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Die Säulenburg

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. (1919.)

 

Die Säulenburg.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Die Vermißten.

Der Sandsturm war vorüber. In der Ferne zog noch wie eine rotgelbe Wand die vom Orkan aufgewirbelte ungeheure Sandmauer, über den gesamten Horizont sich ausspannend, weiter mit ihrem verderbenbringenden, alles verschüttenden Wüten – ein wandernder Würgeengel der Wüste –! –

Rötlich schimmert das Sandmeer der südlich des Aralsees gelegenen Wüste Küsül Kum an jenen Stellen, wo nicht einmal das bescheidene Steppengras gedeiht.

Küsül Kum heißt ja roter Sand; ebenso wie die westliche Nachbarsteppe jenseits des Flusses Amu Darja Kara Kum, schwarzer Sand, heißt.

Rötlich schimmert das Sandmeer im Sonnenglast –

Ein paar grauschwarze Felsen ragen aus dem Farbeneinerlei der unfruchtbaren Steppe heraus wie abenteuerliche Tiergestalten einer längst entschwundenen Erdentwicklungsperiode.

Nicht nur Felsen sind’s, die hier die Einförmigkeit unterbrechen. Neben den Steingebilden rührt sich das Leben, bewegt sich ein Etwas, sandbestäubt, halb unkenntlich.

Das Etwas schüttelt sich. Die Sandkörnchen fliegen zur Seite, lange Haare werden frei, flattern im scharfen Winde, den letzten Nachwehen des Wüstensturmes.

Immer deutlicher schält sich das Etwas aus dem Körnerschleier heraus. Ein Pferdekopf ist’s, ein Pferdehals, Zaumzeug verrät das Reittier, der feine Schädelbau die edle Abstammung.

Das Tier schüttelt sich abermals. Augen und Ohren sind mit Sand verklebt. Es kommt mit dem Vorderleib aus der rotgelben Last hervor, die auf ihm ruht.

Da wirds auch nebenbei lebendig. Noch sechs weitere Pferde rappeln sich auf, beginnen mit dem Sande zu kämpfen, der sie festhalten will.

Die stille Wüste bei den wunderlich geformten Felsen ist plötzlich nicht mehr einsam. Im Schutze der grauschwarzen Steinmassen haben ein paar Männer den Sandsturm abgewartet, haben die Zeltleinwand über sich gebreitet und alles Weitere der Gnade Gottes überlassen.

Jetzt wagen auch sie sich hervor, einer nach dem andern; halb erstickt, taumelnd treten sie zu den Tieren; und sie schaun sich an, denken dasselbe: „Zwei von uns fehlen! Darunter gerade der Jüngste –!“

Drei Europäer sind’s. Abenteuerliche Pläne verfolgen sie hier in dem ödesten Teile der Küsül Kum, suchen nach einer Oase, nach märchenhaften Schätzen, sind seit Tagen unterwegs – ohne einen Tropfen Wasser zu finden, nur Sand und Felsen ringsum, und über sich den lachenden Sommerhimmel der Kirgisensteppe, zu der auch diese Wüste zu rechnen ist.

Sie sehen verwildert aus. Struppige Bärte sprießen ihnen um die gebräunten Gesichter, ihre Anzüge sind mehr als mitgenommen. Der Längste, Hagerste von ihnen sagt jetzt, indem er seinem wackeren Kirgisenpferde Augen und Ohren zu säubern beginnt:

„Was mag aus unserem Ypsi und aus El Hissar geworden sein? Ypsis Rotfuchs ging mit ihm durch, als der Sturm begann –“

Der, den Doktor Heinz Wüllner Ypsi nannte, hieß eigentlich Kurt Preßler, hatte aber auch eine lange Zeit hindurch den Namen „März Ypsilon“ geführt – gewiß ein seltsamer Name! Wie er ihn erhalten, das gehört nicht hierher, das ist in einem früheren Bändchen der Erlebnisse einsamer Menschen geschildert – „Im Lande der Turkmenen.“

Auf des Doktors Bemerkung erwiderte Ypsis Vater, ein kräftiger, stattlicher Mann, jetzt vertrauensvoll:

„Kurt wird, so hoffe ich, ebenfalls wie wir die Gefahr überstanden haben. Er ist ja trotz seiner Jugend ein tatkräftiger, kluger Bursche, dem die bisherigen Abenteuer hier in der Kirgisensteppe nur nützlich gewesen sind. Nie wäre er so schnell an Körper und Geist ausgereift wie unter dem Einfluß dieses wechselvollen Erlebens.“

„Ich hoffe dasselbe“, erklärte Egon Lenz, der dritte Deutsche. „Und auch El Hissar, der Jomude, wird glücklich davongekommen sein. Sein Pferd war noch am frischesten. Der Sandsturm wird ihn kaum eingeholt haben.“ –

Nachdem die Gefährten darauf für ihre Tiere gesorgt und auch selbst etwas gegessen und einen Schluck des halbverdorbenen Inhalts der Wasserschläuche getrunken hatten, berieten sie, welche Richtung man nunmehr für den Weitermarsch einschlagen solle. Ihre Hauptsorge galt dem Knaben, denn El Hissar als Steppenbewohner würde weit leichter sich zu ihnen zurückfinden als der wackere Junge.

Der Orkan hatte natürlich sämtliche Spuren der Reiter vollkommen verschüttet. Sie wußten nicht, wo der Knabe sich von ihnen unfreiwillig getrennt hatte, wo sie ihn suchen sollten. Sie wurden immer kleinlauter, je länger sie ihre Lage überdachten.

Gewiß, der Junge mochte sich gerettet haben! Aber – wie nur konnte man mit einiger Aussicht auf Erfolg zusehen, ob man wieder mit ihm zusammentraf. –?! Und – hier an dieser Stelle konnte man auch nicht bleiben! Einmal war dies zwecklos, da der Knabe ja selbst nicht wußte, wo er die Gefährten zu suchen hatte, dann auch gefährlich, weil jede Stunde die Reiter dem Tode des Verschmachtens näher brachte, weil jede Spanne Zeit dazu benutzt werden mußte, den einzigen Ort zu erreichen, wo es hier in der Nähe Trinkwasser gab: die Oase! Die sagenhafte Oase, die doch nach allem, was die Gefährten wußten, kein bloßes Phantasiegebilde sein konnte.

Wo lag sie aber, diese grüne, fruchtbare Stätte, – wo nur?! Südöstlich eines der sogenannten Bitterseen, der in ein Felsental eingebettet sein sollte.

Und wo lag dieser Bittersee? – Man hatte bereits nach ihm gesucht, bevor der Orkan die Wüste verfinsterte, – gesucht und doch nur Enttäuschungen erlebt.

Egon Lenz, geistig fraglos der rührigste der drei Deutschen, meinte jetzt energisch:

„Alles Reden ist zwecklos! Brechen wir auf – nach Osten zu! Aber – wir wollen uns trennen, wollen von hier aus in ganz weiten Abständen einzeln die allgemeine Marschrichtung verfolgen und uns erst abends wieder zusammenfinden. Auf diese Weise können wir eine breite Strecke durchforschen. Der Bittersee kann nicht weit sein! Und – haben wir ihn erst, dann sollen es ja bis zur Oase kaum zwei Reitstunden sein.“

Auch Preßler erklärte diesen Vorschlag für den besten. – Man machte sich nun also auf den Weg. Aber die Pferde waren so matt, daß es nur schrittweise vorwärtsging und daß es auch sehr lange dauerte, bevor die Entfernung von etwa 1200 Meter, die zwischen den einzelnen eingehalten werden sollte, hergestellt war.

Egon Lenz, mittelgroß, schlank, sehnig wie ein Berufsathlet, befand sich am äußersten rechten Flügel der Linie, die auf diese Weise eine halbe Meile lang war und auf der die drei Reiter leider in einem wahren Schneckentempo vorrückten.

Die Zeit verstrich. Es begann bereits zu dunkeln, als Lenz zur Rechten hinter einer Sanddüne einen dünnen Rauchstreifen in die noch immer dunstige Luft aufsteigen sah.

Sofort gab er nach links hin das vereinbarte Signal. „Halt!“ an den Doktor weiter, der es richtig seinem Nebenreiter übermittelte.

Die Linie hielt also. Und Egon Lenz näherte sich nun sehr vorsichtig jener Düne, – denn wo Rauch, dort auch Menschen! Wer aber hier in dieser Einöde lagerte, konnte kaum ein feindlicher Nomade sein, nein, der hatte sicher entweder etwas Besonderes vor oder alle Ursache, die Einsamkeit zu suchen, war in jedem Falle ein Mann, dem man nicht ohne weiteres trauen durfte.

 

2. Kapitel.

Ein Schurkenstreich.

Auf der Ostseite jenes Sandhügels hatten sich ein paar Distelsträucher angesiedelt; daneben gab es auch ein Fleckchen Gras. Drei Pferde weideten dort; zwei andere und ein Reitdromedar hatten sich zum Ausruhen niedergetan.

Das Feuer, genährt durch Distelstauden und getrockneter Pferdedünger, brannte inmitten der stacheligen Büsche auf einem kleinen, freien Fleck. Dort lagen auch drei Männer auf dem Bauche, starrten in die qualmende Glut und wechselten nur hin und wieder ein Wort.

Nur einer von ihnen war ein Weißer. Die beiden anderen dem Gesichtsschnitt und der Kleidung nach Turkmenen.

„Herr, Du hast die Oase also nicht gefunden“, sagte der eine der Steppenbewohner jetzt und schaute den schwarzbärtigen, breitschultrigen Gefährten prüfend an. In dem Blick lag Mißtrauen. „Wie kam es, daß Du Deine Büchse verlorst, Herr? Ich habe noch keinen kennengelernt, der sein Gewehr bei einem Ritte einbüßte.“

Da fuhr der Europäer wütend auf:

„Du scheinst mir nicht zu glauben, Ali Schia! – Es ist so: Ich ritt Galopp, und gerade an einer Stelle, wo am Abhang einer Sanddüne meterhoch pulverfeine Körner roten Sandes zusammengeweht waren, entglitt mir das Gewehr. Ehe ich mein Pferd zügeln konnte, waren meine Spuren sowie die Büchse von dem in steter Bewegung begriffenen Sandstaube verschüttet, und selbst halbstündiges Nachgraben mit den Händen förderte meine Waffe nicht wieder zu Tage. Wir wollen morgen vereint danach suchen.“

Die beiden Turkmenen wechselten verstohlen einen vieldeutigen Blick. Sie glaubten dem Europäer nicht, der sie unter allerlei lockenden Versprechungen zu diesem ebenso gefährlichen wie abenteuerlichen Ritt in die wasserarme Einöde bewogen hatte. Aber sie schwiegen. Ihre Gedanken behielten sie vorläufig für sich. Und diese Gedanken waren dem Weißen nicht günstig.

Boris Aksakoff, der Schwarzbärtige, schaute wieder versonnen in die Glut des kleinen Lagerfeuers. Ihm war es gleichgültig, ob die Turkmenen seinen Worten Glauben schenkten oder nicht. Er war ihr Herr und Gebieter, er verstand es, all die sich willenlos zu unterwerfen, die er für seine lichtscheuen Unternehmungen brauchte. Bis weit über die Grenzen der Kirgisensteppe hinaus fürchtete man den geheimnisvollen Anführer der zahlreichen Bande von Pferdedieben und Räubern. Nur wenige wußten, daß er und El Mistra, das Gespenst der Küsül Kum, ein und dieselbe Person waren. Und dieses Gespenst bildete seit Jahren den Gesprächsstoff in allen Dörfern und Lagern der Steppenbewohner zwischen den Flüssen Amu Darja und Syr Darja –

Die Nacht sank über die Wüste herab. Die beiden Turkmenen begannen das Abendessen zuzubereiten, gedörrtes Fleisch, in der Glut leicht angebraten, und Hirsekuchen, kaum gar gebacken.

Aksakoffs Gedanken waren noch immer mit anderen Dingen beschäftigt. – Er hatte seine Gefährten vorhin belogen. Er hatte die sagenhafte Oase heute entdeckt – endlich – endlich! Aber – – der Herr der Oase und des seltsamen, in ihrer Mitte gelegenen Bauwerks, ein stattlicher, weißhaariger Greis, war dem kühnen Eindringling plötzlich gegenübergetreten und hatte ihn mit Hilfe von zwei zahmen Leoparden, seinen vierfüßigen Beschützern, gezwungen, unter Verlust seiner Büchse das fruchtbare, tiefe Tal wieder zu verlassen und zwar unter dem feierlichen Versprechen, es nie wieder zu betreten. – Jetzt sann Aksakoff darüber nach, wie er es ermöglichen könne, den Alten zu überwältigen und dann an die Schätze heranzugelangen, die die merkwürdige Säulenburg alten Überlieferungen nach bergen sollte. Er zergrübelte sich jedoch umsonst den listenreichen Kopf. Immer waren es die Leoparden mit ihrer sicher nie ermüdenden Wachsamkeit, die jeden Plan über den Haufen warfen.

Dann aber kam ihm plötzlich blitzartig die Erleuchtung. Weshalb denn war er nicht nur Boris Aksakoff, der Anführer der Räuber der Kirgisensteppe, sondern auch El Mistra, das Gespenst der Küsül Kum –?! Das Gespenst –! Vor diesem würden sich auch die Leoparden scheu verkriechen, diesem Anblick würde auch der Mut dieser Bestien nicht standhalten –!

Aksakoff lächelte jetzt zufrieden vor sich hin. Dann fiel sein Blick auf seine Begleiter. Und dieser Blick verfinsterte sich wieder. – Er brauchte sie nicht mehr, die beiden Turkmenen. Er war jetzt am Ziel – Mit niemandem wollte er teilen. Ihm allein sollten die märchenhaften Schätze der Säulenburg gehören –

Aksakoffs Herz war aus Stein. Seine Seele aber ein Gemisch aller schlechter Leidenschaften. Daher auch blickten seine Augen bald wieder heiter und zuversichtlich.

Er holte seine Feldflasche hervor, schraubte den Deckeltrinkbecher ab, füllte ihn mit stark duftendem Schnaps, in den er dann heimlich ein Kügelchen hineingleiten ließ. Die ahnungslosen Turkmenen, an solche Freigebigkeit ihres Herrn kaum gewöhnt, nahmen jeder einen herzhaften Schluck. – –

Kaum zehn Schritte von dem Lagerplatz Aksakoffs entfernt lag Egon Lenz hinter Distelgestrüpp verborgen und beobachtete aufmerksam alles, was sich da vor ihm abspielte. Nur das eine war ihm entgangen, – daß Aksakoff in den Becher außer der berauschenden Flüssigkeit noch etwas anderes hineingetan hatte.

Die Turkmenen sollten die Wirkung des starken Betäubungsmittels nur zu bald merken. Erst sank Ali Schia bewußtlos um, gleich darauf auch sein Stammesgenosse. – Aksakoff schleppte sie etwas abseits und begann dann sofort seine Vorbereitungen. In den Packtaschen seines Dromedars befand sich alles, was er zu seiner Verkleidung nötig hatte.

Staunend konnte der Deutsche von seinem Versteck aus nun zusehen, wie der Schwarzbärtige – wer er war, wußte Lenz nur zu gut, da er zu den erbittertsten Feinden der drei Gefährten gehörte – sich langsam in El Mistra, das berüchtigte Steppengespenst, verwandelte. Lange, dünne Gewebe, mit Phosphor getränkt, hüllten schließlich den auf dem Dromedar sitzenden Aksakoff bis zu den Hufen des Tieres derart ein, daß eine matt leuchtende, riesige Gestalt von höchst unwirklichen Umrissen entstand, – alles in allem eine Erscheinung, die tatsächlich im Dunkel der Nacht einen geisterhaften Eindruck machte. El Mistra hatte die gute Büchse Ali Schias mit in den Sattel genommen, die Pferde aneinander gekoppelt und ritt nun langsam aus der Mulde in die offene Wüste hinaus. Er war entschlossen, die beiden Turkmenen ihrem Schicksal zu überlassen. Ohne Pferde und Wasserschläuche mußten sie ja in kurzem in dieser Einöde umkommen. Dann war er sie für immer los –

Da – als er kaum dreißig Meter von dem Lagerplatz sich entfernt hatte, tauchten vor ihm zwei Reiter auf. Sofort zügelte er sein Dromedar, überzeugt, daß die beiden Leute schleunigst vor dem Gespenst die Flucht ergreifen würden. Es kam anders. – Lenz hatte inzwischen Zeit gefunden, seine Freunde zu verständigen. Während diese dem Räuber den Weg vertraten, schnitt er selbst ihm die Rückzugslinie ab.

Aksakoff wurde unruhig. Die beiden Reiter näherten sich immer mehr, dachten gar nicht daran, vor der schimmernden, riesigen Gestalt zu fliehen. Und jetzt rief der eine ihn sogar an, – und es waren deutsche Worte, die an El Mistras Ohr drangen, deutsche Worte, die er nur zu gut verstand.

„Keine Bewegung, Boris Aksakoff, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! Vielleicht erkennen Sie mich an der Stimme wieder, Sie hartgesottener Schurke! Ich bin Preßler, den Sie jahrelang dort auf jener Insel in den Karmaktschi-Sümpfen gefangen gehalten haben!“

Aksakoff wollte schnell die Büchse an die Wange reißen. Er wußte, daß er von diesem Manne kein Mitleid zu erwarten hatte. Aber – die weißen Tücher hinderten ihn. Und bevor er noch auf Preßler zielen konnte, sauste ihm von hinten ein mit tadelloser Sicherheit geworfenes Lederlasso über den Kopf, dessen Schlinge Lenz sofort mit starkem Ruck zuzog.

Gleich darauf lag Boris Aksakoff gefesselt neben den bewußtlosen Turkmenen am alten Lagerfeuer.

 

3. Kapitel.

In der Säulenburg.

„Was gedenken Sie mit mir zu beginnen?“ fragte der wehrlose Räuber am nächsten Morgen mit gelassener Ruhe Preßler, der ihm einen Becher Tee und frisch gebackenes Hirsebrot reichte. „Ich bin in Ihrer Gewalt. Und ich kann es Ihnen nicht verargen, wenn Sie sich an mir rächen – mich auslöschen würden. Ich täte dasselbe mit Ihnen, falls Sie mein Gefangener wären.“

Preßler würdigte den Elenden keiner Antwort und kehrte zum Feuer zurück, wo seine beiden Freunde und auch die inzwischen wieder zu sich gekommenen Turkmenen in leisem Gespräch saßen.

Ali Schia wiederholte jetzt seine Forderung, Aksakoff ihm auszuliefern. „Er hat uns hier verdursten lassen wollen! Er gehört uns! Er hat sein Wort gebrochen, uns, seine Verbündeten, verraten!“

Die drei Deutschen traten abseits und berieten sich. Doktor Wüllner, der sich nach den Strapazen der letzten Tage heute recht krank fühlte, wollte durchaus durchsetzen, daß Aksakoff ohne jede Strafe davonkäme. „Wir dürfen uns nicht anmaßen, seine Richter zu sein!“ meinte er. „Gott wird dies für uns besorgen! Jede Tat findet ihren Lohn – ob gut oder schlecht, – jede!“

Aber der milde gesinnte, ohnedies heute auch nicht recht urteilsfähige Doktor wurde überstimmt.

„Ali Schia und sein Stammesgenosse gehören zu Aksakoffs Bande und sind kaum besser als ihr Anführer“, erklärte Lenz. „Mögen die drei ihre Rechnung mit sich ins reine bringen. Zunächst können sie bei uns bleiben, bis wir die Oase oder doch Trinkwasser gefunden haben. Ich bin nämlich überzeugt, daß Aksakoff weiß, wo die Oase zu suchen ist, mehr noch, daß er sogar gestern dort gewesen ist. Ich sah sein Lächeln, hörte auch seine Ausrede wegen der verloren gegangenen Büchse. Vielleicht wird er sich von uns dadurch loszukaufen suchen, daß er uns hinführt.“

Aber Lenz irrte sich. Aksakoff verharrte den Tag über in Schweigen. Und selbst die rachgierigen, haßerfüllten Blicke und drohenden Reden der beiden Turkmenen, entlockten ihm nur ein geringschätziges Lächeln. – „Mut hat der Schurke – das muß man ihm lassen“, meinte Preßler zu Doktor Wüllner, der von leichten Fieberschauern befallen auf einer Decke neben dem glimmenden Feuer lag.

Der Zustand des Doktors besserte sich erst gegen Abend so weit, daß man daran denken konnte, die Suche nach den Vermißten fortzusetzen. Preßler war es, der sich nach Sonnenuntergang erbot, auf Aksakoffs schnellfüßigem Dromedar die Umgehend zu durchstreifen. „Wenn einer der beiden in der Nähe ist, wird er sicher ein Feuer angezündet haben, um sich uns bemerkbar zu machen“, sagte er. „Und vom Dromedarsattel aus hat man einen weiteren Rundblick als vom Pferde.“

Lenz war einverstanden, zumal er die beiden Turkmenen mit dem Gefangenen nicht in der Dunkelheit allein lassen wollte und da es auch besser war, Wüllners Kräfte noch zu schonen.

So brach denn Preßler, begleitet von den besten Wünschen der Zurückbleibenden, zu der nächtlichen Streife gegen zehn Uhr abends auf. Er fing die Sache sehr klug an, indem er den Lagerplatz, sich nach den Sternen richtend, in immer weiteren Kreisen umritt. Öfters machte er halt und hielt von den Kuppen hoher Sandhügel ringsum Ausschau. So verging eine Stunde – noch eine, – und wieder schien auch dieses Suchen umsonst zu sein. Doch Preßler, dessen Vaterherz jetzt schon ernstlich um das Leben seines mutigen Sohnes bangte, wollte nicht unverrichteter Sache zum Lager zurückkehren. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Der Reiter erspähte jetzt in der Ferne bei dem ungewohnten Licht eine Hügelkette, deren mittelste Erhebung einen besonders günstigen Fernblick versprach. Dorthin lenkte er das unermüdliche Dromedar. Und – ein froher Ausruf drängte sich nun über Preßlers Lippen, als er im Südwesten in der Ferne ein kleines, leuchtendes Pünktchen wahrzunehmen glaubte. Das konnte nur ein Feuer sein, und vielleicht – vielleicht –

Das Reittier, zu höchster Geschwindigkeit angetrieben, jagte weiter. Immer näher kam der Feuerschein. Dann ließ Preßler das Dromedar niederknien, stieg ab, fesselte ihm die Vorderbeine und schlich dem fremden Lagerplatz zu.

Zwei Gestalten saßen da und wechselten hin und wieder ein Wort. Es waren die Gesuchten. Am liebsten wäre Preßler sofort aufgesprungen und hingeeilt. Aber – er wollte seinen Jungen und den Jomuden vorher noch ein wenig überraschen –! Die Freude, die Vermißten endlich aufgespürt zu haben, hatte ihm den Gedanken eingegeben, sich ihnen als El Mistra, als Gespenst, zu nähern. Was er zu der Verkleidung brauchte, trug ja das Dromedar bei sich.

Nun – beinahe hätte bei dieser Gelegenheit Kurt den eigenen Vater mit einer Kugel aus seinem Stutzen begrüßt. (Vergl. das vorige Bändchen: „Die sagenhafte Oase.“)

Dann aber gab’s ein frohes Begrüßen, ein erregtes Hin und Her von Fragen und Antworten.

Kurt und der Jomude hatten sich zufällig wieder zusammengefunden. Doch, was viel wichtiger war, – der Knabe hatte die Oase bereits entdeckt, hatte die sagenhafte Ruine bereits mit eigenen Augen geschaut und auch beobachtet, wie Aksakoff von dem Herrn der Oase gezwungen worden war, den grünen Hain wieder zu verlassen. Freilich hatte auch er selbst dann aus Furcht vor den Leoparden eiligst die Flucht ergriffen.

Als die drei Gefährten nach einstündigem Ritte zum Lagerplatz der übrigen zurückkehrten, wurden sie hier von Lenz und Wüllner freudig empfanden. Leider erfuhr Preßler dann jedoch sofort, daß nur wenige Minuten vorher Aksakoff entflohen sei, dem es geglückt war, seine Fesseln an einer aus dem Sande hervorragenden scharfen Felskante durchzureiben.

Preßler stieß eine Verwünschung aus. „Der Schurke ist mehr als gefährlich!“ wetterte er. „Was nun? Sollen wir ihn laufen lassen?“

Lenz deutete auf die beiden Turkmenen, die ihre Pferde sattelten. „Sie wollen ihn verfolgen! Mögen sie! Jetzt in der Nacht ein aussichtsloses Beginnen!“ meinte er achselzuckend.

Die beiden Nomaden ritten denn auch nach kurzer Zeit in die halbdunkle Wüste hinaus. Sie waren offenbar froh, unter diesem schicklichen Vorwande sich von den Weißen trennen zu können, in deren Gesellschaft es ihnen ihrem bisherigen ganzen Lebenswandel nach wenig behagt hatte. – El Hissar, der Jomude schaute ihnen mit einem Blick nach, der Lenz zu der Frage veranlaßte, ob jener den beiden Turkmenen und ihren Rachegelüsten gegen Aksakoff nicht recht traue. Der Jomude erklärte darauf mit ernster Miene, daß die einstigen Verbündeten El Mistras seiner Ansicht nach blindlings in ihr Verderben liefen. „El Mistra ist kühn und schlau“, fügte er hinzu. „Er braucht Waffen und Pferde – Er wird sie sich holen, wo er sie bekommt.“

Lenz schüttelte den Kopf. „Es wäre doch wohl eine zu große Verwegenheit, wollte er die Turkmenen, wehrlos wie er ist, anfallen“, sagte er zögernd. Trotzdem merkte man ihm an, daß der Gedanke, Aksakoff könnte vielleicht durch List sich wieder in Besitz von Gewehren setzen, ihn stark beunruhigte.

Nachdem die Gefährten dann noch beschlossen hatten, morgens nach der Oase aufzubrechen, legten sich die anderen zum Schlafe nieder. Nur Preßler blieb munter, da er sich bereit erklärt hatte, die erste Wache zu übernehmen. – –

Ali Schia, der ältere und erfahrenere der beiden Turkmenen, hatte trotz der schwachen Beleuchtung durch das Mondlicht die Fährte des Flüchtlings sehr bald gefunden. Weit über den Hals seines Rappen gebeugt, behielt er die verschwommenen Fußeindrücke selbst bei dem schlanken Trab der Pferde beständig im Auge.

So vergingen etwa zehn Minuten. Aksakoffs Spuren verloren sich jetzt jedoch auf dem steinigen Boden eines ausgetrockneten Flußbettes, und Ali Schia mußte nunmehr einsehen, daß sein Unternehmen von vornherein aussichtslos gewesen war. Trotzdem war er über diesen Mißerfolg keineswegs allzu enttäuscht, äußerte vielmehr zu seinem Stammesgenossen, daß er auf keinen Fall den verd… Weißen sich wieder anschließen wolle, die vielleicht heimlich die Absicht verfolgten, sie beide später einer der russischen Militärstationen auszuliefern.

Die Turkmenen richteten sich dann eine halbe Stunde später in einem Talkessel unter einem verwitterten, ausgehöhlten Felsen zur Nacht ein, hüllten sich in ihre langhaarigen Reitdecken und waren auch sehr bald eingeschlafen, indem sie ihre Pferde, die dicht vor dem Felsen angepflockt waren, für ihre Bewachung sorgen ließen.

Und wieder eine Stunde später schlich eine menschliche Gestalt auf allen Vieren dem Lagerplatz der Turkmenen zu, beruhigte durch leise Zurufe die argwöhnischen Rosse und glitt nun in den dunklen Schatten des Felsens hinein, wo wenige Sekunden später zuerst Ali Schia von dem alle Vorteile klug ausnutzenden Aksakoff durch einen Hieb mit einem Stein gegen die Schläfe betäubt wurde, während sein Gefährte unter den nervigen Fäusten des Gegners mit zusammengepreßter Kehle röchelnd das Bewußtsein verlor.

Aksakoff fesselte die beiden, daß sie kein Glied rühren konnten, nahm ihnen alles ab, was ihm wertvoll war und ritt dann, das ledige Pferd mit sich führend, in der Richtung nach dem fruchtbaren Tale und der Oase davon.

Die Sonne war bereits aufgegangen, als er den Rand des schroff abfallenden Talkessels erreichte, dessen rötliche Felswände nur an wenigen Stellen einen Abstieg zuließen. Aksakoff sprengte dann unbesorgt auf die inmitten des weiten langgestreckten Tales in frischem Grün daliegende Oase zu. Zwischen den im Morgenwinde graziös sich bewegenden Wipfeln der Fächerpalmen erblickte er nun auch einen Teil des alten, seltsamen Bauwerks, das seit langem das Ziel seiner goldhungrigen Wünsche war.

Die ersten Büsche nahmen ihn auf. Jeden Augenblick konnte er nun damit rechnen, genau wie bei seinem ersten Besuch von dem Herrn der Oase angerufen zu werden. Aber heute fürchtete er weder diesen noch die beiden Leoparden. Sein Plan war fertig. Der weißhaarige Greis würde ihm jetzt den Eintritt in die Säulenburg nicht verwehren.

Ungehindert gelangte er bis an den Wassergraben, der den eigenartigen Bau umgürtete und der zwischen den ein Viereck bildenden doppelten Steinsäulenreihen angelegt war, auf denen wieder die eigentliche Burg sich erhob, ein mehr als phantastischer Bau mit Erkern und Türmchen, verwittert und vom Zahne der Zeit teilweise schon recht mitgenommen. An der einen Seite führte ein Steg über den breiten Graben, gerade gegenüber der Treppe, die vom Innern des Säulenvierecks aus den Zugang nach oben bildete. So weit war Aksakoff scheinbar unbemerkt gelangt. Nun aber tauchten urplötzlich auf der Steintreppe zwei gelbe Tierkörper auf, schnellten sich mit weiten Sätzen vorwärts und drohten den Eindringling anzugreifen.

Aksakoff, im Sattel von Ali Schias Rappen sitzend, hielt des jüngeren Turkmenen moderne Hinterladerbüchse schußbereit, während seine Augen dem vordersten Leoparden durchdringend entgegenschauten.

Da – und Aksakoff hatte bereits den Finger am Abzug des Gewehrs – ertönte von der Treppe her ein gellender Pfiff. Der Alte war dort erschienen und kam nun, gehüllt in ein weites Gewand von feinem, gegerbtem Leder, langsam auf den Steg zu, vor dem die Leoparden sprungbereit zusammengeduckt lagen.

Der Greis, eine geradezu ehrfurchtgebietende, hohe Erscheinung, sprach den kecken Abenteurer in russischer Sprache an. Sein Gesicht, sonnengebräunt und jetzt halb verzerrt vor loderndem Zorn über die Frechheit dieses Störenfrieds, zeigte edle Linien. Die Augen, groß und leuchtend, schossen förmlich Blitze. Und doch lächelte Aksakoff gelassen und zuversichtlich, begann dann selbst zu reden, verteidigte sich geschickt, häufte Lüge auf Lüge und erreichte auch wirklich, daß der Alte unschlüssig wurde.

„Bedenken Sie“, erklärte Aksakoff nun voller Eifer, „daß Sie es mit einer Übermacht von fünf gut bewaffneten Männern zu tun haben und daß gegen Bleikugeln Ihre Leoparden nicht gefeit sind. Außerdem: diese fünf Leute sind gefährliche, verwegene Abenteurer, denen ein Menschenleben nichts gilt –“

Der Greis zauderte noch eine Weile. Prüfend musterte er Aksakoffs Gesicht. Schließlich sagte er: „Gut denn – kommen Sie! Aber wenn Sie mich belogen haben oder einen hinterlistigen Streich planen, so –“

„Ich gebe gern alle meine Waffen vorläufig ab“, unterbrach El Mistra ihn schnell. „Ich meine es ehrlich mit Ihnen. Ich will Ihnen nur beistehen, da wir doch Landsleute sind.“

Der Alte schickte die Leoparden in einen Winkel des viereckigen Hofraumes, winkte dann Aksakoff und geleitete ihn bis in die Mitte des von den Säulenreihen und dem Wassergraben umfriedeten Platzes, wo eine künstlich aufgeschichtete Felsgruppe, auf der die Steinfigur eines Götzen stand, den Zugang zu ein paar unterirdischen Räumen verdeckte. Hier unten wurden Aksakoffs Pferde eingestellt, erhielten Futter und Wasser und blieben sich dann allein überlassen.

 

4. Kapitel.

Der Schlangenkäfig.

An demselben Tage um die Mittagszeit näherten sich von Westen her, wo das fruchtbare Tal sich kilometerweit wie ein schmaler Einschnitt in die Wüste hineinerstreckte, der Oase fünf Reiter. Es waren die vier Deutschen und ihr treuer Gefährte, der Jomude El Hissar. Ihnen folgten weit zurück zwei Fußgänger – die beiden Turkmenen, die von den Deutschen in ihrer hilflosen Lage aufgefunden und befreit worden waren.

Unangefochten drangen die fünf, stets vorsichtig nach allen Seiten Ausschau haltend, durch den blühenden Hain bis nahe an die Säulenburg vor, machten dann halt und starrten nun erst eine ganze Weile wortlos das merkwürdige Bauwerk an, bis endlich Doktor Wüllner die Gefühle aller in dem Ausruf zusammenfaßte: „Wer hätte das geahnt! Hier fernab von allen Stätten menschlicher Kultur mitten in einer endlosen Einöde ein noch leidlich gut erhaltenes Gebäude, dessen Stil sowohl chinesische wie altindische Anklänge aufweist! Fürwahr – ein reines Zauberschloß!“

Kaum war das letzte Wort über die Lippen des begeisterten deutschen Gelehrten gekommen, als aus einem der zahlreichen Fenster der Säulenburg, die sämtlich mit zierlichen, vergoldeten Gittern versehen waren, eine energische Stimme hervorschallte, die in mäßigem Englisch die fünf Reiter zum sofortigen Verlassen des Tales aufforderte.

Es war der Greis, der an diesen Befehl dann noch die Drohung anschloß, sofort zu schießen, wenn die fünf nicht unverzüglich kehrt machten.

Egon Lenz übernahm jetzt die Unterhandlung mit dem Alten, erklärte, wer sie seien und versicherte, nur friedliche Absichten hätten sie hierher geführt.

Da erschienen doch plötzlich zum Erstaunen der Deutschen im nächsten Fenster der Kopf und die büchsenbewaffneten Arme Aksakoffs. Schadenfroh auflachend, rief er Lenz zu, indem er sein Gewehr in Anschlag brachte:

„Friedliche Absichten –! Wer wird Euch das glauben! Räuber seid Ihr, und rauben wollt Ihr hier – nichts anderes! Mein Landsmann von Bleulen ist von mir vor Euch genügend gewarnt worden! Also – verschwindet schleunigst aus dem Tale, sonst –“

Der temperamentvolle Preßler konnte da nicht länger an sich halten.

„Schurke – Du sollst diese Gemeinheit büßen!“ brüllte er. „Wir – wir sollen Deinesgleichen sein! Diese Frechheit ist denn doch –“

Aksakoff, der wohl fürchten mochte, daß durch einen längeren Wortwechsel sein Lügennetz aufgedeckt werden könnte, wollte dieser Szene durch einen Gewaltstreich ein Ende machen, legte auf Preßler an, zielte flüchtig und drückte ab.

Ein Zuruf Kurts hatte den Vater noch rechtzeitig gewarnt. Preßler hatte sich schnell nach vorn gebeugt. Die Kugel pfiff unschädlich über ihn hinweg. Im Nu wurden dann die Pferde herumgerissen, und die fünf suchten das[1] schützende Dickicht der Oase auf, freilich erst auf Egon Lenz’ halben Befehl hin, der es nicht gern zu Blutvergießen kommen lassen wollte, obwohl es ihm ein leichtes gewesen wäre, Aksakoff durch einen Revolverschuß unschädlich zu machen.

Doktor Wüllner war ganz blaß geworden. Einmal vor Schreck über El Mistras heimtückischen Angriff auf Preßler, dann aber auch vor innerer Empörung. Preßler selbst wetterte nun sofort los, indem er sich an Lenz wandte:

„Wir hätten nicht auskneifen sollen! Eine Schande war’s. Wozu das! Mit den beiden Kerlen wären wir doch fertig geworden! –“

Lenz fiel ihm ins Wort. „Der Alte wird sehr bald merken, wen er sich zum Verbündeten genommen hat“, sagte er ruhig. „Er sieht jedenfalls nicht derart aus, als sei er gleicher Art wie Aksakoff. Wir werden ans Ziel gelangen, ohne daß einem von uns auch nur die Haut geritzt wird.“ Die unerschütterliche, kühl abwägende Überlegtheit des längst stillschweigend als Anführer der kleinen Schar Anerkannten, verfehlte auch jetzt ihre Wirkung nicht. Preßler murmelte eine Entschuldigung, knüpfte daran aber auch die Frage, was jetzt denn eigentlich geschehen solle, um die Lage schleunigst zu klären.

Lenz erwiderte, er müsse vorher die Säulenburg genauer in Augenschein nehmen, ergriff dann auch sofort seine Büchse und schlüpfte durch die Büsche davon, um sich von einer anderen Seite dem alten Gebäude zu nähern.

Kurt Preßler, den die freundlichen Leser der Erlebnisse einsamer Menschen in den vorhergehenden Bändchen zumeist unter dem Namen März Ypsilon kennen gelernt haben, mochte den Mann, den er im stillen geradezu verehrte, nicht allein die immerhin nicht zu unterschätzenden Gefahren eines solchen Kundschafterganges auf sich nehmen lassen und folgte Lenz daher in geringer Entfernung, dabei aber so lautlos, daß jener nichts davon gewahr wurde. – –

Sehen wir uns jetzt einmal in der Säulenburg selbst etwas genauer um.

Als der Alte seinen falschen, hinterlistigen Gast die breite Steintreppe hinaufgeführt und oben eine starke, eisenbeschlagene Tür geöffnet hatte, stand Aksakoff nun in einem kleinen, leeren Vorgemach, dessen Wände einst mit reichvergoldeten Malereien geschmückt gewesen sein mußten, wie noch Überreste der kunstvollen Arbeiten deutlich verrieten. Weiter geleitete der Greis ihn dann in ein großes, helles Zimmer, das die halbe Breite dieses Flügels einnahm. Es war dies des einsamen Bewohners Wohn- Arbeits- und Schlafgemach. Die Einrichtung zeigte, daß jedes Stück von dem Alten selbst hergestellt war. Trotz aller Einfachheit gab sich doch in der Form der einzelnen Möbel sowohl ein erlesener künstlerischer Geschmack als auch ebenso viel Handfertigkeit und Sorgfalt kund.

„Alle übrigen Räume sind leer – bis auf wertloses altes Gerümpel“, sagte der Greis jetzt und deutete einladend auf einen Ledersessel. „Nehmen Sie Platz. Ich begrüße Sie als den einzigen und ersten Gast, den ich seit meinem Einzug hier – und der liegt über vierzig Jahre zurück – willkommen heißen durfte. – Nein – nicht durfte“, verbesserte er sich schnell. „– Willkommen heißen mußte – mußte, denn eigentlich sollte, so lange ich lebe, kein anderer dieses mein Haus betreten. Es ist mein Haus, mein Eigentum kraft des Rechtes des ehrlichen Finders. Ich, der russische Grenzoffizier von Bleulen, habe dieses Bauwerk vor fast einem Menschenalter zufällig aufgefunden. Und später bewogen mich besondere Umstände dazu, mich für immer in diese Einöde zurückzuziehen. Welcher Art diese Umstände waren, das mag mein Geheimnis bleiben. Jedenfalls bin ich Deutschrusse, stamme aus Riga und gehöre dem alten kurländischen Geschlecht derer von Bleulen an.“

Aksakoff, obwohl jetzt so tief gesunken, hatte die Zeiten doch noch nicht vergessen, wo er sich als ehrlicher Ingenieur sein Brot verdient hatte. Und ebensowenig waren ihm die Umgangsformen zwischen Kulturmenschen geschwunden, so daß er jetzt sich erhob und gleichfalls seinen Namen nannte: Boris Aksakoff.

Dann holte der Alte ein paar Erfrischungen – Früchte, selbstgekelterten Wein und mancherlei Süßigkeiten – herbei, reichte dem Gast auch eine Zigarre eigenen Fabrikats und kam auf Umwegen auf den drohenden Überfall durch die angeblichen Banditen zu sprechen, wollte Aksakoffs Rat hören, wie man sich am besten verteidigen könne.

„Oh – das ist doch höchst einfach!“ rief Aksakoff sofort. „Da brauche ich gar nicht lange nachzudenken, Herr von Bleulen. Wir verbergen uns hinter den Fenstern, lassen die Kerle ganz nahe herankommen und knallen sie dann ohne Anruf von den Gäulen. Ich für meine Person übernehme mindestens drei. Ich bin ein sehr sicherer Schütze, und wenn Sie nicht –“

„Die Sache ist doch zu ernst, um zu scherzen“, unterbrach der Greis ihn voller Würde. „Jedenfalls können Sie doch nur im Scherz gesprochen haben – Das wäre ja Meuchelmord – selbst wenn es sich um Räuber und ähnliches Gesindel handelt.“

Aksakoff merkte, daß er sich eine Blöße gegeben hatte und tat nun selbst so, als ob der Vorschlag von ihm nie ernsthaft gemeint gewesen sei.

Nachdem von Bleulen und der gefährliche, berüchtigte El Mistra dann noch eine Weile über denselben Gegenstand, die Verteidigung der Säulenburg, ihre Ansichten ausgetauscht hatten, wobei Aksakoff dem Greise ein wunderbar erlogenes Märchen über den Grund seiner Anwesenheit hier in dem ödesten Teile der Küsül Kum aufgetischt hatte, machte er sich mit von Bleulens Erlaubnis an die Besichtigung des alten Baues, wobei er hauptsächlich darauf acht gab, ob nicht irgendwo verborgene Räume vorhanden sein könnten, die die erhofften Schätze bargen.

Recht enttäuscht kehrte er nachher in von Bleulens Wohngemach zurück. Das Gebäude war so beschaffen, daß es darin keine Geheimgelasse oder Ähnliches geben konnte. Nur zu gern hätte Aksakoff jetzt den Greis geradezu gefragt, ob er denn hier seiner Zeit gar nichts Wertvolles vorgefunden habe. Doch die Vorsicht riet ihm zu schweigen. Außerdem hatte von Bleulen auch bereits mit Hilfe eines Fernglases das Nahen der angekündigten Reiter festgestellt, so daß man jetzt an anderes zu denken hatte.

Als dann aber Aksakoff den Schuß auf Preßler abgefeuert hatte und die angeblichen Banditen sich schleunigst in den Schutz des Gebüsches zurückgezogen hatten, kam es zwischen den Verteidigern der Säulenburg zu einer recht erregten Auseinandersetzung. Mit gebieterischer Miene befahl von Bleulen dem heimtückischen Schützen, fortan sich jeder Einmischung bei einer vielleicht stattfindenden nochmaligen Unterredung mit den Angreifern zu enthalten.

„Offen gestanden – die Leute machten auf mich keineswegs den Eindruck von Wegelagerern“, fuhr von Bleulen nachdenklich fort, wobei er Aksakoff durchdringend anblickte. „Ich glaube in den Augen der Menschen lesen zu können. Der, der mit mir sprach, war offenbar ein Deutscher. Sein freier Blick, seine ungezwungene Art gefielen mir.“

Aksakoff wäre nur zu gern mit Schmähungen gegen Lenz vorgegangen. Doch er beherrschte sich und meinte nur: „Der Schein trügt – trügt sehr – sehr oft, Herr von Bleulen.“ Dann fügte er nach kurzer Pause hinzu: „Wenn Sie aber so milde mit den Banditen umspringen wollen, – wie denken Sie sich dann eigentlich den Ausgang dieser Belagerung?! Die Kerle weichen sicher nicht vom Platze, werden uns eben auszuhungern suchen.“

von Bleulen schaute zum Fenster hinaus auf die wehenden Baumwipfel. „Die Leute hoffen hier Schätze zu finden“, sagte er zögernd. „Wenn ich ihnen nun beweise, daß dies Gebäude nichts Derartiges enthält, werden sie wieder abziehen. Was sollen sie hier? Mitnehmenswertes gibt es hier kaum – oder sie müßten gerade die ganze Säulenburg mit fortschleppen.“

Aksakoff horchte auf. „Die Banditen dürften Ihnen kaum glauben schenken“, sagte er schnell.

„Gut – mögen sie den ganzen Bau von unten bis oben durchstöbern. Sie werden nichts finden.“

Diese letzten Worte bestärkten Aksakoff in seinem Argwohn, daß von Bleulen die Schätze eben außerhalb des Hauses in einem Versteck untergebracht habe. – Er lächelte fein und meinte nun:

„Sehr gut, Herr von Bleulen. Mögen die Banditen nur suchen. Den Ort, wo ihre verkörperten Wünsche liegen, werden sie gewiß nicht entdecken.“

Der Greis richtete die klaren Augen voll auf den Gast.

„Sie irren, Aksakoff!“ erklärte er fest „Es gibt hier keine Schätze – nichts. Auch Sie scheinen anzunehmen, hier liegen irgendwo Gold und Kostbarkeiten verborgen. Nein – dem ist nicht so! Was hier –“ Er stockte, fuhr dann schneller fort „– hier vielleicht mal verborgen war werden die umwohnenden Steppenvölker längst vor meiner Zeit mitgenommen haben.“

Aksakoffs feinen Ohren war die hastige Beendigung dieses Satzes nicht entgangen. Blitzschnell überlegte er jetzt. Daß von Bleulen nicht die Wahrheit sprach, schien ihm gewiß. Weiter sagte er sich, daß die Deutschen ohne Zweifel nicht nochmals sich den Kugeln der Bewohner der Säulenburg aussetzen, vielmehr abwarten würden, bis sich eine Gelegenheit bot, mit dem Alten nochmals zu verhandeln. – Und so reihte sich in seinem verbrecherischen Hirn Gedanke an Gedanke, bis daraus ein bestimmter Entschluß wurde. Er wollte von Bleulen zwingen, das Versteck der Schätze zu verraten, wollte dann das Wertvollste zusammenpacken und in der kommenden Nacht entfliehen.

Kaum war dieser ruchlose Plan ausgeheckt, als er auch sofort an seine Ausführung ging. Er wußte, daß die Leoparden drüben im Flügel gegenüber sicher eingesperrt waren, wußte auch, daß von Bleulen, der noch am Fenster stand, keinerlei Waffe bereit hatte.

Er selbst saß in dem Ledersessel, neben dem seine oder vielmehr die gestohlene Büchse lehnte. Und nun sagte er ganz unvermittelt:

„Jetzt scherzen Sie! Es gibt hier Kostbarkeiten in Hülle und Fülle! Sie trauen mir nur nicht, wollen mir das Versteck nicht verraten. Das ist sehr undankbar. Sie sind alt, können mit dem Gelde nichts mehr beginnen. Ich stehe im besten Lebensalter. Gerade als Ingenieur könnte ich viele hochfliegende Pläne verwirklichen, wenn ich nur die nötigen Mittel dazu hätte.“

von Bleulen blickte zu Boden, strich nachdenklich seinen weißen Patriarchenbart. Und leise erwiderte er nun:

„Sie sind mein Gast. Sie sollen nicht unbeschenkt meine Schwelle verlassen.“

Da erhob sich Aksakoff mit einem Ruck.

„Ah – jetzt habe ich Gewißheit!“ rief er. „Heraus mit dem Geheimnis: Wo finde ich, was Ihnen nichts mehr nützen kann?“ Seine Linke hatte die Büchse gefaßt, die er nun schußfertig unter den Arm nahm.

Der Greis hatte das edle, weiße Haupt hoch erhoben. In seinem Gesicht prägte sich deutlich ein Ausdruck tiefen Seelenschmerzes aus.

„Also auch Sie –!“ meinte er bitter. „Auch Sie von der Gier nach dem verderblichen Golde, diesem blinkenden Fluche der Menschheit, gepackt aus schnöder Selbstsucht! Ein Gast, der dem Herrn des Hauses droht! Oh – kehren Sie schleunigst um auf diesem falschen Pfade, besinnen Sie sich auf sich selbst! Ich verspreche Ihnen: Sie werden Ihren Lohn empfangen, bevor wir uns trennen!“

Aksakoff fühlte den Doppelsinn dieser letzten Worte nicht heraus.

„Lohn – Lohn?!“ rief er noch drohender. „Bin ich etwa Ihr Diener, Ihr Sklave?! Ich verlange alles – oder doch zum mindesten den größten Teil!“

Bleulen nickte. „Es sei. Setzen Sie sich wieder in Ihren Sessel. Die Beschreibung des Schatzortes ist etwas umständlich!“

Aksakoff ließ sich in den weichen Sessel zurückfallen. „Los denn“, meinte er roh. „Und etwas eilig und kurz und genau! Meine Büchse wird zuweilen sehr ungeduldig.“

Bleulen hatte, gedeckt durch das faltige Gewand, mit der Linken schnell an einer Schnur gezogen, die neben dem Fenster in den Fußboden des Gemaches hineinging und die Aksakoff bisher gar nicht beachtet hatte, ebensowenig wie es ihm aufgefallen war, daß der Ledersessel, der unten kastenartig gebaut war, so fest auf dem Boden stand, als sei er dort festgeschraubt.

Der Greis begann jetzt zu sprechen.

„Es ist richtig: Als ich seinerzeit als junger Offizier dieses alte Bauwerk entdeckte, fand ich im Turmgemach oben, sorgfältig in Truhen verpackt, ein unermeßliches Vermögen in Gold und Edelsteinen.“

Aksakoffs Augen weiteten sich vor Gier.

„Ah – ein unermeßliches Vermögen“, stieß er hervor. „Und – wo befindet es sich jetzt?“

„Dort – wo Sie es nie – nie erreichen können“, sagte Bleulen plötzlich mit erhobener Stimme.

Aksakoffs Miene verzerrte sich. Er wollte nach der Büchse langen, die über seinen Knien lag. Da rief Bleulen ihm mit warnender Handbewegung zu:

„Sitzen Sie still – rühren Sie kein Glied! An Ihrem rechten Bein kriechen zwei Schlangen hoch, – Puffottern – die giftigsten, die es gibt. Reizen Sie die Tiere nicht, die ich in dem Behälter im Sesselfuß zu meinem Vergnügen halte. Die Tür des Behälters habe ich vorhin geöffnet. Es ist dies eine Einrichtung, die ich mir für Gäste Ihrer Art angelegt habe. Sie bewährt sich heute zum ersten Male. Die Ottern sind daran gewöhnt, auf dem Sitz stets eine Schale mit Milch zu finden. – Also: rühren Sie kein Glied!“

Aksakoff war leichenblaß geworden. Er hatte den Kopf ein wenig vorgebeugt und gewahrte nun selbst die beiden gefährlichen Reptilien mit den allen Giftschlangen eigenen, platten Köpfen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er wagte nicht einmal zu sprechen. Nur sein auf den Greis gerichteter Blick flehte um Hilfe.

Bleulen begann jetzt zu fragen; ob die fünf Retter wirklich Banditen seien; ob nicht vielmehr Aksakoff selbst ein weit gefährlicherer Verbrecher sei.

Der im Sessel Sitzende, halb irre vor Angst, deutete durch Kopfschütteln und Nicken die Antworten an. Aber diese Antworten waren falsch.

Inzwischen hatte die eine der Schlangen sich bereits um den Büchsenlauf geringelt und lag halb auf Aksakoffs Arm.

„Sie belügen mich“, rief Bleulen da mit Donnerstimme. „Sie elender Mensch haben vielleicht noch nie im Leben die Wahrheit gesprochen! – Ich werde jetzt dieses Fenster öffnen und ein paar Schüsse aus meinem Revolver in die Luft abfeuern. Das wird die Retter herbeirufen. Vielleicht sagen mir diese dann, wer Sie eigentlich sind.“

Er ließ den Worten sofort die Tat folgen.

 

5. Kapitel.

Aksakoffs Ende.

Draußen in der Oase hatte inzwischen März Ypsilon seinen verehrten Herrn Lenz, der gerade auf den über den Wassergraben führenden Steg zukroch, leise angerufen und flehentlich gebeten, ihn doch mitzunehmen.

Lenz winkte dem Knaben ihm zu folgen. Ihm war dessen Begleitung ganz lieb. Wußte er doch, wie unerschrocken und geistesgegenwärtig Kurt war, und daß er an ihm im Notfalle die beste Unterstützung haben würde.

Gerade als sie dann, dicht hintereinander sich haltend, den Anfang des Steinplattensteges erreicht hatten, ertönten fast genau über ihren Köpfen vier Schüsse.

Erst glaubte Lenz, diese galten ihnen. Dann aber merkte er, daß der den Revolver haltende Arm aufwärts gerichtet war, sprang nun sofort, sich halbwegs das Richtige zusammenreimend, auf die Füße und brüllte mit voller Lungenkraft:

„Hallo! Was soll die Schießerei!“

Droben beugte der Greis sich aus dem Fenster.

„Ah – zwei von den Reitern“, rief er hinab. „Kommen Sie! Ich habe Sie einiges zu fragen.“

Aksakoff, der diese kurze Zwiesprache Wort für Wort verstanden hatte, erkannte jetzt, daß er alles auf eine Karte setzen mußte, wenn er auch diesmal wieder den schon so oft gefährdeten Kopf aus der Schlinge ziehen wollte. All seinen Mut zusammenraffend sprang er ganz plötzlich auf, schüttelte die Reptilien blitzschnell von sich ab, schnellte sich nach der nächsten Tür hin, riß die Büchse hoch und feuerte.

Bleulen, der gerade das Fenster wieder schloß, drehte sich um sich selbst und schlug dann der Länge nach auf den Boden hin.

Aksakoff aber stürmte in die kleine Vorhalle, öffnete die eisenbeschlagene Tür, die auf die breite Steintreppe mündete, und wollte hier denen, die Bleulen herbeigerufen hatte, den Eintritt in die Säulenburg gewaltsam verwehren.

Er kam noch zur rechten Zeit. Lenz und Kurt Preßler hatten eben die unterste Stufe betreten, als Aksakoff ihnen sein: „Halt – oder schieße!“ zudonnerte.

Sie stutzten, schauten empor. Oben stand El Mistra höhnisch grinsend, hob jetzt die Büchse und zielte auf Lenz, – drückte auch ab.

Aber – nur das Knacken des vorschnellenden Bolzens der Doppelbüchse war zu hören – kein Schuß! Aksakoff hatte vergessen, die Patrone in dem zweiten Lauf, den er vorhin auf Preßler abgefeuert hatte, zu erneuern.

Schnell gefaßt wollte er wieder hinter der schweren Tür verschwinden. Doch Lenz kam ihm zuvor. Eine Kugel zerschmetterte des Verbrechers linkes Schienbein, daß er mit heiserem Wutschrei hilflos zusammenbrach.

Im Nu waren Lenz und Kurt neben ihm, packten ihn und fesselten ihn mit Lenz’ starkem Lederlasso.

Aksakoff knirschte mit den Zähnen. Schaum trat ihm vor den Mund.

„Hunde – deutsche Hunde – Ihr – Ihr –“

Die beiden kümmerten sich nicht um das wüste Geschimpfe, rissen die Tür links auf und – prallten zurück.

Dort am Fenster lag mit blutbeflecktem Gewande der Greis, scheinbar tot. Und dicht vor seinen Füßen glitten gerade zwei ausgewachsene Puffottern scheu unter einen Bücherschrank.

Lenz schickte März Ypsilon sofort zu den Gefährten. Er selbst bemühte sich um Bleulen, dem Aksakoffs Kugel dicht über dem Herzen die Brust durchschlagen hatte.

Noch lebte der Greis. Aber ob diese Wunde nicht zum Tode führen würde, erschien Lenz doch sehr fraglich. – Dann dachte er an die Giftschlangen. Er scheuchte sie hinter dem Schranke hervor, wollte sie mit dem Gewehrkolben töten. Doch sie waren flinker. Blitzschnell verschwanden sie in ihrem Käfig unter dem Ledersessel, und ebenso schnell klappte Lenz dann das kleine Türchen hinter ihnen zu.

Da kamen auch schon die Gefährten – allen voran Preßler, der in höchster Erregung schon von der Schwelle des Gemaches rief:

„Lenz – lebt er – lebt er? – Oh – er darf nicht sterben! Mir ist’s ja jetzt wie Schuppen von den Augen gefallen! Es kann nur Bleulen, der Freund meines Vaters sein, jener Bleulen, dessen Brief ich unter den hinterlassenen Papieren daheim vorfand und der somit die eigentliche Veranlassung dazu war, daß ich die abenteuerliche Reise hier nach Turkestan unternahm!“ (Vergl. Band 102 „Das Gespenst der Küsül-Kum“.)

„Er lebt, Preßler, – noch lebt er. Aber –“

Da regte sich der Verwundete, streckte Preßler die Hand entgegen.

„Freund – täuschen mich meine Augen? Bist Du’s denn wirklich? Wirklich mein alter –“

„Nur der Sohn Ihres langjährigen besten Freundes“, erwiderte Preßler und kniete neben dem Todgeweihten nieder.

„Oh – welche Ähnlichkeit – welche Ähnlichkeit“, flüsterte Bleulen, dessen Wangen bereits sich aschgrau verfärbten. „Der Sohn – – der Sohn! Welche Fügung des Schicksals! Nun werden die Schätze doch dem gehören, dem ich sie zugedacht hatte von Anfang an –“

Seine Stimme wurde merklich schwächer.

„Beuge Dich tiefer, Sohn meines einzigen Freundes, und höre –“, kam es nur noch wie ein Hauch von des Sterbenden Lippen. „In der Oase findest Du zwei Dattelpalmen, deren Stämme miteinander in halber Höhe verwachsen sind. Unter diesen Palmen –“

Der Greis richtete sich plötzlich mit einem Ruck auf, blickte empor zur Decke, lächelte, als habe er soeben eine beseligende Vision geschaut, und fiel tot zurück.

Stumm und tief ergriffen standen die fünf Gefährten um die Leiche herum.

„Frieden seiner Seele“, sagte Egon Lenz leise. „Dieser seltsame Mann nimmt viele Geheimnisse mit ins Grab. Weshalb hat er hier allein in der Einsamkeit gehaust? Weshalb verachtete er die Menschen so sehr, daß er sie nicht mehr sehen mochte? – Niemand wird uns Antwort auf diese und noch manche Fragen geben, falls Bleulen nicht ein Tagebuch oder andere Aufzeichnungen hinterlassen hat.“

Es sei hier gleich bemerkt, daß sich nirgends irgendwelche Papiere in dem großen Gebäude befanden. Beulen nahm seine vielfachen Geheimnisse in Wahrheit mit ins Grab.

Während die anderen Gefährten noch, von ernsten Gedanken bewegt, auf den Toten schauten, hatte März Ypsilon, da er im Vorraum, wo Aksakoff gefesselt lag, ein Geräusch zu hören geglaubt hatte, sich leise hinausgeschlichen.

Aksakoff war verschwunden.

Kurts Alarmruf ließ die anderen in wilder Hast hinausstürmen.

Wo war der lahm geschossene Verbrecher geblieben? Im Hause unten war keine Spur von ihm zu entdecken. Alle hasteten die Treppe hinab. Dann ein halbunterdrückter Schrei aus Kurts Kehle.

„Dort – dort“, stotterte der Knabe.

Wie versteinert standen die Männer da. Der Anblick, der sich ihren entsetzten Blicken darbot, war nur zu geeignet, selbst die stärksten Nerven anzugreifen.

Gerade gegenüber der Treppe hing an einer der Steinsäulen der Körper Aksakoffs mit dem Kopf nach unten, und zwar so, daß der Oberleib bis zur Brust in den Wassergraben eingegraben war. Mit Hilfe des Lassos waren dem Elenden die Füße an einen Vorsprung der Säule festgebunden worden.

„Die Rache der beiden Turkmenen“, sagte Lenz leise. „Während wir nur auf den Sterbenden achtgaben, haben sie ihr Rachewerk vollendet.“ –

Aksakoff war tot; Turkestan aber von dem schlimmsten Schurken befreit. –

Die Gefährten blieben noch acht Tage in der Säulenburg. Dann traten sie den Rückmarsch an. – Und die Schätze? – wird der freundliche Leser fragen. – Es mag genügen, daß sie unter den Palmen gefunden wurden und daß Preßler nicht nur mit den Gefährten sich[2] die Reichtümer gleichmäßig teilte, sondern daß er auch daheim in Deutschland sehr große Summen für wohltätige Zwecke stiftete. – Es mag genügen. Wir wollen uns mit dem verderblichen Golde, das so selten gute Saiten der menschlichen Seele zum Klingen bringt, nicht näher beschäftigen.

Und die Säulenburg? – Wenn ein Erdbeben sie nicht vernichtet hat, dürfte sie noch an derselben Stelle stehen wie einst. –

Etwas müssen wir noch für die Leser der vorhergehenden Bändchen nachholen. – Die eigenartigen Lebensschicksale „März Ypsilons“ sind hier nur ganz kurz gestreift worden. Seine Mutter galt als verschollen. Preßler erließ dann aber nach seiner Rückkehr nach Deutschland sehr ausführliche Aufrufe in allen Zeitungen. Daraufhin meldete sich bereits nach vierzehn Tagen der Direktor einer Provinzial-Irrenanstalt und teilte Preßler mit, unter seinen Kranken befinde sich eine Frau, die an Schwermut leide und das Gedächtnis, selbst für ihren Namen – völlig verloren habe; die Beschreibung Preßlers von seiner verschwundenen Gattin passe nun ganz genau auf diese Dame, die vielleicht – falls es die Gesuchte sei – gerade durch ein unvermutetes Wiedersehen mit ihrem Gatten geheilt werden könne.

Und tatsächlich: Kaum stand Frau Preßler dem Gatten und ihrem Jungen gegenüber, kaum hörte sie die wohlbekannten Stimmen, als über ihr vergrämtes, seelenloses Gesicht ein heller Schimmer wie ein Sonnenstrahl hinlief. Und dann kam es zögernd und doch jubelnd über ihre Lippen:

„Ihr – Ihr?! Wo, wo seid Ihr nur so lange gewesen?“ –

Wo? – Unsere Leser wissen es: Im Lande der Turkmenen, in der Wüste Küsül-Kum, – in der Säulenburg, von der wir hier für immer Abschied nehmen.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S. 14.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „die“.
  2. Überflüssiges Wort „in“ entfernt.