge im Zimmer der Reisenden. Kein Laut sonst.
Doch … ein Knacken irgendwo … Holzwurm? Vielleicht – aber nein, lauter klang es, einmal noch und noch einmal. Dann ein winziges Geräusch innerhalb des Zimmers. Ein Bettgestell knarrte. Ganz wenig nur.
Dann glomm ein Lichtstrahl auf. Klein, aber intensiv. Mahadur Mirat, der sich halb angekleidet zu Bett gelegt hatte, saß aufrecht auf seinem Lager. Von seiner Hand ging der Lichtschein aus; von einer halb abgeblendeten elektrischen Taschenlampe. Ein kleiner heller Kreis. Den ließ er durchs Zimmer gleiten.
Der Schein wanderte. Blieb dann an einem Ort haften. Beleuchtete diese eine Stelle – auf der sich etwas Schwarzes, Glänzendes bewegte. Eine Schlange! Dünn, kaum einen halben Meter lang. Dicht neben dem Bett des Farmers! Mirat wandte sich lautlos, entnahm seiner Jacke, die neben dem Bett hing, etwas … Stand dann auf; bewegte sich, ganz behutsam, jedes Geräusch vermeidend.
Näherte sich dem kleinen Reptil. Das, von dem grellen Licht erschreckt, richtete sich gereizt auf; zischte leise. Langsam hob sich des Radschas rechte Hand mit einem kleinen runden Gegenstand. Ein Druck – und lautlos puffte Staub daraus auf die Schlange zu. Weißer Staub, wie feinster Puder. Umwirbelte die Schlange – die plötzlich zusammensackte und reglos liegen blieb.
Sekunden … Dann griff Mahadur Mirat nach dem Tier und trennte ihm mit einem raschen Schnitt den Kopf vom Rumpf.
Wieder wanderte der Lichtkreis durchs Zimmer … zur Tür. Traf auf eine runde Öffnung dicht über dem Boden, – durch die soeben eine zweite Schlange glitt! Kaum eine Minute, und auch sie hatte das Schicksal der ersten ereilt. Wieder wanderte der Lichtschein. Durchs Zimmer, – zur Tür … Mahadur Mirat lauerte, wartete. Lange Zeit noch. Mehr als eine Stunde. Doch kein drittes Reptil zeigte sich. Da ließ er endlich das Licht seiner Taschenlampe erlöschen und legte sich ebenso leise zu Bett, wie er aufgestanden war. –
Licht. Der Tag war da. Henry Zillich fuhr auf. Sah, daß Mahadur Mirat schon wach war.
„Donnerwetter, – gut geschlafen habe ich!“
Der Radscha lächelte nickend.
„Ja, sehr gut. Sehen Sie da!“
Zillichs Blicke folgten der ausgestreckten Hand des Inders. Da lagen die Körper zweier kleiner, schwarzglänzender Schlangen und die dazugehörigen Köpfe ein Stück weiter –.
„Was – bedeutet das –?“
„Das bedeutet, daß wir Besuch hatten diese Nacht.“
„Giftschlangen?“
„Zweifellos.“
„Ein Attentat womöglich –?“
„Ganz bestimmt!“
„Das ist ja! Erzählen Sie doch.“
Und der Radscha berichtete sein nächtliches Abenteuer. Zillich nickte, als der Fürst geendet. Diese Sache paßte recht gut zu seinem Empfinden seit der Ankunft in Hope-Valley. Er streckte Mahadur Mirat beide Hände hin.
„Sie haben mir das Leben gerettet – gewissermaßen.“
Der Radscha wehrte ab.
„Nicht der Rede wert. Wichtiger ist, daß wir nun wissen, woran wir sind.“
„Ja, in der Tat, man wollte uns beseitigen. Warum, wissen die Götter. Jedenfalls sind wir hier in Räuberhände geraten. Was mit dieser verflixten Diamantmine los ist, mag der Teufel wissen. Der Verwalter verschwunden; und sein Nachfolger versucht uns durch Giftschlangen zu beseitigen. Hoffentlich ist den Frauen nicht auch solch Viehzeug ins Zimmer geschickt worden!“
Und schon eilte er zur Nebentür, klopfte … Nein, dort drinnen war nichts geschehen. Hella und Ellen schliefen noch, durchsuchten auf des Farmers vorsichtigen Zuruf das Zimmer. Aber es fand sich nichts. Zillich eilte in das andere Zimmer zurück.
„Eine ganz verteufelte Geschichte!“ knurrte er nachdenklich. „Wie verhalten wir uns nun?“
Da legte ihm Mahadur Mirat die Hand auf den Arm. Sagte ruhig:
„Ich werde meinen Plan ausführen. Lassen Sie mich nur machen. Skinn wird annehmen, daß wir glauben, die Schlangen hätten sich von selbst hier eingefunden. Gut, lassen wir ihn bei dieser Annahme. Bestärken wir ihn noch darin. Tun wir, als hätten wir keinerlei Argwohn. Dann – nun, Sie werden sehen!“
„Was haben Sie vor?“ fragte der Farmer. Doch Mahadur Mirat wiederholte nur:
„Sie werden sehen!“
Darauf wurden auch Hella und Ellen von dem Entschluß in Kenntnis gesetzt.
„Wie haben Sie die Schlangen so lautlos töten können?“ fragte Ellen Crosterbroux. „Wie konnten sie sich ihnen nähern?“
Da holte der Radscha einen kleinen Gummiball hervor, der auf einer Seite in eine feine offene Spitze auslief.
„Dieser Ball,“ erklärte er, „enthält ein Pulver, das jedes Lebewesen in demselben Augenblick betäubt, in dem es ihn einatmet.“
Die Tochter des Platinkönigs war starr vor Staunen. Fast empfand sie Furcht vor diesem Mann, der von seltsamsten Dingen umgeben war und von ihnen so gleichmütig sprach.
„Und dergleichen haben Sie stets bei sich?“ fragte sie. „Sie können doch aber nicht wissen, daß Sie mal in derartige Situationen kommen?“
Mahadur Mirat lächelte fein.
„Wem das Ungewöhnliche stets gegenwärtig ist, den wird es nie überraschen können. Nicht die alltäglichen Dinge des Lebens sind es, die unsere Achtsamkeit erfordern, sondern die unvorhergesehenen, einmaligen. Bereit sein ist alles!“ –
Der riesige Neger von gestern kam mit dem Frühstück. Zillich und Mahadur Mirat beobachteten sein Gesicht genau. Aber kein Erstaunen, überhaupt keine besondere Bewegung zeigte sich in seinen Zügen. Nein, der wußte nichts, war nicht eingeweiht.
Nach einer Weile erschien Skinn, kriechend höflich, ganz anders, als gestern. Das macht die Verblüffung ob seines mißlungenen Mordanschlages, dachte der Farmer. Skinn erkundigte sich, wie die Gäste geruht hätten; sah dabei Mirat lauernd an.
„Oh, ganz gut, bis auf einen kleinen Zwischenfall!“ antwortete Zillich leichthin.
„Zwischenfall? Was war es denn?“
„Ach, nichts besonderes. Es waren nur ein paar kleine Giftschlangen ins Zimmer eingedrungen. Ich habe ihnen die Köpfe abgeschnitten. Habe dazu so ein besonderes Mittel.“
Der Verwalter machte ein bestürztes Gesicht. Aber er spielte schlecht Komödie.
„Schlangen –?!“ rief er. Nickte dann betrübt mit dem Kopf. „Ja, ja, das ist die Plage dieses Landstrichs, die Giftschlangen. Sie können sich kaum vorstellen, wie viele unserer Leute durch Schlangenbisse draufgehen! Es ist schrecklich. Bis ins Zimmer kommen diese eklen Reptile!“
„Nun, es ist ja diesmal noch gut abgegangen,“ mischte sich Ellen ins Gespräch.
Skinn nickte eifrig.
„Gewiß, ich werde die Herrschaften von hier abholen, wenn’s recht ist.“
„Gut, gut!“
Der Verwalter ging. Später sagte Mahadur Mirat:
„Sehr gut; am Abend werde ich handeln. Jetzt sollen Sie auch erfahren, was ich beabsichtige. Ich habe noch mehr, als nur das Schlangenmittel stets bei mir. Wenn der Verwalter abends kommt, werden wir etwas zu trinken verlangen. Er wird Alkohol dahaben. Man riecht es. Dann mische ich in einem unbewachten Moment, den ich herbeizuführen wissen werde, ein Schlafpulver in sein Glas. Das hält eine gute Stunde vor. Aber schon bevor er erwacht, werde ich ihn – magnetisch behandeln. In der Hypnose antwortet er dann wahrheitsgemäß, und wir erfahren alles, was wir wollen.“
„Großartig, bewundernswürdig!“ riefen die anderen zugleich.
„Aber,“ fuhr der Farmer fort, „was nützt uns das? Gewiß, es ist gut zu erfahren, auf welche Art Templing verschwunden ist. Dennoch –“
„Es nützt insofern viel,“ unterbrach ihn der Radscha, „als wir dann wissen, ob Skinn hier als Hauptintrigant in Frage kommt, ob und wieviel Gleichgesinnte und Getreue er hat. Danach können wir uns dann einrichten. Wissen, ob es ratsam ist, uns schleunigst in Sicherheit zu bringen, oder ob wir den Kampf aufnehmen können.“
„Hm, ja, allerdings. Daran dachte ich nicht,“ bekannte Zillich. Dann ging er mit dem Radscha zusammen nach den Ställen. Hier war alles in Ordnung. Die Kamele hatten Futter und frisches Wasser bekommen. Aber Rafik war auch jetzt nicht da. Die Neger des Farmers, die ebenfalls reichlich und gut zu essen erhalten hatten, auch sie hatten ihn seit gestern nicht mehr gesehen.
„Lauter Gauner ringsum,“ brummte Zillich. „Diesem Rafik, dem schielenden Kerl, traue ich auch nur so weit, wie ich ihn sehe. Und da er sich gar nicht sehen läßt …“
Während dieser Worte schickte er sich an, mit Mahadur Mirat den Stall zu verlassen. Da spürte er plötzlich, wie etwas seine Hand berührte. Fühlte Papier zwischen den Fingern, hielt es, sah sich hastig um und gewahrte gerade noch einen der beiden Neger der Siedlung, die die Kamele versorgt hatten, wie er rasch um die Ecke verschwand. Er hatte ihm einen Zettel in die Hand gedrückt.
Zillich sah sich prüfend noch einmal um. Nein, niemand war in der Nähe, der diesen kleinen Vorgang beobachtet haben konnte. Er entfaltete den Zettel, las … Immer größeres Erstaunen spiegelte sich in seinem Gesicht. Auf dem Zettel stand:
„Um Mitternacht dem Boten folgen! Templing.“
Erst als sie wieder in ihrem Zimmer waren, zeigte der Farmer Mahadur Mirat die Nachricht.
„Templing –? Das kann eine Falle sein,“ meinte der. Zillich hob die Achseln.
„Kann … gewiß, möglich ist es. Sogar wahrscheinlich. Aber – es kann auch anders sein. Jedenfalls werden wir gut tun, der Sache nachzugehen.“
„Gewiß. Meinen Plan werde ich dann noch zurückstellen, bis wir wissen, was es mit diesem Zettel auf sich hat.“
Hella und Ellen wurden eingeweiht.
„Sie, Miß Crosterbroux, kennen Templing persönlich. Es ist darum wohl notwendig, daß Sie diese nächtliche Exkursion mitmachen. Und Miß Dörcksen wird nicht gut allein hier bleiben können. Jedenfalls ist es besser, wenn auch sie mitkommt. So werden wir also alle vier heute Nacht ausgehen. Wasser haben wir. Hoffentlich bemerkt uns keiner von den Siedlern.“
Hella und Ellen schliefen abends. Zillich und der Radscha wollten abwechselnd wachen. Kurz vor zwölf Uhr fanden sich alle in dem einen Zimmer zusammen. Henry Zillich öffnete das Fenster, spähte hinaus … Da stand an der Ecke des nächsten Hauses eine dunkle Gestalt. Ein Neger. Winkte –? Ja, er winkte. Und leise, leise schlichen die vier hinaus.
Der Neger war derselbe, der dem Farmer den Zettel zugesteckt hatte.
„Rasch fort, Massa,“ flüsterte er und entschlüpfte um die Ecke. Die anderen folgten ihm. Zillich wollte etwas fragen. Aber der Neger legte den Finger auf die Lippen.
„Später, Massa, später! Später Sambo alles sagen.“
So folgten sie denn gespannt und schweigend weiter dem Schwarzen. Hinaus aus der Siedlung, in die Umgebung, die hier bald wieder Wüstencharakter annahm, nur mit wenigem Dornengestrüpp hier und da, dazwischen dürrem Gras, bald nur noch Sand und Steine. Hügel waren in einiger Entfernung zu sehen. Auf sie hielt der Neger zu.
Als sie den Vorsprung einer niedrigen Felswand erreicht und um sie herumgegangen waren, öffnete sich vor ihren Augen ein überraschender Anblick. In mattem Mondlichtschimmer lag ein schmales, tiefes Tal, dessen Länge nicht absehbar war. Es war üppig begrünt; mußte im Grund wohl eine Quelle besitzen.
Sambo, der Neger, wollte hinabzusteigen beginnen. Doch Zillich hielt ihn zurück.
„Halt, Freund! Jetzt sind wir bereits weit genug von der Siedlung ab. Nun rede. Wo führst du uns hin?“
„Zu Massa Templing.“
„Ist das auch wahr?“
„Ja, ganz wahr.“
„So. Nun, sieh hier,“ fuhr der Farmer fort und hielt dem Neger seinen Revolver vors Gesicht, „wenn du uns in eine Falle lockst, bist du der erste, der dabei umkommt. Sowie ich Verrat merke, knalle ich dich ohne weiteres nieder!“
Der Schwarze schüttelte heftig den Kopf.
„Sambo nicht lügen wie andere schwarze Mann. Sambo gut. Das Massa Templing immer sagen. Massa Templing geflohen vor böses Massa Skinn. Überfall. Schießen. Alles fort. Massa Skinn nicht Verwalter. Massa Skinn Räuber!“
Aus dem geradebrechten Bericht ließ sich genug entnehmen. Demnach war es wohl ähnlich, wie man vermute hatte.
Etwa eine Stunde drang man in dem engen Felsental vorwärts. Das war nicht immer leicht. Ein gewundener Pfad zog sich zwischen Dornengestrüpp das Tal entlang, nur gerade breit genug, um einen Menschen hindurchzulassen. Was bei Tageslicht vielleicht eine Kleinigkeit war, wurde bei Nacht schwierig. Immer wieder hakte die Kleidung an Dornen zu beiden Seiten des Weges fest. Nur wer Afrika kennt, weiß, was das bedeutet. Ohne Löcher im Stoff ging das nicht ab.
Endlich machte Sambo halt. Das Tal erweiterte sich ein wenig. Das Dornengestrüpp trat rechts und links zurück, und auf dem kleinen Platz dazwischen erblickten man – eine Blockhütte. In ihr brannte Licht, das den Schatten eines Mannes zeigte, der in der Türöffnung stand. Mahadur Mirat ließ seine Taschenlampe aufleuchten. Hell bestrahlte der Lichtkegel die Gestalt.
„Mister Templing!“
Ellen Crosterbroux war es, die den Ruf ausgestoßen hatte. Sie eilte dem Mann entgegen, der da stand, und nun war es an jenem, einen Ausruf des Staunens und der Überraschung auszustoßen.
„Miß Crosterbroux –! Sie schickt mir Gott. Viel länger hätte ich mich hier nicht mehr halten können. Aber nun ist ja alles gut. – Kommen Sie herein!“
Und dann saß man an dem rohgezimmerten Holztisch in der Blockhütte, und Templing erzählte. Viel war es nicht, was er zu berichten wußte; aber desto inhaltsschwerer war seine kurze Erzählung. Eine Räuberbande war eines Tages über die Siedlung hergefallen, hatte niedergemacht, was sich ihr entgegenstellte. Die übrigen flohen man, mit Weibern und Kindern. Kurzum, die Banditen machten sich zu Herren der Diamantenmine Crosterbroux’, grüben nun auf eigene Faust. Daß Templing mit der Hauptmenge der des Transports nach Agra harrenden Diamanten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, ahnten sie nicht. Kamen also auch nicht darauf, nach ihm zu fahnden. Hätten ihn sonst unbedingt entdeckt in der verlassenen Blockhütte dieses Tales. Sambo, Templings treuer Diener, war in Hope-Valley geblieben; hatte sich krank gestellt. Die Banditen verschonten ihn und ließen später zu, daß er für sie arbeitete. So konnte er bleiben; konnte nachts fortschleichen und seinem Herrn Lebensmittel bringen. Sambo brauchte Entdeckung nicht zu fürchten. Die Banditen dachten nicht daran, nachts Wachen zu stellen. –
Manche der geflüchteten Arbeiter kamen um, doch einige non ihnen gelangten nach Kapstadt, gingen dort zur Polizei, berichteten den Vorfall. Die Behörde versprach Untersuchung und Hilfe. Monate vergingen. Doch nichts geschah. – Templing hatte alle Hoffnung aufgegeben. Allein und ohne Lebensmittel bis Kapstadt gelangen war unmöglich. Und dauernd hier auf diese schwierige Art leben, stets in Gefahr, doch noch entdeckt zu werden – wie lange war das noch möglich? Dann kam der treue Sambo eines Nachts mit der Nachricht, eine Karawane fremder Weißer sei in Hope-Valley eingetroffen, halte sich da auf. Der Verwalter hatte keine Ahnung, daß der Besuch der Europäer eigentlich ihm galt. Er sah in dem Eintreffen jener Fremden nur einen Hoffnungsstrahl für sich – und ließ durch Sambo den Zettel besorgen. Der Schwarze erledigte seine Aufgabe mit bestem Geschick. –
„Und hier –“ schloß der Verwalter, „hier, Miß Crosterbroux, sind die Diamanten, die ich demnächst Ihrem Vater überbringen wollte!“
Damit reichte er dem Mädchen einen Lederbeutel. Ellen nahm ihn.
„Ich danke Ihnen von Herzen, Mr. Templing. Sie sind ein treuer Mensch. Ein Teil dieser Diamanten soll Ihnen gehören. Das werden wir später regeln. Einstweilen kommen Sie mit uns. Es wird ja mit jener Bande noch einen Kampf kosten; und da werden wir Sie und Sambo gut brauchen können.“
Und zu Mahadur Mirat gewandt:
„Hoffentlich reicht diese Menge Diamanten aus, um Dr. Dörcksens Flugschiff wieder für große Reisen gebrauchsfähig zu machen. Das würde mich sehr freuen.“
„Es sind recht große Stücke darunter,“ sagte Templing.
„Nun, dann ist ja Hoffnung vorhanden.“ –
„Wollen wir mit der Rückkehr nach Hope-Valley bis zum Anbruch des Tages warten?“ fragte der Radscha. Doch Zillich meinte:
„Ich halte es für besser, wenn wir noch in der Dunkelheit der Nacht zurückkehren, Herr Templing und Sambo mit uns, und die Bande am Morgen überrumpeln. Wir sind dann vier Männer … Außerdem glaube ich, daß Miß Dörcksen und Miß Crosterbroux auch einen Revolver zu gebrauchen wissen werden, wenn es not tut.“
„Oh, sicher!“ rief Ellen. Der Farmer wandte sich an Templing. Fragte:
„Wie stark war die Bande?“
„Sechs Weiße und zwei Neger.“
„Nicht mehr? Und die vermochten die ganze Siedlung an sich zu reißen? Das ist erstaunlich.“
„Ich wollte sagen: sechs Weiße und zwei Neger halten sich jetzt noch dort auf. Während des Überfalls waren viel mehr da. Aber da sie keine Diamanten fanden, begnügten sich damit, zu plündern, und zu rauben, was sie für wichtig erachteten. Dann zogen sie weiter. Nur diese wenigen blieben zurück, um die Gruben selbst weiter auszubeuten.“
„Nun, dann werden wir mit ihnen fertig werden,“ meinte Zillich zuversichtlich. Darauf trat man den Rückzug an. Sambo, der den Weg genau kannte, wieder voraus. Plötzlich blieb der Farmer stehen, schlug sich an die Stirn.
„Was sagte ich?“ rief er, „Vier Männer sind wir –? Und meine drei Schwarzen –? Sieben sind wir!“
„Wenn die sicher sind –“ warf Templing ein. „Man kann bei Negern nie wissen –“
„Doch, doch, ich verbürge mich für die Treue meiner Leute.“
„Nun, dann ist unser Sieg sicher. Den Banditen wird es morgen schlecht gehen.“ –
Als das Tal mit seinem Dornengestrüpp überwunden war, man sich freier bewegen konnte, schmiedete man Pläne für die morgige Überrumpelung. Zillich kam mit einem schon fertigen Plan.
„Die Instruierung der Neger übernimmt Sambo,“ entschied er. „Sie, Mr. Templing, kommen mit in unser Zimmer; verbergen sich da einstweilen. Dann –“
Und er entwickelte den anderen weiter seinen Plan, der einstimmigen Beifall fand. Zum Schluß fragte Hella:
„Und die Banditen –? Was machen wir mit denen?“
„Je nun,“ entgegnete der Farmer achselzuckend, „wenn sie fliehen – was sie voraussichtlich tun werden –, dann lassen wir sie einfach laufen. Meiner Meinung nach. Doch eigentlich steht es ja Miß Crosterbroux als der Eigentümerin der Mine zu, darüber zu entscheiden.“
„Oh, mir ist das ganz gleichgültig,“ entgegnete Ellen. „Ich bin die Letzte unserer Familie, mag die Mine nehmen, wer will. Mag die Räuber fangen, wer will. Ich lege weiter keinen Wert darauf.“
„Also lassen wir sie laufen,“ schloß Zillich diese Debatte. –
Wenig später hatte man die Siedlung erreicht. Genau so geräuschlos, wie man ausgezogen war, kehrte man auch wieder ein. Niemand merkte etwas. Sambo begab sich in den Raum, in dem die Neger des Farmers untergebracht waren …
Am Morgen kam wieder der riesige Neger mit dem Frühstück. Das mußte man dem Banditenhäuptling lassen: als Gastgeber benahm er sich tadellos. Als der Schwarze sich wieder entfernen wollte, rief ihm Zillich nach:
„Sage Mr. Skinn, daß ich ihn gerne sprechen möchte!“
„Ja, Massa!“
Es dauerte nicht lange, bis der „Verwalter“ eintrat. Er war natürlich auf das, was sich nun ereignete, nicht vorbereitet; ahnte nicht, daß die Fremden Bescheid wußten. Arglos trat er ein. Da – warfen sich von rechts und links Mahadur Mirat und Zillich auf ihn, zwangen ihn zu Boden … Skinn stieß einen Ruf aus. Da erschien auch schon der riesige Neger in der Tür. Das war kein geringer Gegner. Riesenhaft groß, athletisch gebaut.
Doch da – tauchte hinter dem Riesen – Templing auf, der irgendwo gelauert hatte. Ein wuchtiger Hieb mit einem Holzknüppel gegen die Schläfe des Riesen ließ ihn umsinken wie ein gefällter Baum. Skinn wurde mit einem bereitgehaltenem Baststrick gebunden. Der Bandit zeigte sich jetzt nun jämmerlich feige; winselte um Gnade. Der Farmer zuckte darauf nur die Achseln und ließ ihn liegen, wo er lag. Würdigte ihn keines Wortes, keines Blickes.
„Nun zu den anderen,“ sagte er. In dem Augenblick wurden draußen Stimmen laut. Sambo kam mit den drei Negern Zillichs, um sich weitere Befehle zu holen. Sie hatten inzwischen den zweiten der zu den Banditen gehörenden Neger überfallen und gleichfalls gebunden. Jetzt waren also nur noch fünf Weiße da.
Die befanden sich anscheinend draußen in den Diamantgruben. Man beschloß, sie gleichfalls zu überrumpeln. Das wollten vor allen die drei Schwarzen des Farmers unter Führung Sambos unternehmen. Templing schloß sich ihnen an. Zillich und Mahadur Mirat blieben bei den Frauen.
Es gelang vollkommen. Die Ahnungslosen waren so verblüfft, daß sie erst an Widerstand dachten, als es zu spät war. Dann – standen alle beisammen vor dem Haus an Pfähle gebunden. Auch der riesige Neger war inzwischen wieder zu sich gekommen.
„Gesindel,“ rief der Farmer, „eigentlich habt ihr sämtlich euer erbärmliches Leben verwirkt; aber uns liegt nichts daran, eure schwarzen Seelen auszulöschen. Ihr sollt leben dürfen – ja sogar frei sein. Mitnehmen dürft ihr jedoch nichts. Vor allem – keine Waffen. Und wenn Ihr euch in nächster Zeit noch ein einziges Mal in dieser Gegend blicken laßt, werdet ihr niedergeknallt. Merkt euch das! So, und nun fort!“
Auf einen Wink durchschnitt Sambo die Fesseln der acht Banditen.
„Lauf – sonst …!“ schrie Zillich und hob drohend den Revolver. Da sausten sie auch schon los, froh, das Leben gerettet zu haben. Templing schoß einmal in die Luft. Was zur Folge hatte, daß die Flucht der Banditen sich noch mehr beschleunigte.
Erleichtert und belustigt sahen alle ihnen nach. Da – splitterte plötzlich in dem Haus, in dessen Nähe sie standen, klirrend eine Fensterscheibe. Sie fuhren herum. Ein Fenster war zerschlagen worden. Und da – lief – Rafik, der schielende Kameltreiber! Er, der solange verschwunden gewesen war! Nun war er plötzlich wieder da! Und –
„Die Diamanten –!“ rief da Ellen Crosterbroux in banger Ahnung. Man rannte hin. Das zerschlagene Fenster … der Tisch, auf dem der Lederbeutel mit den Steinen gelegen hatte, war leer. Die Edelsteine – waren fort! –
Rafik! Der schielende Bursche, der solange verschwunden gewesen war, den man während der anderen Ereignisse gänzlich vergessen hatte, mußte insgeheim doch alles beobachtet haben. Nun hatte er die günstige Gelegenheit wahrgenommen …
Indessen – jetzt war nicht der Augenblick, darüber nachzudenken. Dort lief er. Und wie auf Kommando setzten sich alle – Hella und Ellen nicht ausgenommen – in Bewegung und rannten hinter dem Flüchtling her. Der hatte mit einigen großen Sätzen das Ende der Häuserreihe erreicht und verschwand. Sekunden darauf bogen die Verfolger um die Ecke. Aber da sahen sie –
In wildem Galopp rannte ein gesatteltes, gepacktes Reitkamel in die Wüste hinaus. Auf dem Tier saß – Rafik! So gut hatte der Schurke seinen Raub vorbereitet!
Mit dieser Flucht begann das letzte Abenteuer unserer Reisenden auf afrikanischem Boden, das sie tief in den Urwald führen sollte: – das Abenteuer mit den Drachen des Tenda Guru.
Durch die üppige Wildnis des Tenda Guru, einer Landschaft Zentralafrikas, bewegte sich ein seltsamer Zug. Voran schritten etwa fünfzig Träger, Neger mit Warenballen. Dann folgten auf Mauleseln zwei Gestalten, die in diese Wildnis ganz und gar nicht zu passen schienen: zwei junge Frauen in modernen englischen Kostümen, die allerdings für die Tropen geschaffen schienen. Den Schluß machten – ebenfalls auf Maultieren – drei weiße Männer.
„Es gibt Gewitter!“ rief jetzt der zuletzt Reitende.
„Woher wollen Sie das wissen, Mr. Templing? Das Gewühl von Bäumen und Schlingpflanzen steht hier so dicht, daß man kaum den Himmel sehen kann.“
Mahadur Mirat war es, der diese Worte gesprochen.
„Er hat recht,“ warf Henry Zillich ein, „ich spüre es auch. Man merkt es an der seltsam wie bleiernen Luft. Die Lianen hängen schlaff herunter, zeigen nicht die geringste Bewegung. Die Hitze steigt rapid. Und – fällt Ihnen nicht die Stille im Wald auf? Welch lautes Leben sonst! Jetzt nichts. Alles erwartet die bevorstehende Entladung.“
Der Farmer sollte recht behalten. Kurze Zeit darauf hörte man in der Ferne dumpfes Grollen.
„Es ist da. Wir wollen uns beeilen,“ rief Zillich. Er hob die Hand. Seine drei Neger und Sambo, die unter den Trägern verteilt waren, gaben das Zeichen weiter. Halt! Die Spitze stoppte. Die Lastpacken wurden abgeworfen.
„Lager bauen!“ kommandierte der Farmer. Und kaum eine Viertelstunde später standen drei Zelte da. Zwei lange, breite und flache für die Neger; ein kleines, höheres für die Weißen. Da fuhr auch schon der erste Blitz hernieder, dem krachender Donner folgte. Als wäre das ein Signal gewesen, öffnete jetzt der Himmel seine Schleusen. Rechtzeitig waren alle „unter Dach“ gekommen. Fast finster war es geworden, aber Blitz auf Blitz zuckte auf; gab dem Urwald mit seinen absonderlichen, vielgestaltigen Formen ein phantastisches Aussehen.
Und Regen … war das noch Regen? Es goß. Kaum, daß einzelne Wasserfäden erkennbar waren. Fast schien es, als sei das Ganze eine einzige Wassermasse, die rauschend herniederstürzte.
Und Blitz und Krach. Unaufhörlich.
Im Zelt der Weißen saß man auf leichten Klappstühlen. Sprechen war unmöglich wegen des Tobens der Elemente. So saßen denn die fünf schweigend da; schauten aus dem Zelteingang auf das Toben des Wetters draußen. Und dachten … an allerhand dachten sie. Vor allem an die letzte Vergangenheit.
Seit jenem Augenblick, da Rafik auf bereitgestelltem Kamel mit den Diamanten entfloh, war viel geschehen. Sie hatten seine Spur verfolgen können. Er hatte sich tollkühn geradewegs in die Wüste begeben. In der Richtung, daß er auf die Eisenbahnlinie von Kapstadt her treffen mußte. Das erforderte aber für einen Kamelreiter etwa zwei Tagereisen. Konnte er, der einzelne, das durchsetzen?
Doch da zeigte sich, daß Rafik alles wohlbedacht haben mußte. Das Gepäck seines Reittieres hatte er wohl so berechnet, daß er nur vom Notwendigstem soviel wie möglich mitnahm, alles andere zurückließ. Kam noch als wesentlicher Punkt hinzu, daß Rafik ein Sohn dieser Natur war, also auch eher mit ihr fertig wurde als andere.
Kurzum, er erreichte die Bahnlinie. Das weitere erfuhren unsere Reisenden durch Neger eines Dorfes, das die Bahn passierte. Bis jetzt hatten sie die Spur des Flüchtlings gut im Auge behalten können. Jetzt verlor sie sich im Dorf an der Bahnlinie. Fast glaubte man schon, die Verfolgung endgültig aufgeben zu müssen. Aber es kam anders; günstiger, als sie gehofft hatten.
Einwohner des Dorfes hatten Rafik beobachtet, und was sie gesehen hatten, hatte sich ihrem Gedächtnis genau eingeprägt. Das war nicht weiter erstaunlich. War doch das hier Geschehene merkwürdig genug gewesen. Rafik hatte mitten auf der Strecke einen Holzstoß aufgeschichtet und zur Entzündung gebracht. Durch dies Feuer gelang es ihm, den Zug zum Halten zu veranlassen. Und dann war er einfach nach Verhandlung mit dem Zugpersonal, deren Inhalt den Negern natürlich verborgen geblieben war, mitgefahren.
War der Räuber ihnen endgültig entflohen? Oh, so leicht wollten sie nicht nachgeben. Überdies war auch das, um dessentwillen sie Rafik verfolgten, viel zu wertvoll für sie. Sie beschlossen, der Bahnlinie weiter nordwärts zu folgen, – war auch die Aussicht auf Erfolg noch so gering.
Sie waren mit allem einstweilen gut versehen. Kam noch hinzu, daß das Dorf selbst groß und viele Vorräte aller Art in ihm vorhanden waren. Mit großem Stolz aber brachten die Einwohner einige Ballen Leinwand mit Zubehör für Errichtung einiger Zelte herangeschleppt, sowie ein paar Kisten mit Messern, Gabeln und Löffeln. All das boten sie den Weißen an. Mochte der Himmel wissen, wie die Sachen in den Besitz der Schwarzen gekommen waren.
Rafik hatte sein Kamel in dem Dorf zurückgelassen. Die Reisenden taten das gleiche, tauschten dafür fünf Maultiere und die Zelte ein und bekamen für einige ihnen entbehrliche Gebrauchsgegenstände – Mahadur Mirat opferte seine Taschenuhr – eine Menge Lebensmittel und drei Kisten mit den erwähnten Bestecken, die ihnen noch wertvolle Dienste leisten konnten. Außerdem warb man zum Transport all der Dinge noch vierzig Neger als Träger an. So ausgerüstet begann die Expedition in neuer Form ihren Weitermarsch.
Gleich hinter dem Dorf fing der Urwald an. Die Bahnlinie führte direkt in ihn hinein. Das Vorwärtskommen längs des den Schienenweg war durch diesen sehr erleichtert, und so legte die Expedition eine verhältnismäßig große Strecken leicht zurück. –
Am dritten Tage der neuen Wanderung harrte eine Überraschung der Gruppe. Hammerschläge klangen plötzlich von irgendwo. Sie wurden deutlicher und lauter, je weiter man auf dem Schienenstrang vorrückte. Und dann wurden Zelte und Menschen sichtbar. Und dahinter – ein Eisenbahnzug …!
Was bedeutete das? War das vielleicht der Zug, mit dem der Diamantenräuber entflohen war? Dann – ja, dann bestand sogar die Möglichkeit, daß sie ihn hier schon erwischten! Schneller eilten sie vorwärts, Zillich und Templing dem Zug der Schwarzen voran …
Aber diese Hoffnung wurde enttäuscht. Als die anderen nachgekommen waren, erfuhren sie alles. Zwar war es tatsächlich der Zug, mit dem Rafik entflohen war. Doch der selbst war längst schon wieder fort. Das Zugpersonal schimpfte weidlich auf ihn, der zuerst den Zug angehalten, dann sie unter großen Versprechungen bewogen hatte, ihn mitzunehmen und nun ohne weiteres verschwunden war. Sie bezeichneten die Richtung, die der Flüchtling eingeschlagen hatte und wo ihren Angaben nach eine große Negersiedlung liegen sollte. Im übrigen hielten sie Rafik für verrückt, da er sich allein und fast ohne Hilfsmittel in die Wildnis gewagt hatte.
Mahadur Mitat und der Farmer beschlossen, nur wenige Stunden – höchstens zwei – Rast zu machen und dann dem Flüchtling weiter zu folgen. Die Zelte wurden errichtet, eine Mahlzeit zubereitet.
Der Zug hatte gerade an dieser Stelle einen Maschinendefekt erlitten, der zwar, da in Afrika die weite Strecken durch Wildnis fahrenden Züge für alle Fälle gerüstet waren, alles zur Behebung des Schaden Notwendige mit hatten, an Ort und Stelle repariert werden konnte; aber damit würden doch gut zwei Tage vergehen. –
Plötzlich entstand draußen unter den Eisenbahnern und Passagieren ein Tumult. Als Templing dorthin ging, um zu hören, was es gäbe, erfuhr er etwas sehr Interessantes. Von vornherein hatte man einen der schwarzen Heizer im Verdacht gehabt, den Maschinendefekt absichtlich herbeigeführt zu haben. Aber man konnte es ihm nicht nachweisen, beobachtete ihn indessen insgeheim weiter. Und jetzt – war plötzlich in seinen Sachen ein ungeschliffener Diamant vorgefunden worden! Da hatte er denn gestanden, daß er um den Preis dieses Diamanten im Auftrag jenes Fremden den Defekt herbeigeführt hatte!
Hier war also einer jener Steine aus der Mine Crosterbroux’! Alles war berechnet. Rafik wollte hier den Zug verlassen, eine schnelle Verfolgung verhindern, wollte jenen Weg benutzen, den die Eisenbahner bezeichneten. War die große Siedlung, von der sie sprachen, sein Ziel? Hoffte er, dort verborgen bleiben zu können – für einige Zeit wenigstens?
Blitzschnell flogen diese Fragen durch den Luft. Wenn das zutraf, dann mußten sie ihn bald einholen. Also – so schnell wie möglich aufbrechen. Die ursprünglich auf zwei Stunden festgesetzte Rast wurde einstimmig um die Hälfte gekürzt.
Dann begann der Marsch in das Innere des Urwaldes, – dieser Marsch, der soviel Ereignisse mit sich bringen sollte! –
Noch war der Pfad immer gut passierbar. Zwar ließ seine Breite nur zu, daß immer einer sich hinter dem anderen hielt. Dadurch wurde die Kette bei rund fünfzig Personen sehr lang. Man mußte sorgfältig verteilen: die Spitze bildeten die drei Neger Zillichs und Sambo, dann kamen die vierzig Träger und zum Schluß die fünf Weißen. Später traf man in der Anordnung eine Änderung, dahingehend, daß von den unbedingt zuverlässigen Negern nur Sambo vorn blieb, die anderen drei dagegen in der Kette der Schwarzen verteilt wurden. Das war besser. Bei diesen Negern, die man nicht genau kannte, konnte man nie wissen …
Fast zwei volle Tage dauerte es, bis man die große Negersiedlung erreichte. Und die Eisenbahner hatten gesagt, sie liege ganz nahe. Ja, aber eben nach afrikanischen Begriffen. –
Der Ort war in der Tat sehr ausgedehnt, besaß aber keinen Anflug von eigener Zivilisation. Das kam wohl daher, weil reisende Gesellschaften, die ins Innere des Landes wollten, oft ihren Weg über diese Siedlung nahmen.
An tausend Köpfe stark mochten die Ansiedlung sein. Und es lebten sogar einige arabische Händler hier. Waren aller Art konnte man hier erwerben. Aber das interessierte die Teilnehmer der Expedition weniger. Ob Rafik sich hier aufhalte, wollten sie wissen. Sie traten darum mit dem Dorfältesten und den beiden arabischen Kaufleuten in Verbindung. Und – alle drei wußten ihnen Auskunft zu geben!
Ja, Rafik war hier – gewesen. Hatte sich kaum einen halben Tag aufgehalten und – eine eigene „Expedition“ ausgerüstet! Das heißt, er hatte Zeltleinwand, Lebensmittel und noch allerhand Kleinigkeiten gekauft, hatte zum Transport der Sachen fünf Neger geworben und war weiter ins Land gezogen.
Ein Umstand war besonders interessant. Die Neger, wie auch die arabischen Kaufleute dieses Dorfes kamen zum Schluß auf das gleiche, was schon die Eisenbahner an der Strecke gesagt hatten, sie erklärten Rafik für verrückt. Nur aus anderen Gründen als jene. Die Eisenbahner, weil Rafik sich allein in die Wildnis begeben hatte; die Leute dieses Dorfes, weil Rafik gerade jene Richtung eingeschlagen hatte, in der weit und breit keine menschliche Siedlung lag, – die fast noch unberührte Wildnis war.
„Er wird nicht weit kommen!“ prophezeiten sie, mit den Köpfen nickend; erzählten dann, daß die angeworbenen Neger Rafiks sich gleich zu Anfang geweigert hätten, diesen Weg zu gehen. Nur durch Versprechung besonderer Belohnungen waren sie endlich doch dazu zu bewegen gewesen. –
Man ließ sich den Weg zeigen und brach einige Stunden darauf gleichfalls auf. „Weg“ war übrigens eine durchaus irreführende Bezeichnung. Es war lediglich ein durchweg kniehoch begrünter Pfad, der durch Baumdickicht und Lianengestrüpp führte, und zum großen Teil hatten diese Passierbarkeit wohl erst Rafiks Neger mit eigens dazu geschaffenen Beilen herstellen müssen.
Jetzt jedenfalls war der Pfad da und war die beste, untrüglichste „Fährte“ des Flüchtlings, da es einen anderen Weg ringsum nicht gab. – Weiter ging es. Einen Tag, noch einen. Zweimal fand man Feuerstellen vor, sah ihnen an, daß sie noch nicht alt waren. Von den Verfolgten selbst aber war immer noch nichts zu hören oder sehen. Dabei wurde die Hitze von Stunde zu Stunde größer.
„Es wird Gewitter geben!“ sagte Templing – die Worte, die schon am Anfang dieses Kapitels standen. –
Und nun saßen die fünf auf Klappstühlen in dem Zelt, lauschten schweigend dem Krachen des Donners, sahen die Blitze und den rauschenden Regenguß.
Die Blitze wurden seltener und matter, der Donner langsamer und schwächer; nur der Regen rauschte noch mit unverminderter Heftigkeit fort. Doch auch das würde bald vorüber sein. Die Tropengewitter pflegen stets ebenso schnell zu verschwinden, wie sie kommen.
Wirklich hatte man nach einer weiteren Stunde schon wieder Sonnenschein. Henry Zillich, der als „Kommandant“ der Expedition galt, ließ die Zelte abbrechen, die Gepäckballen wieder verschnüren. Das ging nun nicht mit der Geschwindigkeit vonstatten, wie er es wünschte. Er schalt.
Murrten die Neger –? Nein, es schien wohl nur so. Aber eins stand fest, so rasch wie sonst arbeiteten sie nicht. Der Farmer beschloß, doppelt achtsam zu sein.
Dann brach man auf. Wieder schlängelte sich die Karawane – die man ja jetzt nach ihrer „Umformung“ eigentlich nicht mehr so nennen konnte – durch das üppige Grün des Urwaldes. Das ward jetzt schwieriger und schwieriger. Offensichtlich war jetzt, daß Rafik und seine Leute diesen Pfad vielfach erst wieder hatten gangbar machen müssen. Immer wieder blieben die Packen der Träger seitlich an Dornen hängen; mußten sorglich wieder gelöst werden, sollten sie nicht aufreißen. Das war oft mühevoll und kostete viel Zeit.
Und dennoch hatte man die Verfolgten noch immer nicht eingeholt? Merkwürdig. Zumal jene doch mit erheblich mehr Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt haben mußten, also nur viel weniger schnell vorwärts gekommen sein konnten. Und – wie weit sollte das noch so gehen? Das Bild ringsum ward immer wilder, immer phantastischer. Doch weiter, nur immer weiter.
Schon in den nächsten Stunden stieg die Hitze wieder ebenso hoch, wie vor dem Gewitter. Die Abkühlung war nur gering gewesen, ja, es schien, als ob die jetzige Schwüle die vor dem Gewitter noch übertraf.
Plötzlich entstand an der Spitze eine Stockung. Rufe hin und her. Vorn Stimmengewirr. Zillich wollte dorthin eilen. Da kam Sambo ihm schon entgegen.
„Leute nicht gehen wollen, Massa. Sagen, zu heiß. Sagen, wollen Rum.“
Ah, wehte daher der Wind? Rum, – ja den hatte man seit Kapstadt mit. Ein kleines Fäßchen für Schlangenbisse oder andere Krankheitsfälle. Doch – zum Trinken für die Träger – nein, dafür denn doch nicht.
„Geh’ nur zurück, Sambo, und sage den Leuten, sie werden am Ende der Reise Rum als Belohnung bekommen. Früher auf keinen Fall.“
Sambo schüttelte bedenklich den Kopf, nickte dann aber und entfernte sich. Die ganze Reihe hielt einstweilen. Schon bald kam Sambo wieder zurück.
„Leute sagen, ohne Rum nicht mehr können, Massa; ohne Rum wirklich nicht mehr können.“
„So, hm –“
Der Farmer überlegte.
„Und du, Sambo, kannst du noch weiter – ohne Rum?“
Der Neger nickte lachend.
„Sambo können. Leute faul!“
„Well, dachte ich mir. Ist gut, Sambo; sage den Leuten, wenn sie nicht ohne Zögern jetzt weitermarschieren, gibt es fünf Hiebe pro Mann!“
Sambo schüttelte den Kopf; aber er ging. Wenig später erhob sich Tumult. Die Schwarzen waren wohl empört über die Nachricht, die Sambo ihnen brachte.
„Ich fürchte, wir werden den Rum dennoch opfern müssen,“ sagte Zillich zu den anderen; „wir hängen im Grunde doch von den Trägern ab.“
„Tun Sie es, Mr. Zillich!“ entgegnete Ellen Crosterbroux. „Besser, der Rum geht hin, als daß wir hier inmitten der Wildnis im Stich gelassen werden.“
„Nicht zu schnell, Miß Crosterbroux! Gewiß werden wir aller Wahrscheinlichkeit nachgeben müssen. Doch nicht, bevor alles andere versucht ist.“
Da trat Hella Dörcksen hinzu.
„Auf keinen Fall aber schlagen Sie einen der Schwarzen! Das darf nicht geschehen! Es sind Menschen wie wir und –“
Sie schwieg. Der Farmer hatte den Kopf geschüttelt.
„Ich habe doch nicht im Ernst daran gedacht, werte Miß Dörcksen; zwar nicht aus dem Grund, den Sie anführen, sondern, weil einfach die Klugheit gebietet, zu dem äußersten Mittel nicht zu greifen. Wenn die Neger rebellierten – wie schnell würde es dann gehen, uns paar Weiße und die wenigen getreuen Schwarzen niederzumachen! Nein, ich sagte schon, nachgeben werden wir doch müssen. Wenn die Drohungen nichts mehr nützen, dann …“
Immer lauter war das Geschrei der Träger geworden. Hätte die Enge des Pfades und das Gestrüpp zu beiden Seiten es nicht verhindern – sie würden sich zusammengerottet haben. Das ging hier nicht. Darum taten sie etwas anderes; sie warfen die Ballen, die sie trugen, einfach ab und legten sich daneben. Das war offene Rebellion. Zillich hätte nunmehr das Recht gehabt, einzugreifen.
Sambo kam. Mit ihm der Wortführer der Träger.
„Massa – sehr heiß –“ radebrechte er; „schwarze Mann – Rum – Stärkung wollen.“
„Ich habe euch doch schon sagen lassen,“ beharrte der Farmer, „daß ihr keinen Rum bekommt. Der ist nur für Krankheitsfälle da.“
„Schwarze Mann nicht mehr können –“
Der Farmer schnitt ihm das Wort ab.
„Wenn Ihr nicht in einer Viertelstunde weitermarschiert, werdet ihr geprügelt! So, und nun geh’ und berate dich mit deinen Leuten. Ich warte eine Viertelstunde auf Bescheid!“
Der Neger entschwand.
„So,“ sagte Zillich zu den anderen Weißen, „nun werden wir mit der Verteilung des Rums beginnen, ehe er wiederkommt. Das sieht dann nicht so sehr nach gezwungenem Nachgeben aus. Warten wir erst den ablehnenden Bescheid der Träger ab, dann büßen wir durch das Nachgeben ein gut Teil Respekt ein.“
Das Fäßchen, das die Reisenden in Gewahrsam hatten, wurde angezapft. Dann ging Sambo zu den Trägern und überbrachte ihnen die Kunde, daß der Massa gewillt sei, jedem von ihnen einen kleinen Aluminiumbecher voll Rum zu geben. Sogleich kam der frühere Sprecher wieder, jetzt in unterwürfiger Demut, dankte im Namen der anderen Träger.
Und dann begann die Verteilung des Alkohols. Sambo übernahm die Arbeit. Sie dauerte nicht allzu lange. Das Rumfäßchen war zur Hälfte leer, fast wenigstens, als alle Schwarzen ihren Becher erhalten hatten. Gleich darauf nahmen sie die Ballen wieder auf, und der Marsch ging weiter. Zillich aber blieb den Rest dieses Tages über schweigsam. Er hatte lange genug mit Negern gearbeitet und wußte, was es bedeutete, wozu sie fähig waren, wenn sie überhaupt zu Insubordination neigten –
Seine Ahnung bestätigte sich gleich nach der Mittagsrast des nächstfolgenden Tages. Die Schwarzen hatten wieder um Rum gebeten, Zillich hatte vorher schon diese Möglichkeit mit Mahadur Mirat und Templing in Erwägung gezogen. Hatte gemeint, daß es das beste sei, diesmal gleich dem Verlangen der Schwarzen nachzugeben. Die Neger waren über die Menge des Rumvorrats genau orientiert, mußten also sehr gut wissen, wann er alle war. Und wenn nichts mehr da war, konnten sie nichts mehr verlangen.
So sagte der Farmer heute gleich die Verteilung derselben Rumportion wie gestern zu. Die Träger zeigten sich sehr zufrieden. Die Verteilung ging vor sich. Templing und der Farmer tranken selbst noch einen Becher; und als alle Neger den ihren bekommen hatten, war auch der letzte Tropfen Rum verausgabt.
Dann ging es wieder weiter. Der Alkohol schien in der Tat gute Wirkung hervorgerufen zu haben. Lauter als sonst sangen die Neger. Rascher als bisher kam man vorwärts. Es wurde ein gutes Stück Wegs geschafft an diesem Tag. Die Stimmung der Weißen hob sich schnell. Die Träger wußten nun, daß kein Rum mehr vorhanden war. Sie würden nun nicht mehr auf den Gedanken kommen, zu meutern. Alles würde gut gehen. –
Es ging nicht gut. Der folgende Morgen brachte eine schwere Überraschung. Als die Reisenden beim ersten Hellwerden erwachten, fiel ihnen die Ruhe auf, die ringsum herrschte. Sonst waren die Träger so still nicht gewesen. Sie traten aus dem Zelt –
Da kamen ihnen schon die drei Getreuen Zillichs und Sambo entgegen, die anscheinend nur auf ihr Erwachen gewartet hatten.
„Massa, Massa, alle fort! Die Männer in Nacht fortgelaufen!“ rief der in höchster Erregung. Die anderen drei begleiteten seine Worte mit Kopfnicken und lebhaften Gesten nach verschiedenen Richtungen.
Alle waren starr vor Überraschung. Sie sahen den Pfad entlang. Da lagen in regelmäßigen Abständen die Packen der einzelnen Träger. Ringsum undurchdringliche Wildnis. Und – nirgends einer der Träger. Nirgens!
Schweigend standen sie erst eine Weile, ehe Zillich sich zu dem Kraftwort „Saubande“ aufraffte. Das löste den Bann. Was sollte nun werden? Die Vorräte und Zelte einfach im Stich lassen? Undenkbar! Aber sonst –?
Henry Zillich prüfte die Packen. Bis auf einen fehlte keiner. Nur eine der Kisten mit Bestecken war fort. Die hatten die Träger wohl als selbstgewählten Lohn mitgehen lassen. Nun, wenn schon. Das war nicht weiter tragisch.
Man setzte sich zusammen in das Zelt. Beriet …
„Jetzt, da wir bloß noch neun Personen sind, könnten wir einen großen Teil der Lebensmittelvorräte entbehren,“ meinte Templing. „Wenn wir dann auch noch die beiden großen Flachzelte zurücklassen, müßte es uns vielleicht gelingen, den Rückmarsch zu bewältigen.“
„Den Rückmarsch –?“ entgegnete Mahadur Mirat. „Davon kann und darf nicht die Rede sein. Wir müssen Rafik finden und ihm die Diamanten wieder abnehmen. Rückkehr ist völlig ausgeschlossen!“
„Hm – aber weiter vordringen, das führt sehr ins Ungewisse …“
„Wenn schon. Vergessen wir nicht, daß Rafik mit fünf schwarzen Begleitern es gewagt hat.“
Templing hob die Achseln.
„Das will nichts besagen. Aber ich bin selbstverständlich bereit, Ihnen beizustimmen,“ entgegnete er.
„Wir wollen die Damen entscheiden lassen, ob weiter vorgedrungen oder umgekehrt werden soll,“ schlug Zillich vor. Aber da mischten sich Ellen Crosterbroux und Hella Dörcksen gleich ins Gespräch. Beide traten sie lebhaft für den Weitermarsch ein. Es war ja wohl auch das beste so. Kamen sie um, war alles aus. Kehrten sie jedoch jetzt erfolglos zurück, doch eigentlich auch. Richtig fähig zu großen Reisen wurde das Flugschiff ohne neue Diamantenlagerung nicht.
Es kam nun allein noch darauf an, ob Zillich und Templing sich auch weiterhin dem jetzt immerhin riskanten Vorhaben anschließen wollten, sie, für die diese neue Expedition doch nicht so wichtig war. Aber beide betonten sogleich, daß es ganz selbstverständlich sei, daß sie mitgingen. Templing aus alter Anhänglichkeit an die Crosterbroux, Zillich aus Freude am Abenteuer. Überdies wäre es unverantwortliche Torheit gewesen, wenn die jetzt schon geschwächte Truppe sich noch geteilt hätte.
Der Weitermarsch war also beschlossen. Ein folgenschwerer Entschluß. Wie sollte nun die Verteilung der Lasten erfolgen? Man half sich, indem man zu Fuß weiterzumarschieren sich entschloß. Nur Hella und Ellen benutzten nach wie vor die Maultiere. Dadurch wurden drei Tiere für Traglasten frei. Ihnen wurde jeweils das Doppelte der Last eines Trägers aufgepackt, das hohe Zelt und Lebensmittel. Weitere Traglasten nahmen die vier Neger. Darunter auch die gebliebene Kiste mit Bestecken. Zillich ging voraus; dann kamen die Neger. Ihnen folgten Hella und Ellen auf ihren Maultieren. Den Schluß machten Templing und der Radscha. Templing führte eins der Lasttiere, an dem die beiden anderen hintereinander angebunden waren.
Das war ein stiller Weg! Zwar – die Neger sangen. Wie immer unterwegs. Aber die Weißen … die sprachen kein Wort. Alle waren tief mit ihren Gedanken beschäftigt. Ging es doch ins Ungewisse hinein, mitten im Urwald in Afrika! Vielleicht war schon eine gewisse Ahnung in ihnen, was ihnen bevorstand …
Als der Abend nicht mehr fern war, wurde halt gemacht, das Zelt aufgestellt.
„Wir werden zweistündige Wachen stellen!“ entschied der Farmer. Man war damit einverstanden. Einstweilen aber ging’s erst einmal an die Bereitung des Mahles. Ellen Crosterbroux und Hella Dörcksen unterzogen sich gemeinsam dieser Mühe. Bald prasselte ein Feuer unweit des Zeltes. Mit einem Mal zog Templing schnuppernd die Luft durch die Nase.
„Merken Sie nichts? Riechen Sie nichts?“
Doch, ja, auch die anderen spürten den leisen Rauchgeruch, der durch die Luft zog. Vom eigenen Feuer konnte er nicht stammen. Dessen geringer Rauch zog seitlich ab. Woher kam er dann aber –? Es war nur eine kaum merkbare Andeutung von Rauchgeruch.
„Menschen sind in der Nähe,“ erklärte Mahadur Mirat.
„Ohne Zweifel!“ bestätigte Zillich. „Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Wo Feuer, sind auch Menschen, die es angefacht haben.“
„Der Wind, falls man in diesem Fall von Wind sprechen kann, komm in der Richtung dieses Pfades,“ warf Ellen Crosterbroux ein; „wir wollen ihn noch ein Stück entlang gehen. Vielleicht stoßen wir auf Menschen.“
Aber Templing schüttelte den Kopf.
„Das wollen wir lieber nicht machen, Miß Crosterbroux!“ riet er. „Hier in der Wildnis tut man gut, mit Begegnungen doppelt vorsichtig zu sein. Außerdem –“
„Nun? Sie wollten soeben noch etwas sagen.“
„Ach, nur so ein Gedanke –“
„Sprechen Sie doch!“
„Ich wollte nur sagen, außerdem kann es sich um Rafik und seine Neger handeln.“
„Und –?“
„Wir könnten ihn zu leicht warnen und verscheuchen, wenn wir zu unvorsichtig anrücken. Überdies wird es bereits dunkel. Es ist besser, den Morgen abzuwarten.“
Dabei blieb es denn auch. Der Gedanke, jenes Feuer, dessen Rauch man hier spürte, könne möglicherweise von Rafik stammen, versetzte die Gemüter in nicht geringe Erregung. Das Abendessen wollte gar nicht so recht schmecken.
Dann begab man sich zur Ruhe. Die vier Neger sollten abwechselnd je zwei Stunden Wache halten. Dann aber verwarf der Farmer diesen Plan, änderte ihn dahingehend um, daß er selbst die erste Wache übernahm. Nach Ablauf der zwei Stunden löste Sambo ihn ab. Zillich ging zum Zelt. Doch dann, eventuellen Blicken des Schwarzen nicht mehr sichtbar, duckte der Farmer sich und verschmolz gleich darauf wie ein Schatten mit dem Dunkel.
Es war gelungen. Der Neger hatte ihn nicht bemerkt. Alles blieb still im Zelt. Auf eigene Faust wollte Zillich nach dem Urheber des Feuers forschen. Gerade jetzt nachts. Er schlich weiter. –
Am nächsten Morgen fehlte einer – Henry Zillich. War er schon aufgestanden, bevor die anderen wachgeworden waren? Möglich. Konnte es sein, daß er sich nur für ein paar Augenblicke entfernt hatte …
Sie warteten. Doch der Farmer erschien nicht wieder. Man wurde unruhig. War ihm etwas zustoßen? Nachts schon? Der Neger, der nach ihm Wache gehabt hatte, wurde befragt. Nein, dem war nichts aufgefallen. Er hatte Zillich abgelöst; der war zum Zelt gegangen … Das war alles.
Der Farmer blieb verschwunden. Man rief. Es half nichts. Hing sein Verschwinden mit dem Rauchgeruch von gestern abend zusammen? War Zillich dem nachgegangen und dabei irgendwie zu Schaden gekommen? Es konnte nur so sein. Und Zillich konnte nur diesen Pfad weiter verfolgt haben. Denn quer durch das Dickicht zu dringen, war ganz unmöglich.
Nach manchem Hin und Her wurde beschlossen, aufzubrechen und den Pfad entlang weiterzuziehen. Einer der beiden weißen Männer würde mit einem Maultiere hier bleiben, – falls Zillich doch noch von der anderen Seite käme. Gegen Abend sollte er dann in schnellerem Ritt den anderen folgen.
Aber – wer sollte es sein, der zurückblieb – allein in Urwald? Mahadur Mirat erbot sich dazu. Aber Hella Dörcksen protestierte.
„Geliebter, du allein hier? Nein, – oder – ich bleibe mit dir zurück!“ rief sie entschlossenen Tones. Da trat Templing vor. Er hob die Hand.
„Gestatten Sie, daß ich diese Frage löse. Ich werde hierbleiben. Es ist nicht das erstemal, daß ich afrikanische Wildnis allein durchquere. Gegen Abend komme ich mit dem Maultier nachgeritten.“
Man einigte sich darauf, daß Templing blieb. Gegenseitig sich Bestes wünschend, ging man dann auseinander. Der kleine Trupp zog seinem ungewissen Schicksal entgegen; der Verwalter blieb zurück.
Er sah die anderen sich entfernen. Eine Weile noch konnte er sie mit den Blicken verfolgen. Dann verbarg die grüne Wildnis sie ihm. Hin und wieder hörte er noch einen Ruf der Schwarzen. Dann nichts mehr. Nun, es war nicht das erstenmal, daß er allein in afrikanischer Wildnis war. Zwei-, dreimal in seinem Leben war es schon vorgekommen. Jedesmal herbeigeführt durch irgendeinen widrigen Umstand, den das Schicksal ihm vor die Füße warf, und jedesmal mit Gefahren verknüpft.
Und heute –? Es war doch ein seltsames Gefühl, rings von schier endloser Wildnis umgeben zu sein, die selbst dem Auge undurchdringlich blieb; zu wissen, daß sie Geheimnisse, nie entschleierte, barg; Gefahren lauerten – und jeden Augenblick man des Eintretens eines Geschehnisses gegenwärtig sein mußte, der das Leben bedrohte … Templing schaute sich um. Nur wenig drang der Blick hinein in das Stämme-, Ranken- und Blattgewirr. Dann baute es sich dicht auf wie eine Mauer. Nur hier und da gab es Öffnungen; doch auch die führten nur in geheimnisvolles Dunkel.
Ein Schauer überrann ihn. Doch dann glitt ein Lächeln über seine gebräunten Züge. Er, Templing, alter, durch hundert Abenteuer gegangener Afrikaner, kam auf solche Gedanken? Er verscheuchte sie. Gern hätte er sich eine Pfeife angezündet. Doch vorsichtshalber tat er es nicht. Der Geruch des Tabakrauchs hätte ihn verraten können. Falls nämlich feindlich gesonnene Wilde hier umherstreiften. Solch Tabakrauch zieht mit dem leisesten Windhauch weite Strecken. Und die feine Nase der Schwarzen kennt sofort jeden Geruch heraus, der ihm irgendwie fremd ist.
Der Urwald ringsum schwieg. Merkwürdig wenig Tierstimmen ließen sich vernehmen. Das konnte möglicherweise auf die Nähe von Menschen schließen lassen. Templing dachte über diesen Punkt nach, kam aber zu dem Schluß, daß es – wenn der Grund des Schweigens der Tierwelt rings wirklich darin zu suchen sein sollte – sich auch um ihn selbst als Ursache handeln konnte.
Das Maultier weidete ruhig. Templing schritt langsam auf und ab; stets wachsam in die Runde lauschend. – Die Zeit verging. Stunde um Stunde. Einmal brach dicht vor Templing ein Wildschwein aus dem Dickicht. Beide waren wohl durch die plötzliche Begegnung erschreckt; standen einander gegenüber, starr, wie zwei Gegner, sich argwöhnisch musternd. Wer würde zuerst angreifen –? Als es Templing doch zu lange dauerte, bis das Wildschwein sich besann, machte er eine Armbewegung, – worauf das Tier mit grunzendem Laut entfloh. Fast hätte Templing laut aufgelacht. Aber er besann sich noch rechtzeitig, daß es besser sei, dies nicht zu tun.
Einmal schlüpfte eine Schlange über seinen Fuß. Eine kleine, und Templing erkannte, daß es eine sehr giftige war. Doch er ließ sie entwischen. Sie bedroht mich nicht, dachte er, und sie hat auch nur ein Leben … Dann meldete sich der Hunger. Er aß von den Vorräten, die er hierbehalten hatte. Trank aus der Feldflasche. Viel enthielt sie nicht mehr. Und dann –
Ja, und dann ging er wieder auf und ab. Merkwürdig, so lang waren ihm die Stunden noch nie geworden. Er sehnte ordentlich den Augenblick herbei, da er aufbrechen konnte. Doch noch war es nicht so weit. Bis eine Stunde vor Sonnenuntergang hatte er vereinbart, zu warten. Obwohl er jetzt schon befürchtete, daß Zillich nicht mehr kommen würde.
Noch ein anderes Gefühl beschlich ihn allmählich. Er hatte eine gewisse Furcht, aufzubrechen – so sehr er den Zeitpunkt dafür herbeisehnte. Angst –? Nein, die kannte er nicht. Etwas anderes war es, etwas Undefinierbares. Er wußte selbst nicht, was, und – ärgerte sich darüber.
Es war soweit. Templing bestieg das Maultier. Noch einmal den Pfad zurückgeschaut, noch einmal gelauscht – dann ritt er los. Den anderen nach. Eine Stunde noch bis zu Sonnenuntergang war es. Er konnte in dieser Zeitspanne ein erheblich größeres Stück Wegs zurücklegen, als die anderen, die sich nur schrittweise fortbewegten. Er jedoch ritt scharfen Trab, konnte es auch glatt durchführen, da Hindernisse auf dem schmalen Pfad ja bereits beseitigt waren.
Mit einem Mal – er war vielleicht etwas mehr als eine halbe Stunde geritten – erweiterte sich der Pfad; ging gleich darauf in eine kleine, fast kreisrunde Lichtung über. Und mitten auf dieser Lichtung …
Templing sprang ab. Blickte zu Boden. Was er hier sah, erweckte Bestürzung in ihm …
Mahadur Mirat, Hella Dörcksen und Ellen Crosterbroux hatten sich von Templing verabschiedet und waren aufgebrochen. Der Pfad zog sich, schmal wie bisher, in gleicher Weise weiter.
Man unterhielt sich über den Farmer, sein rätselhaftes Verschwinden und sein vermutliches Schicksal.
„Es kann nicht anders sein,“ meinte der Radscha, „als daß Henry Zillich in der Nacht irgend etwas gesehen hat, das ihn veranlaßte, das Lager zu verlassen.“
„Aber Sambo –? Der hätte ihn doch sehen müssen!“
„Sambo –? Der hatte nach Zillich Wache, ja. Aber der sagte doch schon, daß –“ – und zu dem Neger gewandt –: „Nicht wahr, du hast Master Zillich nicht gesehen? Hast nicht bemerkt, daß er nach der Ablösung durch dich sich noch einmal entfernte?“
Sambo schüttelte den Kopf.
„Nein, Sambo nichts sehen. Massa Zillich nach dem Zelt gegangen. Dann nicht mehr gekommen.“
„Hm!“
Schweigen … und nach einer Weile Ellen:
„Eigentlich war es doch sehr unbedacht von ihm, sich zu entfernen, ohne einem von uns etwas zu sagen.“
„Ja – falls er sich wirklich entfernt hat.“
„Nun, was denn sonst? Er ist doch fort!“
„Gewiß; aber – er kann auch – verschleppt sein.“
„Wie wäre das wohl möglich gewesen?“
Mahadur Mirat hob die Achseln.
„Nun – das Zelt füllte den schmalen Pfad vollkommen aus. Im Dickicht können Wilde gelauert haben …“
„Nein, den dabei sich ergebenden Kampf hätte Sambo auf jeden Fall mitbekommen. Das ist undenkbar. Nur die eine Möglichkeit bleibt, daß Zillich sich absichtlich heimlich entfernt hat. Nur, zu welchem Zweck –?“
Wieder legte die Gruppe ihren Weg eine Weile schweigend zurück. Der Pfad – wollte er denn kein Ende nehmen? Langsam, langsam schien es, als erweitere er sich. Und dann – ja, dann lief er wirklich in eine Lichtung aus. Ein nicht allzu großer, fast runder Platz, von Gräsern überwuchert. Aber ringsum doch wieder nichts als grüne, schier undurchdringliche Wildnis.
Ellen Crosterbroux setzte gerade an, etwas darüber zu sagen, da – – ein Rascheln ringsum – – zehn, zwanzig schwarze Fratzen tauchten zwischen dem Rankengewirr auf, stürzten sich in derselben Sekunde fast auf die Überraschten, die an Gegenwehr gar nicht mehr denken konnten, warfen sie zu Boden und banden sie mit Bastseilen. Sie waren gefangen!
Gefangen! Vier Neger und drei Weiße; in der Gewalt fremder Schwarzer in dieser Wildnis! Was nun –?
Sie behandelten sie derb, banden sie aneinander. Zwangen sie, in einer Reihe einen neuen Pfad entlangzugehen – wieder in den Urwald hinein. Zu Fuß. Wo die Maultiere geblieben waren, wußten sie nicht. Die drei Weißen gingen ganz vorn. Darauf folgten einige Wilde; dann die drei Neger Zillichs mit Sambo. Den Schluß machten die übrigen Schwarzen.
Die riefen sich hin und wieder Worte zu, die weder Sambo, noch die drei Neger Zillichs verstanden. Eine völlig fremde Sprache. Wohin ging es? Wohin?
Mahadur Mirat schritt hinter Hella. Sie sprachen beide nicht. „Welch hartes Schicksal!“ dachte der Radscha. Er bedauerte das geliebte Mädchen. An sich selbst dachte er nicht. Er sah sie immerfort an. Und heißer denn je glühte seine Liebe zu ihr auf – keine lodernde Flamme der Leidenschaft – nein, eine reine, starke, stille Glut hehrster Liebe.
Verbunden waren sie. Durch das Schicksal. Durch tausend gemeinsame Gefahren und Abenteuer, durch die sie geschritten waren. Verbunden für alle Zeiten. Jetzt – verbanden sie Bastfesseln … Welch ein Symbol! Und doch falsch. Was sie verband, innerlich, war keine Fessel …
Ringsum Urwald. Das flatterte, zirpte, pfiff, schrie. Falter, handgroße, in leuchtenden Farben, Zikaden, Insekten aller Art, Vögel, Affen. Dazu der unerhört üppig wuchernde Prunk der tropischen Pflanzenwelt.
Die beklagenswerten Gefangenen nahmen all das kaum wahr. Sie gingen einem ungewissen Schicksal entgegen. Vielleicht würde es das Ende sein. Vielleicht grausam. Vielleicht –? Wahrscheinlich! Von Wilden erschlagen werden, beim Überfall, im Kampf, – das wäre viel weniger … Aber dies –? Diese Wilden – sie sahen nicht einmal kriegerisch aus. Mehr schweigsam, verschlagen, hinterlistig, grausam. Fanatisch –? Ja, vielleicht auch fanatisch. Hella Dörcksen schauderte; aber sie war gefaßt.
Sollten sie Olympia nie erreichen? Stellte sich das Schicksal selbst in den Weg ihres Vorhabens? „Mutter –!“ dachte sie. Und – „Königin über den Wolken –!“ Hatte ein Gebet Zweck? Hella versuchte es instinktiv; fand aber keine Worte. Dann durchrieselte sie wieder wie heilender Balsam die Gewißheit, daß der Geliebte hinter ihr war – ganz nahe. Wenn sie sterben mußte – zusammen hatte der Tod keine Bitterkeit. Und dennoch …
Jäh wurde ihr Gedankengang abgebrochen. Rufe liefen von Mund zu Mund. Zugleich gewahrte Hella Gebäude auftauchen. Hütten aus Holz und Laubwerk – primitiv genug. Ein Dorf. Das Ziel –? Ja. Schon kamen Weiber und Kinder mit Geschrei den Heimkehrenden entgegen. Staunten die Gefangenen – die Weißen wenigstens – an wie Wundertiere …
Das Dorf war sehr ausgedehnt. Die Hütten standen verstreut, fast hineingebaut ins Dickicht. In der Mitte nur ein freier Platz, rechts und links befand sich da je eine große, besonders feste Hütte. Wohl Häuptlingswohnungen. Beide geschnitzt, grellbunt bemalt. Hier machte der Zug mit den Gefangenen halt. Ein Kreis bildete sich.
Eine Öffnung war in dem Kreis und eine Art Spalier von etwa zwanzig Wilden. Durch diese lebende Gasse schritt nun ein anderer Neger. Wohl der Häuptling. Das konnte man aus dem Bernsteinschmuck schließen, den er trug, aus der noch grelleren, noch häßlicheren Bemalung des Gesichts und aus der Stille, die eintrat, als er erschien.
Spannung … Was würde geschehen?
Der Häuptling war alt, hager und wäre auch ohne Bemalung abschreckend häßlich gewesen. Seine Augen aber sprühten. Jugendlich, feurig, gebieterisch, zwingend. Sie paßten nicht zu diesem alten, vertrockneten Gesicht. Sie waren – Herrscheraugen.
Zwei Schwarze traten vor in den Kreis. Sie schienen Bericht zu erstatten. In ihrer unverständlichen, unbekannten Sprache. Der Häuptling nickte kurz. Trat dann an die Gefangenen heran. Musterte sie. Sah Hella an, Ellen … In seinen Augen lag etwas, – ein seltsamer, undefinierbarer Ausdruck … Und dann – dann sagte er in fließendem Englisch:
„Ihr habt das Gebiet des Königs Watombe betreten. Darauf steht Todesstrafe für jeden Weißen. Wißt ihr das nicht?“
„Wir wußten es nicht, König!“ versetzte Mahadur Mirat. „Hätten wir es gewußt, wären wir nicht hierhergekommen.“
„Euer Leben ist verwirkt!“
Der Radscha machte ein übertrieben erstauntes Gesicht. Sagte:
„Verwirkt –? Nicht doch, König! Euer Edelmut ist weit und breit bekannt. Ihr werdet euch doch nicht an schwachen Frauen vergreifen? Und ich – in ja kein Weißer –!“
Lächelnd, scheinbar ganz sorglos sagte er das. Doch da traf ihn ein messerscharfer Blick des Häuptlings, voll unerbittlicher Feindschaft, die von ihrem Recht überzeugt ist. Keine Antwort. Der „König“ wandte sich. Scharf klangen einige Befehlsworte. Sofort sprang ein Dutzend Schwarzer hinzu, packte die Gefangenen, zerrte sie einer der großen Holzhütten zu. Eine Tür öffnete sich …
Das Innere der Hütte war dunkel. Die Gefangenen wurden hineingestoßen, dann zu Boden geworfen, ihre Füße gefesselt … Da lagen sie nun, unfähig, sich zu rühren.
Ellen Crosterbroux sagte:
„Seltsam, eine ganz unbekannte Negersprache sprechen diese Schwarzen. Und doch müssen sie bereits mit Weißen in Berührung gekommen sein. Dafür zeugt der Bernsteinschmuck, den der Häuptling trägt. Und der wird doch nur in Deutschland angefertigt.“
„Ja,“ bestätigte der Radscha, „das ist richtig. Und noch etwas viel Auffallenderes spricht dafür, diese Holzhütte trägt – das sah ich im Vorbeigehen – moderne Vorlegeschlösser!“
„Die Rätsel Afrikas im Jahre 1924 …“ murmelte Hella Dörcksen, „was will man mit uns? Schlachten? Fressen?“
Mahadur Mirat schwieg. So ganz unmöglich war das nicht. Und daß man sie nicht einfach gleich erschlug, ließ allerhand böse Vermutungen aufkommen. Doch das einzige, das blieb, war: abwarten.
So schwiegen sie alle. Warteten. Lauschten. Von draußen her drangen ab und zu Rufe der Neger in ihrer seltsamen Sprache. – Plötzlich ein Geräusch über ihnen. Kratzen und Klopfen. Ganz leise. Was war das? Ein Tier? Doch nein, – zu regelmäßig klangen die Töne. Die Augen der Gefangenen hatten sich allmählich an die Dunkelheit im Innern der Hütte gewöhnt. Etwas Licht drang auch durch winzige Ritzen in der Außenwand.
Sie sahen umher, während das Klopfen in regelmäßigen Abständen fortdauerte. Da war an einer Seite eine schmale, primitive Leiter, oben in der Decke eine quadratische Öffnung; darüber eine Art Bodenraum.
Und immer wieder die gleichmäßigen Laute. War dort oben noch ein Gefangener? Oder –?
„Hallo –!“ rief Mahadur Mirat gedämpft. Da hörte das Klopfen sofort auf. Und dann – klang eine Stimme:
„Seid ihr unbewacht –?“
„Ja – ja!“ rief der Radscha zurück. Freudig klang es. Er hatte die Stimme, die von dort oben kam, erkannt. Da war – Henry Zillich!
Henry Zillich! Auch als Gefangener? Ja, so war es in der Tat! Der Farmer verständigte sich mit den anderen. Er konnte sich ebensowenig bewegen, wie sie, war wie sie mit Baststricken gefesselt.
Wie es gekommen war? Je nun, ganz einfach. Jetzt bekannte Zillich, daß es ihn gereizt hatte, nachzuspüren, woher der Rauchgeruch kam. Hatte nach seiner Ablösung durch Sambo heimlich das Lager verlassen und war auf einem kleinen Umweg durch Dickicht weitergeschlichen. War aber nicht weit gekommen. Plötzlich, lautlos, waren dunkle Schatten aufgetaucht, die sich auf ihn warfen. Einer hielt ihm den Mund zu, hinderte ihn am Rufen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit schleppten sie ihn fort. Hierher. Genau der gleiche Vorgang wie heute hatte sich abgespielt: die Versammlung der Schwarzer auf dem freien Platz in der Mitte des Dorfes, die „Besichtigung“ durch den Häuptling. Dann war er hier eingesperrt worden, – genau wie sie. Nur – eine „Etage“ höher. Mit Baststricken gefesselt. Wozu? Das wußte er so wenig, wie die anderen. Oder nein, doch nicht ganz. Er wußte etwas mehr, hatte etwas gesehen … Irgendein seltsames, niedriges Gerüst, das fast so aussah wie ein – Scheiterhaufen. Darüber aber hing, aus Holz geschnitzt eine abschreckend häßliche, große Fratze. Nichts Menschliches hatte die; glich vielmehr irgendeinem Sagenungeheuer.
Zillich hatte sich darüber schon so allerlei Gedanken gemacht. Holzstoß – Götzenfratze … und das Opfer? Nun, vielleicht – Gefangene … Der Farmer berichtete das alles. – Nette Aussichten! Aber was dagegen tun –? Zu fesseln verstanden die Schwarzen so vorzüglich, daß jeder Versuch, sich zu befreien, von vornherein aussichtslos war. Was blieb –? Abwarten!
Das taten sie denn auch. Schade, daß ihre Neger nicht mit in demselben Raum untergebracht worden waren. So konnte man sich mit ihnen nicht für den Fall der Möglichkeit eines „Aufstandes“ besprechen. Aber vielleicht kam der intelligente Sambo selbst auf eine gute Idee. Vorläufig freilich war wenig zu hoffen. –
Der Tag ging zu Ende.
Als auch die Nacht vorbei war, brachten Schwarze – wie das auch vorher schon mit Zillich geschehen war – den Gefangenen Essen. Der rechte Arm wurde ihnen freigemacht. Nach dem Essen fesselte man sie wieder wie vorher. Man mußte doch also Besonderes mit ihnen vorhaben. Verhungern ließ man sie nicht, erschlagen hatte man sie auch nicht; also … Was aber? Diese Ungewißheit war das Schlimmste. Denn, daß das, was die Schwarzen mit ihnen zu unternehmen gedachten, nicht besonders angenehm sein würde, war ihnen durchaus klar.
Doch auch dieser Tag verging, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Qualvoll war das Warten, die stete Anspannung. Draußen schien emsige Geschäftigkeit zu herrschen. Stimmengemurmel scholl unaufhörlich. Ab und zu hob sich ein Ruf aus der Flut des Gemurmels heraus – ohne daß sie ihn verstehen konnten. Und – während dieses ganzen Tages kümmerte sich niemand um die Gefangenen.
Endlich – es war abends und draußen bereits ganz dunkel – ward die Tür des Holzhauses aufgerissenen. Fackelschein erleuchtete den Raum. Herein trat ein Zug grotesk und bizarr herausgeputzter Schwarzer. Die Gesichter grell und scheußlich bemalt, die Gestalten mit allerhand Zierat behangen. Sie traten ein, einen monotonen Gesang murmelnd. Beugten sich zu den Gefangenen hinab, ihre Fußfesseln durchschneidend.
Danach stellten sie sie aufrecht hin. Inzwischen hatte eine andere Gruppe auch Henry Zillich aus der oberen „Etage“ geholt. Nun bildeten die Neger einer Art Zug, die Gefangenen in die Mitte nehmend. Doch bevor sie sich in Bewegung setzten, geschah noch etwas nicht gerade Angenehmes. Bereitgehaltene Binden wurden den Gefangenen über den Kopf geworfen.
Sie konnten nichts mehr sehen, wurden geführt. Oft stolperten sie, aber dessenungeachtet ging es weiter vorwärts. Zuerst, so glaubte Mahadur Mirat zu erkennen, über den freien Platz zwischen den beiden Holzhütten. Dann auf einem schmalen Pfad in den Urwald hinein. Das erkannte der Radscha an den Büschen und Baumästen, die nun rechts und links gestreift wurden.
Nicht weit. Dann wurde halt gemacht. Das stärker werdende Gemurmel ließ auf eine größere Ansammlung von Schwarzen schließen. Aber es entfernte sich, wurde leiser und leiser. Statt dessen schwoll ein monotoner Gesang an. Doch auch in einiger Entfernung. Dumpf klangen dazu rhythmische Schläge auf eine tief tönende Trommel. Doch alles fern und gedämpft. Ja, es schien sogar, als entfernten sich alle Geräusche immer weiter.
Plötzlich wurden den Gefangenen die Binden fortgezogen. Die Schwarzen, die das – hinterrücks – getan hatten, waren gleich darauf nicht mehr zu sehen. Geblendet von Helligkeit, die sie umgab, standen die vier da. Von Helligkeit! Und – von dem seltsamsten, phantastischsten Bild, das man sich denken kann.
Sie standen auf einem anderen freien Platz, der völlig kahl und eben war. Er erschien wie ein an drei Seiten geschlossener Talkessel. Die schräg ansteigenden Hänge ringsum waren nur dünn mit Bäumen bestanden. Dazwischen aber gähnten schwarze Erdlöcher – Höhlen, aus denen je ein ungeheuerlicher Kopf hervorlugte! Ähnlich der geschnitzten Holzfratze über dem Holzstoß, den Zillich bei seiner Gefangensetzung gesehen hatte, sahen diese Köpfe aus. Nur größer und – voll unheimlichen Lebens.
Ungeheuer lauerten, sich auf die Gefangenen zu stürzen. Mit starren Augen beobachteten sie reglos; fletschten spannenlange Zähne. Und diese ganze grausige Szenerie wurde beleuchtet durch düsteres Rot qualmender Fackeln, die in weitem Umkreis an Bäumen befestigt waren. Schauerlich …
Zillich erkannte als erster, um was es sich hier handelte.
„Die Drachen des Tenda Guru!“ schrie er. Die anderen verstanden ihn nicht. Starrten nur gespannt auf das grausige Bild in diesem Talkessel. Was würde geschehen –? Keiner der Schwarzen war zu sehen. Aus der Ferne nur klangen Gesang und Trommeln. Es war, als sollten sich jene Geschöpfe aus den Höhlen auf die Gefangenen stürzen, sie zu zerfleischen. Doch nein, dergleichen lebte doch nicht, solche Ungeheuer konnten ja keine Lebewesen sein! Aber – wer kannte denn heute selbst alle Geheimnisse Innerafrikas?
Der Anblick der ungeheuren Köpfe war wahrhaftig schaurig. Unheimlich starr schienen sie und doch voll grauenhaften Lebens. Bewegten sie nicht die Augen in den tiefen, schwarzen Augenhöhlen. Blickten sie nicht bösartig auf die winzigen Menschen da unten, die hilflos, wehrlos gefesselt standen? Oder – war es nur das flackernde Fackellicht, daß die Gesichter der Ungetüme so unheimlich lebendig erscheinen ließ?
Kein Mensch ringsum. Nur der ferne Gesang, das dumpfe Geräusch der Trommeln, das Fackellicht, die Ungeheuer … Kein Laut kam von den Lippen der Gefangenen. Der Anblick, die unheimliche Stimmung, die über der Umgebung lag, schlug sie in Bann. Gewiß, sie hatten den Farmer wiedergefunden, waren mit ihrem Schicksalsgenossen wieder vereint. Doch nur, um zusammen mit ihm Opfer dieser Bestien zu werden –?
Die Köpfe der Ungeheuer rührten sich nicht. Die Drachen des Tenda Guru, hatte Zillich gesagt. Weiter nichts. Er wußte … Doch niemand fragte, niemand wagte zu fragen.
Kam der Gesang nicht näher –? Es war so. Langsam näherte er sich, wurden die Trommelklänge lauter. Und dann – betrat ein seltsamer Zug den Platz. Eine Schar Neger. Sie trugen Holzbalken, schichteten sie auf. Zillich erkannte, das würde der „Scheiterhaufen“ werden, den er schon an anderer Stelle gesehen. Über dem die hölzerne Fratze gehangen hatte. Und das – bestätigte seine Gedanken, seine Vermutung. Die Drachen des Tenda Guru …
Schädel vorsintflutlicher Riesentiere waren es, die dort in den Höhlen lagen. Die Neger fanden sie, wußten nichts von ihrer Herkunft, fürchteten sie, – verehrten sie infolgedessen als Götter und brachten ihnen Opfer. Menschenopfer … Dazu der Holzstoß mit dem Götzenbild, dazu die so sorgsam gefütterten Gefangenen! Bis heute, – bis zu dem Tag des Opferfestes!
Auch den anderen wurden die Zusammenhänge allmählich klar. Sie sahen: hier drohte Furchtbares; hier nahte das Ende. Welch schreckliches Ende!
Schon füllte sich der Platz mit Schwarzen. Nur die Aussicht auf die „Drachenköpfe“ blieb offen. Der Holzstoß war errichtet. Die Gefangenen wurden im Halbkreis umringt, gepackt, emporgehoben und aufrecht auf den Holzstoß gesetzt.
Dann begannen die Schwarzen aufs neue ihren monotonen Singsang. Lauter jetzt. Und lauter dröhnten auch die dumpfen Trommeln. Zwanzig nackte, schrecklich bemalte Gestalten umtanzten den Scheiterhaufen. Langsam erst, dann schneller und schneller; bis zu rasendem Wirbel. Plötzlich standen sie auf einen Schrei des Häuptlings mit einem Schlag still. Der Gesang schwieg, die Trommeln schwiegen. Totenstille herrschte ringsum.
Dann – Worte … Der Häuptling sprach sie. Dicht vor dem Holzstoß. Die Gefangenen sahen, daß er die Augen dabei geschlossen hielt. Lang war die Rede des Häuptlings …
„Geliebte, wir sterben zusammen!“ sagte Mahadur Mirat. Hella nickte, sah ihn mit einem Blick voll grenzenloser Liebe an; erwiderte fest:
„Ja, Liebster, zusammen!“ –
Der Häuptling hielt mit einem lauten Ruf inne. Ein anderer Schwarzer trat vor, reichte ihm eine hell lodernde Fackel. Trat zurück. Der Häuptling näherte sich mit der Flamme dem Holzstoß, während der Gesang ringsum wieder anschwoll. Jetzt hob er die Fackel, um sie in den Holzstoß zu schleudern …
Plötzlich krachte ein Schuß. Der Häuptling ließ die Fackel fallen, warf die Arme hoch, stürzte zu Boden … und dann erhob sich ringsum knatterndes Gewehrfeuer. Zwei, drei Feuersäulen fuhren im Dickicht zischend empor. Der Schwarzen bemächtigte sich eine ungeheure Panik. Schreiend liefen sie durcheinander, flohen, den Körper des Häuptlings liegen lassend. Verschwanden hinter Hügeln im Dickicht.
Durch dies Chaos aber stürzte ein Mann hervor, ein Weißer. Rannte zum Holzstoß, durchschnitt rasch die Fesseln der Gefangenen. Zog sie mit sich …
Templing …
Templing war auf der kleinen Lichtung von seinem Maultier gestiegen. Er hatte auf dem Boden etwas entdeckt, das seine Bestürzung hervorrief.
Spuren –! Darunter solche von weiblicher Fußbekleidung. Unverkennbar die Spuren Mahadur Mirats und seiner beiden Begleiterinnen. Daneben viele Spuren nackter Füße. Der Boden zerwühlt. Unverkennbar ebenso, daß hier ein Kampf stattgefunden hatte. Und auch der Ausgang des Kampfes schien Templing nicht zweifelhaft. Er war für die Weißen ungünstig ausgefallen. Sie waren gefangen worden.
Templing folgte den Spuren. Das war nicht schwer. Und so langte er nach einiger Zeit bei jenem Nergerdorf an. Schlich um es herum, hütete sich mit größter Vorsicht, sich sehen zu lassen. Verbarg sich, lauschte und spähte so gut es irgend ging. Und entwickelte erstaunliches Geschick dabei.
Er erfuhr so allerhand …
Einmal wäre er fast von einigen Schwarzen, die das Dickicht durchstreiften, überrascht worden. Mit knapper Not gelang es ihm, sich ihren Blicken zu entziehen. Nur, daß hinterdrein ihn dabei ein anderes kleines Mißgeschick traf. Der Boden gab plötzlich unter ihm nach. Sank rasch ein. Templing stürzte, rutschte schneller und schneller, sauste einige Meter hinab und landete durchaus nicht unsanft auf einem Haufen Sand in einer Höhle.
Diese Höhle war nicht dunkel! Irgendwoher bekam sie Licht. Tageslicht schien matt herein. Templing lauschte. Nichts regte sich hier. Er blickte um sich. Ah, dorther kam das Licht. Da schien der Ausgang der Höhle zu sein. Davor aber lag etwas, etwas ungeschlacht Großes. Templing trat näher. Es war ein riesenhafter Tierschädel, wohl zwei Meter lang. Mit seinen leeren Augenhöhlen starrte dies unheimliche Tiergesicht in ein kleines, lichtes Tal.
Der Kopf eines Vertreters einer lange ausgestorbenen Tiergattung, eines Sauriers, mußte das sein. Dahinter in der Höhle lagen Knochen. Templing besah sie genau. Das waren keine plumpen Saurierknochen, überhaupt keine Knochen von Tieren, – das waren – Menschenknochen! Und die Körper dieser Menschen mußten – verbrannt worden sein!
Das alles paßte gut zu dem, was Templing bereits zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte. Die Neger sahen diesen Saurierschädel – vielleicht waren ihrer noch mehr in der Gegend – als Götzen an und opferten ihm – Menschen. Und das dürfte dann wohl auch das Schicksal des Radschas und seiner Begleiterinnen sein, dachte Templing. Er blieb in der Höhle, hielt sich verborgen, schmiedete Pläne. Und da stellte sich heraus, daß er eigentlich ein kluger Kopf war.
Der Schädel dieses Sauriers, überlegte er, sieht auf das kleine Tal hinab. Wahrscheinlich benutzen die Schwarzen diese Lichtung zur Abhaltung ihrer Zeremonien, – ihrer Opferungen. Dafür sprach auch die Aufbewahrung der Knochen ihrer Opfer in dieser Höhle.
Darauf nun baute Templing einen kühnen Plan auf. Er wollte hier lauern, bis die Schwarzen mit der Opferzeremonie begannen, und dann versuchen, die Gefangenen zu befreien. Ein kühner und nur auf Wahrscheinlichkeitskombinationen aufgebauter Plan.
Nun begann Templing eine emsige Tätigkeit. Rings um das kleine Tal schlich er im Dickicht, immer auf der Hut, immer in Gefahr, entdeckt zu werden. Aber es schien, als war diese Gefahr nicht allzu groß. Das Dorf lag abseits, und kein Neger war hier je zu erblicken; sie schienen diese Stätte mit abergläubischer Furcht zu meiden.
Templing hatte für seinen Revolver reichlich Munition bei sich. Darauf stützte sich sein Plan hauptsächlich. Er öffnete eine Anzahl Patronen, schüttete das Pulver in einer dünnen Reihe auf den Boden, legte darauf von Zeit zu Zeit je eine volle Patrone. Zuletzt schüttete er an drei verschiedenen Stellen noch Häufchen losen Pulvers hin.
Seine Kalkulation war die: wenn er das ausgestreute Pulver an einer Stelle anzündete, mußte die Flamme blitzschnell den Pulverfaden entlanglaufen, die darauf ausgelegten Patronen zur Explosion bringen. Die größeren Pulverhäufchen würden dabei große zischende Flammen bilden. Zwar, gefährlich konnte dieser Vorgang den Schwarzen nicht werden. Doch das war auch nicht Templings Absicht. Nur schrecken wollte er sie. Ertönten mehrere Schüsse hintereinander, so mußten die ahnungslosen Schwarzen doch annehmen, eine größere Anzahl Gegner sei da. –
Es war gelungen. Unbemerkt hatte Templing die Pulvermine legen, die Patronen verteilen können. Nun zog er sich wieder in die Höhle hinter dem Saurierschädel zurück und wartete.
Freilich, das verhehlte er sich nicht, daß sein ganzer Plan im Grunde doch recht zweifelhaft blieb. Seine Kombinationen brauchten nur einmal nicht zuzutreffen, dann war alles hinfällig geworden. Oder es konnte einen plötzlichen Regenguß geben, der das ausgestreute Pulver verdarb.
Nun, keine der Befürchtungen trat ein. Im Gegenteil. Das Schicksal meinte es gut.
Der Tag ging zur Neige. Templing lauerte in seinem Versteck. Vor Entdeckung durch die Schwarzen war er sicher. Hierher kam keiner. Kurz nach Sonnenuntergang aber machte sich eine gewisse Unruhe bemerkbar. Und vielleicht eine Stunde später begann das, was der Leser bereits im vorigen Kapitel erfahren hat.
Templings Spannung war aufs höchste gestiegen. Von einem Versteck aus konnte er den Platz, die kleine Lichtung völlig überblicken. Er sah den Aufzug der Schwarzen, sah die Gefangenen gefesselt im Fackelschein dastehen. Beobachtete den Bau des Holzstoßes, ahnte, was weiter geschehen sollte. Sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf vor Erregung.
Wie wenn sein kühner Plan fehlschlug? Alles war dann vorbei und verloren. Nicht nur für ihn – auch für die anderen. Er fieberte. Dennoch – es mußte auf jeden Fall gewagt werden. –
Jetzt hielt der Negerkönig seine Ansprache.
Jetzt gab er den Befehl … ein Schwarzer reichte ihm die Fackel … Templing hielt alles bereit. Der Häuptling hob die Fackel … Da schoß Templing. Und in derselben Sekunde fast zündete er das Pulver an.
Er hatte gut getroffen. Der Negerkönig stürzte. Und dann – die Flamme war enteilt, den Pulverpfad entlang – dann krachte es. Sechs –, acht –, zehnmal kurz hintereinander. Eine ganze Salve. Zwei, drei Feuersäulen zischten empor. Verwirrung unter den Negern. Panik, Geschrei, Flucht. Kopflos von Schrecken getrieben.
Und Templing – stürzte den Hügel hinab, hinter den Fliehenden drein. Auf den Holzstoß zu, der doch schon Feuer gefangen hatte von der Fackel, die der stürzende Negerkönig fallen ließ … Drei, vier rasche Schnitte … die Gefangenen waren frei –!