Sie sind hier

Das Oberhaupt des Egbo-Bundes

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Oberhaupt des Egbo-Bundes.

 

W. Belka.

 

Das Oberhaupt des Egbo-Bundes.

Über dem Atlantischen Ozean stieg an einem klaren Augustmorgen des Jahres 1915 die Sonne in strahlender Pracht empor, und die Mannschaft des deutschen U-Bootes, das in einer einsamen Bucht eines der südlichsten Eilande der Hebriden, jener Schottland westlich vorgelagerten Inselgruppe, einen vorläufigen Schlupfwinkel gefunden hatte, begrüßte ihr Erscheinen mit freudigen Zurufen.

Das vollständig aufgetauchte U-Boot war mit zwei Trossen am felsigen Ufer festgelegt. Auf seinem Deck tummelten sich trotz der frühen Stunde die Matrosen umher, wuschen ihr Unterzeug oder waren sonst irgendwie beschäftigt.

Jetzt trat auch der Kommandant aus der Luke des Kommandoturmes heraus, rief seinen Leuten ein frisches „Morgen, Kinder!“ zu und setzte sich dann auf einen Klappstuhl, den ihm einer der Matrosen zureichte. Gleich darauf zeigte sich hinter einer Anhöhe nach der offenen See zu ein Mann, der mit einer roten Flagge einige Signale gab.

Mit Blitzesschnelle verwandelte sich jetzt das Bild behaglicher Ruhe in eine wildbewegte Szene. Kommandorufe ertönten, Pfeifen schrillten unter Deck; eiligst verschwanden die Leute im Innern des stählernen Riesenfisches, dessen Trossen sofort eingezogen wurden. Jetzt kam auch der Posten, der soeben das Nahen eines verdächtigen Fahrzeuges durch die Winkerflagge angezeigt hatte, keuchend angelaufen, sprang über die nach dem Ufer hinübergelegte Planke und meldete sich bei dem Kommandanten zurück.

„Hoffentlich kein unnötiger Alarm, Prechler“, meinte der Kapitänleutnant. „Schnell – erzählen Sie näheres.“

Prechler, der sein Berlinertum trotz aller Mühe in seiner Aussprache nie ganz verleugnen konnte, gehörte, obwohl er erst bei Kriegsbeginn als Freiwilliger in die Marine eingetreten war, zu den aufgewecktesten und zuverlässigsten Leuten des U-Bootes. Freilich – tüchtige Menschen waren es ja sämtlich, die für den Dienst bei der modernsten Waffe ausgewählt wurden, alles kräftige Gestalten mit energischen, schnelle Auffassungsgabe verratenden Gesichtern. Aber Fritz Prechler war den anderen Kameraden doch in vielen Stücken über. Vor dem Weltkrieg war er als Kunstschlosser in einer Fabrik im Norden Berlins tätig gewesen, und gerade diese Vorbildung hatte ihm die Abkommandierung zur Ausbildung für den U-Bootdienst eingetragen.

Niemand besaß so scharfe Augen wie er, niemand wußte mit den Maschinen der Tauchboote so gut Bescheid, niemand verstand dem Kommandanten jeden Befehl so wie er förmlich vom Gesicht abzulesen. Dazu kam noch ein unverwüstlicher Humor und ein Mundwerk, das sich gern hören ließ, aber stets vernünftiges vorbrachte und sehr kurz und treffend die Worte wählen konnte, wenn es auf eine schnelle, wichtige Meldung ankam.

So auch jetzt. Wenige Sätze nur, und der Kapitänleutnant wußte Bescheid.

„Muß ja wirklich ein merkwürdiges Ding von Fahrzeug sein, das hier auf unsere Bucht zusteuert“, meinte der Kommandant. „Na – die Hauptsache bleibt, daß das Ding so klein ist, daß es uns kaum etwas anhaben kann. Vorsicht ist in unserer Lage freilich stets geboten, da gebe ich Ihnen ganz recht, Prechler.“

Abermals einige Befehle, einige schrillende Klingelzeichen der Maschinentelegraphen, und das U-Boot verließ mit langsam sich steigernder Geschwindigkeit die Bucht und suchte das offene Meer zu erreichen. Alle Luken außer der des Kommandoturmes waren geschlossen. Wurde diese noch verschraubt, so konnte der Stahlfisch sofort unter Wasser verschwinden.

Auf dem Kommandoturm standen nur noch der Kapitänleutnant und Fritz Prechler, jeder mit einem Fernglase bewaffnet. Sonst war das Deck leer.

Jetzt bog das U-Boot um die letzte Krümmung, jetzt lag die weite See vor ihm. In weiter Ferne waren die weißen Segel einiger Frachtschiffe wie helle Punkte auf der endlosen, blaugrünen Fläche zu bemerken. Aber noch etwas belebte das Meer: ein wie Mattsilber schimmerndes Fahrzeug ohne Schornstein, das mit schier unheimlicher Geschwindigkeit auf die Küste zulief.

Der Kapitänleutnant hatte das seltsame Ding von Boot, das vielleicht noch drei Seemeilen (eine Seemeile gleich 1852 Meter) entfernt war, eine Weile mißtrauisch durch das scharfe Glas gemustert.

„Ist eine Flagge zu erkennen, Prechler?“ fragte er jetzt.

Der Berliner zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann erklärte er hastig:

„Flagge vorhanden am Heck. Farben Schwarz-Weiß-Rot.“

Der Kommandant blieb trotzdem argwöhnisch, rief einen Befehl durch die Luke in den Turm hinunter und hob dann wieder das Fernrohr an die Augen.

Die beiden Geschütze des U-Boots waren in wenigen Minuten auf Deck aufgestellt, geladen und auf das fremde Fahrzeug gerichtet, das inzwischen seinen Kurs etwas geändert hatte und nun in weitem Bogen dem deutschen Kriegsschiff, welches bisher seine Flagge nicht gezeigt hatte, auswich.

Durch die Ferngläser waren nunmehr alle Einzelheiten der Bauart deutlich zu unterscheiden. Es war ein so eigenartiges Ding von Luftschraubenboot, wie selbst der Kapitänleutnant es noch nie gesehen hatte. Vier Propeller, am Bug und Heck zu beiden Seiten angebracht, ragten ein Stück seitwärts über die Bordränder hinaus. Ihr Surren war jetzt schon zu vernehmen, ebenso das scharfe Knattern von Motoren. Vorn und hinten lagen Kajütaufbauten, deren Fenster im Sonnenlicht schillerten und blitzten. Aus dem stark gewölbten Deck reckten sich zwei niedrige Masten empor, die nur wenig Tauwerk zu haben schienen. Zwischen ihnen glaubte der Kommandant des U-Bootes ein Revolvergeschütz auf einem Drehgestell und zwei Maschinengewehre zu bemerken. Von der Besatzung ließ sich niemand blicken. Freilich – viel Leute konnte das etwa 24 Meter lange, der Farbe nach aus Aluminiumblech hergestellte Boot kaum an Bord haben, das jetzt um den weit langsamer fahrenden stählernen Fisch einen immer enger werdenden Kreis beschrieb.

Dieses gegenseitige Beobachten machte den Kapitänleutnant auf die Dauer ungeduldig. War jenes Fahrzeug ein Feind, so stellte es keinen zu verachtenden Gegner bei seiner großen Geschwindigkeit dar. Er gab daher Prechler den Befehl, mit Winkerflaggen ein Zeichen hinüber zu signalisieren, welches nur einem deutschen Schiffe bekannt sein und von einem solchen richtig erwidert werden konnte.

Die Antwort löste die letzten Zweifel. Auf Deck des Luftschraubenbootes war ein Mann erschienen, der die Signale zurückgab. Wenige Minuten später lagen die beiden Schiffe dicht nebeneinander, und gleich darauf meldete sich ein älterer, die Abzeichen eines Maschinistenmaates tragender Angehöriger der kaiserlichen Marine in dienstlich strammer Haltung bei dem Offizier.

„Maschinistenmaat Hausen, zur Zeit Führer der „Deutschland“, auf einer Patrouillenfahrt begriffen“, sagte er mit so triumphierend strahlendem Gesicht, daß der Kapitänleutnant unwillkürlich lächeln mußte.

Da hier an dieser Stelle so nahe der feindlichen Küste nicht der Ort zu langen Mitteilungen war, liefen beide Fahrzeuge erst mit südlichem Kurse in die offene See hinaus, wobei es sich wieder zeigte, welch bedeutende Schnelligkeit die „Deutschland“ zu entwickeln vermochte. Dann wurden die Boote bei dem windstillen Wetter nebeneinander vertäut, worauf der Maschinistenmaat dem Kapitänleutnant in Gegenwart der halben Besatzung des Stahlfisches eingehend Bericht über seine und seiner Gefährten merkwürdigen Erlebnisse erstattete. Inzwischen waren an Deck der „Deutschland“ noch zwei weitere Leute erschienen, ein Obermatrose und ein vielleicht sechzehnjähriger junger, kräftiger Bursche mit von der Sonne tiefgebräuntem Gesicht. Ersterer hieß Johannes Bölling, letzterer Erwin Schrader. Außerdem tummelte sich aber auch ein großer, schöner Wolfshund munter auf dem Aluminiumboot umher.

Aus Hausens Erzählung ging folgendes hervor.

Er und der Obermatrose Bölling hatten zu der Besatzung des deutschen Hilfskreuzers „Altona“ gehört, der von den Portugiesen im Mai 1915, nachdem er sich in den Hafen von Rosario auf der nördlichsten der Azoren-Inseln Korvo vor feindlicher Übermacht hatte flüchten müssen, entwaffnet worden war. Hausen und Bölling gelang es dann zu entfliehen. In einem kleinen, offenen Boot kamen sie schließlich auf einem unbewohnten Eiland nördlich der Azoren an, wo sie den hier seit einem Jahre als Robinson lebenden jungen Landsmann Erwin Schrader antrafen, der auf recht ungewöhnliche Weise mit Hilfe seines treuen Wolfshundes Hasso dorthin gelangt war und auf seiner Insel ein vom Sturm entführtes englisches Luftschiff namens „Zyklop“ gefunden hatte, dessen Aluminiumgondel, die gleichzeitig als Boot eingerichtet war, dann von den drei Deutschen zu einem Luftschraubenboot mit Hilfe der Propeller und der Motoren des Luftschiffes umgebaut wurde. (Die Abenteuer Erwin Schraders und seines braven Hasso sind in einem früheren Bändchen dieser Sammlung unter dem Titel „Der Zyklop auf der Katzeninsel“ geschildert worden.) Das von Hausen „Deutschland“ getaufte Fahrzeug hatte dann auf eigene Faust einen Monat Krieg gegen feindliche Handelsschiffe geführt, manchen Erfolg errungen und sich stets alles Nötige von diesen später von ihm versenkten Fahrzeugen besorgt. Jetzt beabsichtigte Hausen[1], nördlich der Hebriden der englischen Schiffahrt nach Möglichkeit Abbruch zu tun.

Mit fast ungläubigem Staunen hatten der Kapitänleutnant und seine wackeren Blaujacken diesen abenteuerlichen Bericht mitangehört. Das war echter deutscher Seemannsgeist, der sich in den Taten der drei Deutschland-Leute offenbarte! In herzlicher Bewunderung schüttelten jetzt die Offiziere und Matrosen des U-Bootes die Hände ihrer beiden Kameraden und des kaum dem Knabenalter entwachsenen jungen Schrader, ebenso wie auch Hasso manches Schmeichelwort zu hören bekam.

Hausen sprach dann die Bitte aus, der Kapitänleutnant möchte ihm für die „Deutschland“ wenigstens noch einen Mann überlassen, da das Luftschraubenboot mit nur drei Leuten Besatzung zu schwer zu bedienen sei. Ferner wollte er auch noch eine Bescheinigung haben, daß die „Deutschland“ ein deutsches Kriegsfahrzeug sei, damit er und die Seinen nicht etwa, falls sie einmal in Gefangenschaft gerieten, als Piraten behandelt würden.

Die Wahl des Kommandanten des U-Bootes fiel auf Prechler. Er gab diesen zwar höchst ungern ab, sah aber ein, daß das Luftschraubenboot nur einen besonders tüchtigen und mit Motoren vertrauten Menschen brauchen könne. Der Berliner war über diese Abkommandierung außerordentlich erfreut. In kurzem hatte er seine Sachen an Bord seines neuen Schiffes gebracht. Währenddessen stellte der Kapitänleutnant dem Maschinistenmaat die gewünschten Papiere aus, so daß, als jetzt am südlichen Horizont vier sich schnell nähernde Rauchwolken erschienen, die auf das Nahen feindlicher Torpedoboote mit ziemlicher Sicherheit hindeuteten, der stählerne Fisch alsbald tauchen und auf diese Weise verschwinden konnte.

Der Abschied zwischen der Besatzung der beiden Fahrzeuge, die ein glücklicher Zufall hier so nahe der englischen Küste zusammengeführt hatte, war von jener warmen, kameradschaftlichen Herzlichkeit, wie sie besondere Umstände schnell entstehen lassen.

Dann befand die „Deutschland“ sich wieder allein auf dem weiten Ozean.

* * *

Zwei Monate später.

Der kleine englische Frachtdampfer, der am Morgen den Hafen von Freetown an der westafrikanischen Sierra Leone-Küste verlassen hatte, schob sich mit seiner altersschwachen Maschine durch die mäßig bewegte See nach Norden zu. Die Abenddämmerung war bereits angebrochen, als die Wache das Erscheinen eines Bootes von Backbordseite her meldete, das etwa eine Seemeile voraus den Kurs des „King Edward“ kreuzen mußte.

Der Dampfer setzte ruhig seine Fahrt fort. Hatte doch ein Blick durch das Fernrohr den Kapitän belehrt, daß das fremde Fahrzeug nur von geringer Größe und merkwürdigerweise mit Luftschrauben versehen war. Jedenfalls konnte es keins von den verd… deutschen U Booten sein, die freilich zumeist im nördlichen Teile des Atlantik um England herum überall das Meer unsicher machten.

Eine Viertelstunde verging. Dann hatten die beiden Schiffe sich einander bis auf einige 500 Meter genähert. Der englische Kapitän war etwas unruhig geworden, da das Propellerboot noch immer keine Flagge zeigte. Plötzlich donnerte jetzt über die See der scharfe, harte Knall eines Kanonenschusses hin, und das Geschoß des Revolvergeschützes warf keine fünfzig Meter vor dem Bug des Frachtdampfes eine kleine Fontäne hoch. Dieses Zeichen zum Stoppen sah ernst genug aus, um den Kapitän sofort nach dem Hebel des Maschinentelegraphen greifen und diesen auf Halt stellen zu lassen. Kaum vier Minuten später war das feindliche Fahrzeug, das nun am Heck die deutsche Flagge lustig flattern ließ, neben dem Engländer, und durch das Sprachrohr kam der kurze Befehl hinüber, augenblicklich das Schiff in den Rettungsbooten zu verlassen. Als die Besatzung des „King Edward“ hiermit in der Hoffnung etwas zögerte, es könnte vielleicht einer der in Freetown stationierten kleinen Kreuzer zufällig als Retter in der Not auftauchen, belehrte ein zweiter, das Vorschiff durchschlagender Schuß den Kapitän, daß mit den Leuten des Propellerbootes nicht zu spaßen sei. Sehr eilig wurde der Dampfer jetzt geräumt, den dann Prechler und der Obermatrose Bölling, ausgerüstet mit zwei Dynamitpatronen, erstiegen, um ihn nach Besichtigung der Ladung zu versenken. Von dieser fanden sie doch manches noch mitnehmenswert. Aber gerade als die vier Gefährten, die seit jenem Zusammentreffen mit dem deutschen U-Boot schon so manchen schwer beladenen Feind in die Tiefe des Atlantik geschickt hatten, eiligst die ausgewählten Frachtstücke auf ihr Propellerfahrzeug hinüberschafften, wurden am südlichen Horizont die sich zu einer dicken Rauchwolke vereinigenden Qualmfahnen eines ganzen Geschwaders sichtbar, in dem der Führer der „Deutschland“ bald durch das Glas sechs von einigen Torpedozerstörern begleitete Transportschiffe feststellte.

Nun war es höchste Zeit, dieser ungemütlichen Gegend den Rücken zu kehren, besonders da die Rettungsboote des „King Edward“ inzwischen Segel gesetzt hatten, mit ziemlicher Schnelligkeit dem Geschwader entgegenfuhren und durch Winken mit einem an ein Ruder gebundenen Tuche allerlei Zeichen gaben, die trotz der weiten Entfernung und der wachsenden Dämmerung richtig erkannt sein mußten, da gleich darauf drei der Zerstörer unter Volldampf herbeigejagt kamen.

Das Propellerboot lief jetzt mit nördlichem Kurs davon, ohne zunächst seine Höchstgeschwindigkeit zu entfalten. Der alte Hausen wußte eben recht gut, daß gegen die 37 bis 38 Knoten (Im Seewesen heißen Knoten die an der Logleine befestigten Marken, nach denen die Geschwindigkeit des Schiffes in Seemeilen angegeben wird. Diese Einheit auf der Logleine, ein Knoten, ist 6,84 Meter lang. „14 Knoten laufen“ heißt: in l Stunde 14 Seemeilen zurücklegen) die die „Deutschland“ nötigenfalls leisten konnte, kein anderes Schiff aufkam. Verdankte sie es doch hauptsächlich dieser lediglich auf ihre vier Luftschrauben zurückzuführenden Schnelligkeit, daß sie bisher ohne jedes Mißgeschick den Kaperkrieg auf eigene Faust hatte durchsetzen können.

Heute sollte freilich das wackere Fahrzeug, diese ureigenste Erfindung Hausens, nicht so leichten Kaufes davonkommen.

Wahrscheinlich war von dem Geschwader aus durch drahtlose Telegraphie eine nördlich unter dem Horizont dampfende zweite Transportflotte um Unterstützung bei der Jagd auf den einzelnen Feind angerufen worden. Mit einiger Unruhe bemerkte der Maschinistenmaat jetzt nämlich drei weitere dünne Rauchfahnen, die vor der „Deutschland“ in den leichten Nebelschwaden des nahenden Abends sichtbar wurden. Gleich darauf knatterten die Motoren, daß an Deck des Aluminiumbootes kein Wort mehr zu verstehen war. Hausen ließ scharf nach Westen steuern, um nach dorthin den schon bedenklich engen Kreis der Gegner zu durchbrechen. Dies wäre auch geglückt, wenn nicht im entscheidenden Moment eines der Kettenräder des linken Heckpropellers klirrend gesprungen sein würde. Da die beiden hinteren Luftschrauben durch denselben Motor angetrieben wurden, waren sie jetzt auch beide gleichzeitig unbrauchbar geworden. Immerhin machte die „Deutschland“ noch ihre 22 Knoten. Bevor jedoch Prechler und Bölling das Kettenrad gegen ein Reserverad ausgetauscht hatten, war von dem nächsten der Zerstörer bereits das Feuer aus der ganzen Bestückung (Gesamtheit der Schiffsartillerie) eröffnet worden, und gleich die vierte Granate riß der „Deutschland“ ein Stück des Decks zwischen den beiden Stahlmasten weg und verwundete durch ihre Splitter mit Ausnahme Erwin Schraders die ganze kleine Besatzung so schwer, daß der jüngste der vier Leute der „Deutschland“, der das Steuerruder bediente, jetzt ganz allein auf seine Kräfte und seine Umsicht angewiesen war.

Den Verletzten zu Hilfe zu kommen war unmöglich. Er durfte sich durch Hausens qualvolles Stöhnen und Böllings leises Wimmern nicht verleiten lassen, seinen Platz am Steuer auch nur einen Augenblick aufzugeben. Winkte doch vor ihm eine rettende Nebelwand, die ihn den Feinden entzog, wenn er sie nur noch rechtzeitig erreichte. Und es gelang wirklich. Die Schatten der Nacht, die sich immer dunkler herabsenkten, erschwerten dem Torpedozerstörer das Zielen. Und kaum war die „Deutschland“ in den grauen, undurchsichtigen Massen verschwunden, als das Geschützfeuer auch verstummte. Um nun dem Feinde durch das Geräusch der Propeller nicht zu verraten, wo das Boot sich befand, stellte Erwin Schrader sehr bald den vorderen Motor gleichfalls ab, nachdem er noch eine Strecke scharf nach Süden abgeschwenkt war.

Die Dunkelheit nahm zu. Die Zerstörer suchten noch stundenlang nach dem Flüchtling, den sie zu gerne abgefaßt hätten, da er kurz vorher den mit Palmölfässern beladenen „King Edward“ versenkt hatte. Ihre Mühe war umsonst. Der Nebel schützte das kleine, jetzt mit bewegungslosen Propellern dahintreibende Aluminiumboot. Inzwischen hatte der jüngste Matrose der „Deutschland“ so gut er es verstand die Verwundeten verbunden und in der Heckkajüte untergebracht. Am glimpflichsten war Fritz Prechler weggekommen, dem ein Geschoßstück nur den Oberschenkel aufgerissen hatte, während Hausen und Bölling in Folge starken Blutverlustes aus ihren Brustwunden sehr bald das Bewußtsein verloren und es bisher auch nicht wiedererlangt hatten.

Gegen Mitternacht wagte Erwin Schrader es dann, den vorderen Motor wieder anzulassen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Zerstörer nicht mehr in der Nähe waren. Nach dem Kompaß steuerte er nunmehr nordöstlichen Kurs, um eine der zu Portugiesisch-Guinea gehörigen Inseln der Bissagos-Gruppe schleunigst zu erreichen, da er allein nicht fähig war, auf hoher See gleichzeitig sich um die Verwundeten zu bemühen und das Boot zu bedienen.

In einer Bucht eines Eilandes der Bissagos-Gruppe hatte die „Deutschland“ vor kurzem schon einmal kurze Zeit geweilt, um das Abflauen eines gefährlichen Orkanes abzuwarten. Gegen Mittag des nächsten Tages – der Nebel war inzwischen eher noch dichter geworden – vernahm Erwin vor sich das starke Geräusch einer Brandung. Er wußte nur zu gut, daß die Bissagos-Inseln, die, da vulkanischen Ursprungs, von dichten Klippen- und Riffreihen umgeben werden, gerade von Südosten her kaum zugänglich sind. Trotzdem kreuzte er an dieser Stelle noch zwei volle Stunden in der Hoffnung, der Nebel würde von dem merklich stärker werdenden Wind vertrieben werden. Von einer anderen Seite eine der Inseln anzulaufen, erschien ihm nicht ratsam. Nur zu leicht konnte man das Boot vom Strande der zum Teil bewohnten Eilande bemerken und es an die Engländer verraten.

Endlich lichteten sich die Nebelmassen. Kaum vermochte er die Brandungsstreifen genügend zu übersehen, als er auch schon in eine scheinbar klippenfreie Einfahrt in der Barriere der Untiefen einlenkte. Doch das Geschick war der „Deutschland“ jetzt abermals nicht günstig gesinnt. Fortgerissen von einer starken Strömung, fuhr sie sich mit dumpfem Krach auf einem Riff fest, das sich wie eine Riesennadel durch die Planken bohrte und das Boot unbeweglich festhielt. Schwere Brecher gingen über das Deck hin, und eine besonders hohe Woge, die durch den zu einem wirklichen Sturm mittlerweile angewachsenen Wind aufgetürmt worden war, nahm auch den braven Hasso mit.

Erwin Schrader mußte untätig zuschauen, wie sein lieber vierbeiniger Gefährte mit der Brandung schwer kämpfte. Ein Angstschrei, der sich dem entsetzten jungen Matrosen der gescheiterten „Deutschland“ hatte über die Lippen drängen wollen, blieb ihm vor namenlosem Weh um den Verlust des treuen Tieres in der Kehle stecken. Daß Hasso wohlbehalten die Insel drüben erreichte, erschien ja bei dem wütenden Toben der Brandung ausgeschlossen.

Jetzt drängte sich noch ein letzter der zerflatternden Nebelstreifen zwischen die Küste und die Klippenreihe und entzog auch den in dem Gischt hin und wieder auftauchenden Kopf des Wolfshundes den Augen des wie erstarrt dastehenden Erwin. Doch der Gedanke, daß noch die Rettung von drei Menschenleben seine dringende Pflicht war, ließ den einzigen Unverwundeten der „Deutschland“ sich schnell aufraffen. Seit Stunden hatte ihn die Führung des Aluminiumbootes an Deck festgehalten. Als er jetzt die Kajüte betrat, mußte er zu seinem größten Schreck und Schmerz feststellen, daß Hausen und Bölling inzwischen in ein besseres Jenseits hinübergeschlummert waren. Dieser neue Schlag machte Erwin völlig mutlos, zumal auch bei Fritz Prechler, dem allzeit lustigen Berliner, sich ein schweres Wundfieber eingestellt hatte.

Die Lage des jungen Menschen, der auf einem von gierigen Wogen von Zeit zu Zeit überfluteten Boot sich allein mit zwei Toten und einem wild phantasierenden Schwerverletzten befand, konnte kaum trauriger und verhängnisvoller sein. Wollte Erwin nicht bei dem steten Anwachsen des Sturmes elend umkommen, so mußte er schleunigst einen Entschluß fassen. Alle seine Tatkraft zusammennehmend, suchte er sich klar darüber zu werden, wie er Prechler mit der größtmöglichen Aussicht auf Erfolg an Land schaffen könne. Hierzu gab es eigentlich nur einen Weg: er mußte den Verwundeten in einem Rettungsring festbinden und das Weitere dem gnädigen Schöpfer überlassen.

Ohne Säumen und in fieberhafter Eile traf er nun die nötigen Vorbereitungen. Um auch einige wichtige Gegenstände von der „Deutschland“, besonders Waffen, bergen zu können, packte er in eine Holzkiste die in ein Segel gehüllten Sachen ein und befestigte die gut vernagelte Kiste dann an einen Rettungsring und ein von der Granate halb losgesprengtes Stück des Decks, damit sie nicht untergehen sollte. Dann ließ er Prechler ins Wasser hinab und sprang, ebenfalls mit einem Korkgürtel über der Brust, hinterher. So gut es ging suchte er nun den Klippen auszuweichen, indem er mit der Rechten Schwimmstöße machte, während die Linke den Rettungsring, in welchem der jetzt ohnmächtige Prechler steckte, umklammert hielt.

Dieser Kampf mit den heimtückischen Brandungswellen forderte weit mehr Kräfte, als sie Erwin zur Verfügung standen, der seit länger als 24 Stunden sich nicht durch Schlaf hatte erquicken und der nur hin und wieder ein wenig kalte Speisen – Zwieback und Konservenfleisch – hatte zu sich nehmen können. Immer mehr fühlte er jetzt seinen Mut schwinden, immer matter wurden seine Bewegungen. Er merkte nur noch, daß eine scharfe Strömung – wohl dieselbe, die dem Aluminiumboot so verhängnisvoll geworden war, ihn auf die steile Felsküste zutrieb, die wie eine Mauer gerade an dieser Stelle aus dem Wasser emporwuchs, sah nur noch, daß dieser Strom ihn in ein gähnendes Felsloch hineinwarf und tiefe Dunkelheit ihn umfing. Als letztes hörte er in der Ferne ein donnerndes Brausen und … wurde ohnmächtig.

Aber dieser Anfall übergroßer Schwäche dauerte zum Glück nicht lange. Als Erwin wieder zu sich kam, fand er sich auf flachem, hartem Boden mit dem Unterkörper im Wasser liegen. Wo er eigentlich war, konnte er nicht feststellen. Schwarze, undurchdringliche Finsternis umgab ihn. Nur das Geräusch wilderregter Wassermassen erfüllte seine Ohren mit starken, an und abschwellenden dumpfen Lauten.

Er tastete um sich, hoffte, daß er vielleicht den armen Prechler noch neben sich entdecken würde. Seine Hände griffen in kühles Wasser, trafen auf kahles Gestein. Mühsam richtete er sich nun auf, zog auch die Beine aufs Trockene und stützte den Kopf, vorläufig noch nicht fähig einen klaren Gedanken zu fassen, auf die weit hochgezogenen Knie. Eine geraume Zeit saß er so da. Jetzt beneidete er fast die beiden stillen Gefährten, die er auf der „Deutschland“ hatte zurücklassen müssen. Das niederdrückende Gefühl der Einsamkeit, dazu noch die Dunkelheit ringsum, ließen ihn in einen Zustand von gleichgültiger Verzweiflung verfallen, aus dem ihn dann erst Töne wachrüttelten, bei deren unverkennbarem Klang er wie ein Blitz hochfuhr.

Das war unzweifelhaft Hassos Stimme, das war des treuen Tieres wütendes Bellen, dem selbst die Geräusche der Wassermassen den durchdringenden Klang nicht nehmen konnten …

Hasso lebte … Und Hasso war irgendwo in der Nähe in einen heißen Kampf mit irgend einem Gegner verwickelt. So bellte er ja nur, wenn er aufs höchste gereizt war, wenn er seine Kräfte mit einem verhaßten Feinde maß …

Erwin lauschte, woher das heisere, erregte Kläffen des Wolfshundes kam. Dann stieg er, nachdem er durch Umsichfühlen festgestellt hatte, daß das Wasser hier durch einen engen Felstunnel strömte und der trockene Uferstreifen sehr bald wieder aufhörte, vorsichtig in das feuchte Element hinab. Behutsam drang er nun, bis zur Brust von der Flut umspült, weiter vor. Schrittweise nur kam er vorwärts, und oft genug rutschte sein Fuß auf dem steinigen Grunde aus, so daß er seine ganze Gewandtheit aufbieten mußte, um von der reißenden Strömung nicht entführt zu werden. Dann war es ihm, als bemerke er vor sich einen grauen Lichtschimmer. Es war wirklich keine Täuschung. Der unterirdische Wasserlauf machte hier eine scharfe Biegung, nach deren Überwindung Erwin kaum fünfzig Meter weiter ein ins Freie gehendes Felsenloch bemerkte, durch das die Wassermassen über Felsblöcke in nicht allzu schrägem Gefälle schäumend abwärtsschossen, um bald wieder nach Durchquerung eines mit Bäumen und Gras stellenweise bewachsenen Abhangs in einer jenseitigen Felswand zu verschwinden.

Noch einige Minuten, und Erwin hatte den Ausgang dieses Tunnels erreicht. Jetzt erst vermochte er das vor ihm liegende Gelände mit einem schnellen Blick zu übersehen. – Der Abhang, über den der Wasserfall hinabglitt, flachte sich in der Tiefe zu einer runden Talmulde ab, die von den übrigen drei Seiten von schroffen Felshöhen eingeschlossen war. Gerade dem Tunnelausgang gegenüber war die Talwand durch einige Klüfte in dunklere und hellere Streifen geteilt. Und vor einer dieser Spalten stand vornübergebeugt ein riesiges, behaartes, menschenähnliches Ungetüm von bräunlicher Farbe, das dem etwa hundert Meter entfernten jungen Deutschen den Rücken zukehrte. Es war ein Gorilla, ein zwei Meter hohes Tier mit mächtigen Armen, an denen die herkulisch entwickelte Muskulatur nur zu deutlich für Erwin Schraders scharfe Augen zu erkennen war.

Der Gorilla lebt hauptsächlich in den dichten, feuchten Küstenwäldern der westafrikanischen Tropenwelt, so daß sein Vorkommen auf dieser Insel, die vielleicht einst vor den durch Erdbebeneinflüsse hervorgerufenen Veränderungen der Erdoberfläche mit dem Festland von Afrika ein Ganzes gebildet haben mochte, nicht weiter wunderbar erscheinen konnte. Schon der karthagische Seefahrer Hanno berichtet uns von Kämpfen mit den „Gorilloi“, die er noch für einen wilden Volkstamm hielt. Aber erst 1861 gelangte ein junger Gorilla nach England, ohne daß ihm ein langes Leben beschieden war. Auch heute besitzen nur einzelne Zoologische Gärten Exemplare dieser Riesenaffen, die gegen den Klimawechsel äußerst empfindlich sind. – –

Die Gestalt des Untieres wirkte auf Erwin so stark, daß er zunächst gar nicht bemerkte, wo das jetzt ganz deutliche Bellen Hassos eigentlich herkam. Dann aber überwand er den lähmenden Schreck, und nun sah er in der engen Felsspalte, vor der der gewaltige Vierhänder hockte, einen grauen Kopf mit gefletschten Zähnen, der eben wie ein Blitz vorschnellte und nach der Hand des Gorillas schnappte. – Aber noch mehr erblickte er: den regungslosen Körper Prechlers, der etwa dreißig Meter seitwärts unter einem mächtigen Affenbrotbaum lag.

Für Erwin war vorläufig die Hauptsache, daß er den lustigen Gefährten von der „Deutschland“ und seinen Hund wiedergefunden hatte. Daß Prechler noch lebte, daran zweifelte er keinen Augenblick. Offenbar hatte sich ja der Matrose mit eigener Kraft bis zu jener Stelle hingeschleppt. Was Hasso betraf, so war es unbedingt notwendig, dem braven Tiere, das klugerweise vor dem Gorilla in die schmale Felskluft geflüchtet war, in welche dieser nicht einzudringen vermochte, schnell zu Hilfe zu kommen.

Wie aber sollte Erwin, unbewaffnet und dazu noch von den Aufregungen und Strapazen der letzten Tage geschwächt, es mit dem Gorilla aufnehmen, der fraglos über eine Körperstärke verfügte, die selbst der eines erwachsenen Mannes bei weitem überlegen war …?!

Ratlos schaute er sich um. Dann kam ihm ganz plötzlich ein vortrefflicher Gedanke. Wenn er hier über dem Tunnelausgang die Höhe der Talwand erklomm, was mit Hilfe zahlreicher stufenartiger Vorsprünge unschwer gelingen mußte, so konnte er sich vielleicht bis zu dem Punkte des gegenüberliegenden Abhanges hinschleichen, der gerade über dem am Boden halb sitzenden Menschenaffen lag. Ein schwerer Stein würde dann schon das weitere besorgen.

Er zögerte auch nicht lange, diesen Versuch, das vierhändige Ungeheuer wirksam zu bekämpfen, sofort auszuführen. Möglichst geräuschlos erkletterte er den steilen Hang und eilte nun auf der Höhe nach der anderen Seite hinüber. Einige breite, sehr tiefe Spalten übersprang er, andere wieder umging er in weitem Bogen, wodurch er freilich viel Zeit verlor. Endlich hatte er aber doch die Stelle erreicht, die er von vornherein ins Auge gefaßt hatte. Auf allen Vieren kroch er nun bis zum Rande der Steilwand hin, streckte nur den Kopf etwas vor und schaute hinab.

Unter ihm, vielleicht acht Meter tief, lag der Boden der kleinen Talmulde. Dort hockte der Gorilla, dort bellte Hasso, dessen Stimme jetzt schon ganz heiser und rauh klang. – Bald war ein passender Stein von gut dreiviertel Zentner Gewicht gefunden, bald auch ein zweiter, ein dritter als Reservegeschosse.

Erwin stand jetzt aufgerichtet da. Wollte er gut zielen, so durfte er dies nicht im Liegen tun. In beiden Händen hielt er das schwere, scharfkantige Felsstück hoch … Schon wollte er es herabsausen lassen, als ein kreischender, gellender Schrei seine Aufmerksamkeit auf den großen Brotbaum lenkte, der mit seinem Wipfel noch weit über die Talwände hinausragte und dessen bis auf die Erde niederhängende Zweige eine förmliche Blätterhütte von gut 20 Meter Durchmesser bildeten.

Der Affenbrotbaum oder Baobab gehört zu den langlebigsten uns bekannten Bäumen. In der Rinde dieses Erzeugnisses tropischer Sonnenglut hat man eingewachsen allerlei Gegenstände, Pfeilspitzen, Steinäxte und uralte andere Geräte, vorgefunden, die bewiesen, daß die betreffenden Stämme mehrere tausend Jahre alt sein mußten. Ein Baobab, der beispielsweise 22 Meter hoch ist, besitzt ungefähr den doppelten Stammumfang und dürfte gegen 1200 Jahre „auf dem Buckel“ haben. Sein meist hohler Stamm dient in Westafrika den Negern zur Wohnung, als Viehhütte und auch als Begräbnisplatz. Seine melonenähnlichen Früchte, die ein mehliges, von den Eingeborenen sehr geschätztes Fleisch besitzen, werden bis zu einhalb Meter lang. Dabei trägt er das ganze Jahr über eine Unmenge dieser großen Früchte, so daß er dem Neger ebenso unentbehrlich für das Dasein ist wie etwa die Kokospalme auf den Koralleninseln der Südsee den dortigen Insulanern.

In den untersten, dicken Ästen des Affenbrotbaumes erblickte der durch die gellenden Töne aufmerksam gewordene Erwin jetzt ein so überraschendes Bild, daß seine Arme mit dem wurfbereit erhobenen Felsstück unwillkürlich langsam herabsanken. Dort war aus Zweigen und trockenen Blättern ein mächtiges Nest angelegt, in dem neben einem noch ganz jungen Gorilla die Gestalt eines mittelgroßen Menschen mit langherabhängendem verfilzten Kopfhaar und verwildertem lichtblonden Bart zu erkennen war. Der Fremde trug als Bekleidung nichts als ein Tierfell um die Lenden. Jetzt stieß er abermals den hellen, kreischenden Schrei aus, der, wie Erwin bald merkte, eine Warnung für den Angreifer Hassos sein sollte. Der Gorilla zeigte jetzt nämlich deutlich eine gewisse Unruhe, wandte nach dem nochmaligen gellen Ruf den Kopf hin und her und spähte mißtrauisch in die Runde, als suche er einen verborgenen Feind.

Das Benehmen des Menschen in dem Nest des Riesenaffen vermochte der junge Deutsche sich nicht zu erklären. Daß der Gorilla gewarnt werden sollte, unterlag keinem Zweifel, da das bräunliche Ungetüm den Blondbärtigen längst bemerkt haben mußte und doch nicht zum Angriff auf ihn überging, obwohl dieser sich neben dem kleinen Vierhänder in dem Nest befand. Mithin kannte der mächtige Riesenaffe jenen Mann und wußte auch, daß ihm von diesem keine Gefahr drohe.

Die Angst davor, daß der mißtrauisch gemachte Gorilla ihn oben am Rande der Felswand erspähen könnte, veranlaßte Erwin Schrader nun doch zu einem schnellen, überraschenden Angriff. Galt es hier doch nicht nur die Rettung Hassos, sondern weit mehr die schleunige Fürsorge für den von tiefer Ohnmacht umfangenen Prechler, dessen Zustand eilige Hilfe verlangte. Daher hob er nun wiederum den gewichtigen Stein und schmetterte ihn auf den Gorilla herab.

Ein Treffer wurde es, aber lediglich aus Zufall. Das Felsstück wäre nämlich unfehlbar vorbeigegangen, wenn es nicht vor dem mächtigen Menschenaffen gegen einen schrägen Steinblock geflogen und von diesem in spitzem Winkel abgeprallt wäre. Nur so kam es, daß das schwere Wurfgeschoß den Gorilla genau unter die Kinnlade traf, den Kopf rückwärts schnellte und das Tier lang hinwarf, wo es einige Augenblicke halb betäubt liegen blieb.

Der zweite Stein war besser gezielt. An der rechten Schulter böse zugerichtet, fuhr das Ungetüm empor und flüchtete mit heulendem Kreischen in die Äste des Baobab, indem es nur den linken Arm und die Greiffüße zum Klettern benutzte.

Erwin war mit diesem Erfolge wenig zufrieden. Statt den gefährlichen Feind ganz zu vertreiben, war es ihm nur gelungen, Hassos bedrängte Lage etwas zu erleichtern. Doch während er dies noch in Gedanken recht mißgelaunt erwog, geschah etwas, worüber er aus dem Staunen kaum herauskam. Plötzlich turnten nämlich die Insassen des Nestes, der blondbärtige Mann, der Gorilla und das Junge, geschwind zu der Talsohle hinab und eilten nach Norden auf eine besonders breite Felsspalte zu, in der sie schnell verschwanden.

Der jüngste Matrose der gescheiterten „Deutschland“ hatte kaum die erste Überraschung über dieses seltsame Bild der wie die besten Freunde nebeneinander davonjagenden drei Gestalten verwunden, als auch schon der Verdacht in ihm aufzuckte, jener so verwildert aussehende Mensch und die beiden Vierhänder könnten womöglich einen Angriff auf ihn planen. Vielleicht führte die Felsspalte, in der sie eben untergetaucht waren, auf die Höhe der Talwände hinauf, vielleicht würden die drei sehr bald irgendwo in der Nähe erscheinen und es ihm heimzahlen, daß er es gewagt hatte, den riesigen Affen mit einem Steine zu verletzen.

Diese neue Angst war es, die Erwin Schrader nun in hastigem Lauf zurück nach dem Tunneleingang trieb. Dort wähnte er sich sicher. In das Wasser, in die Dunkelheit des unterirdischen Stromes, der von der See her durch die Felsen dem Innern der Insel zuzufließen schien, würden Mensch und Tier ihm kaum folgen.

Bald stellte sich heraus, daß seine Furcht recht überflüssig gewesen war. Die drei Gestalten ließen sich nicht wieder blicken, und der junge Deutsche nahm sich jetzt erst Zeit, die stürmischen Freudenbezeigungen des inzwischen zu ihm hingeeilten Wolfshundes durch freundliche Worte und Streicheln zu erwidern.

Dann stand Erwin neben dem ausgestreckt im Grase liegenden Prechler, beugte sich über ihn und schaute mitleidig in das bleiche Antlitz des Berliners, von dessen Wangen jede Spur von Fieberröte gewichen war. Er fühlte nun auch nach dem Puls, zählte die Schläge halblaut mit …

Da aber öffnete Prechler die Augen. Es waren klare, gesunde Augen, in denen nur noch helles Entsetzen deutlich zu bemerken war. Und leise fragte der Matrose nun mit matter Stimme:

„Ist die Bestie wirklich weg, Erwin?“

Diesem begann jetzt erst das Verständnis zu dämmern.

„Wenn Du den Gorilla meinst – allerdings, der ist auf und davon“, erwiderte Schrader, indem er dem Leidensgefährten half, sich zu sitzender Stellung aufzurichten.

Der Berliner seufzte wie befreit auf.

„So – also nicht mehr da! Ich habe aber auch Minuten hier in diesem Tale durchlebt, wie sie gräßlicher kaum sein können. Als ich nach meiner langen Ohnmacht wieder zu mir kam, lag ich da oben an der Seite des Wasserfalles nur mit Kopf und Brust außerhalb des nassen Elementes. Das Wasserbad hatte mir jedoch gut getan. Ich fühlte mich frischer und kroch ganz allmählich hier bis zu dieser Stelle. Plötzlich tauchte dann der Riesenaffe vor mir auf. – Ich sage Dir, Erwin, nie hat ein Mensch wohl einen so wahnsinnigen Schreck bekommen wie ich in dem Augenblick. Das Gesicht des Gorillas hatte einen solchen Ausdruck tierischer Wildheit, daß ich beinahe wieder ohnmächtig wurde. Jedenfalls schloß ich die Augen und verhielt mich, zunächst ohne bestimmte Absicht, ganz regungslos, jeden Moment erwartend, daß das Ungetüm mich mit seinen Händen erwürgen oder sonstwie umbringen würde. Nun – der gräßliche Affe schien friedlicher gesinnt zu sein, als ich es ihm zugetraut hatte. Er begnügte sich damit, mich ein paarmal umzudrehen, wobei ich es für das beste hielt, mich weiter tot zu stellen. Dann hörte ich mit einem Mal Hassos wütendes Knurren, das sehr bald in wütendes Bellen überging. Auf diese Weise hat unser braver vierbeiniger Freund den Gorilla von mir abgelenkt. Trotzdem ich merkte, daß dieser nicht mehr in nächster Nähe war, wagte ich doch nicht die Augen zu öffnen. Das heisere Gekläff des Wolfshundes, das gar nicht nachlassen wollte, sagte mir, daß der Riesenaffe sich noch nicht entfernt haben könne. So verstrich eine kleine Ewigkeit. Und erst als ich Deine Finger an meinem Handgelenk fühlte, als ich Deine Stimme hörte, die den Puls zählte, wagte ich die Lider aufzuschlagen.“

Kurz schilderte nun auch Erwin seine Abenteuer mit dem gefährlichen Ungetüm, wobei er nicht zu erwähnen vergaß, wie rätselhaft ihm das Einvernehmen zwischen dem blondbärtigen Manne und den beiden Gorillas erschienen war. – Zu längeren Erörterungen über diese seltsame Tatsache war jetzt jedoch weder Zeit noch Ort. Es war vielmehr Erwins Pflicht, schleunigst für Prechler einen Unterschlupf auszukundschaften, in dem sie ungestört die Nacht, die nicht mehr fern war, zubringen konnten.

Daher machte sich Schrader auch auf die Suche nach einer geeigneten Örtlichkeit, die trotz der Nähe des Gorillanestes nicht allzu weit entfernt liegen durfte, da er Prechler nicht aus der Talmulde hätte herausschaffen können. Nach einigem Suchen fand er, von seinem ersten Robinsondasein her bereits daran gewöhnt, die Augen und den Verstand bei der Beurteilung einer Örtlichkeit gleichmäßig wirken zu lassen, in der Nähe des zweiten Felsloches, in dem die Wassermassen des Falles wieder verschwanden, eine etwa vier Meter über dem Talboden liegende Höhle mit engem Eingang, zu dem man nur mit Hilfe einer Leiter an dem glatten Gestein emporgelangen konnte. Diese fehlte Erwin zwar, aber ein starker Ast des Baobab, den er unter dem Baume entdeckte, genügte ihm ebenfalls.

Prechler dort heraufzubringen ließ sich nur dadurch bewerkstelligen, daß der junge Deutsche aus seinen und des Berliners Kleidern eine Art Strick herstellte, mit dem er den sich nur mit den Armen an dem Ast hochziehenden Matrosen wirksam unterstützen konnte. Bald lag dieser nun in dem vorderen Teile der Höhle auf einem weichen Graslager und kaute ganz vergnügt einige Früchte des Baobab, von denen Erwin schnell eine Menge gesammelt hatte. Dann wurde auch Hasso mit Hilfe der zusammengebundenen Kleidungsstücke hochgewunden. Er mußte nun bei Prechler als Wächter zurückbleiben, während Schrader eiligst noch das Gorillanest auseinanderriß, um genügend Holz für ein Feuer zu besorgen. Nachdem die Äste und Zweige des Nestes in die Felsgrotte geschafft und dort aufgestapelt waren, begab sich Erwin nochmals nach der südöstlichen, flacher ansteigenden und mit einigen weiteren Bäumen bestandenen Talwand hin. Seine Hoffnung, daß einer von diesen genießbare und gleichzeitig erfrischende Früchte besitzen würde, erfüllte sich wirklich. So entdeckte er dort einen Kolabaum, dessen Nüsse wegen ihrer belebenden Eigenschaften von den Negern sehr begehrt sind und sogar wie Geld als Tauschmittel benutzt werden. Der Umstand, daß die Kolanuß die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit erhöht und auch ein Mittel gegen Fiebererkrankung darstellt, hat ihr auch in Europa Eingang verschafft. Jedenfalls trug sie nachher nicht wenig zu des Berliners schneller Genesung bei.

Mittlerweile hatte die Dunkelheit so zugenommen, daß Erwin es für ratsam hielt, die Höhle nicht nochmals zu verlassen. Mit Hilfe seines Benzinfeuerzeugs, das er erst vorgestern zum Glück frisch gefüllt hatte, zündete er vor dem Eingang der Grotte ein Feuer an, dessen Glut den besten Schutz gegen fremde Eindringlinge bot. Prechler schlief dann sehr bald ein, nachdem sein junger Gefährte den Verband der Beinwunde nachgesehen und festgestellt hatte, daß der tiefgehende Fleischriß sich bereits stellenweise geschlossen hatte. So stand denn zu hoffen, daß der Berliner bei seiner kräftigen Körperbeschaffenheit in kurzem völlig außer Gefahr sein würde.

Die Höhle genauer in Augenschein zu nehmen, dazu hatte Schrader bisher noch keine Zeit gefunden. Er ergriff daher jetzt einen starken brennenden Ast und schritt dem gangartig sich verengenden Hintergrund ihres Schlupfwinkels zu. Hasso erhob sich natürlich sofort und schloß sich seinem Herrn an.

Die Wände des Felsenganges traten schnell bis auf zwei Meter zusammen, und Schrader merkte auch, daß dieser Tunnel sich langsam abwärts senkte. Nach etwa 80 Meter hörte er vor sich das leise Rauschen von Wasser, und gleich darauf mündete dieser Gang in den unterirdischen Wasserlauf ein, der hier nach Durchquerung des Tales in Gestalt eines unterirdischen Baches seinen Weg fortsetzte.

Dem jungen Deutschen fiel sofort auf, wie wenig Wasser jetzt zwischen den grauen Felswänden dahinrieselte, während er doch vorhin in dem anderen Tunnel bis zur Brust darin hatte einherwaten müssen. Er sah auch, daß das Gestein durch grünlichen Überzug von Moosen genau anzeigte, bis zu welcher Höhe die Wassermassen hier zuweilen anstiegen. Nach einigem Nachdenken hatte er die Erklärung für dieses Sinken und Fallen des Wasserspiegels gefunden. Es handelte sich ja nicht um einen Süßwasserstrom, der diesen unterirdischen Pfad sich ausgesucht hatte, sondern um einen Abfluß von der See her, der sich nach einer Erwin noch unbekannten Stelle hin ergoß. Und nur während der Flutzeit stand an der Südostküste der Insel das Meer hoch genug, um größere Mengen Salzwasser in den Tunnel hineinfließen zu lassen. Jetzt zur Zeit der Ebbe war der Wasserlauf zu einem harmlosen, kaum fußtiefen Bächlein zusammen geschrumpft.

Für heute genügte der Erfolg dieser Forschungsreise Erwin vollkommen. Erfreut war er über dieses Ergebnis jedoch keineswegs, da er sich mit Recht sagte, daß ein Feind, dem der wassergefüllte Tunnel bekannt war, gerade jetzt zu den Stunden der Ebbe unschwer auch in ihren Schlupfwinkel eindringen könne.

Daran ließ sich aber nichts ändern. Immerhin mahnte ihn aber diese Möglichkeit eines Überfalles zur Vorsicht. Wenn er nun auch Hasso als wachsamen vierbeinigen Freund besaß, so hielt er es doch für gut, sich noch aus einem gerade gewachsenen Ast, den er mit seinem Taschenmesser anspitzte und im Feuer härtete, eine Lanze und aus einem zweiten eine schwere Keule herzustellen. Dann schlief auch er ein, nachdem er noch einiges Holz in das Feuer geworfen hatte.

Die ihm so nötige Ruhe sollte leider nur zu bald durch ein warnendes Knurren Hassos gestört werden, das Erwin mißtrauisch hochfahren und lauschen ließ. Der Hund stand mit gesträubtem Rückenhaar vor dem Eingang der Höhle einige Schritte vor der noch schwelenden Glut und witterte mit vorgestrecktem Kopf nach dem kleinen Tale hin. Als er jetzt merkte daß sein Herr munter geworden war, gab er keinen Laut mehr von sich, behielt aber seine höchste Aufmerksamkeit verratende Stellung bei.

Leise erhob Schrader sich, schob die glimmenden Holzteile etwas bei Seite und versuchte in den Felsenkessel hinabzusehen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, die infolge des von Wolken bedeckten Himmels ziemlich undurchdringlich war. Nun bemerkte er auch an der rechten Seite der Felswand in einer Entfernung von vielleicht 10 Meter gerade dort, wo das Wasser wieder in die Gesteinmassen eintrat, eine Gestalt, die eilfertig sich hin und her bewegte. Ebenso hörte er das dumpfe Aufschlagen von Steinen, das Brechen von Holz und ein Geräusch, als ob Geröll aus einem Behälter ausgeschüttet wurde. Daß die Gestalt nur der blondbärtige Fremde sein könne, war ihm bald klar geworden. Was der Mann dort aber im Schutze der dunklen Nacht trieb, vermochte er nicht festzustellen. Dann erblickte er auch zwei andere, plumpere Gestalten von verschiedener Größe, die in der Nähe am Boden hockten – die Gorillas, die ihren menschlichen Gefährten begleitet hatten und nun seiner Arbeit zuschauten.

Daß der Fremde irgend eine Schurkerei plane, darüber bestand für den jungen Deutschen kein Zweifel. Es lag jedoch nicht in seiner Macht, hier irgendwie einzugreifen. Außerdem fürchtete er auch einem Angriff von Seiten des Gorillas, dem es vielleicht trotz der steilen Wand geglückt wäre, den Eingang ihres Zufluchtsortes zu erreichen.

An Schlaf war für Erwin unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Platt am Boden liegend behielt er die drei Gestalten fortgesetzt im Auge. So vergingen gut zwei Stunden. Unverdrossen arbeitete der Fremde inzwischen weiter. Vergeblich zerbrach sich Erwin immer wieder darüber den Kopf, was der Mann im Schilde führen könne. Er kam nicht dahinter. Die Finsternis in dem Talkessel war zu groß, um unterscheiden zu können, womit der Blondbärtige sich beschäftigte.

Das kleine Tal lag im übrigen still und ruhig da. Der Wasserfall, der noch vor einigen Stunden die Luft mit dem steten Brausen seiner stürzenden Fluten erfüllt hatte, war versiegt und verstummt. Nur noch dünne Rinnsale glitten über die schlüpfrigen Felsen abwärts. Freilich, sehr bald mußte sich dieses Bild ändern. Erhöhte draußen an der Küste die Flut wieder den Wasserstand, so würde abermals das Donnern und Dröhnen des abstürzenden Inhaltes des unterirdischen Kanals weithin vernehmbar werden. – Jetzt schien es Erwin auch, als ob der Wasserfall stärker zu hören war. Angestrengt horchte er nach rechts hinüber. Nun sah er auch bereits den weißen Gischt heller durch die Dunkelheit hindurchschimmern, nun wuchs das Rauschen zu einem kräftigen Brausen an. Kein Zweifel: die Ebbezeit war vorüber, und die Flut stieg wiederum.

Lautlos hatten sich inzwischen die drei Gestalten davongemacht. Im Osten wurde der Himmel lichter und lichter. Der Morgen brach an.

Und donnernd jagten nun die Wasser wieder über die Felsblöcke hinweg dem zweiten Loche in der südwestlichen Talwand zu. Aber sie verschwanden nicht gurgelnd und schäumend darin wie früher. Nein, Menschenhände hatten den Eingang zu diesem zweiten Kanal während der Nacht mit Felsstücken, starken Ästen und Geröll verschlossen. Und dieser Damm bewirkte, daß das Wasser jetzt den Talkessel zu überfluten begann, daß es langsam, stetig sich weiter ausdehnte und bald einen kleinen See bildete, dessen Wasserspiegel sich fortgesetzt höher hinaufschob.

Als Schrader dies mit Entsetzen endlich gewahr wurde, nachdem die Tageshelle auch die Sohle des Felsenkessels genügend erleuchtete, als er nun erkannte, welche Arbeit der nur mit einem Schurzfell bekleidete Fremde in der Dunkelheit vollbracht hatte, stand unterhalb des Höhleneingangs das Wasser bereits gut einen Meter hoch.

Eine Weile beobachtete Erwin das Steigen des Seespiegels bang klopfenden Herzens. Aber nur zu bald wurde ihm klar, daß nach Verlauf von vielleicht drei Stunden das Wasser auch ihren Schlupfwinkel erreicht haben würde. Der Plan des blondbärtigen Mannes, die Bewohner der Grotte auf diese Weise zu ertränken, konnte wirklich ein teuflischer genannt werden. Allerdings – völlig geglückt wäre er nie, da ja die Höhle einen Ausgang nach dem Kanal hin besaß und sich die Fluten nach dorthin einen Weg suchen würden. Trotzdem konnte man hier nicht bleiben, da die weitere Möglichkeit vorlag, daß der Fremde auch den Kanal mit Steinen ausgefüllt habe, um seiner Sache ganz sicher zu sein.

Jedenfalls durfte Erwin keinen Augenblick länger zögern, den Verwundeten fortzuschaffen, der noch immer friedlich und fest schlief und nicht ahnte, welche Gefahr ihnen drohte. Zunächst aber nahm der junge Deutsche einen glimmenden Ast aus der Glut, brachte ihn durch Schwenken zu hellen Flammen und eilte, wieder gefolgt von Hasso, den Gang nach dem Kanal zu entlang. In diesem stand jetzt das Wasser ein wenig höher als am Abend vorher, ein Beweis, daß der Verschluß seiner Einflußöffnung doch nicht vollkommen dicht war.

Der Ausgang des Kanals lag etwa ein Meter über der Niederung. Und aus ihm mußten die Wasser in breitem Strahl sich in das flache, feuchte Land ergießen. Nun – für Erwin blieb das eine die Hauptsache, daß er Prechler ohne größere Schwierigkeiten fortbringen konnte und daß es ihm auch gelingen würde, den Verwundeten auf die felsigen Anhöhen im Osten des Sumpfes zu schaffen, wo sie dann schon ein neues Versteck finden würden.

In größter Eile kehrte er nun nach der Grotte zurück. Fritz Prechler schlief noch immer. Der See in dem Talkessel reichte jetzt bereits bis auf ein Meter unterhalb des Höhleneingangs herauf.

Zehn Minuten später hatte Erwin seinen Gefährten glücklich in Sicherheit gebracht. Sie befanden sich jetzt auf einer steinigen, hügeligen Hochebene, die sich nach Norden und Osten zu offenbar bis an die Küste erstreckte und in der auch der jetzt zu einem kleinen See umgewandelte Felsenkessel eingebettet lag. Inzwischen hatte sich das Gewölk verzogen, und die Sonne schien mit unbarmherziger Glut auf den kahlen Steinboden herab, so daß Schrader daran denken mußte, schleunigst einen neuen Unterschlupf auszukundschaften. Diesen fand er in der Nähe der zumeist steilen Südostküste in Gestalt einer Grotte, die einen so engen Eingang besaß, daß ein Mensch sich gerade noch durchzwängen konnte. Dieser zweite Schlupfwinkel der Schiffbrüchigen hatte vor dem ersten verschiedene Vorteile voraus. Zunächst besaß er nur den einen, leicht zu versperrenden Zugang. Dann befanden sich in der Grottendecke aber auch einige ganze schmale Spalten, die durch den Fels völlig hindurch gingen und sowohl genügend Licht hineinließen als auch dem Rauche eines Herdfeuers den nötigen Abzug gaben. Auch war es in der kleinen Höhle angenehm kühl und trocken. Im ganzen bot sie also ein Versteck dar, wie es kaum besser sein konnte.

Nachdem Schrader seinen Leidensgenossen hier untergebracht und ihm die mitgenommenen Früchte des Baobab und einige Kolanüsse zurechtgelegt hatte, machte er sich auf, um die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen und Gras für die Lagerstätten zu besorgen. Zunächst wandte er sich der Küste zu. Bald fand er eine Stelle, wo er zum Strande, der hier eine sandige Halbinsel bildete, hinabgelangen konnte. Hasso eilte ihm voraus, kam aber bald zurück, umsprang ihn aufgeregt bellend und wollte ihn offenbar nach einem bestimmten Punkt der Halbinsel hinführen. Willig folgte Erwin dem klugen Tiere, dessen auffälliges Benehmen sicherlich einen bestimmten Grund haben mußte.

So war es auch. Der junge Deutsche stieß plötzlich einen Freudenruf aus und lief auf einen großen Gegenstand zu, der halb im Wasser lag. Die Kiste, die er vor dem Verlassen der „Deutschland“ in die See geworfen hatte, war hier angetrieben worden.

Jetzt besaß Erwin Waffen, ein Beil, zwei Kochtöpfe und manches andere, was ihm von größtem Nutzen war. So schwer die Kiste auch wog, er schleppte sie doch auf der Schulter mit einigen Ruhepausen nach ihrer Höhlenwohnung, wo Fritz Prechler sich dann sofort daran machte, die naßgewordenen Sachen, besonders die Karabiner und die Revolver, abzutrocknen und sorgfältig zu reinigen. Inzwischen hatte Schrader bei einem zweiten Erkundungsgang im Norden ein nicht allzuweit entferntes Felsental entdeckt, auf dessen zermürbtem Boden im Laufe der Zeit eine ziemlich üppige Vegetation emporgesprossen war. Hier fand er außer Kokos- auch Öl-, Wein- und kletternde Rotangpalmen neben Kautschuk- und Erdnußpflanzen. Der Rotang, mit dem lateinischen Namen Calmus genannt, liefert bekanntlich das Malakka- und das spanische Rohr zu Spazierstöcken. Außer Kautschukbäumen wuchs in diesem durch eine starke Quelle stets feucht gehaltenen Boden auch die über ganz Westafrika verbreitete sog. Landolphia, ein Schlinggewächs, aus dem ebenfalls Gummi gewonnen wird und dessen kugelige Beere von Faustgröße eßbar ist. Die Gewinnung des Kautschuks geschieht in der Weise, daß man den Zweigen durch Einschnitte den Milchsaft entzieht und diesen in Gefäßen sammelt. Der Kautschuk findet sich in dem Saft nun in ebenso feiner Verteilung wie Butter in der Milch. Die kleinen Kautschukkügelchen sammeln sich dann beim Stehen des Milchsaftes an dessen Oberfläche in Form eines Rahmes. –

Am wichtigsten war für die Schiffbrüchigen die Auffindung von Wasser und Kokospalmen, deren Fruchtfleisch guten Nährwert hat und deren süßliche Milch ein erfrischendes Getränk darbietet. Erwin formte aus seiner Jacke einen Beutel, den er sowohl mit drei Kokosnüssen als auch mit Früchten der Landolphia und Erdnüssen anfüllte. Die Erdnußpflanzen sind niedrige Sträucher mit in der Erde reifenden, eiförmigen Samen, die geröstet oder gekocht ähnlich wie unsere Kartoffel schmecken.

* * *

In den nächsten acht Tagen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Weder der Fremde noch die Gorillas ließen sich blicken. Fritz Prechlers Wunde heilte sehr gut, so daß er schon hin und wieder aufstand und sich etwas Bewegung machte. Mittlerweile hatte Erwin, der jetzt stets mit einem Karabiner, zwei Revolvern und einem Seitengewehr bewaffnet ausging, auch dem Tale, das sie zuerst beherbergt hatte, einen Besuch abgestattet und festgestellt, daß das Wasser nunmehr sich einen Weg durch die Höhle gebahnt hatte, in der sie damals in der ersten Nacht auf der Insel von den Fluten überrascht worden waren. Ebenso hatte er auch nach dem gescheiterten Aluminiumboot Ausschau gehalten, ohne von diesem auch nur das geringste Wrackstück mehr vorzufinden.

Nach einer weiteren Woche hatte der Berliner seine volle Bewegungsfreiheit und alte Frische wiedererlangt. Täglich wurden die gemeinsamen Ausflüge nun weiter ausgedehnt. Bei einer dieser Wanderungen nach der sumpfigen Niederung schoß der Matrose ein junges Maskenschwein. Diese hochbeinigen, in Westafrika heimischen Tiere haben so zahlreiche, wulstige Falten im Gesicht, daß sie einen recht komischen Anblick gewähren. Ein andermal wieder erlegten beide Gefährten einen Leoparden durch vier Schüsse, der es auf Hasso abgesehen gehabt hatte und den braven Hund unfehlbar zerfleischt haben würde, wenn Erwin und Prechler nicht auf dessen Angstgeheul schleunigst herbeigeeilt wären.

Der unternehmungslustige Berliner erörterte jetzt fast täglich den Plan, dem Fremden nachzuspüren und festzustellen, was es mit diesem Menschen eigentlich für eine Bewandtnis habe, der hier einsam in Gesellschaft eines Riesenaffen hause.

„Ich kann mir nicht helfen, – dieser Bursche mit dem blonden Bart und dem mangelhaften Anzug und dem noch mangelhafter gepflegten Kopfhaar kommt mir mehr als verdächtig vor“, erklärte er immer wieder. „Daß es ein Europäer ist, steht fest. Was treibt er nun aber hier? Weshalb kehrt er nicht in bewohnte Gegenden zurück, was doch nicht allzu schwierig sein kann, wenn man sich ein Floß baut oder ein Rindenboot herstellt und damit nach den anderen Inseln der Bissagos-Gruppe übersetzt? Ferner – aus welchem Grunde trachtete der Schurke uns auf so heimtückische Weise nach dem Leben?! – Hier ist offenbar etwas oberfaul im Staate Dänemark, mein lieber Erwin! Und das müssen wir herausbekommen, bevor wir daran denken, auf irgend eine Weise diese Insel zu verlassen.“ –

Eine längere Regenzeit hinderte die beiden Gefährten jedoch daran, auch die anderen Teile der Insel abzusuchen, so daß der Dezember herankam, bevor sie die Vorbereitungen zu einem mehrtägigen Ausfluge treffen konnten. Ausgerüstet mit gebratenen Erdnüssen, selbstgeräuchertem Fleisch (auf den Gedanken war Erwin gekommen, das Fleisch junger Maskenschweine auf diese Weise haltbar zu machen) und ihren Waffen, traten sie am Morgen eines klaren Dezembertages die Wanderung an, indem sie die sumpfige Niederung vermieden und an der Nordküste entlang gingen. Bald stellte sich ihnen jedoch der erste undurchdringliche Urwald in den Weg, den sie notwendig umgehen mußten. Bei der Suche nach einer Lichtung, die ihnen die Fortsetzung des Marsches gestattete, erwies sich Hasso als ein vortrefflicher Pfadfinder. Damit das treue Tier beim Umherstreifen im Dickicht nicht wieder in Gefahr geriet, von einem ihm an Kräften weit überlegenen Gegner, wie es der Leopard gewesen war, angegriffen zu werden, hatte Erwin den Wolfshund an die Leine genommen. Plötzlich drängte dieser nun mit aller Gewalt in ein dichtes Gebüsch hinein, indem er die Nase des öfteren schnüffelnd hoch emporreckte. Die beiden Deutschen folgten ihm, da sie überzeugt waren, daß die Dickung etwas verbergen müsse, das den feinen Geruchsorganen Hassos aufgefallen war. Mühsam sich durch das Unterholz hindurchzwängend, gelangten sie auf einen offenbar häufiger begangenen Fußweg, der sich in vielfachen Windungen nach Nordwest hin weiterschlängelte.

Nachdem die beiden Schiffbrüchigen soeben eine mit hohem Grase bestandene Lichtung durchquert hatten, bog der schmale Weg, falls diese Bezeichnung auf ihn überhaupt paßte, in einen Urwald von Brotfruchtbäumen und Kandelaberpandanen ein. Diese hohen Schopfbäume, die gerade dem westafrikanischen Landschaftsbilde sein eigenartiges Gepräge geben, waren bis in die höchsten Wipfel mit kletternden Rotangpalmen überwuchert. Hier erblickten die Wanderer auch die ersten Reptilien und zwar Vertreter einer Art, die lediglich auf Westafrika beschränkt sind. Es waren Peitschenbaumschlangen, Tiere von über ein Meter Länge mit sehr langem Hals und Schwanz und rüsselförmig verlängertem Kopf, die zur Familie der Nattern gehören und sich von kleinen Vögeln, Eidechsen und Fröschen nähren. – Auch einen Leoparden bemerkten sie, der in den oberen Ästen eines Brotfruchtbaumes eine Anzahl von Schimpansen belauerte, die über ihm schnatternd sich hin und her jagten. Außer diesen Affen waren auch zahlreiche Meerkatzen zu sehen, die vor den Menschen wenig Scheu zeigten.

Erwin hätte zu gerne dem Leoparden eine Kugel zugeschickt, unterließ dies aber, da der Berliner erklärte, sie dürften sich durch den Lärm des Schusses nicht verraten. Es sei wohl mit ziemlicher Bestimmtheit anzunehmen, daß der Pfad zu einer Stelle hinführe, die von dem unheimlichen Fremden und dessen vierbeinigen Begleitern des öfteren besucht werde. Trotzdem verscheuchte Erwin die beutelüsterne Katze, um die fröhlichen Schimpansen vor einem heimtückischen Angriff zu bewahren. Ein paar Würfe mit trockenen Aststücken genügten. Das Raubtier verschwand blitzartig im dichten Unterholz, verfolgt von dem wütenden Gekreisch der Affen, die es erst jetzt bemerkt hatten.

Auch in diesem Urwald waren für den kaum kenntlichen Weg mit großem Geschick Stellen ausgewählt, die keinerlei schwierigeren Hindernisse boten. Freilich, ohne Hassos Hilfe hätten die beiden Gefährten sich unfehlbar verirrt. Aber der Hund strebte stets ohne jedes Zaudern vorwärts und brachte Erwin und Prechler schließlich auf eine von Felsgeröll bedeckte Lichtung, die, mitten im undurchdringlichen Baumgewirr gelegen, ein vorzügliches Versteck darbot.

Bevor die Wanderer jedoch aus dem Schatten der Urwaldriesen herausgetreten waren, hatte sie bereits der Lärm einer dumpf dröhnenden Trommel belehrt, daß sie jetzt die größte Vorsicht gebrauchen mußten, um nicht entdeckt zu werden. Ohne Zweifel befanden sich auf der Lichtung Menschen. Der Klang der Negertrommel war ja unverkennbar. Sowohl Erwin als auch der Matrose erinnerten sich nur zu gut an diese Töne, die sie zum erstenmal gehört hatten, als die jetzt leider zerstörte „Deutschland“ in einer Bucht einer der anderen Bissagos-Inseln einige Tage gelegen hatte. Damals hatten Angehörige des Bissagos- oder Bijugastammes, die diese Gruppe bewohnen, das Aluminiumboot zufällig entdeckt und dessen Anwesenheit sofort mit Hilfe ihrer großen Signaltrommeln weiterverbreitet. Besitzen die meisten Negervölker doch eine besondere Trommelsprache, die dazu dient, durch Trommeltöne von verschiedener Höhe sich auf weite Entfernungen hin miteinander zu verständigen und wichtige Nachrichten von Dorf zu Dorf weiterzugeben. Am entwickeltsten ist die Trommelsprache der Duala in Kamerun.

Da aus der Ferne jetzt ebenfalls hellere und dumpfere Trommeltöne herüberklangen, war mit ziemlicher Bestimmtheit anzunehmen, daß sich von dorther ein Trupp Neger der Lichtung nähere. Prechler hielt es unter diesen Umständen für ratsam, daß Erwin und Hasso sich abseits des Pfades im Dickicht verbargen, während er selbst auskundschaften wollte, was hier mitten im Urwald vorging.

Nach einer halben Stunde war der Berliner wieder zurück. Als Erwin ihn fragte, was er denn erspäht habe, erwiderte Prechler, selbst sehen sei besser als sich etwas schildern lassen, was nur schwer zu beschreiben wäre. Den durch diese Antwort recht neugierig gewordenen Kameraden führte der Matrose dann auf Umwegen einem dornigen Dickicht zu, das sich wie eine breite Zunge in das ansteigende Felsgeröll hineinzog. In dieses Gewirr von Pflanzen und Schlinggewächsen bahnten die beiden sich mit ihren Hauseitengewehren einen Weg, bis sie dicht am Rande eines Abhangs angelangt waren und von ihrem Versteck aus bequem das langgestreckte Tal zu ihren Füßen überblicken konnten, das, rings von steilen Felsen umgeben, eine von der Natur geschaffene, riesige Tenne darstellte, auf der nur an einer Stelle ein Hain von Brotfruchtbäumen wuchs. Vor diesem Hain stand eine große Hütte, die mit allerlei schrecklichem Zierat, Menschen- und Tierschädeln, ausgestopften Affen und Götzenbilder darstellenden Schnitzereien geschmückt war. Im Halbkreis aber saßen vor dem breiten Eingang der Hütte gut zweihundert Neger, die sämtlich dem Volke der Bissago angehörten. Zwischen dieser Mauer schwarzer Menschen und der Hütte stand ein Opferstein, der oben eine muldenförmige Vertiefung besaß und gleichfalls in ähnlicher Weise wie die Hütte in abschreckender Weise herausgeputzt war. Um den Opferstein wieder hockten sechs vollständig in Felle gehüllte und durch widerlich bemalte große Kopfmasken unkenntlich gemachte Gestalten.

Der zuletzt eingetroffene Negertrupp, der sein Erscheinen durch die Trommelzeichen angekündigt hatte, war nach der Begrüßung mit den bereits Anwesenden (diese Szene hatte Fritz Prechler gerade beobachtet) ebenfalls auseinander gegangen und hatte sich, wo jeder Platz fand, niedergelassen. – Bevor mit der Schilderung der weiteren Ereignisse fortgefahren wird, sei hier ganz kurz einiges über die Geheimbünde bei den Naturvölkern gesagt. Solche Vereinigungen, zu denen nur Männer zugelassen und deren Satzungen streng geheimgehalten werden, sind also nicht lediglich eine Einrichtung, der wir in Kulturländern begegnen. Wir finden Geheimbünde, die die verschiedenartigsten Zwecke verfolgen, sowohl bei den Indianern Nordamerikas als auch auf den Inseln der Südsee, besonders zahlreich aber in Afrika. So haben die Engländer zum Beispiel Jahrzehnte gebraucht, um den an der Sierra Leone-Küste verbreiteten Egbo- (Panther-) Bund, der Menschen bei seinen Festen opferte und durch Meuchelmord ungeheuren Schrecken verbreitete, einigermaßen auszurotten. –

Daß das Schauspiel, dem sie heimlich beiwohnten, eine der berüchtigten feierlichen Versammlungen einer Unterabteilung[2] des in aller Heimlichkeit noch immer fortbestehenden Panther-Bundes war, ahnten die beiden Deutschen nicht.

Jetzt erscholl aus der Hütte ein dumpfes Trommelsignal, worauf die Neger sofort verstummten und die um den Opferstein hockenden Führer der Vereinigung sich erhoben. Diese sechs Maskierten begannen dann unter lautem Heulen einen Tanz, der zumeist nur aus wilden Sprüngen, die die Bewegungen eines Panthers nachahmen sollten, bestand. Hierbei bemerkten Prechler und Erwin, daß die Vermummten an jedem Handgelenk ein an einer Kette hängendes Messer befestigt hatten, dessen Zweck ihnen sehr bald klar werden sollte.

Auf ein abermaliges Trommelzeichen setzten die Tänzer sich in einiger Entfernung von dem Opferstein auf den Boden. Eine geraume Weile herrschte nun tiefes Schweigen. Den Gesichtern der Bissago-Neger war deutlich anzumerken, welche Spannung sich aller bemächtigt hatte. Dann erschien in dem Eingang der Hütte eine von Kopf bis Fuß in Leopardenfelle eingenähte Gestalt, die vor dem Gesicht die Kopfhaut dieses Raubtieres als Larve trug. An der rechten Hand führte das Oberhaupt des Egbo-Bundes einen riesigen Gorilla, der schwerfällig auf den Hinterbeinen neben ihm herschritt. Der Leopardenmann ließ sich feierlich auf den Opferstein nieder und winkte mit der Hand, worauf eine ganze Anzahl der Bundesmitglieder vor ihn hintraten und allerlei Fragen an ihn richteten, die er mit heulender Stimme beantwortete. Jeder, der einen Orakelspruch erbat, legte nachher vor dem zwischen den Beinen seines Herrn hockenden Gorilla einen Schmuckgegenstand aus Gold oder ein größeres Stück Elfenbein als Opfergabe nieder. Da mindestens achtzig Neger von dem Oberhaupt ihres Bundes eine Weissagung verlangten, bildeten die Geschenke bald einen ansehnlichen Haufen. Nachdem auch der letzte, der einen Blick in die Zukunft tun wollte, befriedigt seinen Platz wieder aufgesucht hatte, erhob sich der als Leopard verkleidete Prophet und schritt, begleitet von den sechs anderen Maskierten und dem zahmen Riesenaffen, die Reihen der Bundesmitglieder entlang. Einige Male erhob er die Hand und bezeichnete einen der Anwesenden, der sofort von einem der Unterführer gepackt und zu dem Opferstein hingezerrt wurde. Im ganzen wurden auf diese Weise vier Leute ausgewählt, die sich angeblich eines Verrates an dem Bunde schuldig gemacht hatten. In Wahrheit handelte es sich jedoch, wie die beiden Deutschen nachher erfuhren, um solche Männer, die den heimlichen Zweck der ganzen Vereinigung längst durchschaut hatten und dem Oberhaupte daher unbequem geworden waren.

Diese vier Opfer, die vor Furcht mehr tot als lebendig schienen, ließen sich willig hintereinander in einer Reihe aufstellen und erwarteten zitternd vor Angst ihr Schicksal. Plötzlich sprang dann einer der Maskierten auf den vordersten zu, schlang ihm die Arme um den Nacken und bohrte ihm gleichzeitig die beiden bisher am Handgelenk hängenden Messer in den Rücken, so daß der Schwerverletzte wohl sofort umgesunken wäre, wenn nicht unverzüglich der erste Mörder ihn einem anderen Maskierten in die Arme geschleudert hätte, der nun ebenfalls seine Messer in den Rücken des Ärmsten vergrub. (Diese Art der Bestrafung angeblicher Verräter entspricht den Tatsachen. Die beiden Messer sollen die Pantherkrallen vorstellen). – –

Dieser Mord so dicht vor ihren Augen lähmte die Deutschen in ihrem Versteck förmlich vor Entsetzen. Bald aber hatte bei Prechler die Wut über dieses scheußliche Verbrechen die Oberhand gewonnen. Wenige hastige Worte genügten, um Schrader von seinem Vorhaben zu verständigen. Er ahnte, daß dort unten vor dem Opferstein, auf den die Vermummten jetzt den leblosen Körper des Negers gelegt hatten, sofort der nächste Unglückliche auf dieselbe Weise abgeschlachtet werden sollte. Tatsächlich trat auch einer der Maskierten soeben auf den zweiten in der Reihe zu, hob die Arme und …

Der kurze Knall eines Schusses zerriß die Luft, der Maskierte taumelte und sank dann, durch beide Oberschenkel getroffen, zu Boden. Bevor sich die Egbo-Versammlung noch von ihrem Schrecken über dieses unerwartete Eingreifen des deutschen Matrosen erholt hatte, erschien dieser schon in ganzer Größe oben auf dem Rande des Abhangs und winkte den drei noch lebenden Opfern des Bundesoberhauptes hastig zu, daß sie flüchten sollten. Dies taten sie denn auch. In langen Sätzen stürmten sie über den freien Platz und wurden dann glücklich von Prechler und Erwin mit Hilfe der ihnen zugereichten Karabiner an der Felswand hochgezogen.

All dies spielte sich so schnell ab, daß die Mitglieder des Panther-Bundes erst zur Besinnung kamen, als die drei Todeskandidaten schon die Wand erklommen hatten. Jetzt aber stieß das Oberhaupt der Egbo-Leute einen schrillen Wutschrei aus und rief den Negern einige Befehle zu. Doch seine Laufbahn als betrügerischer Führer des Geheimbundes war ausgespielt. Droben auf der Talwand hatte einer der Flüchtlinge, ein junger, aufgeweckt aussehender Bursche, blitzschnell dem deutschen Matrosen das inzwischen wieder geladene Gewehr entrissen, angelegt und auf den Leopardenmann gefeuert, der, durch die Brust getroffen, sofort umsank. Mit dem Karabiner in der Hand ließ er sich dann wieder in die Tiefe gleiten und rannte auf den von ihm Niedergeschossenen zu, nahm ihm die Maske vom Gesicht weg, packte ihn und zeigte seinen Stammesbrüdern das von einem blonden Bart umrahmte Antlitz eines Europäers. Mit weithin vernehmlicher Stimme hielt er hierauf eine längere Ansprache, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Jedenfalls bezeigten die fünf maskierten Unterführer – der sechste war infolge der Schußverletzung unfähig sich zu bewegen – ihr schlechtes Gewissen dadurch, daß sie jetzt die allgemeine Verwirrung dazu benutzten, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Weit kamen sie jedoch nicht. Die ganze Versammlung setzte ihnen nach und brachte sie bald wieder nach dem Platz vor der Hütte zurück, wo die wütenden Neger die mit dem Weißen verbündet gewesenen Betrüger mit den Füßen zu Tode trampelten, ehe noch die beiden Deutschen eingreifen konnten.

Von dem Bissago, der das Oberhaupt der Geheimgesellschaft entlarvt und der früher längere Zeit auf einer Plantage der nahen deutschen Kolonie Togo gearbeitet hatte, erfuhren Prechler und Erwin dann folgendes über den geheimnisvollen Menschen, den die Karabinerkugel so plötzlich ausgelöscht hatte.

Der Blondbärtige war ein Engländer namens Murwell, der mehrere Jahre unter den Bissago auf Orango, der größten der Inseln dieser Gruppe, gelebt hatte. Eines Tages verschwand er, und sehr bald erhielt nun der Egbo-Bund, der seine Versammlungen seit langem auf diesem unbewohnten Eiland abhielt, ein neues Oberhaupt, welches sich sofort dadurch die größte Achtung unter den abergläubischen Naturkindern verschaffte, daß es stets in Begleitung eines von den Negern überaus gefürchteten Gorillas auftrat und mit einigem Geschick den Propheten spielte. Der seine Stammesgenossen geistig weit überragende Bissage hatte nach seiner Rückkehr aus Togo gemerkt, daß es dem neuen Leiter des Bundes, den niemand kannte, lediglich um schamlose Erpressungen und um das Anhäufen von Gold und Elfenbein zu tun war. Schließlich hatte er sich dann die Gewißheit verschafft, daß das jetzige Oberhaupt der Egbo-Gesellschaft niemand anders als jener verschwundene Murwell sei. Aber vergeblich suchte er nun einige ihm vertraute Mitglieder für seinen Plan, den Weißen gelegentlich zu überführen, zu gewinnen. Die Furcht vor dem Propheten und Leiter des Geheimbundes war schon zu fest bei den leicht zu betrügenden Negern eingewurzelt, und ohne Zweifel hätte dieser Tag für den klugen Bissago ein schlimmes Ende genommen, wenn nicht eine Kugel den einen der Helfershelfer Murwells rechtzeitig niedergestreckt haben würde.

* * *

Der Gorilla war, gleich nachdem sein Herr leblos zusammenbrach, in den nahen Urwald enteilt und konnte nicht wieder eingefangen werden. Dafür wurden aber die sämtlichen von dem Engländer bisher angesammelten Opfergaben aufgefunden und unter die früheren Besitzer verteilt. Bereits am Abend desselben Tages verließen die beiden Deutschen dann in dem Boot des Bissago (dieses Negervolk liefert viele tüchtige Matrosen) zusammen mit einer ganzen Flottille die Insel und trafen acht Tage später wohlbehalten in Bulam, dem Haupthafen von Portugiesisch-Guinea, ein, von wo sie ein spanischer Dampfer mit nach Europa nahm. Das Glück war ihnen auch weiter insofern hold, als es ihnen auch gelang, sich von Malaga aus nach Deutschland durchzuschlagen und später auf einem Panzerkreuzer als kriegsfreiwillige Matrosen an der siegreichen Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 teilzunehmen.

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Der Schatz der Azteken.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „Hansen“.
  2. In der Vorlage steht: „Unterabteil“.