Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 98:
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin
Klara Rittler,
Malerin,
Berlin W, Paulsbornerstraße 211,
stand mit Tinte geschrieben auf der Visitenkarte, die uns Mathilde, die Harstsche Köchin, am Nachmittag des 16. Mai 1922 in den Gemüsegarten brachte.
Harald Harst, auf den Spaten gelehnt, mit dem er soeben ein Beet umgegraben hatte, zog die Stirn kraus.
„Sagen Sie der Dame, daß ich erst übermorgen neue Aufträge annehme, Mathilde. Ich muß mich unbedingt nach diesen letzten Tagen etwas ausruhen. Der letzten Tage Qual war groß – zu groß! Einen Gisbert Parnack zur Strecke bringen, ist schlimmer, als Ihnen, liebe Mathilde, klar zu machen, daß eine herrschaftliche Köchin Klienten nicht in einer so schmierigen Küchenschürze die Tür öffnet.“
Die behäbige Mathilde wurde blaurot, schnappte[1] nach Luft und trottete davon.
Harald blickte mich an. „Dieses Fräulein Rittler kenne ich,“ meinte er bedächtig. „Sie ist mehr Zeichnerin als Malerin. Ihre Illustrationen galanter Romane sind künstlerisch. – Das heißt: persönlich kenne ich sie nicht, die Rittler. Ihren Illustrationen [nach][2] muß sie schick, graziös, pikant sein.“
Dann grub er weiter, und ich häufte Erde über die allzu vorwitzig herauslugenden Spargelköpfe.
Bis Mathilde, jetzt mit weißer Schürze, zurückkehrte und meldete:
„Das Fräulein schickt hier nochmals die Karte. Sie hat nun noch hinten was draufgeschrieben.“
Und das war:
Sehr geehrter Herr Harst, vielleicht besuchen Sie mich heute abend gegen zehn Uhr. Ich werde Sie vor dem Hause erwarten. Es handelt sich vielleicht um jenen Gisbert Parnack, der nach einer Notiz in der heutigen Berliner Mittagspost in der verflossenen Nacht von Ihnen und der Kriminalpolizei verhaftet worden ist.
Kl. R.
„Ist die Dame schon fortgegangen, Mathilde?“ fragte Harald.
„Ja.“
„War sie jung?“
„Ja.“
„Sie sind ja glänzender Laune, Mathilde! Der Schürze wegen?!“
Mathilde, Inventarstück des Harstschen Hauses seit dreißig Jahren, knurrte ablenkend:
„Herr Bechert hat eben angerufen. Herr Harst möchte doch recht bald aufs Präsidium kommen, des Parnack wegen. Er läßt bestellen, daß der in der Nacht Verhaftete gar nicht Gisbert Parnack ist.“
Harsts Gesicht war zum Malen.
Dann faßte er sich. „Ein Auto, Mathilde … In zehn Minuten muß es vor der Tür stehen.“
Mathilde eilte davon.
Und Harald blickte mich wieder lange an.
„Weißt Du, mein Alter, sonderbar kam es mir in der Nacht ja vor, daß Parnack sich so ruhig verhaften ließ,“ sagte er schließlich. „Trotzdem: es war Parnack! Ich bin meiner Sache ganz sicher. Wenn ich ein Gesicht ein einziges Mal bei hellem Tageslicht minutenlang betrachtet habe, erkenne ich es stets wieder. Und Parnack sah ich des öfteren unmaskiert bei guter Beleuchtung. – Fahren wir also zu Bechert.“ –
Im Auto rauchte er drei Mirakulum, schwieg bis zum Potsdamer Platz.
Und rückte hier näher an mich heran …
„Es gäbe eine Möglichkeit,“ meinte er grüblerisch.
„Wofür?“
Keine Antwort.
„Und dann wäre die Rittler wichtig,“ sagte er erst an der Kreuzung der Leipziger- und Friedrichstraße.
„Also eine Möglichkeit, daß er doch nicht unser Parnack wäre.“
„Ja.“
„Hm – da bin ich gespannt. Auch ich habe ihn genau wiedererkannt. Ich sah ihn ja damals in …“
„Ob und wie Du ihn sahst, kommt bei meiner Möglichkeit gar nicht in Betracht. – Warten wir ab.“ –
In Kriminalkommissar Becherts Dienstzimmer fanden wir unseren Parnack, einen Protokollführer und einen Kriminalbeamten außer Bechert selbst vor.
„Hier ist das Aktenstück Parnack, lieber Harst,“ sagte Freund Bechert nervös. „Lesen Sie mal die ersten Seiten.“
Wir beide lasen gemeinsam:
„Parnack, Ernst, Gustav, Gisbert, geboren am …, Sohn des …, mit vierzehn Jahren Fürsorgezögling, mit fünfzehn entwichen, tauchte mit zwanzig Jahren wieder in Stettin auf, war Agent, dann vorbestraft wegen Heiratsschwindeleien, Betruges, versuchter Erpressung mit sechs Monaten Gefängnis, mit 24 Jahren wegen Hoteldiebstahl zwei Jahre Gefängnis, mit 27 Jahren angeblich nach Amerika ausgewandert, mit 32 Schreiber bei Rechtsanwalt Finster, Stettin, später dessen Bürovorsteher, mit 45 Jahren entlarvt als „Justizrat Finster,“ Berlin … – Erkennungskarte Nr. 19706, A, B, 8C, besondere Kennzeichen: Fünf falsche Zähne, Stiftzähne, im Oberkiefer vorn, tiefe breite winkelförmige Narbe am linken Oberarm und Operationsnarbe von einer Blinddarmoperation.“
Harst hatte genug gelesen, reichte das Aktenstück Bechert zurück und fragte:
„Unser Parnack dort hat also keins dieser drei besonderen Kennzeichen?“
„Nein, lieber Harst, nicht ein einziges. Es ist mithin auch nicht Gisbert Parnack.“
Der Mann, der nicht Parnack war (das stand ja nun fest) saß mit gefesselten Händen und gesenktem Kopfe da.
In seiner ganzen Haltung drückte sich, ganz im Gegensatz zu seinem Verhalten bei seiner Verhaftung, eine tiefe Niedergeschlagenheit aus.
Harald sprach ihn an. „Wer sind Sie nun eigentlich?“ fragte er freundlich und zog einen Stuhl dicht vor den Unbekannten, nahm Platz und wendete sich an Bechert. „Vielleicht machen Sie dem Manne die Handgelenke frei. Und dann lassen Sie uns beide mal mit ihm allein.“
Bechert zögerte erst, tat schließlich doch, was Harst wünschte und entfernte sich mit dem Kriminalbeamten in das Nebenzimmer.
Wir waren nun allein mit diesem Menschen, dessen Gesicht, Größe und Stimme denen des echten Parnack so völlig glichen.
Der Unbekannte schaute auch jetzt nicht auf.
Seine Hände ruhten noch im Schoße, als trügen sie noch immer die Handfesseln.
„Sie sind Zigarettenraucher, wie ich sehe,“ sagte Harald in leichtem Plauderton. „Ihr rechter Zeigefingernagel ist gelb gebeizt von Rauch. – Bitte …“
Und er hielt ihm sein geöffnetes goldenes Etui hin.
Der Mann hob etwas den Kopf, starrte begierig auf die Zigaretten …
Und – griff zu, stammelte ein heiseres: „Danke, Herr Harst.“
Ich gab ihm Feuer. Er hatte den Kopf nun völlig aufgerichtet. Auch sein Körper straffte sich. Seine Augen aber wichen den unseren aus. Es war in diesen graublauen Augen, die in der Farbe genau mit denen Parnacks übereinstimmten, ein Ausdruck von Melancholie und Verzagtheit, der niemals erheuchelt sein konnte.
„Wer sind Sie?“ fragte Harald erneut, nachdem der Mann hastig einige Züge geraucht hatte. „Sprechen Sie ganz offen zu mir. Wie kamen Sie dazu, Parnacks Rolle zu spielen?“
Jetzt blickte der Unbekannte Harst an, und dieser scheue Blick war so verzweifelt, so trostlos, daß er mich geradezu rührte.
„Ich … ich kenne keinen Parnack, Herr Harst,“ erwiderte er leise.
Dann rollte die Zigarette auf den Fußboden, der Mann schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte fast lautlos in sich hinein. Sein Körper, von ruckartigen Bewegungen geschüttelt, schwankte wie kraftlos hin und her.
Harald wartete, bis der Mensch sich etwas beruhigt hatte.
„Nehmen Sie hier eine frische Zigarette,“ sagte er gütig. „Rauchen Sie …! Ich will Sie vorläufig durch Fragen nicht belästigen.“
Der Mann bückte sich rasch, hob die Zigarette auf, wischte das Mundstück ab und murmelte:
„Die genügt ja. Sie brennt noch. – Sie sind sehr gütig zu mir, Herr Harst.“
Harald trat ans Fenster, winkte mir. Ich stellte mich neben ihn. Nach einer Weile sagte er halblaut:
„Der Mann hat fraglos einen von Parnacks Anzügen an, trägt vielleicht auch dessen Wäsche und Schuhe. Nur so ist es zu erklären, daß der Hund ihn in der Nacht in dem Versteck fand, der doch Parnacks Witterung genommen hatte.“ (Vergl. Band 97, „Der Obstkahn am Elisabethufer“.)
Hinter uns da der Unbekannte:
„Herr Harst, ich kenne wirklich keinen Parnack.“
Wir drehten uns um. Harst setzte sich wieder auf den Stuhl dicht vor den Rätselhaften.
„Wie heißen Sie?“ fragte er, indem er dem Menschen die Hand leicht auf den Schenkel legte.
Ein hilfloser, jammervoller Blick des Fremden irrte über Haralds Gesicht hin. Dann sank der Kopf auf die Brust herab.
„Ich schwöre es Ihnen bei der Liebe zu … zu meine …“ Er stockte, fuhr hastiger fort: „… bei der Liebe zu denen, die es wie Sie gut mit mir meinen, daß ich diesen Parnack nicht kenne, daß ich den Namen Parnack in der verflossenen Nacht zum ersten Male hörte, als ich verhaftet wurde.“
Sein eisgraues, ganz kurz geschorenes Kopfhaar glänzte jetzt genau so silbern wie das des großen Verbrechers. Die blendende Helle des Maitages flutete ungehindert durch die hohen Fenster in das ernste Zimmer hinein, zeigte uns jetzt auch auf dem Scheitel[3] dieses gesenkten Kopfes eine etwas wulstige Narbe, genau in Form eines Kreuzes, wie von einem schlecht verheilten Kreuzschnitt herrührend.
„Ihren Namen wollen Sie also nicht nennen,“ sagte Harald in demselben milden Tone. „Geben Sie zu, daß Parnack Sie irgendwie dazu bestimmt hat, seine Rolle zu spielen, daß er …“
„Ich bereue nichts – nichts!“ war die merkwürdige Unterbrechung, die Harst den begonnenen Satz zu beenden hinderte.
Der Mann hob den Kopf mit jäher Bewegung. In seinen Augen war ein ganz anderer Ausdruck: ein Strahlen – ein Leuchten gleich dem Widerschein einer tief inneren Glückseligkeit …
„Nie werde ich bereuen, was auch kommen mag, Herr Harst …! Und – – nie werde ich verraten, wer ich bin!“
Allmählich trat wieder der traurige, weltschmerzliche Zug in sein schmales, etwas faltiges Gesicht.
„Was auch kommen mag!“ wiederholte er leise. Dann preßten sich seine Lippen fest zusammen. Und doch hörten wir noch den Seufzer, der sich qualvoll aus der Brust dieses unbegreiflichen Menschen losrang.
Harald stand auf.
„Ich werde Ihr Geheimnis aufdecken,“ meinte er ernst. „Sie täten besser, sich mir und meinem Freunde anzuvertrauen. Sollten Sie in der Einsamkeit Ihrer Zelle das Verlangen verspüren, sich mit jemandem auszusprechen, der in seinem Leben vieles miterlebt hat, was ihn die Schattenseiten der menschlichen Seele verstehen lehrte, so bitten Sie, daß ich zu Ihnen gerufen werde.“
Ein dankbarer Blick traf Haralds geistvolles Gesicht.
Doch – der Mann schwieg, schaute wieder zu Boden, rauchte die Zigarette weiter und ließ sich dann durch den Beamten ebenso wortlos wieder abführen. –
Bechert saß vor seinem Schreibtisch.
„Mir hat er überhaupt nicht geantwortet,“ sagte er kurz. „Und was er Ihnen da erzählt hat, lieber Harst, war … Komödie.“
„Glauben Sie?“ Harald lehnte rechts an der Wand im grellen Sonnenlicht. „Glauben Sie?! Trauer, Bedrücktsein läßt sich vielleicht heucheln, nicht aber der Glanz, der aus diesen graublauen Augen hervorbrach. Das war echt, Bechert, das war echtes Empfinden. Ich rate Ihnen, einmal in Stettin nachzuforschen, ob Gisbert Parnack nicht vielleicht einen Zwillingsbruder gehabt hat. In dem Aktenstück steht zwar, daß Parnack das einzige Kind des Händlers August Parnack ist. Aber – genauere Ermittlungen werden vielleicht etwas anderes ergeben. – Jedenfalls: behandeln Sie den Mann gut, Bechert. Durch Ihre Polizeimethode ermüdender Verhöre werden Sie nichts ausrichten. Sollte der Mann mich zu sprechen wünschen, so benachrichtigen Sie mich. Und – spenden Sie ihm hin und wieder Zigaretten. Er ist leidenschaftlicher Raucher.“
Bechert nickte nur.
Harald nahm eine Zigarette. Nach den ersten Zügen dann:
„Was hatte er in seinen Taschen? Haben Sie ihn genau durchsucht?“
„Das ist wohl selbstverständlich, lieber Harst. Er hatte nichts außer zehntausend Mark bei sich, in Tausendern. Sonst auch nicht mal ein Taschentuch.“
„Und die Gemüsehändlerin in der Wiener Straße, in deren Keller wir den Mann verhafteten und die Sie gleichfalls abführen ließen, da sie jede Aussage verweigerte?“
„Frau Ronisch sitzt und wird sitzen, bis sie den Mund aufmacht. Bisher tat sie es nicht. Alle diese Verbündeten Parnacks sind hartnäckiger im Schweigen als es uns lieb ist.“
Harald blies einen Rauchkegel in die gleißende Sonnenbahn hinein.
„Was Parnack wohl damit bezweckt haben mag, daß er den Unbekannten da in dem Erdloch unter dem Fußboden des Schlafzimmers der Ronisch verbarg,“ meinte er grübelnd. „Etwas hat er bezweckt … Aber was?!“
Bechert zuckte die Achseln. „Ich denke, der Zweck ist klar. Er wollte eben, daß sein Doppelgänger weiter für Parnack gehalten würde. Er hoffte, wir würden den Betrug nicht aufdecken. Er wollte Ruhe vor Ihnen und uns haben, lieber Harst, – Bewegungsfreiheit!“
„Möglich!“ Harald schaute versonnen auf die rotbraune Ziegelmauer, – diese klägliche Aussicht aus Becherts Fenstern. „Möglich – aber nicht wahrscheinlich. Wenn es sich da nur nicht um das Vorspiel zu einem neuen Parnackschen Streiche handelt[4] … Parnack ist ein Schwindlergenie ersten Ranges. Er mag …“
Indem klopfte es. Ein Beamter trat ein, meldete:
„Die Ronisch hat sich in ihrer Zelle erhängt, Herr Kriminalkommissar.“
Die Frau war tot. Alle Wiederbelebungsversuche blieben vergeblich.
Harald, Bechert, ein Arzt und ich standen in der Zelle. Die Leiche lag auf dem Bett.
„Weshalb gab sie sich freiwillig den Tod?“ murmelte Bechert und blickte Harst von der Seite fragend an.
Das grauenvoll verquollene und verfärbte Gesicht des schlampigen Weibes verriet nichts.
„Ich denke, wir fahren nach der Wiener Straße in ihren Keller,“ sagte Harald, sich kurz umwendend, und schritt in den Gang hinaus.
Bechert folgte uns. „Sie glauben, daß die Ronisch irgend eine unausbleibliche Entdeckung gefürchtet hat?“ fragte er leise.
„Fahren wir!“ erwiderte Harst nur. –
Bechert nahm zwei Beamte mit. Das Dienstauto hielt vor dem Görlitzer Bahnhof. Wir gingen die letzte Strecke zu Fuß.
Einer der Beamten schloß den Eingang auf. Die Ronisch hatte hier seit Jahren ganz allein gehaust. Bechert betonte, daß sie bei den Nachbarn beliebt gewesen sei. Sie habe nie jemand übervorteilt, habe den Ärmsten der Armen manches billiger abgelassen. Freilich sei sie stets sehr zurückhaltend gewesen. Verkehr habe sie nie gehabt.
Harst hob die beiden Dielenstücke aus, die in der Schlafstube den Zugang zu dem mit Brettern ausgeschlagenen Erdloch bildeten, und kletterte hinab.
Ich folgte ihm. Bechert wollte die anderen Räume nochmals genau durchsuchen.
Harald kniete mit eingeschalteter Taschenlampe auf den Dielen dieses feuchten, von Moderduft erfüllten Schlupfwinkels.
„Ah – also doch!“ rief er mit einem Male. Und faßte mit dem Finger in ein Astloch der Bretter hinein, hob so eine Falltür hoch, lehnte sie an die Wand und leuchtete in das Loch hinein.
Da führte ein kurzer, unten mit einem Deckel verschlossener Schacht noch weiter abwärts. Der Deckel hatte einen eisernen Ring. Harst bückte sich, ruckte an dem Ringe, kippte den etwas gebogenen Deckel hoch.
Die Unterseite des Holzes war gestrichen. Man hatte sehr geschickt das Aussehen alten Mauerwerks vorgetäuscht.
In der Tiefe schimmerte es metallisch glänzend: die Oberfläche trüben Kanalwassers!
„Einer der Hauptkanäle der Kanalisation,“ meinte Harst. „Hole doch mal eine Stange, einen Besenstiel, dergleichen.“
Bechert kam jetzt ebenfalls mit nach unten.
Harald band die beiden Besenstiele, die ich gefunden hatte, aneinander und trieb dann einen langen Nagel durch die Spitze des einen. Mit diesem primitiven Hakenstock holte er vom Grunde des gewölbten Kanales jedoch nichts als einen langen, schlammtriefenden Mantel heraus.
Es war ein Damenregenmantel aus Lodenstoff, wie sich nachher zeigte, ein billiges, abgetragenes Stück, in dessen einer Tasche ein Paar wollene, vielfach gestopfte Handschuhe steckten.
„Lassen Sie die Kanäle sorgfältig durchforschen, Bechert,“ meinte Harst, nachdem er den Mantel und die Handschuhe oben in der Schlafstube in Augenschein genommen hatte. „Ich will mich hier noch so etwas umsehen.“
Vorn im Verkaufsraum stand ein altes Schreibpult mit grünem Stoffbezug.
Auf dem Pulte lag eine Zeitung als Schreibunterlage, daneben ein lila Tintenstift.
Harst verweilte auffallend lange bei dem Pult.
Dann rief er mich herbei.
„Bitte – was siehst Du hier auf dem weißen Unterrand der Zeitung, mein Alter?“ forschte er leise und beleuchtete die Stelle mit der Taschenlampe.
„Hm – hier hat jemand etwas geschrieben und zwar mit Bleistift, hat beim Schreiben stark aufgedrückt und so selbst auf dieser Schreibunterlage Schriftzüge hervorgerufen: die Schrift wurde durchgedrückt! Entziffern lassen sich nur einzelne Buchstaben, so ein großes K, ein kleines r und a, dann … ja, das heißt „Ritt“, glaube ich, darunter ein großes M, ein kleines a und i und n …“
„Genügt Dir das nicht, zumal hier weiter rechts noch „Paul“ durchgedrückt ist?“ – Er sah mich dabei triumphierend an.
Bechert kam eilig herbei.
„Harst – eine neue Entdeckung,“ rief er erregt.
Er hielt ein Bündel Kleider in der Hand.
„Hier ein Sträflingsanzug, eine Sträflingskappe …! Aber alle Zeichen ausgetrennt. Das Zeug hing im Alkoven hinter der Küche, wo auch ein Bett steht.“
„Die Ronisch wird wohl vieles auf dem Kerbholz gehabt haben,“ meinte Harst gleichgültig. „Sie wird auch entsprungene Strafgefangene beherbergt haben.“
„Harst – der Verhaftete, der Doppelgänger Parnacks! Vielleicht ist’s ebenfalls ein solcher Flüchtling. Vielleicht gehört ihm dieser Anzug. Der kurzgeschorene Kopf, das hartnäckige Schweigen des Menschen …“
„Und sein seltsames Wesen,“ nickte Harald. „Möglich ist’s schon, daß Ihre Annahme stimmt. Lassen Sie den Mann den Anzug doch mal anprobieren. Paßt er ihm der Größe nach, so dürfte es praktisch sein, mal bei den Gefängnissen und Zuchthäusern nachzufragen, ob der Rätselhafte dort irgendwo ausgekniffen ist, obwohl …“
„Nun – obwohl?“ Bechert blickte Harst gespannt an.
„Obwohl ich’s nicht glaube, daß ein entsprungener Gefangener seinen Anstaltsanzug bis hierher mitschleppen wird, lieber Bechert. Einen solchen Anzug wird man doch schleunigst wegwerfen.“
„Ich werde eine Rundfrage veranlassen,“ erklärte Bechert eifrig. „Ich will diesen Menschen entlarven – um jeden Preis!“
„Ich ebenfalls,“ sagte Harald schlicht.
Dann verließen Harald und ich den Keller, nahmen ein Auto und fuhren heim.
Unterwegs – es war gerade auf dem Fehrbelliner Platz – sagte Harst in seiner sprunghaften Art und in einem Tone, der nichts mehr von einem Dichter an sich hatte:
„Die durchgedrückten Buchstaben und Wortteile auf der Zeitungsunterlage waren die Fragmente des Namens und der Adresse der Frau, die sich heute nachmittag vier Uhr bei uns melden ließ: Klara Rittler, Paulsborner Straße 211.“
Mein Kopf fuhr herum …
„Ah – und Rückseite ihrer Karte enthielt nachher den Namen Parnack! Und Parnack kannte die Ronisch, den Keller, und in diesem Keller fandest Du den Namen Rittler auf einer Schreibunterlage. Mithin ist die Rittler ebenfalls eine der vielen heimlich Verbündeten des großen Verbrechers.“
„Das bleibt abzuwarten, lieber Alter. Wir werden uns punkt zehn vor dem Hause Paulsborner Straße 211 einfinden. Dann wird sich herausstellen, was Parnack und die Rittler planen.“
Für den Rest des Weges blieb er stumm.
Daheim kramte er bis zum Abendbrot in alten Zeitungen, die bei uns sorgfältig nach Monaten geheftet und gelagert wurden.
Um neun Uhr rief dann Fritz Bechert an.
„Bechert wird uns mitteilen, daß man in einem der Hauptkanäle die Leiche einer alten Frau gefunden hat,“ sagte Harald kurz.
Dann nahm er den Hörer.
„Hier Harald Harst … – ’n Abend, Bechert … – So – die Leiche eines älteren, verwachsenen Weibes? – Was meint der Arzt? Wie lange hat die Tote dort gelegen? – Etwa einen Monat …? So … so! Dann dürfte der Lodenmantel ihr vielleicht gehören. Und die Todesart? Sind äußere Verletzungen vorhanden? – Nicht? – Ja – baldigste Obduktion, Bechert. Ich hatte diesen Fund erwartet. Morgen erfahren Sie mehr. Wiedersehen.“
Er legte den Hörer auf die Gabel, schaute mich an und meinte:
„Ich hatte diesen Fund wirklich erwartet. Am 14. April ist, wie Du in der Berliner Post vom 17. und 18. April lesen kannst, hier eine ältere, verwachsene Dame verschwunden, eine Witwe Sophie Gerhardi. Sie trug am 14. April einen Lodenmantel.“
Ich hörte mit äußerster Spannung zu.
„Ein Mord Parnacks?“ fragte ich dann.
„Offenbar. Die Ronisch rechnete mit der Entdeckung der Leiche und erhängte sich aus Angst. Läge nicht Mord vor: weshalb entleibte sie sich selbst? Sie war Mittäterin. Vorwärts, treffen wir noch einige Vorbereitungen! Liegt die Möglichkeit vor, Parnack zu begegnen, so tut man gut, alle Eventualitäten ins Auge zu fassen. Einen Teil unserer kleinen Tricks, ihm ein Schnippchen zu schlagen, kennt er. Ich habe etwas Neues ersonnen. Nur wer erfinderisch ist, verblüfft den Gegner.“
Wir verzichteten auf jede Maskierung.
Harsts neue Erfindung aber imponierte mir. Daß wir von ihr in ganz anderer Weise Gebrauch machen würden, konnten wir beim besten Willen nicht ahnen.
Ein Block hellbraun gestrichener Mietskasernen. Vor diesem Block schlenderten wir von drei Viertel zehn Uhr abends ganz wie Leute auf und ab, die nichts anderes wollen, als die sanfte Maiabendluft hier in der Stille des Vorortes zu genießen.
Hinter dem Block, das stellten wir bald fest, zog sich ein Streifen Laubenland hin. Die Vordergebäude hatten sogenannte Gartenhäuser, deren winzige Balkons und Loggien an diesem milden Abend zumeist erleuchtet waren.
Aber – es wurde halb elf, und Fräulein Klara Rittler erschien nicht. Es wurde drei Viertel, es wurde elf Uhr: noch immer öffnete sich die Haustür von Nr. 211 nicht!
Leer die Straße. Balkons und Loggien wurden dunkel.
Harst war merkwürdig geduldig. Und um elf sagte er dann: „Lieber Alter, sie hat sich die Sache überlegt.“
Wir gingen bis zur Brieger Straße, schritten sie hinab, Schmargendorf zu. Haralds dicker, plumper Bambusspazierstock klang beim Aufstoßen auf die Steine des Bürgersteiges merkwürdig hell. Es war ein ausziehbarer Angelstock von fast fünf Meter Länge. Dreimal blieb Harst stehen, rieb ein Zündholz an und hielt es an die Zigarette, die noch brannte. Er wollte nur die Straße hinter uns mustern, ob uns jemand folgte. Nach dem vierten Zündholz sagte Harald: „Parnack verzichtet darauf, uns beobachten zu lassen. Es ist niemand hinter uns. Kehren wir um.“
Und zehn Minuten später standen wir dort, wo wir heute schon einmal gestanden hatten: an einem schiefen Drahtzaun der Laubengärten in der Parallelstraße der Paulsborner!
Siebzig Meter vor uns die Rückfront von Nr. 211: wie eine ungeheure, nach uns hinten offene Schachtel lag da das Haus mit seinen beiden Gartenflügeln. In dem linken Gartenflügel schimmerte ein großes, helles Fenster in dem leichtgeneigten Dach; das Fenster eines Ateliers!
Die Tür eines der Laubengärten war nicht verschlossen, es gab hier nichts zu stehlen offenbar.
Bald ragte vor uns die Mauer empor, die den Hofraum von Nr. 211 absperrte.
Harst zog den Angelstock aus, befestigte an der Spitze den Eisenhaken der dünnen Hanfleine, die wir gleichfalls mitgebracht hatten (eine zweite Leine steckte in meiner Tasche) und legte so mit Hilfe des Stockes den Haken hinter eine der Eisenspitzen des in die Mauerkrone eingelassenen Gitters.
Kletterte empor, half mir nach oben.
Wir standen nun hinter den Fliedersträuchern. Harst schob den Angelstock zusammen. Ich lugte nach den Fenstern aus. Nur in der ersten und dritten Etage war noch Licht.
Die Tür zum linken Seitenflügel war unverschlossen. Wir eilten die Treppen empor. Nun waren wir oben im Vorraum der Mansarde.
Unsere braunen Segeltuchschuhe mit Gummisohlen huschten über abgetretene Dielen. Drei Türen hier, eine davon aus Eisen.
Ein dünner Lichtstrahl aus Harsts linker Hand erleichterte uns die Orientierung.
Die eiserne Tür geradeaus führte auf den Boden des Hauses; die rechts von uns hatte ein Blechschild „Waschküche“; die dritte linker Hand eine Visitenkarte, mit Messingnägeln neben dem Briefkasten befestigt, zeigte den Namen der Frau, die nicht gekommen war.
Harst wandte sich der Bodentür zu. Der Dietrich fuhr ins Schlüsselloch, schrammte, faßte. Der Sperriegel schob sich zurück.
Wir schlossen hinter uns wieder ab.
Unter der Dachluke fanden wir die Leiter an der Bretterwand der Bodenverschläge hängen. Die Luke war von innen nur verriegelt. Harst lehnte sie zurück, stieg als erster auf das flache Dach, von dem sich rechts und links die schwach geneigten, schieferbekleideten Dachseiten herabsenkten.
Auf allen vieren krochen wir zum nächsten Schornstein, hatten nun das noch immer erleuchtete Atelierfenster mit den matten Scheiben schräg unter uns – und weiterhin den Abgrund des Hofes – über uns den düsteren Nachthimmel.
In dieser Dunkelheit wirkte das wimmernde Weinen, das durch die offene Luftscheibe des Atelierfensters zu uns empordrang, wie Laute geheimnisvoller Gnomen aus geheimnisvollen Erdtiefen.
„Sie weint,“ flüsterte Harst. „Ob sie noch um den Verlust ihrer Stiefmutter weint, mit der sie den Zeitungsnotizen nach sehr innig gestanden haben muß?“
Unsere Köpfe ruhten nebeneinander über dem Rande des Schieferdaches. Ich blickte Harald an. „Die Witwe Sophie Gerhardi?“
„Ja, die …“
„Weshalb sagtest Du mir das nicht gleich? Das gibt einen Hinweis auf …“
Ich schwieg.
Eine Stimme kam durch die Luftscheibe – undeutlich, geisterhaft vibrierend:
„Oh – Du hättest das nie tun sollen, Fritz! Ich hätte auch so an Dich geglaubt.“
Ein Murmeln folgte …
Und über das matte Atelierfenster glitt der verzerrte Schatten eines Mannes hin.
„Parnack?“ hauchte ich. Und mit einem Male kam da die Erregung. Mit einem Male! Der Name Parnack war der galvanische Strom, der die Nerven aufpeitschte. Der Name Parnack in dieser Umgebung war die Gefahr, die Aussicht auf hundert Teufeleien, war wie unzählige versteckte Drohungen.
„Vielleicht, mein Alter …“ erwiderte Harst neben mir.
„Sie nennt ihn Fritz. Und Parnacks Vorname ist Gisbert,“ warf ich ein.
Harst blieb stumm.
Von unten das Murmeln zweier Stimmen, erlöschend, wieder auflebend. Hin und wieder des Mannes Schatten.
Dann ein schluchzender Aufschrei …
„Ich kann Dir nicht mehr geben als Freundschaft, Fritz …! Ich kann nicht! Das andere ist tot!“
Pause …
„Wir sind uns fremd geworden, Fritz. Du bist mir nur noch …“
Ein heftiger Zwischenruf:
„Ah – das ist Dein Dank! Ich – ich Narr!“
Der Schatten bewegte sich heftiger.
In der Luftscheibe erschien ein Kopf …
Und unsere Köpfe schnellten zurück.
Unter dem Druck meiner Hand, die den Oberkörper zurückdrängte, löste sich am Rande ein Stückchen Mörtel, kollerte klingend das Schieferdach hinab – in den Abgrund.
Harst packte meinen Arm. „Sei doch vorsichtig. Er kann Verdacht schöpfen!“
Hinter dem Schornstein richtete er sich auf, blickte hinab, duckte sich wieder …
„Er steht nicht mehr an der Luftscheibe, rennt im Atelier wieder auf und ab.“
Wir nahmen die vorige Stellung wieder ein.
Und wieder die murmelnden Stimmen, der Schatten.
Bis die Männerstimme anschwoll:
„Gut, dann gehe ich, Klara. Auf Wiedersehen morgen früh …“
Und nach einer Weile undeutlicher: „Gute Nacht! Es wird alles wieder werden wie einst, Klara. Es ist das Neue, das Dich überraschte. Wie könnten wir beide uns fremd geworden sein?“
Dann klappte eine Tür …
Und wenig später hörten wir unten im Hofe den hastigen Schritt eines Menschen, das Kreischen der Angeln der schweren Tür des Hofeingangs.
Harst zog die Hanfleine hervor, schlang das eine Ende um den Schornstein, warf das andere am linken Rande des Atelierfensters hinab, wo schmale Steigeisen, leicht gekrümmt, eingelassen waren.
„Nun ist sie allein, die Frau, die nicht da war,“ flüsterte er.
Er schob die Leine über den Rand hinweg bis zum ersten Steigeisen, hielt sich an der Leine fest, klomm tiefer.
Prüfte dann die Festigkeit der Dachrinne, schritt langsam, die Leine als Halt benutzend, bis zu der Luftscheibe.
Und schob den Oberkörper in die Scheibenöffnung, bog ihn wieder zurück, winkte mir hastig, schwang sich in das Atelier hinein.
Ich folgte ihm auf demselben gefährlichen Pfade. Ich biß die Zähne zusammen, wollte nicht an den Abgrund unter mir denken, – und langte schweißtriefend im Atelier an.
Der mittelgroße Raum, erleuchtet durch eine einzige Glühbirne an der Decke, war ärmlich möbliert.
Die Tür neben dem Sofa nur angelehnt. Dahinter wohl der Flur, die Küche.
Wir hörten das Klappern von Geschirr, das Rauschen einer Wasserleitung.
Harst drückte die Tür langsam auf, huschte die wenigen Schritte bis zur Außentür. Da lag die Sperrkette vor, da war auch ein großer Riegel vorgeschoben.
Durch die matten Glasscheiben der erleuchteten Küche fiel genügend Licht in den Flur.
Harald legte die Hand auf den Drücker der Küchentür – öffnete …
Drinnen ein leiser Aufschrei …
„Erschrecken Sie nicht,“ sagte Harst rasch. „Ich bin der, den Sie für zehn Uhr hierher baten: Harald Harst!“
Da stand Klara Rittler, groß, schlank, mit wundervollem Blondhaar, nicht mehr ganz jung, aber doch ein begehrenswertes Weib …
Harst fügte rasch hinzu:
„Ich muß Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten, Fräulein Rittler. Aber in Ihrem Interesse rate ich Ihnen, mir Rede und Antwort zu stehen. Kommen Sie bitte ins Atelier. Was wir zu verhandeln haben, soll in Ruhe geschehen.“
„Wann sind Sie denn hier eingedrungen, Herr Harst?“ fragte sie, und die Stimme schien eine gewisse Angst zu verraten.
„Soeben – vor zwei Minuten, durch die Luftscheibe des Atelierfensters.“
„Ah – und Sie haben vor dieser Luftscheibe vorher gelauscht?“
„Nein, wir hörten nur, daß jemand Sie verließ, nachdem wir durch die Dachluke auf das Dach gelangt waren. Sie werden begreifen, daß die Zeilen auf Ihrer Visitenkarte, besonders der Name Parnack, mich zwangen, von Ihnen schleunigst Aufschluß über das zu verlangen, was die Zeilen andeuteten.“
Sie nickte. Und es schien mir, als ob sie erleichtert in dem Gedanken aufatmete, daß wir sie und den Mann angeblich nicht belauscht hätten.
Sehr hastig sagte sie: „Ja – das Mansardenfenster drüben im anderen Flügel …! – Haben Sie denn meinen Rohrpostbrief nicht mehr erhalten? Ich schrieb Ihnen doch, daß ich heute abend nicht Zeit hätte.“
„Nein, ich habe nichts erhalten. – Sie sandten mir die Absage, weil Sie Besuch bekamen, nicht wahr?“
„Ja …“ Und noch zögernder. „Ein … ein Kollege hatte sich angemeldet, der mir Arbeit besorgen wollte. Uns Zeichnern geht es heutzutage schlecht, sehr schlecht. Sie haben wohl bereits meiner Ateliereinrichtung angemerkt, Herr Harst, daß die besten Möbel verkauft sind. So ärmlich sah es früher bei mir nicht aus.“
Ihre zwanglose Aufrichtigkeit wirkte nicht ganz echt. –
Harald machte eine Handbewegung nach dem Atelier hin. Und Klara Rittler nickte wieder, ging an uns vorüber, setzte sich in eine Ecke des Glanzledersofas und meinte: „Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren.“
Das blonde Weib mit dem scharf ausgeprägten Leidenszug um den blassen Mund starrte Harst dann fragend an.
„Zunächst das Mansardenfenster drüben, Fräulein Rittler … – Was ist’s damit? Was hat der Verbrecher Parnack damit zu tun?“ begann Harald.
Ihr Gesicht veränderte sich wieder, wurde nachdenklich, ernst und verlor alles Unwahre, Komödienhafte.
„Ja, das ist eine[5] merkwürdige Geschichte, Herr Harst,“ erwiderte sie mit gedämpfter Stimme, als ob sie eine sehr geheimnisvolle Angelegenheit zu erörtern begann. „Das Mansardenfenster dort gehört zu einer Stube, die von unserem Portier als Abstellraum für Möbelstücke und Geräte benutzt wird. Das Fenster hat von innen graue Vorhänge, die zugezogen sind. In drei verschiedenen Nächten, zuletzt in der verflossenen, war die Stube erleuchtet, und auf den Vorhängen zeichnete sich der Schatten eines Mannes ziemlich scharf ab, der in einer Schlinge hing. Der Hals war lang ausgereckt durch den Strick.“
Harald lächelte mit einem Male.
„Fräulein Rittler, ich heiße Harald Harst,“ sagte er leicht ironisch. „Mir muß man derartige Verlegenheitsmärchen nicht auftischen.“
Die blonde Malerin beugte sich vor.
„Das würde ich wohl kaum wagen, Herr Harst. Was ich Ihnen erzähle, sind Tatsachen. Ich würde darauf jeder Zeit einen Eid ablegen.“
„Gut – weiter, Fräulein Rittler.“
„Am 3. Mai war’s, als ich das Fenster drüben zum ersten Male erleuchtet und den Gehenkten sah. Ich leide an Schlaflosigkeit, seit meine Mutter mir genommen ist …“ Ihre Stimme zitterte leicht.
„Ihre Stiefmutter,“ warf Harst leise ein.
„Sie wissen davon?“
„Ich las in den Zeitungen einiges über das Verschwinden der Frau Gerhardi.“
Die Malerin seufzte. „Hätte ich genügend Geld besessen, Herr Harst, so wäre ich damals zu Ihnen gekommen. Sie waren gerade aus Indien zurückgekehrt. Vielleicht hätten Sie meine Mutter gefunden.“
„Haben Sie je gehört, daß Harald Harst jemand abgewiesen hat, nur weil er kein Honorar zahlen konnte?!“
„Nein. – In diesen Zeiten jedoch kann man keine Arbeit umsonst verlangen, Herr Harst.“
„In Ihrer Küche sah ich Delikatessen, Fräulein Rittler, sogar Kaviar …“
Die Malerin wurde flammend rot.
„Ein Freund half mir,“ stammelte sie.
„Er schickte Ihnen Geld?“
„Ja, ich bekam Geld,“ sagte sie leichthin. „Hörten Sie nicht auch draußen etwas wie einen Schrei?“ fügte sie hastig hinzu. – So wollte sie ihr Hochschnellen bemänteln. Wie ungeschickt!
„Ich hörte nichts, Fräulein Rittler. – Also das Fenster – das geheimnisvolle Fenster …? Wir sind vom Thema abgekommen.“
Mit unendlich müder Bewegung strich sie sich über die Stirn.
„Das Fenster, ja, – ich war damals am 3. Mai aufgestanden, weil ich nicht schlafen konnte. Ich schaute hinaus … Und da erblickte ich den hellen Vorhang und den Mann in der Schlinge, den Schatten. – Etwa zehn Minuten blieb das Fenster hell. Dann erlosch der Lichtschein. Ich wartete noch eine halbe Stunde. Das Fenster blieb dunkel.“
„Sie sprachen mit niemandem darüber?“
„Doch! Ich erzählte morgens dem Portier Meinke davon. Wir gingen nach oben. Meinke hatte nur gegrinst. Er schloß die Tür der Stube auf und sagte: „Ich war nämlich um sieben schon mal hier, und da war genau so wenig ein Gehenkter wie jetzt, Fräulein Rittler. Sie haben eben geträumt.“ – Meinke ist ein sehr unangenehmer Mensch, Herr Harst. Ich schwieg zu seinen höhnischen Redensarten. Man darf sich mit ihm nicht verfeinden. Er kassiert die Mieten, und ich war stets im Rückstande.“
„Die heutigen 170 000 Mark halfen auch in dieser Beziehung.“
„Mein Gott! Sie …“ Das verkörperte Entsetzen saß da in der Sofaecke.
„Ich weiß auch das, Fräulein Rittler. Beruhigen Sie sich. – Sie haben den Gehenkten dann also noch zweimal wahrgenommen, – um diese Geschichte erst zu beenden.“
Die Malerin nickte nur. Man sah, sie wollte den lähmenden Schreck über die Zahl, die Harst genannt hatte, also über dessen Kenntnis der Höhe des Geldbetrages mit aller Macht rasch wieder abschütteln. Sie blieb jedoch zerstreut, zerfahren und unsicher. Sie suchte die Worte mühsam zusammen und wiederholte halbe Sätze, als sei sie mit ihren Gedanken anderswo.
Aber das eine blieb doch bestehen: sie besaß weit, weit mehr Energie als der[6] Durchschnitt der Frauen! Wenn die Falte über der Nasenwurzel auf ihrer Stirn erschien, wenn sie eine Pause machte und Harald zerstreut anschaute, so, als sähe sie dort auf dem Stuhle anstatt seiner ganz andere Dinge, wenn sie die Lippen jäh zusammenpreßte und ihre schmalen feinen Hände in nervösem Spiel sich krampfhaft ballten und öffneten und dann auch diese dunklen lebendigen Augen von den Lidern bis zu einem schmalen Schlitz verdeckt wurden – in solchen Momenten sagte ich mir, daß sie eine äußerst gefährliche Gegnerin sei, die auch fraglos äußerst gefährliche Geheimnisse zu hüten hatte!
Welcher Art konnten diese jedoch sein?! – Ich wußte zu wenig, um den Kern der Geschehnisse bereits herausfühlen zu können. Ich dachte nur schaudernd, daß diese alles in allem durchaus nicht unsympathische Person vielleicht gar als geübte Komödiantin die Rührung bei der Erwähnung ihrer Stiefmutter ebenfalls nur geheuchelt und daß sie mitgeholfen haben könnte, die verwachsene Frau verschwinden zu lassen, die Parnack auf seinem Gewissen hatte, und Parnack war Klara Rittlers heutiger Besuch gewesen! Das stand ja für mich fest, nachdem ich seine Abschiedsworte gehört hatte! Das war seine Stimme gewesen! Die Hand hätte ich dafür ins Feuer gelegt! – Und doch: hatte Harald hier nicht eine Falle für uns vermutet?! Hatte er mir die zweite, präparierte Leine gegeben, deren eines Ende mir aus der inneren Jackentasche herauslugte? – Da waren Widersprüche über Widersprüche, da war vieles, was ich nicht begriff.
Was sollte bei alledem das geheimnisvolle Fenster, was der Gehenkte?! Soeben hatte die Malerin uns geschildert, wie sie in den beiden anderen Nächten wieder gegen ein Uhr den hellen Vorhang und den Schatten des Mannes mit dem Strick um den Hals wahrgenommen habe und wie der Gehenkte in der verflossenen Nacht sogar an dem Strick hin und her gependelt sei …! Daß sie aber mit niemandem mehr über diese Beobachtung gesprochen habe, da sie den Portier Meinke nicht reizen mochte, den Haustyrann! – War diese ganze Geschichte erlogen? War auch Meinke mit Parnack und der Malerin im Bunde? Wollte man uns etwa in die Mansardenstube locken? –
Jetzt schwieg sie. Jetzt stand Harst auf und rückte seinen Stuhl dicht vor sie hin, setzte sich, fragte mit Betonung:
„Wie kamen Sie denn auf den Gedanken, der Gehenkte und Parnack ständen in irgendwelchen Beziehungen zueinander? Auf Ihrer Karte war zu lesen: „Es handelt sich vielleicht mit um diesen Parnack …“ – Antworten Sie!“
„Weil ich den Namen „Parnack“ in der vergangenen Nacht gehört zu haben glaubte, als der Schatten dort drüben sichtbar war,“ erwiderte sie ohne Zögern. „Ich hatte den einen Fensterflügel meiner Schlafkammer dort nebenan geöffnet. Ich stand im Dunkeln. Und da war es mir, als riefe jemand in der Mansardenstube: „Parnack, hier.“ Das weitere entging mir, weil ein neuer Regenschauer herabkam. – Nein, nein, ich will nicht sagen: „Da war’s mir!“ Nein – ich habe die beiden Worte gehört, den Namen und das „hier“ … – Zweifeln Sie nicht an meinen Worten, Herr Harst! Sie sollen das nicht! Ich schwöre Ihnen bei dem Andenken an meine Stiefmutter, die ich geliebt und verehrt habe wie …“
Plötzlich ein seltsamer Laut, der den begonnenen Satz beschloß …
Ihre Rechte hob sich, deutete geradeaus – auf die Luftscheibe, die noch offen war …
„Da – – da ist der Gehenkte abermals …“ flüsterte sie.
Wir blieben sitzen – schauten uns an, – Mißtrauen in den Augen.
Dann Harst: „Setz’ Dich neben Fräulein Rittler, mein Alter! Schnell! – Sie werden sich nicht bewegen,“ wandte er sich an die Malerin. „Verargen Sie uns nicht, daß wir vorsichtig sind. Die Dinge liegen noch zu verworren, als daß wir Ihnen volles Vertrauen schenken könnten. Ich werde das Licht hier ausschalten. – Schraut, nimm Deine Taschenlampe …“
Ich verstand ihn.
Das Deckenlicht erlosch. Meiner Lampe weißer Strahlenkegel ruhte auf den Händen Klara Rittlers, die regungslos in ihrem Schoße lagen.
Harst trat an die Luftscheibe.
Drei Minuten blieb er dort. Dann löste er mich ab.
Die Malerin rührte sich nicht. Nur ihre Stimme erklang aus dem Dunkel über dem grellen Lichtfleck: „Nun, haben Sie sich von der Wahrheit meiner Worte selbst überzeugt, Herr Harst?“
„Sie meinen: von der Tatsache, daß jetzt dort drüben auf dem Vorhang der Schatten eines Gehenkten sichtbar ist? Und – die Tatsache deckt nicht alle Ihre Angaben, Fräulein Rittler.“
Ich schlich zur Luftscheibe, starrte hinüber …
Das Bild dort war unheimlich genug. Der Mann in der Schlinge hing da wie ein gräßlicher Spuk als Schattenbild.
Hinter mir hörte ich Harst die Malerin fragen:
„Von wem erhielten Sie die 170 000 Mark zugeschickt, Fräulein Rittler?“
Das lenkte mich ab.
Jetzt wurde auch das Mansardenfenster mit einem Schlage dunkel.
„Von einem Kollegen, Herr Harst,“ erwiderte sie widerwillig.
„Und den Postanweisungsabschnitt haben Sie noch?“
„Nein, den habe ich verbrannt.“
„So – so, es war also eine Postanweisung …“
„Vielleicht auch nicht.“ Und sie lachte ironisch auf. „Sie mißtrauen mir ja! Sie sollen dies mit Recht tun.“
„Licht!“ befahl Harald. – Ich drehte den Schalterknopf herum.
Harst saß vor der Malerin, sagte sehr ernst: „Sie werden noch in dieser Nacht erfahren, daß ich alles weiß. Ich könnte Ihnen jetzt schon die Augen öffnen. – Bitte, gehen Sie nicht schlafen. Eine Stunde, vielleicht anderthalb, und wir sind wieder hier. Wir werden Ihnen den Mann bringen, der hier bei Ihnen war.“
Der überlegene Spott schwand aus ihren Zügen. Sie wurde unruhig.
Harst erhob sich. „Ich rate Ihnen dringend, Ihre Wohnung nicht zu verlassen,“ fügte er hinzu. „Möglich, daß Sie wissen, wo Parnack sich verborgen hält, wo er seinen Schlupfwinkel hat. Möglich, daß Sie ihn warnen wollen. Versuchen Sie es nicht, Fräulein Rittler. Ihr Haus wird bewacht, und Sie würden sich große Ungelegenheiten zuziehen.“
Er winkte mir. „Klettere voran …! Wir benutzen wieder den Weg über das Dach.“
Ich zögerte. „Wir könnten doch auch durch die Flurtür …“
„Über das Dach!“ sagte er kurz.
Da sah ich ein, daß dieser gefährliche Weg von ihm absichtlich gewählt wurde.
Es regnete ganz wenig. Aber die Dachrinne war feucht und schlüpfrig. Die Steigeisen troffen vor Nässe, und die Hanfleine war hart vor eingesogener Feuchtigkeit.
Ich hielt mich krampfhaft an der Leine fest, ergriff das nächste Steigeisen am Rande des Atelierfensters, trat mit dem linken Fuß in das untere der Eisen, klomm höher, packte das zweite von oben …
Und – es brach ab – es blieb mir in den Fingern, ich rutschte, verlor auch mit den Füßen den Halt, umklammerte die Leine desto fester …
Eisige Schauer jagten mir über den Leib …
Unten der Abgrund des gepflasterten Hofes …
Dort unten würde ich zerschellen wie eine reife Frucht, wenn die Leine riß …
Harsts Stimme dicht neben mir: „Keine Angst – ich stütze Dich!“ – Und ich fühlte den Druck seiner Hand in meiner linken Achselhöhle …
Dann eine[7] andere Stimme über uns – gesättigt von satanischem Hohn:
„Willkommen, die Herren! Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, segeln Sie in die Tiefe …!“
Eine Fahnenstange mit rundem Knopf erschien, legte sich mir leicht gegen die Brust …
Mein Kopf beugte sich rückwärts …
Da oben auf dem flachen Dachteil zwei Männer – kniend, der eine mit einem hellen Zeugfetzen vor dem Gesicht.
Der andere … Gisbert Parnack, der Feind, der erbarmungslose Gegner.
„Zuerst Sie, Herr Schraut!“ befahl er. „Kommen Sie!“
Die Fahnenstange, die mich jeden Augenblick hinabstoßen konnte, wich zur Seite.
Und neben mir ein Raunen – hastiges Flüstern:
„Denk’ an die zweite Leine!“
Ich wurde von Harst halb gehoben, wurde von dem Manne mit dem Zeugfetzen als Maske emporgezogen, wußte es so einzurichten, daß ich die Leine in meiner[8] Brusttasche sichtbarer machte, daß das freie Ende mehr herausragte …
Hörte Parnack drohen: „Herr Harst – ein Stoß, und Sie sind erledigt!“ – lag auf dem Bauche, fühlte, wie der andere Kerl mir die Leine aus der Tasche riß, wie er mir die Hände auf dem Rücken band.
„Es langt für beide,“ murmelte er, und er schnitt den Rest der Hanfleine ab.
Dann mußte Harald empor, mußte sich gleichfalls fesseln lassen.
Parnacks Schlagwaffe, eine eiserne kurze Stange, schwebte hiebbereit über unseren Köpfen.
Der Kerl mit dem Zeugfetzen riß mich hoch, stieß mich vorwärts – die Leiter hinab – bis zu Klara Rittlers Flurtür …
Und Parnack folgte mit Harst, läutete jetzt, ließ uns nicht aus den Augen, hatte eine Taschenlampe vor die Brust geknöpft, ließ uns keinen Moment darüber im Zweifel, daß er uns den Schädel einschlagen würde, falls wir auch nur laut husteten.
Die Rittler fragte durch die Tür, wer draußen sei …
„Fritz! – Öffne!“ rief Parnack ungeduldig.
Sie stand dann vor uns – geisterbleich – stumm …
„Geh’ in Deine Schlafstube,“ flüsterte Parnack heftig. „Geh’, ich werde …“
Sie gehorchte schon – verschwand …
Und die beiden drängten uns ins Atelier, drückten uns auf das Sofa.
Parnack spielte mit der Eisenstange.
„Hol’ die andere Leine vom Dach,“ sagte er zu dem kleinen, stiernackigen Kerl. „Wir werden die Schnüffler fortschaffen, erst noch sicherer binden, – rasch!“
Der Mann schlich davon.
Nun zeigte sich, daß Haralds Erfindung sich bewährte. Nun gelang das, was sonst niemals gelungen wäre: die aus vier Teilen zusammengedrehte Hanfleine riß, als Harst mit seiner enormen Muskelkraft die Fesseln zu sprengen suchte! Die vier Teile waren an verschiedenen Stellen von ihm daheim mit dem Messer dünner geschabt worden – so dünn, daß sie bei genügendem Druck reißen mußten!
Ich spürte die leichte Erschütterung, als Harald so seine Hände frei machte …
Ich sah, daß in Parnacks Augen das Mißtrauen aufglomm …
Sah die Eisenstange hochfahren – sah Harsts linken Arm blitzschnell emporschießen – hörte den Fausthieb der anderen Hand, die Parnacks Herzgrube traf.
Wie ein Klotz schlug der Verbrecher nach hinten um.
Harst war schon über ihm, warf ihn auf den Bauch, riß die Arme des Halbbewußtlosen nach hinten, knotete sein Taschentuch um die Gelenke …
Und befreite dann auch mich, eilte in den Flur, auf den Vorboden …
Kam mit dem Stiernackigen zurück, hielt ihn mit der Clement in Schach.
Nun saßen da zwei andere auf dem Sofa. An der Wand lehnte die blasse, verstörte Malerin.
Parnack schnappte nach Luft, erholte sich langsam.
Ein Griff – der Zeuglappen fiel, und Harst fragte die Blonde:
„Kennen Sie den Mann?“
„Portier Meinke,“ hauchte sie.
„Und der …?“ Harst wies auf Parnack. – Er beantwortete dann selbst die Frage: „Sie befinden sich in einem Irrtum, Fräulein Rittler, wenn Sie diesen Mann für Ihren alten Bekannten mit dem Vornamen Fritz halten. Dieser Mann ist in Wahrheit der wegen Mordes, Raubes und anderer Delikte gesuchte ehemalige Bürovorsteher Gisbert Parnack.“
Die blonde Malerin fand wieder ihr leicht ironisches Lächeln. „Das ist wohl ausgeschlossen, Herr Harst. Ich kenne ihn von Jugend an. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er kann schon deshalb nicht jener Parnack sein, weil er …“ Sie schwieg plötzlich, wurde verlegen …
„Sie meinen, weil er soeben erst aus einer Strafanstalt entflohen ist, nicht wahr? – Ich fand nämlich in einem Gemüsekeller, in einem Verbrecherschlupfwinkel im Südosten Berlins außer der durchgedrückten Adresse einer mit Tintenstift ausgefüllten Postanweisung, die an Sie gerichtet war und über 170 000 Mark lautete, auch einen Sträflingsanzug …“
Klara Rittlers schneidendes Auflachen ließ Harst verstummen. „Was reden Sie noch über diesen Mann?! Er soll Parnack sein, und Parnack ist doch verhaftet worden! Im übrigen habe ich jetzt auch keinen Grund mehr, dies Geheimnis weiter zu hüten: der Mann ist Fritz Gerhardi, der Neffe meiner verschwundenen Stiefmutter. Nun wissen Sie es, Herr Harst! Vielleicht wissen Sie auch, daß Fritz Gerhardi 1920 zu fünf Jahren Gefängnis wegen Raubes – Straßenraubes – verurteilt wurde, obwohl er, da sei Gott mir Zeuge, an dem für die Tat in Betracht kommenden Abend hier bei uns geweilt hat. Doch wir, Mutter und ich, wurden damals als Zeugen nicht vereidigt. Man glaubte uns nicht.“
„Endlich!“ sagte Harst aufatmend. „Endlich entwirrt sich der Knoten, liebes Fräulein Rittler. Hätten Sie nur gleich zu mir Vertrauen gehabt, dann wäre es Ihnen erspart geblieben, sich hier mit Aufgebot all Ihrer seelischen Kräfte schützend vor den entwichenen Jugendfreund zu stellen – das heißt, für dessen Doppelgänger! Denn der da ist nicht Fritz Gerhardi. Gerhardi sitzt im Polizeigefängnis. Parnack hat besondere Kennzeichen, die an dem Verhafteten der vergangenen Nacht nicht gefunden wurden. Dieser Verhaftete, dieser Doppelgänger Parnacks, benahm sich bei dem Verhör so seltsam, daß ich sehr bald auf den Gedanken kam, er könnte sich von Parnack durch Geld dazu haben verleiten lassen, Parnacks Rolle zu spielen, sich für diesen verhaften zu lassen! Für Geld, Fräulein Rittler!! Er wußte, daß Sie, die er liebte, in Not waren. Er wird uns ja alles Nähere über seine Flucht und sein Zusammentreffen mit Parnack jetzt angeben. Jedenfalls: den größten Teil der Summe, die er von Parnack erhielt, sandte er Ihnen zu. Und dann – setzte Parnack als Fritz Gerhardi hier bei Ihnen den schändlichen Betrug fort, natürlich ohne Gerhardis Wissen. Parnack kam heute zu Ihnen – als Ihr Jugendbekannter! Ich habe Teile Ihres Gesprächs mit ihm belauscht. Er sei Ihnen fremd geworden, äußerten Sie. Gewiß: weil er eben nur äußerlich Fritz Gerhardi war!“
„Mein Gott …!“ rief die blonde Malerin und starrte Parnack lange an. „Das – das alles kann ja nicht sein! Diese Ähnlichkeit – diese Stimme …!“
„Es ist so, Fräulein Rittler! – Schraut wird jetzt sofort das Präsidium anläuten. Gerhardi wird hierher gebracht werden. Dann können Sie sich durch den Augenschein überzeugen, daß die beiden Männer – – Zwillingsbrüder sein müssen!! Nur unter Zwillingen findet man diese Ähnlichkeit, die sich bis auf die Stimme, einzelne charakteristische Bewegungen und Gleichheit der Augenfarbe erstreckt. – Eine Frage noch: Parnack besuchte Sie heute als Fritz Gerhardi zum ersten Male seit seiner Flucht?“
„Ja … Er kam gegen sieben Uhr abends zu mir. Mittags hatte ich das Geld erhalten. Als Absender stand Fritz Gardi auf dem Postabschnitt. Ich hatte die Schrift sofort erkannt, wußte ja auch, daß Fritz sich als Kinoschauspieler Gardi zuweilen genannt hatte. Ich empfing ihn mit aufrichtiger Freude, mit größter Herzlichkeit, – das heißt, den anderen, den Mann da, den … Parnack. Ich ahnte ja nicht, daß er nicht Fritz sei. Nur – nur ein unerklärliches Gefühl plötzlich aufkeimender Abneigung hielt mich sehr bald in Bann. Jetzt begreife ich ja, wie es entstanden ist, jetzt endlich.“
„Und was sagte Parnack-Gerhardi Ihnen über die Herkunft des Geldes, von dem er Ihnen einen Teil zugeschickt hatte?“
„Er behauptete, er habe ein Banknotenpaket in der Stadtbahn gefunden.“
„Ah so – sehr einfach! – Und dann bestürmte er Sie zum Schluß mit Liebesanträgen. Sie wiesen ihn ab.“
Sie errötete, nickte. „Ja – das Gefühl der Entfremdung hatte sich noch gesteigert – zum Glück. Mein Herz hat mir gesagt, daß es nicht Fritz sei. Nun ist mir alles klar.“
„Und was verlangte Parnack noch von Ihnen?“
„Daß ich ihn bei mir verbergen solle. Er behauptete, Harst und Schraut seien hinter ihm, dem entsprungenen Sträfling, her. Da erst fiel mir ein, daß ich Sie hergebeten hatte, Herr Harst. Da schrieb ich Ihnen den Rohrpostbrief. Das war gegen acht Uhr. Ich versprach dem … dem Betrüger da, ihm Unterschlupf zu gewähren. Ich mußte ihm natürlich mitteilen, weshalb ich Sie besucht hätte – eben des geheimnisvollen Fensters wegen. Und er – er lächelte dann so … eigentümlich, meinte: „Die beiden werden kommen – bestimmt kommen sie! Ich werde mich mit ihnen einigen.“ Nachher, als er einmal an die Luftscheibe trat, hörte er etwas das schräge Schieferdach hinabrollen. Da sagte er mir, daß Sie beide ihm auflauerten und daß er sich zum Schein entfernen würde. Ich war ihm zu Dank verpflichtet, Herr Harst. Ich hielt ihn für Fritz Gerhardi – bis jetzt! Hätte ich auch nur im entferntesten die Wahrheit geahnt, so würde ich mich anders benommen haben.“
„Sie sind durchaus entschuldigt, Fräulein Rittler,“ erklärte Harst gütig. „In jeder Beziehung – zumal Gerhardi unschuldig und Parnack, der Doppelgänger, jenen Straßenraub ausgeführt haben wird. Er kannte eben Gerhardis Ähnlichkeit mit seiner eigenen Person, er nutzte diese Ähnlichkeit aus, ließ Gerhardi einsperren und – wird ihn jetzt durch seine Helfershelfer haben befreien lassen, um ihn hier weiter für seine dunklen Zwecke gebrauchen zu können, deren erster der war, Gerhardi an seiner Stelle der Polizei in die Hände zu spielen und hier bei Ihnen als Gerhardi auftreten zu können. Parnack sollte eben scheinbar unschädlich gemacht sein, damit der echte Parnack weiter im Trüben fischen könnte, unbelästigt durch Harst und Schraut! Fritz Gerhardi wird über das was bei alledem noch dunkel, Aufschluß geben.“
Er wandte sich Gisbert Parnack und dem Portier zu.
„Parnack, das Schicksal hat Sie nun ereilt,“ sagte er sehr ernst. „Was Ihrer harrt, wissen Sie. Wollen Sie eingestehen, weshalb Sie Gerhardi die Freiheit verschafften und was Ihre weiteren Absichten waren? Ich komme ja doch dahinter.“ Parnack grinste. Die ganze teuflische Verworfenheit seines Charakters lag in diesem gemeinen Grinsen.
„Ich werde mich hüten, etwas einzugestehen,“ meinte er mit überlegenem Hohn. „Nur eins sollen Sie wissen: Fritz Gerhardi ist mein Zwillingsbruder, den unsere Eltern ganz jung fremden Leuten an Kindes Statt überließen, und – seine Befreiung vor drei Tagen ist mein Werk!“
„Und das Mansardenfenster drüben, der Gehenkte?“
Parnack lachte. „Unsinn! Das Weib faselt, hat geträumt! Ein Gehenkter?! Lächerlich! Jedenfalls habe ich damit nichts zu schaffen!“
„Wie Sie wollen! – Schraut, geh’ und telephoniere an die Polizei. Bechert soll kommen. Hier“ – und seine Stimme schwoll an – „hier wird der Gehenkte doch wohl einiges verraten! Das geheimnisvolle Fenster wird wohl die Überleitung zu der Aufklärung des Motives der Ermordung Frau Gerhardis sein, deren Leiche nun endlich gefunden ist!“
Klara Rittler schrie auf …
Parnack aber wurde aschfahl …
Ich ging bis zur nächsten Polizeiwache.
Und damit fängt der zweite Teil dieses Abenteuers an, das uns noch durch zwei Weltteile hetzen sollte.
Es war in derselben regnerischen Mainacht vom 16ten zum 17ten morgens zwei Uhr.
Ein Polizeiauto hielt vor dem Hause Paulsbornerstr. 211. Ich hatte es erwartet, begrüßte den eilig aussteigenden Bechert und nickte dem von zwei Kriminalbeamten eskortierten Fritz Gerhardi freundlich zu.
„Sie werden die Handschellen hoffentlich bald los sein, Herr Gerhardi,“ sagte ich nur.
Dann betraten wir das Haus, stiegen im Seitenflügel die Treppen empor und standen nun im Atelier.
Hier hatte sich nichts verändert.
Harald und Klara Rittler saßen vor dem Sofatisch, auf dem Sofa Parnack und Meinke.
Was nun folgte, war weit weniger dramatisch, als man es den ganzen Umständen nach hätte annehmen können.
Die blonde Malerin schritt zögernd auf Gerhardi zu, der ihr strahlend entgegenblickte.
Harst, Bechert und die Beamten kümmerten sich nicht um die beiden, die eifrig miteinander flüsterten. Ich war indiskret genug, die Rittler zu beobachten. In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie streichelte Gerhardis Wangen, lehnte sich an ihn.
Und dann sagte Gerhardi plötzlich laut:
„Ich möchte die Situation sofort klären, Herr Harst. Sie sind schon im Polizeigebäude gestern nachmittag so überaus gütig zu mir gewesen, daß ich undankbar wäre, wollte ich Sie jetzt auch nur im geringsten belügen.“
Er trat näher an den Tisch heran, schaute Parnack eine Weile mit wachsendem Staunen in das Gesicht und schüttelte leicht den Kopf.
„Also das ist mein Doppelgänger!“ meinte er unsicher.
„Das ist aber niemals derselbe Mann, der mich aus der Strafanstalt befreien ließ und der mich im Gemüsekeller der Frau Ronisch in der Wiener Straße dazu bestimmt hat, mich als Parnack vorläufig verhaften zu lassen.“
Harald mischte sich ein. „Sie vergessen, daß Parnack ein Verwandlungskünstler ersten Ranges ist, Herr Gerhardi. Glauben Sie mir, er war’s!“
„Ich leugne das ja gar nicht,“ meldete sich Parnack hastig. „Ich will auch zugeben, daß ich hier den Portier Meinke von früher kannte, daß ich Fräulein Rittler hier des öfteren sah und mich in sie verliebte.“
„Und da haben Sie Frau Gerhardi, die Tante Ihres Zwillingsbruders, beseitigt, weil Sie fürchteten, diese könnte merken, daß Sie nicht Fritz Gerhardi waren!“
„So ist’s,“ erklärte Parnack mit verdächtiger Bereitwilligkeit, nichts mehr zu verhehlen. „Nur der Ausdruck „beseitigen“ trifft nicht zu. Wir haben sie damals allerdings gewaltsam nach dem Keller der Ronisch geschafft, haben sie dort nur bis auf weiteres gefangen halten wollen. Trotz guter Pflege starb sie leider sehr bald an Entkräftung. Sie war ja nur noch Haut und Knochen. Die Sektion der Leiche wird dies beweisen.“
„Und den Raubanfall, der Gerhardi ins Gefängnis brachte, geben Sie ebenfalls zu?“
„Ja.“
Fritz Gerhardi stieß vor jäh aufsteigendem Grimm einen röchelnden Laut aus.
„Schurke – Schurke, – und ich … ich …“
Harald legte ihm rasch die Hand auf die Schulter.
„Der Mensch ist es nicht wert, daß Sie sich seinetwegen erregen,“ sagte er ernst. „Was log er Ihnen denn vor, als er Ihnen das Geld gab, um Fräulein Rittler helfen zu können?“
„Er sagte, ich sollte mich als ein gewisser Parnack ruhig verhaften lassen. Es handele sich höchstens um ein paar Wochen Haft. Daß ich nicht Parnack sei, würde ja bald an den Tag kommen. Weitere Fragen verbat er sich. Mir lag nur daran, daß ich Geld in die Finger bekam. Klara hatte ja wiederholt in ihren Briefen, die ich in der Anstalt ausgehändigt erhielt, über ihre trostlose Lage geklagt.“
Bechert gab einem seiner Beamten rasch einen Wink.
Man nahm Gerhardi die Handschellen ab. – „Sie sind frei, Herr Gerhardi,“ sagte Bechert herzlich. „Sie müssen sich nur noch uns zur Verfügung stellen, damit Sie Ihre Aussagen genau zu Protokoll geben.“
Harst hatte sich wieder gesetzt.
Im Hintergrunde des Ateliers an der offenen Luftscheibe standen die blonde Malerin und Gerhardi, eng aneinander geschmiegt.
Nach minutenlanger Stille beugte Harald sich dann etwas über den Sofatisch und blickte Parnack fest an.
„Sie haben gelogen!“ erklärte er langsam. „Ihr Geständnis ist Lüge, was Ihre Absichten gegen Fräulein Rittler und Gerhardi betrifft. Sie – Sie wollen sich aus Liebe Fräulein Rittler genähert und diese Komödie hier aufgeführt haben, aus Liebe, Sie, der Mensch mit den weitschauenden verbrecherischen Plänen?! Wer soll Ihnen das wohl glauben?! Ich etwa?!“
Er wandte sich an den stiernackigen Meinke.
„Wie steht’s mit Ihnen? Wollen Sie aufrichtig sein? Bedenken Sie, daß Parnack schon angedeutet hat, Sie hätten bei der Verschleppung Frau Gerhardis mitgeholfen. Und – die alte Frau ist ermordet worden! Vielleicht kommen Sie auch dafür als Mittäter in Betracht. Reden Sie!“
Es war die alte Geschichte wie bei allen bisher verhafteten Helfershelfern Parnacks: Meinke schwieg! Nicht ein Wort war aus ihm herauszulocken!
Harst gab alle weiteren Versuche schließlich auf.
„Lassen Sie die beiden abführen, Bechert. Wir werden jetzt das geheimnisvolle Fenster untersuchen. Ich hoffe, dort manches zu finden. Parnack leugnete, etwas mit dem Gehenkten zu tun zu haben … – Ah – weshalb schießt Ihnen plötzlich das Blut zu Kopfe, Parnack? Und Sie, Meinke, fletschen die Zähne, als ob Sie mir an die Kehle wollten! Die Mansardenstube drüben fällt Ihnen beiden auf die Nerven, scheint’s! Nun – da mögen Sie besser noch hier bleiben.“ Und zu den beiden Kriminalbeamten: „Geben Sie gut auf die Verhafteten acht!“ –
Wir drei stiegen die Treppe hinab.
Im anderen Seitenflügel fanden wir an der Flurtür der Wohnung, die gerade unter der Mansarde lag, eine Visitenkarte:
Otto Helmesburger,
Gerichtssekretär.
„Vielleicht werden wir Herrn Helmesburger nachher wecken müssen,“ meinte Harald.
Dann standen wir vor der Flurtür der Mansardenwohnung, die Meinke für seine Zwecke mit Beschlag belegt hatte.
Haralds Dietrich öffnete die Tür.
Der Flur war genau so klein wie drüben bei der Rittler. Der Raum, der jedoch im anderen Dachgeschoß Atelier war, zeigte sich hier als einfenstrige Rumpelkammer mit rohen, nur geweißten Bretterwänden.
Unsere Taschenlampen und Becherts Karbidlaterne spendeten genügend Licht, all dies Gerümpel, das da an den Wänden aufgestellt war, in Augenschein zu nehmen.
Da waren zwei alte Schränke, alte Koffer, Kisten, Pappschachteln, Puppenstuben, ein Puppentheater.
Da war viel Staub auf all den Sachen, Staub auf den Dielen des Fußbodens, Spinngewebe, schwarze Hausspinnen, die inmitten ihres Netzes hockten, umgeben von Fliegenüberresten.
Wir beschränkten uns darauf, die größeren Behältnisse herauszusuchen, in denen vielleicht eine Leiche verborgen sein könnte.
Das heißt: nur Bechert und ich suchten.
Harst hatte mit einem Blick zur Decke der Stube erklärt: „Da ist nicht mal ein Haken, wo jemand hätte aufgehängt werden können!“
Und Bechert hatte erwidert: „Aber es muß doch ein Mensch hier gehangen haben! Wie kam sonst der Schatten zustande?“
Da hatte Harst dann geschwiegen, hatte sich an das Fenster gelehnt, eine Zigarette geraucht und uns zugeschaut – mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit.
Nun drückte Freund Bechert den einen großen Koffer wieder zu.
„Es hat keinen Zweck, hier weiter in dem alten Kram herumzustöbern,“ meinte er.
Und – da kam’s! Da sagte Harst:
„Nein, das hat keinen Zweck, obwohl der Gehenkte da ist! Bitte, schafft Ihr beide doch mal die Bodenleiter eine Treppe tiefer und klingelt Herrn Helmesburger heraus, damit er Euch mit der Leiter auf den Balkon läßt, der gerade unter diesem Fenster liegt. Und dann, lieber Bechert, bemühen Sie sich freundlichst wieder ins Atelier hinauf, stellen sich an die Luftscheibe und sehen sich den Gehenkten an. – Geht bitte. Die Aufklärung erfolgt nachher.“
Bechert war mißtrauisch. „Ein … ein Witz, Harst?“
„Nie war ich ernster als jetzt – geht!“
Und wir gingen, nahmen die Leiter mit, störten Herrn Helmesburgers Träume, lernten in ihm einen Beamten von vorbildlicher Unhöflichkeit kennen und schleppten die Leiter auf den Balkon, lehnten sie an die Hauswand unterhalb[9] des Mansardenfensters.
Dann blieb ich auf den untersten Leitersprossen stehen und Bechert begab sich hinüber ins Atelier.
Ich starrte zu dem Fenster empor – zu dem dunklen Fenster, das ich „das geheimnisvolle“ genannt habe.
Ich war gespannt auf das, was geschehen würde.
Fünf Minuten vergingen.
Da wurde das Fenster hell – und auf dem Vorhang erschien gleichzeitig der Schatten des Mannes, der in der Schlinge hing.
Harst tauchte in der Balkontür auf.
„Etwas höher hinauf, mein Alter … – So, nun hör’ zu … Ich habe da in der Nebenkammer etwas gefunden, das ich Bechert vorläufig unterschlagen möchte. Ich habe es in die eine Pappschachtel der Mansardenstube gelegt. Stelle also nachher oben keine unnützen Fragen.“
Dann drehte er den Kopf, rief:
„Zufrieden, Bechert? – Kommen Sie wieder herüber. Sie sollen den Gehenkten aus nächster Nähe sehen.“
Wir drei waren vor der Flurtür der Mansarde. Nun öffnete Harst sie. „Bitte – eintreten! Die Vorstellung beginnt.“
Zögernd betraten Bechert und ich die matt erleuchtete Stube.
Da hing nichts – nichts …
Da war nur der Schatten des Gehenkten auf dem schmutzigen Fenstervorhang.
Noch zwei Schritte der Mitte des Raumes zu.
Dann sahen wir … den Gehenkten, sahen auch das große Astloch in der Bretterwand, aus dem vom Nebenraume her ein breiter, greller Schein in die Stube hineinfiel – zwischen den Puppenstuben hindurch, die wir gar nicht beachtet hatten …
Und in diesem Lichtkegel hing eine halbarmlange Puppe – einen Mann darstellend – an einem Bindfaden, der um den Hals geschlungen war, von dem einen Rade eines Puppenwagens herab, hing frei in der Luft, etwa ein Meter über dem Boden.
Der Schatten der Puppe aber fiel auf den Vorhang, und das Netz einer großen Hausspinne zog sich von der Puppe nach einer an die Wand gelehnten Gardinenstange hin. Bewegte die Spinne das Netz, schwankte auch die Puppe. Das war das lächerliche Geheimnis des Fensters.
Ja – war es wirklich lächerlich, dies Geheimnis?!
Gewiß – Bechert lachte …
„Das hätte ich nie geahnt!“
Aber Harst sagte ernst: „Nun in die Bodenkammer, wo die Laterne brennt!“
Wir gingen wieder auf den Vorboden, gingen in die Waschküche. Von dieser aus führte hier eine kleine Holztür in einen Verschlag, durch den ein dicker Schornstein hindurchlief.
Und dieser Verschlag war leer bis auf ein Kindertischchen an der linken Bretterwand.
Das Tischchen stand gerade vor dem Astloch, und auf dem Tischchen brannte eine mittelgroße Radlaterne – eine Karbidlaterne.
Bechert sah sich hier sehr genau um, fand aber nichts mehr.
„Was mögen Meinke und Parnack hier getrieben haben?“ fragte er schließlich Harald. „Oder glauben Sie, daß Meinke und …“
„Sie haben hier etwas getrieben,“ nickte Harst. „Was, weiß ich nicht.“
„Ich werde sie schon ausquetschen!“ erklärte Bechert. „Die Burschen müssen reden.“
Wir löschten die Radlaterne aus und gingen wieder auf den Vorboden.
Und da – da hörten wir plötzlich den schwachen Knall von drei – vier Schüssen …
„Parnack!“ rief Harst leise. „Parnack flieht …!“
Bechert raste schon die Treppe hinab.
Harald war mit drei Sprüngen am Mansardenfenster, riß den Vorhang zurück, riß es auf.
Wir lehnten uns hinaus.
Wir erkannten drüben im Rahmen der offenen Luftscheibe Fritz Gerhardis Gesicht …
„Parnack ist entflohen, Herr Harst …“ meldete er erregt. „Als die beiden Kriminalbeamten für einen Augenblick hier an die Luftscheibe getreten waren, um sich den Schatten des Gehenkten anzusehen, sprang er plötzlich empor … Er hatte die Fesseln abgestreift, er rannte in den Flur – auf das Dach …“
Nun erblickten wir ebenfalls rechter Hand auf dem Dach des Vorderhauses ein paar Gestalten …
Eine davon schwang sich auf das Nebendach …
Dann ein drohender Zuruf – ein Schuß …
Und Parnack floh weiter – verschwand. –
Bechert alarmierte die Polizeiwache. Der Häuserblock wurde umstellt.
Wir halfen suchen. Wir suchten bis sechs Uhr morgens. Das ganze Viertel war munter geworden.
Und über den Dächern lachte die Maisonne, lachte der junge Morgen …
An diesem Morgen entkam Gisbert Parnack. –
Müde, abgehetzt, beschmutzt sagten wir schließlich Bechert lebewohl, der immer noch nicht vom Platze weichen wollte.
Wir gingen zunächst wieder in die Mansardenstube – gingen und holten aus dem Pappkarton das, was Harst dort verborgen hatte, steckten es in einen anderen, kleineren Karton, den wir mit uns nahmen.
Die Kette der Schupoleute ließ uns durch. Bechert war nicht zu sehen. Er durchstöberte noch ein paar Wohnungen des Blockes.
Zwanzig Minuten später, kurz nach halb sieben, waren wir daheim mit unserem Raube.
Und – das war nichts anderes als ein photographischer Vergrößerungsapparat, ein paar entwickelte Platten und Fläschchen mit Chemikalien, drei flache Glasschalen und eine Schiefertafel kleinsten Formats.
„Brühe uns Kaffee auf, mein Alter,“ bat Harald. „Ich muß munter bleiben, bis ich weiß, weshalb Meinke und Parnack und der dritte mit dem Klumpfuß dort in der Bodenkammer neben der Waschküche, wo sie gleich die Wasserleitung zur Verfügung hatten, so insgeheim photographische Vergrößerungen hergestellt haben, ohne zu ahnen, daß, wenn sie ihre Radlaterne in bestimmter Richtung auf das Tischchen stellten, der Gehenkte auf dem Vorhang erschien. Denn – das haben sie nicht gewußt, mein Alter. Der Schatten des Gehenkten war ein Spiel des Zufalls.“
Ich blickte Harst an. „Mag sein. Aber – der „dritte“, sagst Du?! Ein Mann mit dem Klumpfuß?“
„Ja – in der Staubschicht der Kammer neben dem Schornstein und außerdem in einer angetrockneten Lache einer Säure auf den Dielen fand ich diese Spur …“
Er holte ein Blatt Papier hervor, – und auf diesem Blatt waren zwei Kreise zu sehen, ein kleiner und ein großer, mit Bleistift gezeichnet: der Abdruck des Schuhes eines Menschen mit verkrüppeltem Fuß!
„Es war also noch ein dritter bei den Vergrößerungsexperimenten beteiligt,“ meinte Harald. „Eben der Mann mit dem Klumpfuß. – So, nun Kaffee, lieber Alter.“
Ich stellte die Kaffeemaschine auf den japanischen Tisch. Ich mahlte Kaffee. Der Spiritus brozelte unter dem Kessel, und Harst besichtigte die entwickelten Platten.
Es waren sieben Platten. Und alle zeigten das völlig verschwommene Bild eines Schriftstücks.
Als ich mir die Platten nachher genau besah, gab ich Harald recht: die Buchstaben und Worte des vergrößerten Schreibens glichen etwa denen der Abdrücke einer Tintenschrift auf einem sehr [benutzten][10] Löschblatt, das feucht gewesen und auf dem die Abdrücke bis zu völliger Unkenntlichkeit verlaufen waren.
Bei der ersten Tasse Mokka und der ersten Zigarette sagte Harald sinnend:
„Ich gehe jede Wette ein, daß dieses unleserliche Schriftstück von Parnack zu einer Gaunerei großen Stils benutzt werden sollte.“
Er formte einen großen Rauchring, blies einen kleineren hindurch und fuhr fort:
„Ich wünschte, wir hätten das Bildchen gefunden, von dem diese Platten die Vergrößerungen darstellen, mein Alter, – denn, um es gleich zu betonen: dieses sind Vergrößerungen einer einzigen Photographie eines Schriftstücks, nicht des Schriftstückes selbst.“
Dann hüllte er sich in Schweigen, nahm die Platten immer wieder zur Hand und hielt sie gegen das Licht. Es handelte sich ja um photographische Negative.
Ich trank nur eine Tasse, gähnte verstohlen.
Harald war bereits bei der dritten.
„Geh’ nur schlafen,“ meinte er da.
Wenn man neun Jahre älter als ein Harald Harst ist, entbehrt man den Schlaf nicht so leicht.
Ich sagte Harald gute Nacht und ging in meine Zimmer hinüber.
Ich war noch beim Auskleiden, als es klopfte: Harst!
„Du – zieh’ Dich nur wieder an,“ sagte er äußerst lebendig. „Wir reisen …! Noch heute – nach Nordafrika.“
Ich saß auf dem Bettrand.
„Wohin?“
„Nach Nord – afri – ka! Werde munter! Wir reisen als Holländer, denn in Algier würde man uns als Deutsche kaum mit offenen Armen aufnehmen.“
Dann machte er kehrt, rief noch, bevor er die Tür zuschlug: „Ich werde packen. Um elf geht ein Zug nach München. Also – krieche unter die Dusche, damit Du erst im Zuge wieder einschläfst.“ –
Wir benutzten wirklich den Elf-Uhr-Zug: das heißt, es waren nicht Harst und Schraut, die ein Abteil zweiter Klasse bestiegen. Es waren zwei würdige blondbärtige Herren, die uns kaum glichen. Der größere trug einen Kneifer, der kleinere korpulente eine Hornbrille.
Meine Fragen, was wir in Algier sollten, blieben – natürlich! – unbeantwortet.
„Warte ab!“ Damit mußte ich mich begnügen.
Ich schlief beinahe bis München in meiner Ecke.
Als ich erwachte, glühte das Fenster des Abteils in feurigem Rot: Abendröte.
Haralds Platz neben mir war leer. Aber eine Engländerin mir gegenüber erklärte, Mr. van Booren sei im Speisewagen.
Ich verspürte wütenden Hunger. Speisewagen – das paßte mir!
Aber – Mr. van Booren war nicht da! – Wo steckte er?! – Ich setzte mich im Raucherabteil an ein Tischchen, bestellte belegte Brötchen, Rührei.
Und dann kam Harald, kam, nahm Platz, beugte sich über den Tisch.
„Der Klumpfuß war im Zuge,“ flüsterte er. „Die Sache wird brenzlich. Der Kerl ist uns fraglos auf den Fersen ab Berlin!“
„Wie wurdest Du denn auf ihn aufmerksam,“ fragte ich und schob den Teller beiseite.
„Weil er stark hinkte und dreimal an unserem Abteil vorüberkam. Ein schwarzbärtiger Mensch ist’s, ein Mephistogesicht, blaß, gut gekleidet. Als ich ihm beim dritten Male nacheilte, hielt der Zug gerade in Bamberg, und die Neueinsteigenden versperrten mir den Weg. Nun ist der Mensch verschwunden.“
„Also nicht mehr im Zuge?“
„Wer weiß?! – Jedenfalls – er hatte einen Klumpfuß links, genau so einen, wie ihn meine Zeichnung wiedergibt. Wir werden in München daher sofort spurlos verduften, fahren mit einem Auto bis zur Grenzstation.“ –
Ich kann mir Einzelheiten unserer Weiterreise sparen. Der Klumpfuß war abgeschüttelt. Am 22ten mittags landeten wir in Algier – auf afrikanischem Boden. Und noch immer wußte ich nicht, was wir hier sollten. Ich ahnte ja, daß es sich um das „verlaufene“ Schriftstück handelte. Ich hatte das auch zu Harst gesagt, und er hatte erwidert: „Dann bist Du ja im Bilde!“
Ich kannte Algier nicht. Und – war zwei Stunden später entzückt, begeistert, berauscht, stand auf dem Boulevard de la Republique, dieser Prachtstraße, war inmitten eines Treibens, wie[11] es bunter keine indische Hafenstadt bieten kann.
Wir hatten im Hotel rasch gefrühstückt, hatten uns dann einen Führer gekauft, schlenderten nun den Boulevard entlang und staunten die alte maurische Moschee Dschama el Dschedid mit sehnsüchtigen Augen an – mit Augen, die diese Moschee mit indischen Prachtbauten verglichen.
Harst bog dann, den gedruckten Führer zu Rate ziehend, nach links ab – am Theater vorbei – in eine Basarstraße hinein – in die Rue de Kasba.
„Wir sind am Ziel!“ sagte Harst freudig und deutete auf ein Porzellanschild neben der Haustür eines großen modernen Hauses:
Dr. Jean de Sartarella,
Advokat und Notar.
Monsieur Dr. Jean de Sartarella war in seinem Büro.
Ein kleines, dürres Männchen, zappelig, überhöflich[12].
Auf unseren Karten, die wir ihm hineingeschickt hatten, waren wir Amsterdamer Detektive namens van Booren und van ten Groot.
Die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. Holländisch verstand der Advokat zum Glück nicht. Ich nämlich auch nicht.
Harst zog einen Bogen Papier hervor.
„Herr de Sartarella, bei einem in Amsterdam verhafteten Verbrecher fanden wir photographische Negative eines Schriftstücks,“ begann er. „Es waren ohne Frage Vergrößerungen eines winzigen Photogramms eines handschriftlich abgefaßten Schreibens. Sie sehen hier auf diesem Bogen die von mir genau nachgezeichneten völlig verlaufenen Schriftzeichen. Worte lassen sich daraus nicht mehr entziffern. Aber hier oben rechts stehen fraglos Ort, Straße und Datum. Der Name des Ortes scheint zweisilbig zu sein. Der erste Buchstabe ist vielleicht ein lateinisches A, sagte ich mir bei Prüfung der Schriftzeichen. Unter diesem ersten Namen, doch wohl die Ortsangabe, sind in Zwischenräumen vier kurze Buchstaben- oder Zahlengruppen zu sehen. Der erste Buchstabe der ersten Gruppe mag ein lateinisches R sein. Ich riet auf Rue – die französische Bezeichnung für Straße. Also war anzunehmen, daß auf dieses Rue der Name der Straße und die Nummer des Hauses folgte.“
„Höchst interessant,“ warf der Advokat ein. „Nur weiter, Herr van Booren.“
„Auf Rue folgen nur zwei Buchstaben – vielleicht „de“, also Rue de … Dann die dritte Buchstabengruppe. Davon sind die beiden letzten Buchstaben zweifellos ein b und ein a. Also Rue de …ba. Die vierte Gruppe also mußte wohl die Hausnummer sein und zwar eine zweistellige Zahl. – Nachdem ich soweit die Schriftzüge erraten hatte, kam mir meine Kenntnis französischer Straßennamen zu Hilfe. Ich bin heute nicht zum ersten Mal in Algier. Ich wußte, daß es hier eine Rue de Kasba gibt, und da ja der Ortsname anscheinend mit einem A begann, prüfte ich, ob die Zahl der verlaufenen Buchstaben dieses Namens mit Algier übereinstimmte. Und – es stimmte!“
„Glänzend – glänzend!“ lächelte der zappelige Anwalt.
„Da nun auch die Zahl der Buchstaben des Straßennamens Kasba, wie ich ihn erraten, in diese Kombination hineinpaßte, war ich meiner Sache so ziemlich sicher, daß das Schriftstück hier in Algier ausgefertigt sein müßte. Wir, mein Kollege und ich, sind daher sofort nach Algier gereist.“
„Fabelhaft!“ grinste Sartarella. „Aber wie kamen Sie auf meine Person?“
„Bitte – hier unter dem Text des Schriftstücks sieht man rechts eine Unterschrift, Vor- und Zuname, unleserlich. Links ein paar Zeilen, darunter ein Siegel und ebenfalls eine Unterschrift. Diese zweite Unterschrift kann, sagte ich mir, die eines Notars sein. Und sie zeigt vier Buchstabengruppen, die erste nur zwei Buchstaben, dann vier, dann zwei, dann zehn. Und als ich nun vorhin mit meinem Kollegen hier in der Rue de Kasba mir die Schilder der Notare ansah, es waren nur vier, stellte ich fest, daß Ihr Name Dr. Jean de Sartarella genau der Anzahl der vier Buchstabengruppen entsprach.“
Der Notar machte einen Luftsprung vor Entzücken. „Sie sind ein Genie, Herr van Booren, ein echtes Detektivgenie!“
„Ich möchte nun, da ich ein Verbrechen hinter diesen Vergrößerungen des Photogramms des Schriftstücks wittere, gern ermitteln, was diese gestempelte Urkunde enthält. Auf unsere Diskretion können Sie sich verlassen.“
Sartarella lächelte pfiffig. „Jetzt will ich Ihnen beweisen, daß auch ich kombinieren kann, Herr van Booren. Dies Schriftstück ist ein Testament, das vor mir als Notar aufgesetzt wurde. Der eigentliche Text hat“ – er zählte rasch – „hat hier auf Ihrer Nachzeichnung der verlaufenen Vergrößerung 42 Zeilen. Da ich von jedem Testament eine genaue Abschrift zu meinen Geheimakten nehme, werden wir wohl das richtige Testament durch die Zeilenanzahl herausfinden.“
Er stand auf, schloß den Stahlschrank auf und nahm ein Aktenstück heraus, lächelte abermals pfiffig und erklärte: „Ich bin erst seit zwei Jahren Notar. Die Zahl der Testamente ist nicht allzugroß, wie Sie sehen. Suchen wir von Nr. 1 an. Schon das Äußere meiner Abschrift muß uns die Arbeit erleichtern, da ich diese Abschriften in der Anordnung der Zeilen und so weiter genau dem Original entsprechend anfertige, ganz genau.“
Er begann zu blättern. Beim achtzehnten Blatt stutzte er.
„Wir haben’s schon!“ rief er. „Wir haben’s schon! – Hier – bitte!“ Er löste das Blatt aus dem Patentordner und – stutzte.
„Verdammt – hier eine Notiz von mir … Ich habe das Originaltestament am 5. April dieses Jahres, nachdem der Tod des Erblassers mir bekannt geworden, dem Erben zugeschickt, besser, der Erbin. Sollte das Verbrechen, das Sie argwöhnen, Herr van Booren, mit diesem Testament in irgend einer Beziehung stehen?“
Er war völlig vertattert, der kleine, dürre Mann.
„Geben Sie her,“ meinte Harst ungeduldig.
Und dann lasen wir die in französischer Sprache abgefaßte letztwillige Verfügung mit wachsender Spannung.
Algier,
Rue de Kasba 64
den 2. September 1921.
Vor dem unterzeichneten Notar erschien heute der Korporal der Fremdenlegion Oskar Herbert Gerhard Branker und erklärte, vor seinem Ausrücken nach Indochina seinen letzten Willen zu Protokoll geben zu wollen. (Es folgten hier Brankers Personalien, aus denen lediglich bemerkenswert ist, daß seine Mutter in zweiter Ehe mit dem Kaufmann Franz Gerhardi, Berlin, verheiratet gewesen war. Dann begann das eigentliche Testament.)
Ich, Gerhard Branker[13], bestimme, daß meine auf der hiesigen Bank lagernden Ersparnisse im Betrage von 5800 Francs meiner Mutter, verehelichten und verwitweten Frau Sophie Gerhardi, Berlin-Wilmersdorf, Paulsborner Straße 211 zuletzt wohnhaft, im Falle meines Todes ausgezahlt werden sollen. Sollte meine Mutter vor mir sterben, so soll meine Base, die Malerin Klara Rittler, ebenda wohnhaft, meine alleinige Erbin sein. Außer oben erwähntem Geldbetrag hinterlasse ich als Andenken an meine erste Dienstzeit in Ninh-Binh in Tonkin[14] den kleinen Buddha-Tempel auf der Insel Nee südlich von Ninh-Binh, den ich 1919 käuflich erwarb und in dem der Tonkinese Lain-Hao als mein Verwalter wohnt. Ich rate dringend, eine Vertrauensperson nach meinem Tode dorthin zu senden, die dem Tonkinesen nur das Wort „Kapo-ratta-Branka“ als Erkennungszeichen anzugeben braucht. Lain-Hao wird meinem Erben dann die auf die Tempelruine bezüglichen Papiere und alles andere aushändigen. – Ich bedaure tief, daß ich seinerzeit aus Abenteuerlust meine Mutter verlassen habe, hoffe jedoch, obwohl sie von mir dem Lebenden Geldunterstützungen abgelehnt hat, durch dieses Testament ihren Lebensabend sorglos zu gestalten und ihr zu beweisen, daß ich ihrer stets in Liebe gedacht habe. Mit einem letzten Gruß für meine Mutter und meine Base, ebenso für meinen Vetter Fritz Gerhardi schließe ich diese letztwilligen Bestimmungen.
Dieses Testament soll dem Erben erst nach meinem Tode zugehen. Bis dahin soll der Notar, der meine Unterschrift beglaubigt, es in sicherem Gewahrsam halten und es nie einem Unberufenen zeigen.
Gerhard Branker,
Korporal im 1. Fremdenregiment.
Siegel,
die eigenhändige Unterschrift
des Korporals Branker
wird beglaubigt.
Dr. Jean de Sartarella. Notar.
Harald legte die Urkunde vor sich auf den Tisch.
„Branker ist also bestimmt verstorben?“ fragte er.
„Ja, Herr van Booren, – am Sumpffieber in Indochina am 3. Januar dieses Jahres.“
„Und wem sandten Sie das Testament?“
„Der Frau Sophie Gerhardi in Berlin, eingeschrieben.“
„Sind die 5800 Francs abgehoben worden?“
„Ehrlich gesagt: das weiß ich nicht. Ich habe der hiesigen Filiale der Bank de Paris nur mitgeteilt, daß Frau Gerhardi die Empfangsberechtigte ist.“
Harst sann eine Weile vor sich hin. Dann erklärte er:
„Ich möchte Sie bitten, einmal die Bank telephonisch anzufragen, Herr Notar.“
„Gern – sofort.“ Und der kleine Zappelige hatte den Hörer schon in der Hand.
„Hier Notar Dr. Sartarella …“ Er stellte die Frage sehr umständlich. „Gut – ich warte …“ Minuten vergingen. Dann der Bescheid: Ein Bevollmächtigter Frau Gerhardis hatte das Geld am 24. April abgehoben. Er hatte sich durch verschiedene Papiere, insbesondere durch eine notarielle Vollmacht der Erbin vom 19. April genügend ausgewiesen. Sein Name war … Gisbert Parnack!
Harald und ich tauschten einen langen Blick.
Also wirklich Parnack! –
Sartarella setzte sich wieder.
Harst ließ nun die Maske fallen, legte dem Notar seinen Ausweis als Privatdetektiv Harald Harst aus Berlin vor und weihte ihn in alles ein.
„Ich bin überzeugt, daß Ihr Einschreibebrief mit dem Testament irgendwie von dem Portier Meinke abgefangen worden ist,“ erklärte er, nachdem die Vorgeschichte unserer Reise hierher erledigt war. „Oder Meinke hat sich zum mindesten Kenntnis von dem Inhalt des Testaments verschafft. Er mag es photographiert haben. Ja, so wird es sein. Das paßt besser in die ganzen Ereignisse hinein. Er photographierte es. Dann wurde es vernichtet. Ob Meinke oder Frau Gerhardi dies getan hat, muß noch aufgeklärt werden. Die Photographie fiel sehr unscharf aus, so daß Parnack, der Freund Meinkes, das für ihn fraglos sehr wichtige Erkennungswort „Kapo-ratta-Branka“ nicht mehr entziffern konnte. Ich behaupte, daß die beiden die Photographie nur dieses Erkennungswortes wegen so oft vergrößert haben. Denn alles andere hatte Meinke gut behalten: wo das Geld lagerte, wo es abzuheben war. Parnack hat das Geld dann ja geholt, natürlich mit Hilfe von ihm gefälschter Papiere. Ich behaupte weiter, daß Frau Gerhardi nur deshalb am 14. April beseitigt wurde, damit sie, die das Testament erhalten und gelesen hatte, verschwände. Am 5. April schickten Sie es ab, Herr Notar, am 14. verschwand die Frau. Ich denke, da gibt es kaum einen Zweifel über die Zusammenhänge.“
„Allerdings nicht,“ nickte Sartarella sehr ernst. „Sie glauben nicht, wie froh ich bin, Herr Harst, daß ich die Angelegenheit in so guten Händen weiß. Falls Sie die Abschrift mitnehmen wollen – bitte sehr!“
Gleich darauf traten wir wieder auf die Rue de Kasba hinaus.
Harald schritt schweigend neben mir her.
Wir kamen wieder auf den Boulevard de la Republique. Wir waren wieder auf der schattigen Mittelpromenade, spürten den Salzgeruch des Meeres, das da vor uns jenseits der steinernen Hafendämme im Sonnenglast schillerte.
Und da war’s, daß Harald mich plötzlich unterfaßte, meinen Arm drückte …
„Der Mann mit dem Klumpfuß …!“ flüsterte er.
Das war noch stärker als das Testament. Das war ein Mahnruf: „Parnack über Euch!“
Und nun sah ich ihn ebenfalls, den hinkenden, leicht verwachsenen Menschen. Die linke Schulter stand etwas höher, und schwer stützte er sich beim Gehen auf einen starken, eleganten Spazierstock.
„Er ist’s!“ sagte Harald leise. „Er ist’s bestimmt! Jetzt fällt mir auch ein, daß er etwas[15] bucklig war. Sieh den linken Stiefel, mein Alter! Er ist’s!“
Der Mann trug einen hellen Anzug, dazu einen Panamahut. Er ging vor uns, wandte den Kopf andauernd hin und her, als ob er nach jemand ausspähte.
„Er sucht uns – wetten!“ flüsterte Harst. „Nun bleiben wir hinter ihm. Nun wird er wohl sehr bald eine der Zellen des hiesigen Polizeigefängnisses zieren.“
Wir lernten Algier kennen. Der Mann stampfte durch alle belebteren Straßen. Augenscheinlich suchte er wirklich jemand: uns beide!
Bis er in der Rue de Orleans in einem maurischen Cafee verschwand.
„Ihm nach!“ meinte Harald kampflustig.
Ein Haufe Touristen schob sich an uns vorbei in das alte langgestreckte Haus hinein. Wir mengten uns rasch unter die holde Weiblichkeit der Globetrotter, wir erblickten unseren Klumpfuß an einem Tischchen an einer der Steinsäulen sitzen.
Zwei Säulenreihen stützten den dreifach gewölbten niederen Raum. Angenehm kühl war es hier. Seltsame Öllampen spendeten noch seltsamere Beleuchtung. Das mit Ambra parfümierte Öl erfüllte die Luft mit einem Duft, als befände man sich in einer Moschee.
Im Hintergrunde auf einem Podium eine Musikkapelle, der Kapellmeister im Frack …
Wir fanden noch zwei freie Stühle an einem von drei Männern in Steuermannstracht besetzten Tische, eben hinter einer der dicken gemauerten Säulen. Die drei Seeleute hatten sich eben erst niedergelassen. Harst hatte in holländischer Sprache gefragt, ob wir Platz nehmen dürften. Die drei Rauhbeine antworteten nicht. Sie schienen bereits einige andere Lokale besucht zu haben, waren offenbar angetrunken.
Wie es dann kam, daß der eine Harald plötzlich grob anfuhr und behauptete, ihn mit dem Fuße gestoßen zu haben, war mir nicht recht klar. Ich hatte mir die Umsitzenden angeschaut, wurde erst aufmerksam, als der Tisch mir auf den Leib kippte, als mir heißer Kaffee ins Gesicht floß und Harst von einem der Kerle mit einem Stuhl zu Boden geschlagen wurde.
All das spielte sich so blitzschnell ab, daß ich erst auf die Beine kam, als sich über Harsts Leib schon ein wüster Knäuel von Kellnern, Gästen und rauflustigen Farbigen gebildet hatte.
Ich begriff noch immer nicht, daß die ganze Rauferei bestellte Arbeit gewesen.
Erst als drei Polizeibeamte erschienen, als der Knäuel sich entwirrte, als die Seeleute spurlos verschwunden waren, als Harst taumelnd sich erhob und seine Taschen befühlte, als sich so zeigte, daß ihm Uhr nebst Kette, Zigarettenetui und Brieftasche gestohlen waren – als ich mich in jäh erwachendem Verdacht nach dem Mann mit dem Klumpfuß umsah und ihn nirgends mehr erblickte, da erst dämmerte mir die Wahrheit auf …
Und – nicht nur Harst war bestohlen worden.
Damen an ebenfalls umgestürzten Nebentischen vermißten ihre Handtaschen, Kellner ihre Börsen, männliche Gäste ihre wohlgespickten Portefeuilles …
Alles schrie, brüllte auf die Polizeibeamten ein …
Alles deutete auf Harald, dessen falscher blonder Holländerbart sich zum Unglück auf der einen Seite gelöst hatte …
Ein Amerikaner sprach zuerst den Verdacht aus, wir beide gehörten mit zu den Gaunern …
Kurz: wir wurden verhaftet, wurden abgeführt!
Harst ließ alles geschehen. Eine Droschke brachte uns zur nächsten Polizeistation.
Haralds Ausweis, die Testamentsabschrift – auch das war mit der Brieftasche den Schurken in die Hände gefallen. Und diese Kerle, darüber konnte kein Zweifel bestehen, waren Kreaturen gewesen, die der Mann mit dem Klumpfuß angeworben hatte.
Als Harst auf der Polizeiwache unsere Namen nannte, als wenigstens ich mich als Max Schraut, Privatdetektiv, Berlin, legitimieren konnte, waren die Beamten wenigstens so entgegenkommend, daß sie Harald gestatteten, den Notar Dr. Sartarella anzurufen …
Sartarella benahm sich sehr anständig, kam sofort auf die Wache und erreichte, daß man uns unter einigen kühlen Entschuldigungsworten wieder freiließ.
Wir fuhren ins Hotel. Harsts Schädel war unförmig aufgeschwollen. – Er legte sich sofort zu Bett. Mit Hilfe von Eisbeuteln gelang es mir, die Folgen des Stuhlhiebes bis zum nächsten Morgen so weit zu beseitigen, daß wir abreisen konnten.
Die Polizei hatte die Nacht über ganz Algier nach dem Mann mit dem Klumpfuß abgesucht, natürlich umsonst.
Als der nach Suez bestimmte Dampfer den Hafen von Algier verließ, stand Jean de Sartarella auf dem Kai und winkte uns nach.
Wir lehnten an der Reling.
Allmählich entschwand die Küste Afrikas unseren Blicken.
Und als sie nur noch wie ein dunkler Strich am Horizont zu erblicken war, sagte Harst mit verbissener Wut:
„So – nun nach Tonkin! Damit wir den Schuften dort zuvorkommen!“
Wir hatten Glück. Als der Dampfer in der Kanalstadt Suez ankerte, machte Harald mich auf eine elegante Privatjacht aufmerksam – schneeweiß, zu beiden Seiten des Bugs in Goldbuchstaben den Namen India stolz durch die Meere tragend.
Es war die Jacht unseres alten Freundes Lord Edward Wolpoore, des reichsten Plantagenbesitzers Indiens, dessen Schloß unweit Madras uns schon wiederholt beherbergt hatte. Die Freunde der Harald Harst-Abenteuer werden sich auf unseren Kampf gegen die Mördersekte der Thugs noch besinnen, von denen Lord Wolpoore seit Jahren bedroht worden war.
Wir ließen uns sofort zur India hinüberrudern.
Wolpoore war an Bord, auch seine Gattin Geraldine.
Eine Stunde drauf lichtete die India die Anker und führte uns den Hitzewellen des Roten Meeres entgegen.
Wolpoore erzählte uns, als die Gestade der Insel Hainan im Osten auftauchten, daß der Weltkrieg auch die malaiischen und chinesischen Seeräuber wieder zu neuer Tätigkeit angespornt hätte, daß die englischen Kreuzer noch heute auf der Jagd nach diesen unheimlichen Burschen wären, die wie einst unter der Maske harmloser Handelsdschunken ihr blutiges Handwerk ausübten und sogar mit modernen Geschützen sich zur Wehr setzten.
Kapitän Tooms, der alte Führer der India, meldete uns am Abend des 15. Juni, daß die Insel Nee in Sicht sei.
Wir saßen gerade beim Souper im Speisesaal.
„Nach oben!“ rief Wolpoore …
Wir ließen das Souper im Stich. Wir standen auf der Spitze der Jacht neben der Ankerwinde, Ferngläser an den Augen …
Im Westen über der fernen bergigen Küste Tonkins verglomm das Abendrot.
Da vor uns aus den rosigen Fluten stiegen die Gestade der Insel Nee höher und höher …
Die India glitt langsam dahin.
An einem flacheren Uferstreifen drüben tauchten Hütten, Wellblechbaracken, zwei Ziegelhäuser mit weißen Dächern auf: eine Plantage.
Ein Motorboot schoß aus einer Bucht hervor, kam auf uns zu.
Ein junger Amerikaner, kraftlos, gelb vor Fieber und stetem Chinin, kletterte das Fallreep empor: der Plantagenleiter, ein Mr. James Duncanly.
Er – – warnte uns.
„Vorgestern ist an der Festlandküste ein Dampfer geplündert und verbrannt worden, seit einem Monat der vierte. Ihre Jacht fällt auf, Mylord. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie zu warnen.“
Wolpoore lächelte. „Wir sind auf alles vorbereitet, Mr. Duncanly. – Würden Sie imstande sein, den Lotsen zu spielen? Ist die Bucht dort tief genug für mein Schiff?“
„Gewiß, Mylord. Die Einfahrt ist ganz ungefährlich. Wenn Ihr Kapitän meinem Motorboot folgt, sind Sie in einer Viertelstunde in der Bucht.“
Harst mischte sich ein. „Kennen Sie vielleicht hier auf Nee einen alten Buddha-Tempel, Mr. Duncanly?“
„Gewiß. Der liegt drei Meilen nordwärts der Plantage im Walde. Es gibt da aber nichts Besonderes zu sehen. Es ist ein Tempel wie jeder andere, halb verfallen. Ein Tonkinese haust dort. Der Tempel soll einem Europäer gehören. Ich kann mich ja um Derartiges nicht kümmern. Ich habe alle vier Wochen meinen Malariaanfall.“ – Er sprach sehr müde und machte einen völlig kranken Eindruck, der arme Kerl. Das Klima von Tonkin ist ja berüchtigt.
„Halten Sie es nicht für gefährlich, in die Bucht einzulaufen, wenn sich hier wieder Piraten gezeigt haben?“ fragte Harald weiter.
„Im Gegenteil, Mr. Harst. Ich habe hier hundert Kanaken als Arbeiter, dazu fünf weiße Beamte, kein chinesisches Gesindel. Wir sind gut bewaffnet. Das ist an der Küste bekannt.“ –
Die India folgte also dem Motorboot. Es ging um ein schroffes Vorgebirge herum, durch eine kanalartige Einfahrt. Die Scheinwerfer der Jacht spielten. Eine große, von bewaldeten Ufern umgebene Bucht tat sich auf. Rechter Hand lag die Plantage auf der Anhöhe.
Als die Anker der India in die Tiefe rasselten, als vom Ufer im grellen Scheinwerferlicht ein mit Farbigen bemanntes großes Boot herbeischoß, als die Gesichter der flotten Ruderer deutlicher wurden, drehte Harst sich plötzlich nach Wolpoore um.
„Das sind keine Kanaken, Mylord! Das sind Malaien! Und – fanden Sie nicht auch, daß dieser Mr. Duncanly sehr schnell uns mit seinem Motorkutter entgegenkam – ganz so, als hätte er auf uns gewartet?! Und – sahen Sie, wie kraftvoll der Satz war, mit dem er vom Fallreep auf sein Boot hinübersprang, und wie das Boot dann plötzlich auf dem Rückwege zur Bucht eine Flagge hißte?! Geschah das uns zu Ehren?!“
Wolpoore starrte nach dem großen Ruderboot hin. Das war nur noch zwanzig Meter entfernt.
Das große Boot legte an …
Und wie die stummen Teufel rasten die braunen Halunken an Deck – nicht zwanzig – mindestens dreißig …
Hatten jeder einen Revolver, hatten den langen malaiischen Kris in der Linken …
Widerstand wäre hier Wahnsinn gewesen.
Lady Geraldine lehnte totenblaß an der Reling – stierte in die Revolvermündungen …
Und wir Männer hörten mit zusammengekniffenen Lippen von der Backbordreling Mr. Duncanlys helle Stimme:
„Bitte – ergeben Sie sich! Ich vergieße nicht gern Blut!“
Er war mit zehn weiteren Malaien dort emporgeentert. Die hatten Karabiner, hatten Browningpistolen.
Dann näherte er sich uns – immer noch Gentleman, immer noch höflich.
„Mylord,“ sagte er, „wenn Sie Befehl geben wollen, daß jeder Widerstand unterbleibt, werden Sie und Ihre Gattin sowie all die anderen Insassen der Jacht in keiner Weise belästigt werden. Ich hoffe, mich in Güte mit Ihnen zu einigen. Die India ist mir bereits vor vier Stunden gemeldet worden. Ich habe meine Vorposten auf See.“
Er lächelte liebenswürdig – stolz. „Ich bin moderner Pirat, Mylord. Ich kann mich rühmen, bisher nicht einen Tropfen Blut vergossen zu haben. Was ich Ihnen vorhin erzählte, daß an der Küste wieder ein Dampfer verbrannt sei, stimmt nicht. Ich raube kein Schiff aus. Ich verlange nur eine – na sagen wir … eine Steuer, je nach Größe des Schiffes. Ich bin auch erst seit kurzem hier in der verlassenen Plantage ansässig, die des Fiebers wegen geräumt worden ist. Mein … Arbeitsfeld liegt jenseits der Insel Hainan – dort im Osten.“
„Was verlangen Sie?“ fragte Wolpoore rasch. „Ich möchte diese unangenehme Situation beenden. Nennen Sie mir eine Summe.“
„Halt!“ rief Harst da, trat auf Duncanly zu und flüsterte ein paar Worte, die eine ganz ungewöhnliche Wirkung ausübten.
Der Pirat fuhr zurück, hob wie abwehrend die Hände, faßte sich jedoch sehr schnell und winkte Harald.
„Kommen Sie, Mr. Harst. Das muß geklärt werden,“ meinte er unsicher.
Sie stellten sich zehn Schritt weiter an die Reling, sprachen so leise, daß wir nicht ein Wort verstanden.
Die Decklampen der Jacht bestrahlten ihre Gesichter, zeigten uns, daß das Gespräch immer mehr die Form einer freundschaftlichen Unterhaltung annahm.
So vergingen zehn Minuten. Inzwischen hatte sich die ganze Besatzung der India um den Lord, die Lady, den Kapitän und mich geschart. Und im Halbkreis uns gegenüber lauerte die lebende Mauer der Malaien, jede Bewegung überwachend.
Dann kamen Harst und Duncanly auf uns zu.
Der Piratenführer befahl den Seinen, sich zu entfernen. Sie gehorchten sofort. Er hatte in seiner ganzen Art etwas, das imponierte.
„Mylord, ich bedauere das Mißverständnis,“ wandte er sich an Wolpoore. „Und Sie, Mylady, bitte ich vielmals um Entschuldigung, weil ich Ihnen einige bange Minuten bereitet habe. Sie sind auf der India völlig sicher, ebenso auf dem Lande. Ich habe nur eine Bitte: vergessen Sie das Vorgefallene und bleiben Sie mit der Jacht so lange hier, wie Mr. Harst es für nötig hält. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie alle sich fortan unter meinem Schutze befinden.“
Er verbeugte sich leicht, schritt zum Fallreep und fuhr an Land. –
Wolpoore griff dankbar nach Haralds Hand.
„Harst, wie haben Sie das denn wieder erreicht, Sie Zauberer?“
„Duncanly ist eben ein Gentleman. Ich habe an sein Ehrgefühl appelliert.“
Niemand glaubte ihm das. Niemand wagte jedoch, ihn noch mit Fragen zu bestürmen.
Morgens um sechs weckte Harald mich.
„Rasch, zieh’ Dich an. Ich habe mich mit Duncanly verabredet. Er will uns nach der Tempelruine führen.“
Um halb sieben standen wir vor einer der verlassenen Baracken der Plantage.
Duncanly erschien sehr bald, nickte uns zu.
„Guten Morgen, meine Herren … – Wir nehmen zwei meiner Leute mit. – Vorwärts!“
Der Marsch durch Wald und Bergwildnis war anstrengend genug. Der Proviant, den die beiden Malaien trugen, kam uns sehr gelegen.
Duncanly plauderte mit uns über alles mögliche. Er benahm sich völlig zwanglos. Nur eine gewisse Trauer sah ich heute in seinen hellen graublauen Augen.
Zweimal machten wir Rast. Erst mittags um ein Uhr erreichten wir den Tempel, der unweit des Eingeborenendorfes Nee-Sanggi lag. Von Nee-Sanggi führte ein fester, fahrbarer Weg nach der Westküste der Insel, die von hier nur eine Stunde entfernt war.
Der Tempel selbst, aus schwarzen Felsblöcken erbaut und mit einem bereits sehr schadhaften Balkendache versehen, stand auf einer Bergterrasse inmitten haushohen Dornengestrüpps und zeigte die Architektur all dieser alten Bauwerke: eine nach Osten zu offene Halle, davor vier Reihen Steinsäulen und eine breite Steintreppe[16].
Kaum waren wir bis an den Fuß der Treppe gelangt, als unter den Säulen ein älterer Tonkinese mit riesigem Basthut auf dem geschorenen Schädel sichtbar wurde.
Duncanly eilte uns voraus, sprach auf den gelben Burschen hastig ein und lehnte sich dann an eine Säule … Die beiden Malaien blieben vor dem Tempel stehen.
Harst trat auf den Alten zu.
„Bist Du Lain-Hao?“ fragte er auf englisch.
„Lain-Hao, Master!“
„Ich komme wegen Kapo-ratta-Branka, Lain-Hao,“ erklärte Harald weiter.
„Dann ist es gut, Master. Kapo-ratta-Branka genügt. – Folgt mir!“
Er schritt uns voran in die Halle.
Da stand im Hintergrunde ein riesiger, aus Lehm gebrannter und bunt bemalter Buddha, wohl drei Meter hoch. Daneben war aus Zweigen eine Hütte errichtet.
Der Tonkinese kletterte auf den unförmig dicken Bauch des Gottes und … hob den wie ein Keil in den Rumpf eingesetzten Kopf und Hals des Götzen herab, reichte ihn uns und griff dann mit der Rechten in das Loch des Rumpfes hinein, holte zwei längliche Lederbeutel hervor, warf sie herab und setzte Kopf und Hals wieder ein.
„Der Kapo-ratta-Branka hat befohlen, daß die beiden Säcke erst von dem Erben geöffnet werden dürften,“ sagte der Tonkinese, als er wieder neben uns stand.
„Gut, Lain-Hao, es wird geschehen.“
Wir nahmen jeder einen der Säcke empor. Sie waren recht schwer und etwa einen Meter lang.
Lain-Hao kümmerte sich nicht weiter um uns. All das war so prosaisch hergegangen, wie ich’s nie gedacht hatte.
Duncanly lehnte noch draußen an der Säule. Er fragte nichts, rauchte eine Zigarette und warf nur einen flüchtigen Blick auf unsere Schulterlasten.
Ich hatte bereits durch Befühlen festgestellt, daß sich in dem Sacke, den ich auf der Schulter schleppte, eine in weichen Stoff gehüllte Metallfigur befand. Ich zweifelte nicht, daß es Gold sei. Das Gewicht sprach dafür.
Wir traten nun sofort den Rückweg an. Die beiden Malaien mußten die Säcke tragen.
Auch dieser Rückweg durch die Wildnis brachte nicht das geringste Interessante.
Als wir, Harald und ich, an Bord der India gegen sieben Uhr abends eintrafen, empfing Wolpoore uns mit allerlei Vorwürfen.
Harst entschuldigte sich. „Lieber Wolpoore, Duncanly wollte nur uns beide dorthin führen. Sie haben außerdem auch nichts versäumt.“
Seine Schilderung unseres Marsches und der Vorgänge im Tempel enttäuschten das Ehepaar gründlich.
Die an einer Seite mit Lederriemen sehr fest zugebundenen Säcke wurden in unserer Kabine untergebracht.
Nachher beim Abendessen sagte Wolpoore:
„Harst, glauben Sie, daß die Figuren in den Säcken aus Gold bestehen?“
„Nein. Dann wären sie noch schwerer.“
„Merkwürdig! Und dieser beiden Figuren wegen hat der Korporal Branker seinen Erben geraten, sich bis Tonkin zu bemühen?! – Nun, mir ist das gleichgültig. Wie lange sollen wir denn noch hier in der Bucht bleiben?“
„Vielleicht drei bis vier Tage, Wolpoore. Bis Parnacks Abgesandte, die nun ja das Erkennungswort durch die mir gestohlene Abschrift des Testaments wissen, hier eingetroffen sind. Sie werden den Tempel von der Westküste zu erreichen suchen, wo sie es bequemer haben. Duncanly hat im Tempel auf meine Bitte zehn von seinen Leuten postiert – ab morgen, die Parnacks Kreaturen festnehmen werden. Eine Rakete wird[17] uns benachrichtigen, wenn die Verbrecher dort oben dingfest gemacht sind. Die Rakete ist von hier zu sehen, auch am Tage. Duncanly läßt die Bergabhänge nach Westen zu dauernd beobachten. Wir können also tun und lassen, was wir wollen.“ –
Genau vier Tage langweilten wir uns nach Kräften an Bord.
Am vierten Tage abends zehn Uhr schickte Duncanly, der sich von uns ferngehalten hatte, einen Boten, daß die Rakete vor einer halben Stunde bemerkt worden sei und daß er den Lord und uns morgen früh vier Uhr gleich nach Hellwerden zum Marsch nach dem Tempel erwarte. –
Um halb elf vormittags näherten wir vier uns der Bergterrasse. Diesmal hatten wir keine Malaien bei uns.
Bald kam denn auch das alte düstere Heiligtum in Sicht. Wir sahen schon von weitem, daß hinter den Steinsäulen vier Männer, vier Europäer, standen, jeder mit einer Selbstladepistole in der Hand, – sahen auch Duncanlys zehn Piraten, die mit ihren Karabinern hinter Felsstücken vor der Tempeltreppe hockten.
Das war also eine regelrechte Belagerung. Das war nach diesen Tagen des öden Einerleis an Bord der India eine angenehme Abwechslung.
Wir blieben stehen. Da Harald und ich unmaskiert waren, mußten die Verbrecher uns fraglos schon erkannt haben.
Sie hatten sich noch mehr hinter den Säulen zusammengeduckt. Sie mochten einsehen, daß es hier kein Entrinnen für sie gab. Vielleicht gedachten sie ihr Leben recht teuer zu verkaufen. Es waren ja sicher Leute, die schon allerlei auf dem Kerbholz hatten.
Harald formte die Hände vor dem Munde zum Schalltrichter und rief ihnen zu:
„Ergebt Euch! Werft Eure Pistolen weg!“
Ein freches Lachen war die Antwort.
Duncanly schaute finster auf die vier Hände und die vier Repetierpistolen dort an den Säulenrändern.
Er wandte sich nun an Harst. Nur ein fragender Blick war’s.
„Ich werde sie vorher warnen,“ sagte Harald kurz.
Und wieder rief er: „Ergebt Euch! Flucht ist unmöglich. Das wißt Ihr! Hinter Euch, um Euch ist undurchdringliches Dornendickicht. Wir haben an dem Dach der Halle vier Sprengkapseln mit elektrischer Zündung befestigt. Wenn Ihr nicht zermalmt werden wollt, werft die Waffen weg und gebt Euch gefangen.“
Wieder nur das heisere Lachen als Antwort.
Duncanlys Gesicht war noch finsterer und drohender geworden.
Plötzlich winkte er einem der Malaien zu, der rechts am Rande des Gestrüpps neben einem gelben Kasten lag.
Der Malaie erfaßte eine kleine Kurbel des Kastens, drehte sie.
Und dann wie ein einziger Schlag vier Explosionen drüben …
Das schwere Balkendach schwankte – die Säulen sanken unter der Last des zusammenstürzenden Daches um – und die vier Kerle dort kamen in wilder Hast die Treppe herabgestürmt – – als vorderster der Mann mit dem Klumpfuß – der Bucklige, Schwarzbärtige …
Aber – der Mann lahmte nicht mehr! Nein – er rannte in langen Sätzen dahin – feuerte auf uns, wollte sich gewaltsam einen Weg bahnen!
„Parnack – – stehen bleiben!“ schrillte Harsts Stimme. „Parnack – – ich drücke ab!“
Der Name Parnack übte auf Duncanly eine Wirkung aus wie ein Peitschenhieb.
Er schnellte vorwärts – riß einen Revolver hervor.
„Halt. Schurke. Mörder!“ brüllte er mit einem Stimmenaufwand, daß der Klumpfuß unwillkürlich im Laufe innehielt …
Und – er brüllte die Worte in deutscher Sprache …
„Halt, Gisbert Parnack, erkennst Du meine Stimme! Der Rächer ist über Dir! Schieße, wenn Du Mut hast!“
Und Parnack drückte ab …
Fast gleichzeitig auch Duncanly …
Parnack breitete die Arme aus, flog kerzengerade in die Luft, schlug nach hinten zu Boden …
Stirnschuß – mitten in die Stirn!! –
Die drei anderen Burschen ergaben sich.
Der Tote war Gisbert Parnack. Wir fanden bei ihm Harsts Brieftasche, Uhr, Zigarettenetui und auch die Testamentsabschrift.
Duncanly hatte schweigend zugesehen, wie Harst dem Toten den falschen Bart und die Perücke abnahm. Dann hatte er sich weggewandt und war davongegangen, schickte uns aus dem Dorfe Nee-Sanggi den weißen Polizeimeister und vier Männer. Seine Malaien und der alte Tonkinese verschwanden dann ebenfalls. –
Als wir drei, Wolpoore, Harst und ich, damals nach der Bucht zurückgekehrt waren, fanden wir die Gebäude der Plantage leer. Duncanly mit seinen Piraten hatten ihr in der benachbarten Bucht liegendes Fahrzeug bestiegen und waren davongesegelt – –
Achtzehn Tage darauf trafen Harald und ich in Berlin ein. In dem Atelier der Erbin des Korporals Branker („Kapo-ratta-Branka“ war nur eine chinesische Verstümmelung von „Korporal Branker“) wurden die beiden Ledersäcke geöffnet. Die beiden Götzenstatuen waren aus Holz geschnitzt und zum Teil sehr dick mit Gold ausgelegt. Sie stehen heute im Museum für Völkerkunde. Das Museum kaufte sie Klara Rittler für eine Phantasiesumme ab, die ein ungenannter Gönner zur Verfügung stellte.
Die blonde Malerin ist längst Frau Gerhardi.
Und Duncanly, der Pirat? – Er starb am 3. Dezember 1922 bei der Grubenkatastrophe in Robber Springs in Nordamerika als einfacher Bergmann. Er war kein anderer als Gerhard Branker, der Abenteurer, der Korporal der Fremdenlegion, den man in Tonkin bei einem Gewaltmarsch für tot in der Bergwildnis zurückgelassen hatte.
Er war’s also gewesen, der den Mörder seiner Mutter, den großen Verbrecher Gisbert Parnack, niederschoß.
Nächster Band:
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Kabels Kriminalbücher. Band 5:
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Kabels Kriminalbücher. Band 6:
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Kabels Kriminalbücher. Band 9:
Der Krokodillederkoffer
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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.
Anmerkungen: