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Die Wundergeige des Virtuosen

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 86:

 

Die Wundergeige des Virtuosen

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Wir wohnten als Gäste bei Miß Olivia Bennerton, deren Zwillingsschwester Daisy von Harst hier in großmütigster Weise geschont worden war, obwohl sie uns aus verwerflicher Goldgier ernsthaft nach dem Leben getrachtet hatte. (Vergl. den vorigen Band: Das blinde Hindumädchen.)

Zwischen den Schwestern, die Waisen waren, bestand seit vielen Jahren keinerlei Verbindung mehr. Miß Olivia hatte nur noch dem Namen nach eine Schwester.

Drei Tage waren jetzt seit jener Nacht vergangen, als Harst vor dem Affenkäfig in den Kellerräumen des schönen Bungalow Miß Olivias der Abenteurerin Daisy warnend zugerufen hatte: „Kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“ – Wir hatten über diese Vorgänge nicht mehr gesprochen. Außer uns weilte zu derselben Zeit in Olivias Bungalow noch unser Freund Lord Breßfort mit seiner jungen Gattin, die mit Olivia eng befreundet war. –

Lord Breßfort klopfte gegen neun Uhr abends an unsere Tür und trat dann ein. Er war im Frack wie wir. Wir sollten an diesem Abend sämtlich bei dem Gouverneur von Lucknow, General Sir Pawell Bitry, einen besonderen Kunstgenuß auskosten. Der stumme russische Geiger Iwan Iwannow war einer Einladung des Generals folgend heute in Lucknow von Benares aus eingetroffen und bei Sir Bitry abgestiegen. Iwannow sollte dem heutigen Gesellschaftsabend bei dem Gouverneur durch die Zaubertöne seiner Wundergeige eine besondere Weihe geben. –

„Das Auto wartet,“ sagte Breßfort. „Beeilen Sie sich, Harst! Die Damen stehen schon in der Vorhalle.“

Harald schob seine neunschüssige Clement in die Schlüsseltasche der Beinkleider, und ich tat dasselbe, obwohl ich es heute für überflüssig hielt, eine Waffe mitzunehmen.

Breßfort brummte ebenfalls:

„Sie könnten die Knallbüchse getrost im Koffer lassen, bester Harst!“

Harald griff nochmals in den Koffer hinein, schob seine Taschenlampe und zwei Ersatzbatterien in die Manteltasche und meinte:

„Man soll stets gewappnet sein, Breßfort!“

Dann schritten wir den Flur entlang in die Vorhalle.

Das Auto Miß Olivias brachte uns zum Gouverneurpalast. – Ich übergehe alles Nebensächliche und erwähne nur, daß in dem großen Festsaal etwa hundertzwanzig Personen versammelt waren. Man saß zwanglos auf Stühlen in unregelmäßigen Reihen. Das für den berühmten Geiger erbaute kleine Podium war zu beiden Seiten von hohen Palmenkübeln umgeben. Hinter dem Podium führte eine Tür in die beiden Logierzimmer, die Seine Exzellenz, der Gouverneur, dem auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Gaste zur Verfügung gestellt hatte.

Iwan Iwannow, damals achtundzwanzig Jahre alt, war als menschenscheu bekannt. Sein körperliches Gebrechen, eben das völlige Versagen seiner Sprachwerkzeuge, mochte seine Künstlerseele noch mehr beeinflussen, als dies bei einem gewöhnlichen Sterblichen der Fall gewesen wäre. Er reiste stets mit seiner Schwester Xenia, die, eine echt slawische Schönheit, an dem berühmten Bruder mit schwärmerischer Liebe hing. Diesmal war sie jedoch in Benares zurückgeblieben, da sie an Malaria leicht erkrankt war.

Jetzt erschien ein Diener und schaltete die über dem Podium angebrachte elektrische Krone ein. Der Gouverneur war vor ein paar Minuten durch die allen Gästen sichtbare Tür in den Zimmern Iwannows verschwunden, um den Künstler der Festgesellschaft zuzuführen.

Harald und ich hatten unsere Plätze in der zweiten Reihe dicht hinter den Sesseln Seiner Exzellenz und dessen Gemahlin. Auch hier in diesem illustren Kreise war Harst wie immer der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Er selbst nahm diese Huldigungen mit einer heute beinahe schroff hervorgekehrten Ablehnung hin. Sein schmales Gesicht behielt den zerstreuten, versonnenen Ausdruck unverändert bei, den es schon gezeigt hatte, als wir uns für das Fest ankleideten.

Ich beobachtete ihn daher auch immer wieder heimlich von der Seite, wurde mir nicht klar darüber, weshalb er ganz gegen seine sonstige Art beinahe den Unliebenswürdigen spielte. Ob ihn vielleicht etwas im Geiste derart beschäftigte, daß ihn jede Ablenkung seiner Gedanken reizte und peinigte?

Auch jetzt war sein Blick weltentrückt auf jene weißlackierte, mit Perlmuttereinlagen verzierte Tür gerichtet, durch die der Gouverneur soeben die Zimmer des Virtuosen betreten hatte.

Ich konnte nicht länger an mich halten, beugte mich nach rechts hinüber und fragte leise:

„Harald, was gibt’s eigentlich?! Erst die Pistolen, die Taschenlampe. Und nun Dein ganzes Wesen, das mir heute –“

„Still!“ flüsterte er hastig und preßte meinen Arm.

Auf dem Podium stand Seine Exzellenz.

„Meine Damen und Herren, zu meinem unendlichen Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß Herr Iwannow hier in meinem Hause einen unersetzlichen Verlust erlitten hat, wie er soeben feststellte,“ rief der Gouverneur mit vor Erregung leicht vibrierender Stimme. „Iwannows Amati-Geige, das beste Instrument, das die Welt kennt, ist aus dem Geigenkasten gestohlen worden. Zum Glück haben wir ja gerade den Mann unter uns, der diesen frechen Diebstahl leicht aufklären wird –“

Harst erhob sich schon.

Ich folgte ihm auf das Podium. Seine Exzellenz streckte Harald mit hilfloser Gebärde die Hand entgegen.

„Mein lieber Mr. Harst, Iwannow ist wie vernichtet! Die Geige ist nicht zu ersetzen –“

Er öffnete die Tür und schlug die innen angebrachten Vorhänge auseinander.

Wir traten ein. In dem großen, dreifenstrigen Raum stand ein Konzertflügel unweit der Tür, daneben ein Klaviersessel mit geschweiften Füßen. Auf diesem Sessel lag ein kostbarer Geigenkasten. Der Deckel war geöffnet. Der Kasten war – leer.

Links auf einem reichvergoldeten, altindischen Ruhebett saß Iwannow, in sich zusammengesunken wie ein Schwerkranker.

Eine dicke Strähne seiner schwarzen Haarfülle war ihm über die Stirn gefallen und reichte bis zur Nasenwurzel hinab.

Sein seidig glänzender schwarzer Spitzbart, der starke Schnurrbart mit den langgezogenen, nach unten gedrehten Enden, die buschigen Augenbrauen und dazu das krankhaft blasse Gesicht wirkten wie einer jener Künstlerköpfe, die der russische Maler Wargorewski mit Vorliebe auf der Leinwand festgehalten hat.

Der Gouverneur stellte uns Iwannow vor. Der Virtuos regte sich nicht, hob nicht einmal den Blick, der unverwandt auf den leeren Geigenkasten stierte.

Exzellenz flüsterte uns zu: „Er wurde vorhin beinahe ohnmächtig vor Schreck. Sie werden ihm seine Unhöflichkeit nicht verübeln. Ich bin in der Lage, Ihnen alles Nötige mitzuteilen.“ – Er winkte uns, und wir folgten ihm in das Nebenzimmer. Hier teilte er uns mit, daß Iwannow erst heute abend mit dem Achtuhrzuge angelangt sei. Die Krankheit seiner Schwester hatte es ihm unmöglich gemacht, bereits morgens in Lucknow, wie ursprünglich verabredet, einzutreffen.

„Ich holte ihn von der Bahn ab. Er hatte mir eine Depesche geschickt und sich wegen seiner verspäteten Ankunft im voraus entschuldigt. Sie sehen dort jenen nicht mehr ganz modernen Panzerschrank neben dem Bett stehen. In diesen Schrank schloß Iwannow seine Geige ein. Den Schlüssel behielt er bei sich. Wir speisten dann mit ihm im engsten Kreise. Es waren nur meine Frau, ich und mein Adjutant Major Greeg anwesend. Nachher ruhte sich Iwannow ein wenig aus.“ Er deutete auf einen Diwan an der anderen Wand. „Als ich vorhin ihn holen wollte, fand ich ihn fest schlafend. Er ermunterte sich schnell, schloß den Tresor auf und nahm den Geigenkasten heraus, machte sofort eine Bewegung höchsten Schrecks und suchte mit zitternden[1] Händen nach dem Schlüssel des Geigenkastens, öffnete diesen, und – der Kasten war leer –“

Harald schaute nach dem Panzerschrank hin, dessen Stahltür noch offen war.

„Wo hatte Iwannow den Tresorschlüssel verwahrt? In welcher Tasche?“ fragte er kurz.

„In der rechten Beinkleidtasche,“ erwiderte der General eifrig. „Dieses Zimmer hat nur den einen Zugang durch den Salon dort, der wieder nur vom Saale aus betreten werden kann. Vor jener Tür aber hatte ich einen der Diener postiert, die ich Iwannow zugeteilt hatte. Der Diener hat sich keine Sekunde entfernt. Es ist ein Inder, den ich bereits zehn Jahre –“

„Danke, Exzellenz,“ meinte Harald da in derselben zerstreuten, schroffen Art, die mir heute so sehr an ihm auffiel. „Mein Freund Schraut und ich werden die Sache jetzt auf unsere Art untersuchen. Sie können Iwannow inzwischen Gesellschaft leisten.“

Der Gouverneur verstand den Wink, verließ das Zimmer und zog die Verbindungstür hinter sich ins Schloß.

„Harald, nochmals: was fehlt Dir heute?“ fragte ich, und legte ihm beide Hände auf die Schultern.

„Das – das Schiwamatu!“ sagte er leise.

Ich zuckte zusammen.

Da war heute nachmittag im Bungalow Olivia Bennertons ein berühmter Yogi, ein Fakir, erschienen, einer jener rätselvollen Inder, die dem nüchternen Verstande der Europäer stets neuen Anlaß zu ungläubigem Staunen geben. Der schmierige Alte hatte uns allen die Zukunft vorausgesagt – durch das Schiwamatu. Ich habe über diese Art der Wahrsagerei schon in einem früheren Bande ausführlich berichtet. Der Yogi schüttete sich ein braunes Pulver in die linke Hand und strich es hier glatt. Dann deckte er seine rechte Hand darüber und ließ den, der gerade eine Frage an die Zukunft beantwortet haben wollte, seine beiden Handgelenke umfassen. Man mußte nun die Frage fortwährend sich still wiederholen und alle andern Gedanken ausschalten.

Miß Olivia hatte als erste von uns das geheimnisvolle Schiwamatu befragt. Als der Yogi dann seine linke Hand ihr zeigte, waren in der Oberfläche des braunen Pulvers deutlich die Umrisse eines Tigerkopfes zu erkennen. Olivia erblaßte, weigerte sich jedoch, uns mitzuteilen, welche Frage sie hatte beantwortet haben wollen. Als zweiter hatte ich mir weissagen lassen. Mir fiel nichts anderes ein. Ich stellte daher die gedachte Frage: „Wann kehren wir nach Deutschland zurück?“ Und – seltsam! – die Pulverschicht war völlig glatt geblieben.

Dann war das Ehepaar Breßfort an die Reihe gekommen, und als letzter Harst.

Bei ihm war in dem Pulver lediglich etwas wie ein doppelter Strich zu erkennen gewesen. Was er gefragt hatte, behielt auch er für sich. –

Und jetzt – jetzt hatte er mir erklärt, das Schiwamatu sei an seiner merkwürdigen Stimmung schuld?!

Da fügte er schon hinzu:

„Lieber Alter, das Bild in der Oberfläche des braunen Pulvers war ein – Geigenbogen! Ihr anderen erkanntet es nur nicht. Ja – ein Geigenbogen! Und – deshalb nahm ich die Pistole mit.“

„Was hattest Du denn gefragt?“ meinte ich kopfschüttelnd.

„Wodurch ich einst – sterben würde,“ erwiderte er leise und versuchte zu lächeln. „Durch einen Geigenbogen also! Und – bei Deiner Frage blieb die Oberfläche glatt. Das hieß also: Wir beide werden überhaupt nicht die Heimat wiedersehen! Wir beide nicht! Nur – einer von uns – Du also. – Du weißt: das Schiwamatu lügt nicht! Und deshalb erblaßte Olivia auch. Sie wird durch einen Tiger den Tod finden. Sie ist ja eifrige Jägerin.“

Mir lief es wie ein Schauer über den Leib.

Mir war’s, als spürte ich um mich her das Wesen einer dunklen Macht, die drohend zum vernichtenden Schlage gegen den ausgeholt hatte, der mir auf Erden alles bedeutete – alles!

 

2. Kapitel.

Ich raffte mich auf. „Unsinn!“ meinte ich gepreßt. „Das – das sind Stimmungen, Harald. Der Yogi kann ein Betrüger gewesen sein –“

Er lächelte matt. „Schon gut! – Suchen wir die Geige und den – Geigenbogen. Man nennt Iwannows Amati stets die Wundergeige. Zu einem Wunder, dem bestrickende Töne entquellen, wird sie erst in seinen Händen –“

Er strich sich über die Stirn, als wollte er störende Gedanken verscheuchen.

Seine Augen wurden lebhafter, glitten hin und her.

„Die Fenster haben auch hier vergoldete Außengitter. Untersuchen wir diese –“ –

So begann unsere Arbeit.

Die Gitter waren in Ordnung. Nun der Panzerschrank.

Auch da nichts Auffälliges.

Dann der Diwan, auf dem der Künstler geschlafen hatte.

Und hier – hier lag hinter dem Diwan ein seidenes Damentaschentuch, reich gestickt, aber sehr stark zerknüllt und zum Teil hart, wie durch einen bereits getrockneten Klebstoff.

Harst führte das Tüchlein an die Nase.

Sein Gesicht spannte sich plötzlich.

„Der Saft der Mahadeo-Pflanze!“ sagte er hastig. „Bitte – rieche!“

Ich sog den scharfen, kampferähnlichen Duft ein.

Ein Schwindel packte mich. Ich mußte mich auf Haralds Arm stützen.

„Iwannow ist durch die Mahadeo betäubt worden,“ erklärte Harst. „Im Schlafe! Damit er nicht aufwachte, als man ihm die Schlüssel abnahm und nachher wieder in die Tasche schob, – die Schlüssel zum Tresor und zum Geigenkasten –“

„Dann muß der Diener also doch jemand eingelassen haben –“

„Oder der Dieb drang dort durch ein Fenster des Wohnsalons ein!“

Harst öffnete die Verbindungstür.

Auf dem Ruhebett saß Seine Exzellenz neben dem vor Schmerz über seinen ungeheuren Verlust wie stumpfsinnig dreinschauenden Künstler.

Harald untersuchte auch hier wortlos die Fenstergitter, die Wände, den Fußboden. Dann wandte er sich an den Gouverneur.

„Exzellenz, bitte schicken Sie mir den Diener, den Sie draußen aufgestellt hatten, dort ins Schlafzimmer.“

Wir kehrten in das Schlafgemach zurück. Wenige Minuten später trat der Inder ein, eine prächtige, würdevolle Erscheinung mit langem, leicht ergrautem Bart.

„Sahib, Du befiehlst?“ fragte er Harst, indem er sich tief verneigte.

„Wie heißt Du?“

„Chotan Gurra, Sahib.“

„Du hast Deine Herrin an Dir vorüber in diese beiden Gemächer eingelassen!“

Ich glaube, ich erschrak mehr als der Diener.

„Versuche nicht zu lügen,“ sagte Harald scharf. „Deine Herrin, die Gattin Seiner Exzellenz, war hier. Sie hat von Dir Schweigen verlangt. Da – sie ließ dieses Tüchlein hier. Ein gleiches trug sie, als ich ihr vorhin vorgestellt wurde.“

Chotan Gurra zitterte.

„Sahib, ich – ich weiß nichts!“

„Du weißt genug! Ich warne Dich! Wenn Du Deiner Herrin verrätst, daß ich gegen sie Verdacht geschöpft habe, wirst Du ins Gefängnis wandern. – Hatte Deine Herrin etwas in der Hand, als sie wieder herauskam?“

Der Inder zögerte.

„Nur – nur die große Vase, die im ersten Zimmer auf der Säule stand, die silberne Vase aus Tibet, die sehr wertvoll ist –“

„Welche Form hat sie?“

„Sahib, genau so wie – wie eine Kokosnuß.“

„Wie hoch ist sie etwa?“

„Wie ein Kind von vier Jahren vielleicht –“ Er deutete die Höhe an, etwas über ein Meter.

„Chotan Gurra,“ warnte Harald nochmals, „solltest Du es wagen, gegen meinen Befehl zu verstoßen, so lernst Du noch heute das Polizeigefängnis kennen.“

Er winkte kurz, und der Diener verließ das Zimmer.

Harst rief Seine Exzellenz herbei.

„Ich möchte mich jetzt hier im Palast etwas umsehen,“ sagte er. „Exzellenz gestatten wohl, daß wir beide alle Räume betreten.“

Der alte Haudegen, dem in den Kriegen gegen die Afghanen ein Ohr verloren gegangen war, nickte grimmig.

„Tun Sie, als wären Sie hier der Hausherr, Mr. Harst –“ –

Wir trafen dann in der Vorhalle (im Festsaal konzertierte jetzt die Kapelle des in Lucknow stehenden Regiments) den Hausmeister Seiner Exzellenz, einen geschmeidigen, kriecherischen Eurasier namens Wootprell. Er mußte uns in die Gemächer der jungen Gemahlin des Gouverneurs hinaufführen, nachdem wir zum Schein andere Zimmer durchschritten hatten.

„Sie können gehen, Mr. Wootprell,“ sagte Harst dann zu dem Mischling, der eine Art Phantasieuniform trug.

Wir befanden uns in dem Wohnsalon Ihrer Exzellenz.

Harst hatte das Licht eingeschaltet und blickte sich mißtrauisch um.

„Hier war noch soeben jemand,“ sagte er flüsternd. „Riechst Du nicht den süßlichen Zigarettenduft? – Ah – das Fenster dort –“

Er war mit zwei langen Schritten an den halb geschlossenen seidenen Vorhängen.

Was er für ein Fenster gehalten hatte, war eine Balkonglastür. Sie stand ein wenig auf. Wir traten hinaus auf den kleinen, vom Mondlicht beschienenen Balkon.

Harald beugte sich über das Gitter, griff nach unten, holte ein daumendickes Hanfseil ein.

„Merkwürdig!“ flüsterte er. „Merkwürdig – erst das Taschentuch, jetzt dieses Seil! Das – das ist etwas zu viel des Guten!“

Ich verstand, was er damit sagen wollte: Welche Frau, die auf solchen Pfaden wandelt, hätte wohl das Taschentuch hinter den Diwan geworfen?! – Jede – jede hätte es mitgenommen! Denn – es zurücklassen, hieß ja den Verdacht auf die Besitzerin lenken!

„Irgend ein Bubenstück,“ fuhr Harald fort. „Ohne Zweifel ein Racheakt gegen die Gattin des Gouverneurs!“

Er zog die Leine vollends ein, untersuchte die Stelle, wo sie an dem Gitter festgeknotet war.

„Hm – es ist hier wirklich jemand hinabgeklettert, mein Alter,“ meinte er sinnend. „Da – die Leine hat Druckstellen durch die Stäbe des Gitters bekommen. Der Fall liegt doch nicht so ganz einfach –“

Dann gingen wir in das mit verschwenderischem Luxus ausgestattete Gemach zurück.

Harald schritt hin und her, hob mit einem Male den aus Elefantenhaut gearbeiteten großen Papierkorb neben dem Schreibtisch auf und entfernte ein paar darin liegende zusammengeknüllte Zeitungen.

So kam – eine silberne, dickbauchige Vase zum Vorschein.

„Es dürfte die Tibet-Vase sein,“ sagte Harst und stellte sie auf den Schreibtisch.

Sie war leer. Und sie war eine Rarität, eines jener Stücke tibetanischer Silberschmiedekunst, das nie in den Handel kommt.

Plötzlich hinter uns ein Geräusch.

In der Flurtür stand – Ihre Exzellenz, die angebetete jugendliche Gattin des Generals.

„Meine Herren, was – was suchen Sie hier!“ rief sie erstaunt und etwas unwillig.

Dann schloß sie die Tür und kam auf uns zu.

Harst beobachtete sie scharf.

„Exzellenz, wir sind hier mit Erlaubnis Ihres Gatten eingedrungen –“

Sie war nicht im geringsten verlegen. Sie lächelte sogar.

„Sie wollten sich die Vase ansehen, nicht wahr?“ meinte sie ganz stolz. „Ja, es ist ein sehr seltenes Stück –“

„Das man aber nicht in einem Papierkorb verbergen sollte,“ sagte Harald mit besonderer Betonung.

„Papierkorb?! Mr. Harst, ich habe doch lediglich –“ Sie unterbrach sich selbst. „Ich will Ihnen lieber gleich alles mitteilen. Diesen Brief –“ – sie nahm ihn aus einem Briefständer vom Schreibtisch – „erhielt ich heute mit der letzten Post kurz nach dem Abendessen mit Mr. Iwannow. Bitte –“

Harald faltete den Brief auseinander und las ihn halblaut vor.

„Benares, den 18. Juni

Hotel Imperial.

Exzellenz gestatten, daß ich Ihnen als Iwans Schwester eine Bitte vortrage. Iwan hat seine Eigenheiten. So auch eine krankhafte Abneigung gegen Vasen. Wenn Sie also seine Stimmung nicht beeinträchtigen wollen, so entfernen Sie aus seinem Gastzimmer jede Vase. Entschuldigen Sie bitte gütigst dieses Ihnen vielleicht seltsam erscheinende Ansinnen.

Ihre ergebenste Xenia Iwannow.“

„Als ich diesen Brief gelesen hatte, Mr. Harst,“ erklärte die liebreizende Frau nun, „sah ich ein, daß ich unbewußt einen bösen Fehler begangen hatte, als ich die Vase, die sonst dort auf einem Schränkchen steht, dem Künstler zu Ehren in dessen Wohnsalon gestellt hatte. Da die Diener sämtlich des Festes wegen beschäftigt waren, ging ich selbst in Iwannows Wohnsalon. Der Diener, den mein Gatte dort vor die Tür postiert hatte, sollte niemand einlassen, damit unser Gast nicht gestört würde. Iwannow wollte noch ein wenig ruhen. Chotan Gurra, der Diener, suchte denn auch mich, weil er eben an blinden Gehorsam gewöhnt ist, daran zu hindern, den Salon zu betreten. Er tat es sehr zögernd, aber – er spielte immerhin den gestrengen Wächter, bis ich etwas heftig wurde. Jedenfalls: ich holte die Vase leise heraus und trug sie hier nach oben, stellte sie dort auf das Schränkchen. Ich will noch bemerken, daß ich Chotan halb im Scherz beim Verlassen des Salons versprach, meinem Manne nicht zu verraten, daß er, Chotan, mit mir eine Ausnahme gemacht hätte. Ich schwieg denn auch wirklich meinem Gatten gegenüber. – So, Mr. Harst, das wäre alles.“

Von unten aus dem Saal tönten einzelne Takte des Tannhäuser herauf.

Harst verbeugte sich.

„Exzellenz, ich hatte Sie nicht einen Augenblick in Verdacht, Iwannows Geige – gestohlen zu haben, obwohl ich dies hier hinter dem Diwan fand –“

Er zeigte ihr das harte Spitzentüchlein.

Die schöne Frau lachte harmlos. „Das ist eines meiner Taschentücher – gewiß. Ich habe ein halbes Dutzend von dieser Art –“ Dann wurde sie ernst. „Mir fällt da soeben ein,“ fügte sie schnell hinzu, „daß mir eins dieser Spitzentücher heute abhanden gekommen ist. Ich weiß bestimmt: beim Abendessen hatte ich es noch. Nachher vermißte ich es und nahm ein anderes.“

Harst verbeugte sich wieder. „Exzellenz, wir dürfen hier wohl noch eine Weile bleiben. Ihre Abwesenheit dürfte im Festsaal auffallen.“

Sie blickte Harald unsicher an. „Glauben Sie etwa, ich hätte Iwannows Wundergeige in der Vase versteckt aus dem Salon entfernt, Mr. Harst?“ fragte sie nun.

„Ich glaubte, Sie hätten es getan – ja! Aber ohne zu ahnen, daß die Vase nicht leer sei. Sie ist schwer, und das Gewicht einer Geige hätten Sie kaum herausgemerkt, Exzellenz. – Haben Sie in die Vase hineingeschaut, als Sie sie hinaustrugen?“

„Ja – hier in meinem Zimmer. Sie enthielt – nur dies!“

Und sie nahm wieder etwas von der Schreibtischplatte: eine zusammengefaltete Zeitung, die Morgenausgabe des Lucknow-Recorder vom 17. Juni, von vorgestern.

Dann reichte sie uns die Hand. „Auf Wiedersehen, meine Herren. Nun will ich nicht länger stören. Wenn Sie nur die Wundergeige finden würden. Ich hoffe es!“ Und sie nickte Harald zu und schritt hinaus.

 

3. Kapitel.

Harst setzte sich in den Schreibsessel und schlug die Zeitung auseinander.

„Hier – ein Artikel über uns beide,“ meinte er. „Über das Abenteuer in Tallamara. Der erste genauere Bericht über unser Zusammentreffen mit Daisy Bennerton, dem blinden Hindumädchen –“

Er schob das Blatt in die Innentasche des Fracks.

„Es ist nun also erwiesen, mein Alter, daß Ihre Exzellenz die Geige nicht gestohlen hat und daß auch die Vase leer war. Bitte – äußere Dich! Der Fall liegt jetzt klar.“

„So?! Klar?!“ sagte ich sehr gedehnt. „Wo ist die Geige denn geblieben? Wer stahl sie?!“

„Das wirst Du sehr bald sehen –“ – Er beugte sich zur Seite und nahm von einem Bücherständer ein paar Nummern der Kalkutta-World, einer sehr bekannten illustrierten Wochenzeitschrift, herab. „Ich denke, wir werden ein Bild Iwannows finden. Da – sieh einige Nummern gleichfalls durch. Dann geht es schneller.“

Mein Interesse an der Wundergeige war bereits wieder erloschen. Ein Gedanke hatte sich da in meinem Hirn eingenistet, eine dumpfe Angst, stets wieder zu neuer schreckhafter Größe empor wachsend und alles andere dann verdrängend: das Schiwamatu, die Prophezeiung des Yogi über Haralds Ende durch – einen Geigenbogen!

Wie gleichgültig war es mir, daß ich das Bild dann in einer der Zeitschriften fand! Was ging mich Iwan Iwannow an! Mehr noch: ich empfand eine starke Abneigung nur deshalb gegen ihn, weil seine Wundergeige der Wahrsagung des Yogi erst die Bedeutung irgend eines tatsächlich drohenden Urteils gegeben hatte.

Das Bild zeigte die Geschwister Iwannow auf dem Bahnhof in Kalkutta. Es war eine vergrößerte Momentaufnahme, aber trotzdem recht scharf.

Harald trat mit der Zeitschrift unter den Kristallkronleuchter. Sein Blick hatte wieder den abwesenden, in sich gekehrten Ausdruck angenommen.

Da – unten im Park unter dem Balkon ein Schuß – noch einer.

Die Musik verstummte jäh.

Harst ließ die Hand mit der Zeitschrift sinken.

Seine Augen wurden kleiner; seine Backenknochen traten mehr hervor.

Dann warf er das Blatt auf den Schreibtisch und war mit zwei Sätzen auf dem Balkon, warf die Leine, sie durch die Finger gleiten lassend, abwärts und wollte sich über das Balkongitter schwingen.

„Halt – zuerst ich!“ sagte ich in einem Tone, wie ich ihn Harald gegenüber bisher nie anzuschlagen gewagt hatte.

Ich riß ihn gleichzeitig zurück, kletterte über das Gitter und rutschte in die Tiefe, kam an einem erleuchteten Fenster vorbei und blickte in das Zimmer.

Da stand Iwan Iwannow mit einem Revolver in der Hand vor dem Spiegel des großen Ankleideschrankes.

Er hatte die Mündung der Waffe an die rechte Schläfe gedrückt.

Unwillkürlich schloß ich die Hände um das Seil, hing nun dicht vor dem Fenster und – stieß ebenso ohne langes Überlegen mit dem rechten Fuß die untere Scheibe ein.

Der Geiger fuhr herum.

Vor Schreck entfiel ihm die Waffe. Dann sah ich, wie die Verbindungstür aufgerissen wurde, wie der hagere General rasch eintrat. –

Von unten Stimmen der Diener.

Ich erkannte die Chotan Gurras.

„Sahib – Sahib, – ein Toter – ein Toter!“

„So mach’ doch, daß Du hinabkommst!“ rief Harald ärgerlich.

Ich rutschte weiter, berührte mit den Fußspitzen den Rasenstreifen an der Hauswand, ließ das Seil los.

Oben im ersten Stock hatte Seine Exzellenz jetzt das Fenster aufgemacht, beugte sich hinaus und brüllte mit schriller Kommandostimme:

„Chotan – Fackeln, Laternen! Schnell!“

Ich bog den Kopf zurück.

„Exzellenz, Iwannow wollte sich erschießen. Nehmen Sie ihm bitte den Revolver weg!“ rief ich nur gerade so laut, daß er mich verstehen konnte.

Harald glitt am Seil abwärts. Als er sich mit dem General in einer Höhe befand, machte er halt. Er schien ihm etwas zuzuflüstern.

Dann neben mir Chotan Gurra angstschlotternd, kaum fähig zu sprechen:

„Sahib – Sahib, – es – es ist die – Memsahib, unsere Herrin –“

Ich begriff im ersten Augenblick gar nicht, was er meinte. Dann die jähe Erkenntnis, daß er hatte sagen wollen, die Gattin Sir Bitrys sei „der Tote“.

Ich stierte den Inder ungläubig an. Er keuchte vor Erregung. In der fahlen, weichen Mondbeleuchtung glich sein faltiges, mageres Gesicht geradezu einer Maske wahnsinnigen Entsetzens.

„Die – die Memsahib hat – hat Sahib Harsts hellen langen Mantel an und – die gestreifte Sportmütze,“ stammelte er weiter.

Diese Worte trafen mich wie ein Faustschlag.

Die ungeheuerliche Erkenntnis, daß die liebreizende Frau sozusagen für Harst gestorben war, raubte mir schier den Atem.

Ein Schatten fiel über Chotans Gesicht, der Schatten von Haralds Kopf. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß Harst neben uns getreten war. Er mußte die letzten Sätze des alten Dieners gehört haben.

„Wo liegt die Memsahib?“ fragte er kurz.

Chotan deutete über die Rasenfläche auf den uralten achteckigen Marmorspringbrunnen, dessen riesiges Bassin in der Mitte die Kolossalfiguren[2] von vier Elefanten enthielt, aus deren hochgereckten, zurückgebogenen Rüsseln vier armdicke Wasserstrahlen etwas schräg gen Himmel stiegen und sich oben zu einer schäumenden Säule vereinigten, bevor sie wieder, vom Nachtwind zur Seite gedrückt, in glitzerndem Sprühregen abwärtssanken.

Der Gouverneurpalast, einstmals die Königsburg Saadat Chans, des Begründers des ehemaligen Königreiches Audh, war von den Engländern völlig umgebaut worden. Nur in dem hügeligen Park befanden sich eine Menge kleinere Bauten aus ältester Zeit. Das schönste und eigenartigste dieser Erinnerungen an die einstige Macht und Größe des Königreiches Audh war der Elefantenbrunnen. Man findet ihn fast in jeder besseren Reisebeschreibung Indiens abgebildet. –

Harald schritt schon über den Rasen auf den Springbrunnen zu. Ich war im Moment neben ihm. Ich wollte ihn keine Sekunde mehr allein lassen. Meine Hand fuhr in die Schlüsseltasche der Beinkleider. Als ich das kühle Metall der Repetierpistole in den Fingern spürte, fiel der letzte Rest von Entsetzen über diesen Mord von mir ab. Mit kalter, kritischer Überlegung schaute ich mißtrauisch geradeaus. Der Lärm der plätschernden Fontäne zwang mich, ganz laut zu sprechen.

„Harald, Frau Amy Bitry trug Deinen Mantel und Deine Mütze,“ sagte ich. „Die Schüsse galten Dir!“

„Wer weiß, mein Alter! Wer weiß!“

Ich drängte mich vor ihn. „Bleib’ zurück!“ bat ich energisch. „Ich werde –“

Er hielt mich fest. „Mein lieber guter Alter, meinst Du, daß Du den Lauf des Schicksals dadurch aufhalten wirst?! Wir müssen alle einmal sterben – alle! Und wäre es denn so schlimm, so mitten aus dem Beruf, gleichsam auf dem Schlachtfelde, hinweggerafft zu werden?! Tu’ mir einen Gefallen und kümmere Dich nicht um das dumme Schiwamatu!“

Wir hatten den Springbrunnen nach rechts umrundet. Und nun – nun sahen wir dort dicht am Bassin im vollen Mondlicht eine Gestalt liegen – auf dem Gesicht, die Arme ausgebreitet, die Hände in den feuchten Rasen gekrallt.

Neben der rechten Hand blitzte etwas im Grase: ein kleiner Damenrevolver mit weißem Elfenbeinkolben. –

Die nächsten Büsche waren gut fünfzig Meter entfernt. Hier konnte keine heimtückische Kugel Harald treffen. So duldete ich es denn, als Wache dabei stehend, daß er in Frack und Lackschuhen seine umständliche Untersuchung der Toten und des Tatortes begann, ohne dabei die vorhandenen Spuren im Grase durch seine Fußeindrücke zu verwirren.

Plötzlich sank dann die Fontäne in sich zusammen. Nachher teilte uns Chotan mit, daß der General in den Park hinabgekommen sei, nach uns gefragt und dann von Chotan die Unglücksbotschaft vernommen habe, worauf er minutenlang mit versteinertem Gesicht dastand und dann seinem treuen Diener lautlos in die Arme sank. Man trug den Ohnmächtigen in den Palast. Die Gäste zerstreuten sich. Chotan hatte dann an die Fontäne gedacht, deren Sprühregen uns hinderlich sein könnte, und sie abgestellt.

In demselben Moment, als das Plätschern und Rauschen verstummte, sah ich Harald mit einem gewaltigen Satz zur Seite springen.

Er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet gehabt, richtete deren weißen Strahlenkegel jetzt auf die Füße der Toten, die in winzigen golddurchwirkten Schuhchen steckten.

Der helle Mantel bewegte sich, bewegte sich in seltsamen Wellenlinien.

Dann – dann erschien neben dem einen zierlichen Schuh der breite, scheußliche Kopf einer schwarzen Kobra, einer Brillenschlange mit aufgeblähter Haube.

Das Giftreptil war eins der größten, die ich je gesehen habe.

Geblendet durch das grelle Licht, pendelte die Schlange mit dem Kopfe, halb aufgerichtet, wie unschlüssig hin und her.

Gerade jetzt tauchte der graubärtige Chotan auf.

„Sahib, Vorsicht – sie springt!“ rief er. „Warte – ich zähme sie. Gib acht!“

Er wand seinen Turban ab, einen[3] endlos langen wollenen Stoffstreifen, schwenkte ihn etwa wie ein Lasso und ließ das freie Ende dicht über die Kobra hinfliegen. Sie schnappte sofort danach, und die Schleifen des Stoffes sanken über sie hin und hüllten sie fast ganz ein.

Die rasende Wut des Reptils galt dieser weichen lockeren Bürde. Biß auf Biß erfolgte.

Chotan zählte mit.

„Ah – der zwölfte!“ sagte er dann, riß den Turban mit einem jähen Ruck an sich und ging auf die Giftschlange furchtlos zu.

Ich wußte, daß die Giftdrüsen einer Kobra, die in ein Tuch beißt, bereits nach dem vierten Biß völlig entleert sind und daß, je häufiger man die Schlange dann noch zum Beißen reizt, der Giftkanal der Giftzähne desto sauberer wird. Nach dem zwölften Biß ist das Reptil unschädlich.

Chotan Gurra war trotzdem vorsichtig. Als er noch anderthalb Meter von der Kobra entfernt war und diese nun wie ein Blitz auf ihn losschnellte, hatte er ihr ebenso schnell das Turbantuch vorgehalten, sie verblüffend rasch darin eingewickelt und sie dicht hinter der Haube gepackt.

„Sperre sie sicher ein, Chotan,“ befahl Harald. „Aber so, daß niemand Dich dabei beobachtet.“

Der Hindu lief rasch über den Rasen tiefer in den Park hinein.

Jetzt erschien auch Sir Pawell Bitry.

Wir sprachen ihm nur in knappen Worten unser Beileid aus.

„Lassen Sie, meine Herren,“ wehrte er ab, und in seinem erstarrten Antlitz arbeitete es, als ob er Tränen hinabwürgte.

Dann blickte er lange und stumm auf die regungslose Gestalt.

„Wie – wie starb sie?“ fragte er schließlich kaum hörbar.

Harald stellte sich dicht vor Seine Exzellenz hin und bat:

„Sir Bitry, fragen Sie morgen danach. Gehen Sie. Ich werde –“

„Mr. Harst, ich bin Soldat! Wie starb sie?“

„Man hat ihr eine feine Drahtschlinge über den Kopf geworfen, hat sie zurückgerissen, und durch den Sturz mit dem Hinterkopf auf den Rand des Bassins trat wohl eine tiefe Bewußtlosigkeit ein. Dann – dann wurde Ihre Gattin – vergiftet –“

„Wie?! Vergiftet?!“

„Ja. – Nochmals, Exzellenz, überlassen Sie uns alles weitere! Gehen Sie bitte –“

Eine heftige Handbewegung.

„Mr. Harst, das sollen Ihr Mantel und Ihre Mütze sein! Begreifen Sie diesen Mummenschanz?!“

„Vorläufig nicht, Exzellenz.“

„Hängt dieser – dieser Mord mit dem Geigendiebstahl zusammen? Und – was sollte es eigentlich, daß Sie mir da vorhin vom Seil aus zuflüsterten, Detektivinspektor Webster telephonisch herbeizurufen?“

„Mord und Diebstahl hängen zusammen, Exzellenz. Webster als Beamter mußte von diesem Diebstahl Nachricht erhalten. – Haben Sie telephoniert, Exzellenz?“

„Ja, Webster ist jedoch nicht in Lucknow. Er war ebenfalls geladen. Ich weiß nicht, wohin er gereist ist.“ Dann wandte er sich an mich. „Mr. Schraut, glauben Sie wirklich, daß Iwannow sich erschießen wollte?“

Harald beugte sich gespannt vor. Er wußte noch nichts von meiner merkwürdigen Beobachtung.

„Er hielt die Waffe an die Schläfe gedrückt, Exzellenz,“ erklärte ich kurz. „Da stieß ich das Fenster ein.“

„Ich habe den Revolver hier bei mir,“ sagte der General kopfschüttelnd, und wieder legte sich der tiefe Gram über den Verlust der jugendschönen Gattin wie ein Schatten über sein Gesicht. „Welch unselige Nacht!“ murmelte er weiter. Ein Schluchzen – halb unterdrückt, und er machte kehrt und ging davon.

 

4. Kapitel.

Den Revolver hatte er Harst gereicht, der jetzt die Mündung an die Nase hielt, als wollte er feststellen, ob unlängst ein Schuß aus der Waffe abgefeuert worden sei.

„Da – prüfe!“ sagte er dann.

Freilich: der Lauf roch sogar sehr kräftig nach Pulverschleim.

Dann drehte er langsam die Patronentrommel, ließ die sieben Patronen in die flache Linke fallen.

„Eine Hülse, sechs geladene Patronen. Also ein Schuß,“ meinte er.

Er bückte sich und hob Amy Bitrys Waffe auf.

Es folgte dieselbe Untersuchung. Auch hier war eine abgefeuerte Patrone vorhanden.

„Das ahnte ich,“ sagte Harald. „Die beiden Schüsse klangen verschieden.“

Ich horchte auf. „Aus Deiner Äußerung entnehme ich, daß Iwannow also den einen Schuß abgegeben hat –“

„Gewiß. Das tat er.“

Diese Behauptung rückte den berühmten Geiger in ein etwas eigentümliches Licht.

„Weshalb schoß er denn?“ fragte ich nachsinnend.

„Weil – weil er dachte, zweimal genäht hält besser.“

Und nach dieser orakelhaften Antwort bückte sich Harald abermals und legte die Tote auf den Rücken.

„Iwannow hat sogar getroffen,“ fügte er hinzu. „Freilich nur meinen Mantel. Die Kugel ist hier rechts vom Halse durch den Kragen gegangen.“

Ich mußte meine Gedanken erst ordnen. Dann dämmerte mir allmählich der wahre Zusammenhang der Dinge auf.

„Der Geiger hatte es auf Dich abgesehen?“ sagte ich wie tastend. „Er ist an dem Seil zum Fenster hinausgeklettert und hat Frau Bitry mit Dir verwechselt infolge des Mantels und der Mütze.“

„Ganz recht. Also muß er Mantel und Mütze genau gekannt haben.“

Ich stutzte. Da war noch immer keine Logik in diese Geschehnisse hineinzubringen. Da waren Widersprüche vorhanden die sich kaum beseitigen ließen.

Woher sollte Iwannow Haralds Garderobe kennen?! Und – welches Interesse hatte er an Harst?! Weshalb ein Mordanschlag –?!

Harst schaute still in das vor Todesgrauen zur bemitleidenswerten Fratze verzerrte Gesicht der Toten.

„Der Mantel reichte ihr bis über den Rocksaum,“ murmelte er. „Und dann verdeckte wohl auch der Brunnenrand ihre Füße. Sonst hätten ihre hellen Seidenstrümpfe und die Silberschuhchen sie gerettet, eben die Verwechslung unmöglich gemacht. Nur eins bleibt noch zu klären: weshalb begab die Ärmste sich hier in den Park, weshalb zog sie meinen Mantel über? Vielleicht, um hier vom Parke aus nach den Fenstern ihres Salons hinaufzuspähen? Vielleicht aus – aus weiblicher Neugier und Sensationslust? Sie war ja noch so jung, die schöne Amy. Oder – oder kannte sie Iwannow von früher her? Wollte sie ihn beobachten, feststellen, was er trieb? – Ja – das mag’s gewesen sein: übergroßes Interesse an dem berühmten Künstler, dem ja die Frauenherzen überall zufliegen – überall! Und da wollte sie sich nicht erkennen lassen, da hingen ihr unsere Mäntel am bequemsten, weil wir in des Generals Vorzimmer und nicht in der allgemeinen Garderobe abgelegt hatten. – Arme, arme Amy! Erst stahl er Dir beim Abendessen das Spitzentüchlein, um mich durch das Tüchlein in Deine Zimmer zu locken. Dann bekamst Du den raffinierten Brief, angeblich von der Schwester, damit die Tibet-Vase aus dem Zimmer geholt würde, – diesen Brief, den fraglos ein falscher Postbote abgegeben hat und der gar nicht in Benares abgeschickt worden ist. Ein förmliches Netz ist’s – ein raffiniertes Netz – für mich gewoben. Und Du Ärmste fingst Dich darin!“

Nun – nun lagen die ganzen Geschehnisse wie die aufgedeckten Karten eines Gegenspielers klar vor mir.

Nur eins blieb dunkel: woher Iwannows Haß gegen Harald, und – wo war die Wundergeige geblieben?!

Harst kniete jetzt im Grase, lockerte die Drahtschlinge, die tief in den Hals der Toten eingeschnitten hatte, und zog dann das freie Ende des Drahtes, das vom Elefantenbrunnen weg in dem Grase sich verlor, langsam an sich. Es war etwa fünf Meter lang.

Harald richtete sich wieder auf. Sein Blick wanderte nach dem Palast hinüber. Kein Fenster nach dieser Seite hin war erhellt. Alles dunkel – drohend. Sogar der Mond war hinter den Kronen zweier riesiger Rasamala-Bäume verschwunden.

„Man hat der Bewußtlosen die Kobra unter den Mantel gesteckt, hat das Reptil beißen lassen,“ sagte er nun. „Der Schuß war ja vorbeigegangen – genau wie der Frau Amys. Weißt Du auch, worauf sie gefeuert haben muß? Betrachte mal die Spuren.“

Ich konnte aus den Fährten nichts herauslesen.

„Nun, sie schoß auf einen der Elefanten,“ erklärte Harald. „Wenn wir zurückkehren, werden wir vielleicht die Kugelspur finden. Mistreß Amy wurde die Schlinge vom Springbrunnen aus über den Kopf geworfen, denn – man riß sie ja nach dorthin um, und sie schlug ja mit dem Kopf auf den Bassinrand auf. Also stand der – der eine Mörder vielleicht im Schatten eines der Elefanten. – Ah – dort erscheint auch die Polizei. Es ist Websters Kollege Harring mit zwei Geheimpolizisten. Ich werde ihm nichts mitteilen, was Iwannow belastet. Diesen Iwannow will ich allein – erledigen.“

Der dicke Mr. Harring, einer jener Beamten, die Harsts Überlegenheit mit verbissenem Ärger hinnahmen und ihren kleinlichen Neid hinter bureaukratischer Zugeknöpftheit verbargen, hielt uns nicht lange auf.

Wir gingen uns von Seiner Exzellenz verabschieden. Der General saß in seinem Herrenzimmer vor dem Schreibtisch – vor dem großen Bilde seiner Gattin.

„Exzellenz,“ sagte Harald fast wehmütig, „wenn ich Ihnen morgen die volle Aufklärung über diese beiden Verbrechen gebe, werden Sie es bereuen, mich je gekannt zu haben –“

Der alte, hagere Haudegen hörte kaum hin, drückte uns die Hand und blieb stumm. –

Miß Olivias Auto wartete vor dem Palast auf uns. Breßfort saß darin und hatte für Harald einen anderen Mantel mitgebracht.

Wir stiegen ein. Der Kraftwagen rollte den sogenannten Residenzhügel hinab dem Europäerviertel zu.

Die Nervenanspannung bei mir ließ nach. Meine Gedanken lenkten wieder in die dunkle Kurve der Sorge und Angst um Harald ein. Ich vernahm nichts von dem, was Harst und der Lord sprachen. Ich dachte nur an das Schiwamatu – an den Geigenbogen, durch den mein Freund sterben sollte.

Erst als aus Breßforts Munde mir das Wort „Tigerjagd“ in die Ohren drang und mich noch stärker an den Yogi und seine Prophezeiungen erinnerte, als mir einfiel, daß Olivia Bennertons Tod dem Schiwamatu nach durch einen Tiger erfolgen würde, horchte ich hin.

Breßfort erzählte, daß Olivia eine Depesche aus Birkanir an der nepalesischen Grenze erhalten habe und daß sie morgen abend dorthin abreisen würde, um den dort aufgespürten Tiger zu erlegen.

Sie – reiste auch. Und – ich sah sie lebend nicht wieder. Sie liegt in Birkanir beerdigt. Der Tiger hat – sie erlegt.

Das Schiwamatu log nicht. Leider – es hielt alles, was es uns angedroht hatte – alles! –

Um halb eins langten wir im Bungalow Miß Olivias an. Um halb zwei schlichen wir bei leichtem, nebelartigem Regen dem Gouverneurpalast durch menschenleere Straßen wieder zu.

Umsonst waren alle meine Warnungen gewesen. Umsonst meine Bitten. Haralds Augen hatten abermals den weltentrückten Ausdruck, als er mir erklärte:

„Soll ich Frau Amys Tod ungerächt lassen?! Sie starb ja für mich. Vielleicht auch für Dich, mein Alter. Auch Dich hätte man kaum geschont –! –“

Wir kletterten über die hohe Mauer des Parkes, wandten uns, umgeben von tiefster Dunkelheit, dem Elefantenbrunnen zu.

Ich wußte noch immer nicht, weshalb Iwan Iwannow Harald hatte beseitigen wollen. Und wo die Wundergeige geblieben, wußte ich erst recht nicht.

 

5. Kapitel.

Das Bassin war jetzt leer. Das Wasser war abgeflossen, und die vier Elefantenrüssel spien keine neuen Strahlen gen Himmel, füllten es nicht wieder. Wir konnten trockenen Fußes bis zu dem einen Elefantensockel gelangen, der nach Westen gerichtet war. Es war derjenige, dem zunächst Amy Bitry ihr Leben im feuchten Grase ausgehaucht hatte.

„Hilf mir hinauf,“ flüsterte Harst, als wir nebeneinander auf dem Sockel standen. „Ich will auf den Rücken des marmornen Dickhäuters steigen. Wenn Du Dir die vier Elefanten genau betrachtet hättest, wäre Dir aufgefallen, daß nur die Vorderbeine dieses Kolosses so eng beieinander stehen, daß sie ein Ganzes bilden. Und wenn Du Dir überlegt hättest, daß ich auf dem Balkon die Leine einzog, bevor wir wieder ins Zimmer traten, wärest Du nicht auf den Gedanken gekommen, zu behaupten, Iwannow habe die Leine zum Hinabsteigen in den Park und zur Rückkehr in sein Schlafzimmer benutzt.“

Er schwang sich dann auf meine Schultern, weiter auf den Rücken der wohl fünf Meter hohen Steinfigur.

Es war so finster, daß ich nicht einmal Harald mehr dort oben erblickte. Die Dunkelheit hatte ihn völlig verschluckt.

Aber ein paar Geräusche hörte ich von der Höhe herabdringen. Es klang, als würden Steinplatten aneinander gerieben.

Dann – etwas sehr Seltsames: ein dünner Lichtstrahl, der aus dem eingesetzten Glasauge des Elefanten zu kommen schien.

Doch das Leuchten erlosch eben so rasch wieder, ließ bei mir nur den unbestimmten Eindruck einer Sinnestäuschung zurück.

Jetzt wie ein Hauch Harsts Stimme:

„Ich helfe Dir herauf! Vorwärts!“

Zwei Hände erschienen. Ich umklammerte sie. Ein Ruck, und Harst zog mich vollends – in den hohlen Leib des Elefanten hinein.

„Duck’ Dich,“ flüsterte er. „Ich lasse die Platte wieder herab –“

Abermals das Knirschen sich reibender Steinflächen.

Dann flammte Haralds Taschenlampe auf.

„Bitte – der Zugang zu einem der beiden Zimmer Iwannows,“ sagte er leise. „Sir Bitry teilte uns ja so nebenbei mit, daß der Geiger gebeten hätte, ihn recht nahe am Festsaal unterzubringen. Also kannte Iwannow den Palast, obwohl er angeblich noch nie in Lucknow war. Und – er kannte auch dies Elefantengeheimnis! – Da geht eine Röhre mit eingelassenen Steigeisen durch die Vorderbeine den Sockel hinab. Folge mir –“

Sehr bald standen wir in einem modrig riechenden, offenbar sehr alten Gange. Die Mauersteine waren bröcklig, der Boden mit einer dicken, klebrigen Staubschicht bedeckt. In dieser schwarzen Masse lief eine Doppelspur von Männerstiefeln hin und zurück.

„Iwannows Fährte!“ sagte Harald nur.

Wir gingen den Gang weiter hinab bis an eine schmale Steintreppe, die gewunden in einem engen Schacht hochlief.

Dann vor uns in den Steinquadern eine mit Schimmelpilzen weiß überzogene Holztür – kaum 1¼ Meter hoch, kaum halb so breit. Sie ließ sich leicht und geräuschlos aufziehen. Dahinter eine zweite Tür, ebenfalls Holz.

Harald öffnete sie Millimeter für Millimeter.

Vor uns ein schwacher Lichtschein, nur – ganz schwach: eine Nachttischlampe, noch verhüllt durch ein Tuch.

Wir schoben uns in Iwannows Schlafzimmer hinein. Wir sahen ihn fest schlafend im Bett unter dem engmaschigen Moskitonetz liegen.

Harst kroch nach rechts hin – auf die Verbindungstür zu.

Sie war nur angelehnt. Harald zog sie mit einem Ruck weiter auf. Die Vorhänge versperrten uns noch den Weg in den Salon, wo der Konzertflügel stand.

Aber durch die Spalte der Vorhänge sahen wir doch, daß dort Licht brannte – die Schreibtischlampe mit der grünen Glocke.

Harald hauchte mir zu:

„Clement –! Vorsicht!“

Dann richtete er sich auf – schob die Vorhänge auseinander.

Da stand der Klaviersessel. Da der Flügel mit dem hochgestützten Deckel. Die Klaviatur war uns abgekehrt.

Harst blickte sich vorbeugend in den Wohnsalon hinein – in jeden Winkel.

Ringsum lautlose Stille.

Nein – doch nicht! Da war irgend ein schwaches Geräusch hin und wieder zu vernehmen.

Etwas wie ein Schleifen, Scharren.

Es verstummte, kam wieder.

Woher es kam, war nicht festzustellen.

Und jetzt – jetzt ein ganz feines Klingen einer Saite des Flügels – nur ein Schwirren wie von den Schwingen eines winzigen Insekts.

Der Ton vibrierte noch in der Luft, als ein scharfes Knacken unsere Blicke auf den bis dahin geschlossenen Geigenkasten lenkte.

Der Deckel war aufgesprungen.

Und jetzt erschien über dem Deckelrande der Kopf einer Kobra – schnellte hin und her.

„Achtung – im Flügel!“ raunte Harald mir zu. „Die singende Saite war die Verräterin. Ich rechnete mit dieser neuen Falle! Im Flügel liegt Iwannows Verbündeter! Halte Du den Geiger uns vom Leibe! Gehorcht er nicht, dann schieße! Nur keine Rücksicht!“

Ich drehte mich halb um, konnte so das Bett und den Schläfer, der den Schlaf nur vortäuschte, sowie den Salon überblicken.

Die Kobra glitt jetzt scheu unter das altindische Ruhebett.

Dann – dann trat Harst vor, rief leise und drohend:

„Keinen Widerstand! Ihr Plan ist abermals mißglückt. Ich sollte den Geigenkasten –“

Er schwieg. Aus dem Flügel erhob sich ein Mann mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht, riß sich die Maske herunter.

Es war – wieder Iwannow.

Mit hastigen Gebärden suchte er Harald irgend etwas klarzumachen, legte den Finger auf die Lippen, deutete auf die Tür des Schlafzimmers.

Diese Zeichensprache war so eindringlich, daß auch ich sie verstand: dieser Mann war der echte Iwannow! Der im Bett der falsche! Und den sollten wir festnehmen!

Harald nickte mehrmals, kam zu mir.

Wir traten rasch an das Bett heran.

Zum Glück war mein gesteigertes Mißtrauen, meine Sorge um Harst, auch jetzt noch so stark, daß ich mich umblickte.

Und – mein rechter Arm schnellte hoch. Mein Schuß kam um den Bruchteil einer Sekunde früher. Des anderen Kugel streifte nur Harsts Mütze.

Ehe ich noch zuspringen konnte, flog die Verbindungstür zu. Ein Riegel schnappte ein.

Harst riß schon Moskitonetz und Decke beiseite.

Da lag – der echte Iwan Iwannow gefesselt, betäubt im Bett.

„Der andere war – Daisy Bennerton!“ sagte Harald kurz. „Nun weißt Du es. Ich wußte es erst, als ich den Brief sah, den Mistreß Bitry angeblich aus Benares erhalten hatte. Denn das war Daisy Bennertons ungeschickt verstellte Schrift. Das ganze also nichts als ein raffinierter Versuch, mich zu beseitigen. Die Geige ist nie gestohlen worden, weil Daisy Bennerton sie gar nicht besaß. Sie hatte nur einen leeren Geigenkasten mit. Sie wird nach ihrer fluchtartigen Abreise von hier sich nach Benares gewandt und dort irgendwie erfahren haben, daß Iwannow hier konzertieren sollte. Sie hat den Geiger dann wahrscheinlich auf der Reise nach hier betäubt und aus dem Zuge befördert. Wie, das ist Nebensache. Sie hat ja Verbündete, das wissen wir. Die mögen Iwannow gefangen halten haben. Daisy jetzt zu verfolgen, wäre zwecklos. Sie ist längst durch den Festsaal weiter geflüchtet, sicher längst im Park – in der Dunkelheit, die ihr Entkommen begünstigt.“ –

Iwan Iwannow erwachte eine Stunde später aus seiner Betäubung. Und dann erst erfuhren wir, daß Inspektor Webster gleichfalls gefesselt und geknebelt unter dem Bett lag. –

Des Virtuosen grauenvolles Erlebnis auf der Reise nach Lucknow soll die Einleitung unseres nächsten Abenteuers bilden.

 

 

Daisy Bennertons Ende.

 

1. Kapitel.

Der stumme Künstler hatte uns bedeutet, daß er sein Erlebnis uns schriftlich schildern würde. Am Nachmittag erschien er dann im Bungalow Olivia Bennertons und überreichte Harst ein paar eng beschriebene Bogen Papier.

Inzwischen hatte Inspektor Webster uns bereits seinen Anteil an diesem Erlebnis und die Vorgänge hier in Lucknow, die damit zusammenhingen, eingehend erzählt.

Ich gebe zunächst Iwannows Schilderung stark gekürzt wieder. –

„Ich hatte mit Sir Bitry brieflich verabredet, daß ich am 19. Juni vormittags in Lucknow eintreffen würde. Am 18. abends 11 Uhr bestieg ich in Benares den Schnellzug. Meine Schwester konnte mich ihres Malariaanfalls wegen nicht begleiten. Meine Amati-Geige hatte ich in meinem Koffer, der sehr hoch versichert war, als Personengepäck aufgegeben. Ich hatte nur eine Reisetasche bei mir.

Noch in Benares kam dann kurz vor Abfahrt des Zuges ein älterer Europäer in mein Abteil erster Klasse. Er versuchte mit mir ein Gespräch anzuknüpfen, mußte es aber bei dem Versuch bewenden lassen. Da wir beide allein blieben, konnten wir uns jeder auf eine Polsterbank zum Schlafe niederlegen.

Ich schlief sehr bald ein. Plötzlich erwachte ich. Ringsum war alles dunkel. Jemand hatte meine Hände gepackt, und eine zweite Person preßte mir eine Decke auf mein Gesicht, die mit Chloroform getränkt war. Ich wehrte mich, mir schwand jedoch rasch die Besinnung und kam erst in einem elegant eingerichteten Herrenzimmer mit vielen Bildern an den Wänden wieder zu mir. – Ich war lose auf einem Korbsessel festgebunden. Draußen schien die Sonne. Mir gegenüber saß in einem Schreibsessel vor einem Diplomatenschreibtisch mein Reisegefährte.

Nachdem er mir die Hände frei gemacht hatte, mußte ich etwas trinken, das die Folgen des Chloroformrausches schnell beseitigte.

Der Mann sprach kein Wort, sondern machte sich mir durch Zeichen verständlich. Er hatte einen graublonden, breiten Vollbart und trug eine blaue Brille. Sein dichter grauer Scheitel war sicherlich nur eine Perücke.

Als ich mich frischer fühlte, reichte er mir ein Blatt Papier. Darauf stand in verstellter Schrift, daß ich angeben sollte, wo ich meinen Gepäckschein versteckt hätte.

Ich glaubte, der Mann hätte es lediglich auf meine Geige abgesehen. Ich schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß ich das Versteck nicht verraten würde. (Der Gepäckschein lag eng zusammengefaltet und mit Zigarettentabak umgeben als Zigarette in meinem silbernen Etui. Meine Amati hat man mir bereits acht Mal stehlen wollen. Das hat mich vorsichtig gemacht.)

Der Mann schrieb auf einen neuen Zettel, daß ich sehr bald nachgeben würde. Er würde mich zwingen. Ich sollte lieber freiwillig das Versteck nennen. Dann würde ich mit dem Leben davonkommen.

Ich schüttelte noch energischer den Kopf.

Da ergriff der Mann eine silberne Glocke und schellte.

Ein Inder trat ein mit einer weißen Maske vor dem Gesicht.

Der Mann winkte, und – (ich berichte Tatsachen, Herr Harst!) plötzlich versank ein quadratisches Stück des Fußbodens mit mir und dem Diener in die Tiefe – bis in einen leeren Kellerraum ohne Türen und Fenster. An der einen Wand hing nur eine Karbidlaterne an einem Nagel. Ihr grelles Licht zeigte mir nichts als weißgetünchte Mauern und die leicht gewölbte Decke, deren bewegliches Stück sich bereits wieder, in vier eisernen Schienen wie ein Fahrstuhl beweglich, geschlossen hatte, da der indische Diener mich sofort von dieser Plattform samt meinem Korbsessel herab- und auf die Steinfliesen des Kellers geschoben hatte.

Meine Hände waren noch ungefesselt. Wenn ich nicht gerade Künstler wäre und mehr Energie und rasche Entschlußfähigkeit besessen hätte, würde ich den Inder vielleicht überwältigt haben. Aber ein Mann, der wie ich ganz auf die Kunst eingestellt ist, bleibt in schwierigen Lebenslagen stets ein unmündiges Kind.

Ich war daher lediglich gespannt, was nun weiter erfolgen würde. Dieses Versinken in den Keller hatte mich nicht weiter erschreckt. Es war nichts Schreckhaftes dabei.

Der Inder, ein baumlanger, hagerer Kerl in einem gelben Leinenanzug mit schmierigem Turban auf dem länglichen Schädel, nahm mir jetzt auch die Fußfesseln ab, so daß ich mich frei bewegen konnte. Er schien von meiner Ungefährlichkeit überzeugt zu sein, denn er drehte mir den Rücken zu und machte sich an der einen Längswand etwas zu schaffen. Zu meinem Erstaunen drückte er dann ein viereckiges Stück der Wand nach außen auf. Dahinter sah ich einen geraden Gang von etwa anderthalb Meter Breite. Das Licht der Karbidlaterne reichte jedoch offenbar nicht bis an das Ende dieses Ganges.

Nun geschah etwas, das den Beginn meiner Marter darstellte. Der Inder wandte sich um, und ehe ich recht wußte, was geschah, stieß er mich durch die Maueröffnung in den Gang hinein. Ich fiel infolge der Kraft des Stoßes hin. Als ich mich wieder aufgerafft hatte, stand ich im Finstern da. Die Geheimtür in der Kellermauer hatte sich hinter mir wieder geschlossen.

Aber – wo war diese Geheimtür?!

Ich hatte eine Schachtel Zündhölzer bei mir, hatte eins davon angerieben, sah bei dem schwachen Schein, daß ich mich genau im Schnittpunkt von acht gemauerten, gleich breiten und gleich hohen Gängen befand, die einer dem andern völlig glichen. – Diese strahlenförmig von einem Mittelpunkt auslaufenden Gänge waren genau sechs Schritt lang und endeten[4], wie ich mit Hilfe weiterer Zündhölzchen feststellte, vor[5] weißgetünchten Backsteinmauern, an denen auch nicht die Spur einer Tür zu bemerken war.

Als ich den achten Gang abgeleuchtet hatte und nach dem Schnittpunkt zurückkehrte (durch welchen der Gänge ich hier in diesem merkwürdigen Raum gewaltsam hineingelangt war, konnte ich nicht mehr herausfinden, da ich beim Hinfallen mich gedreht hatte), als ich mit einem neuen halb abgebrannten Zündholz in den Fingern in wachsender Angst und Bestürzung mich diesem Mittelpunkt näherte, gewahrte ich dort eine weibliche Gestalt.

Diese kam auf mich zugeschwankt. Ich erkannte nur noch ein abgezehrtes, blasses Gesicht unter einer blonden Haarfülle, erkannte auch noch, daß ich eine in ein einst weiß gewesenes Leinenkostüm gekleidete Europäerin vor mir hatte, als ich den Rest des Streichholzes wegwerfen mußte.

Und dann – dann überfiel diese Frau mich im Dunkeln, bevor ich noch ein neues Hölzchen angerieben hatte.

Sie hatte meinen Hals umklammert, würgte mich.

Ich spürte den Duft eines zarten Parfüms und hörte sie keuchen, während sie mich mit unglaublicher Kraft zu Boden riß, ohne den würgenden Griff zu lockern.

„Endlich – endlich habe ich einen von Euch Schurken erwischt! Endlich!“

Ich suchte mich zu wehren. Ich tastete in meiner Todesangst nach ihrem Halse. – Ja – wenn ich ihr hätte zurufen können, daß ich selbst ein Gefangener dieser Schurken sei! Aber – ich bin ja stumm, bin nicht fähig, durch die Gottesgabe der Sprache mich mit anderen zu verständigen! Außerdem war der Griff des Weibes um meine Kehle wie der Druck von Eisenbändern. Ich hätte keinen Laut hervorbringen können, selbst wenn ich imstande gewesen wäre, wie die glücklichsten meiner Mitmenschen Worte im Munde zu formen.

Es war etwas Entsetzliches an diesem stummen Ringen. Mir schwanden bereits halb die Sinne, als ganz plötzlich das Weib meinen Hals freigab.

Ich hörte einen wilden Aufschrei – noch ein paar dumpfe, seltsame Töne.

Dann Totenstille ringsum.

Ich lag am Boden, rang nach Luft, horchte, fühlte eiskalten Schweiß meine Nase entlangrinnen.

Nichts geschah. Minuten verstrichen. Dann wagte ich es, ein Hölzchen anzuzünden. Der Lichtschein des brennenden Streichholzes wurde stärker.

Ich atmete erleichtert auf.

Ich war allein.

Und dann – dann fiel mein Blick auf – auf eine riesige schwarze Kobra, eine Brillenschlange, die kaum zwei Schritt neben mir halb aufgerichtet mit geblähter Haube den Kopf züngelnd hin und her bewegte.

Ich hasse alles kriechende Gewürm. Ich bin schon als Kind vor jeder Eidechse geflohen.

Kein Wunder, daß ich hochfuhr, zurücksprang, hinein in einen der Gänge, zitternd, halb wahnsinnig vor Angst.

Ich flüchtete bis an die den Gang abschließende Mauer. Ich rieb rasch drei neue Hölzchen an.

Und – die Kobra folgte mir.

Ich sah sie über den Fliesenboden gleiten.

Ich konnte ihr hier nicht entgehen.

Ein gellender Schrei entrang sich meiner schmerzenden Kehle, einer jener tierisch klingenden Schreie, wie auch Stumme sie in höchster Erregung zuweilen hervorquälen.

Die Kobra war nur noch einen halben Schritt von mir entfernt. Sie zischte wütend, schoß in die Höhe, wollte nach mir schnappen.

Im selben Moment gab die Mauer, an die ich mich gepreßt hatte, nach und eine Faust riß mich nach hinten.

Ich taumelte, stolperte, schlug lang hin.

Wieder Dunkelheit ringsum.

Finsternis und Stille.

Mein jagender Herzschlag beruhigte sich. Ich hatte die Zündholzschachtel zum Glück nicht fallen lassen. Ich strich ein Hölzchen an. –

Herr Harst, die Phantasie eines Edgar Poe hätte nicht raffinierter diese seelischen Martern für mich ersinnen können, als es hier geschehen war.

Stellen Sie sich einen länglichen Kellerraum vor, der nichts anderes enthält als an den Wänden – Mumien mit vertrockneten Totengesichtern – altindische Mumien in zerschlissenen Gewändern, in hochlehnigen Stühlen sitzend – eine Mumie neben der andern, eine schauerliche Versammlung von ausgedörrten Leichen.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten soeben dort in den Strahlengängen mit einem Weibe um Ihr Leben gerungen, wären dann kaum den Giftzähnen einer Kobra entgangen und befänden sich nun nach diesen starken seelischen und körperlichen Erschütterungen inmitten dieser Gesellschaft von stummen, grausigen Zeugen jener Zeitepoche, als Indien noch keine andere Religionsgemeinschaft als die des Mohammedanismus, des Islam, kannte.

Sie, Herr Harst, wären vielleicht nicht ohnmächtig umgesunken! Ich, ein Künstler mit reizbaren Nerven, – ich sank zu Boden.

Wie lange ich so ohne Besinnung dagelegen habe, was inzwischen mit mir geschah, – ich weiß es nicht! Jedenfalls erwachte ich – in demselben Rohrsessel, in demselben elegant eingerichteten Herrenzimmer, in das die Sonne hineinschien, wie vor – ja, wie vor wieviel Stunden –?! Oder – waren nur Minuten inzwischen vergangen?! Hatte ich – nur geträumt?!

Dort mir gegenüber im Schreibsessel der Mann mit der blauen Brille, der Graublonde.

Und – er lächelte mich an und hielt mir mit satanischem Grinsen einen Zettel vor die Augen:

„Mr. Iwannow, wollen Sie jetzt das Versteck Ihres Gepäckscheins nennen?“

Da – da ward auch aus mir eine Art Held.

Ich schrieb in ohnmächtiger Wut als Antwort:

„Nein – niemals! Jetzt erst recht nicht!““

– – – – – – – –

Als Harald mir und Webster in unserem Wohnsalon bei Miß Olivia den Bericht des Geigers so weit vorgelesen hatte, sagte er mit einer zornigen Handbewegung:

„Der Graublonde war natürliche Daisy Bennerton! Sie zeigt sich hier als Bestie in Menschengestalt! Sie ist vielseitig: Hochstaplerin, Erpresserin, Diebin! Wer weiß, was sie sonst noch ist!“

Dann las er weiter.

 

2. Kapitel.

„Herr Harst, wenn Sie jetzt die Fortsetzung und den Schluß meiner Schilderung gelesen haben werden, dürften Sie mir – jeder täte es! – sagen: „Das kann nicht wahr sein!“ – Und doch: es ist wahr! Nichts – kein Wort weicht von den Tatsachen ab. –

Auf mein gebrülltes[6]: „Nein – niemals!“ schüttelte der Graublonde wie verwundert den Kopf.

Wieder wie vorhin ergriff er die silberne Glocke und klingelte.

Wieder erschien der baumlange Inder.

Und – wieder versank das Fußbodenstück, versank nur schneller – und machte in einem offenbar tiefer gelegenen Raume halt.

In einem Keller – ohne Zweifel! –, aber einem behaglich mit weißlackierten Möbeln ausgestatteten, fenster- und türlosen Gemach.

Wieder schob der maskierte Diener den Rohrsessel, an den ich mit über der Brust gekreuzten Armen festgebunden war, von der Plattform herab, und diese sauste mit ihm dann rasch in die Höhe, während sich meine Augen erst an diese Überfülle von Licht gewöhnen mußten.

Eine fünfarmige elektrische Krone sowie sechs Wandleuchter ließen hier jede Einzelheit überdeutlich erkennen.

Ich drehte den Kopf.

Und – meine Blicke trafen ein Bild, wie es ungeheuerlicher kaum von dem kranken Hirn eines Wahnsinnigen ausgebrütet werden kann, der von furchtbaren Visionen gepeinigt wird:

An der einen Wand stand ein großer, breiter Schrank mit einer Glastür. In dem Schrank saß dieselbe blonde Frau, die mich vorhin überfallen hatte, auf einem Schemel mit ausgebreiteten Armen, die an die Rückwand festgeschnallt waren. Und – im Schoße dieses Weibes lag die – schwarze Kobra mit etwas aufgerichtetem Kopf, der dann plötzlich hochschnellte und klirrend gegen die Glastür stieß. Das Schrecklichste an dem Bilde aber waren die Augen des Weibes: weit aufgerissene, in Furcht erstarrte Augen, die mit einem unbeschreiblichen Ausdruck stummen Flehens den meinen begegneten.

Das, Herr Harst, sah ich.

Und dann – dann stieß die Kobra abermals gegen das Glas der Tür.

Diesmal zersplitterte es. Diesmal schlängelte sich das Reptil rasch durch die zackige Öffnung ins Freie.

Und verschwand unter einem Spiegelschrank.

Im selben Moment erloschen die elektrischen Birnen.

Dunkelheit – Stille.

Aber sehr bald eine Stimme – die der blonden, blassen Frau – wie ein Hauch nur:

„Hören Sie auf mich, die hier bereits –“

Da – das Licht flammte auf.

Der Graublonde stand neben mir.

Ein Revolver knallte. Das Glas der Schranktür ging vollends in Scherben.

Die Frau in dem Schranke war – verschwunden. Nichts als Bücher standen darin, auf sechs Brettern Buch an Buch.

Und wieder hielt der Peiniger mir einen Zettel hin:

„Noch eine solche Nervenprobe, und Sie werden wahnsinnig! Sie sind nicht der erste, der hier den Verstand verliert! – Wo ist der Gepäckschein?“ –

Herr Harst, auch ein Mensch wie ich hat zuweilen einen rettenden Gedanken!

Herr Harst – ich fühlte, daß dieser Folterknecht mit der blauen Brille recht hätte: ich würde wahnsinnig werden, wenn er noch einige dieser „Überraschungen“ in Bereitschaft hatte!

Jetzt, wo ich dies niederschreibe, weiß ich ja, daß die Blonde nichts anderes als eine Verbündete des Peinigers gewesen sein kann. Gestern aber kam ich gar nicht auf diese Vermutung. Jedenfalls: ein rettender Gedanke, hervorgezaubert durch Furcht und Entsetzen, war in meinem Hirn aufgezuckt. Ich wollte Zeit gewinnen! Und so nickte ich dem Menschen zu, als ob ich jetzt anderen Sinnes geworden.

Er machte mir die Arme frei, gab mir Bleistift und Notizblock, und ich schrieb:

Ich habe den Gepäckschein kurz vor Abfahrt des Zuges noch schnell in einen Umschlag getan und ihn als Eilbrief an Sir Pawell Bitry nach Lucknow geschickt.

Ich konnte dies getrost schreiben, Herr Harst, denn ich hatte tatsächlich auf dem Bahnhof in Benares einen Eilbrief geschrieben und am Postschalter aufgegeben. Freilich, er war an meine Schwester gerichtet und enthielt lediglich ein paar Grüße für die Kranke. –

Der Graublonde las und blickte mich prüfend an.

Ich hielt dem Blick stand. –

Dann kritzelte er auf den Block:

„Wir haben Sie in Benares beobachten lassen. Es ist richtig, Sie haben einen Brief abgeschickt. Die Amati-Geige ist für uns jetzt auf diese Weise nicht zu erlangen. Aber – wir werden Ihre Person zu anderen Zwecken benutzen – zur Ausführung eines Racheplanes!“

Gleich darauf saß ich wieder oben in dem eleganten Herrenzimmer. Der Diener kam, fesselte mich vollends los, band mir die Arme auf dem Rücken zusammen, verhüllte mir den Kopf mit einer Decke und führte mich durch mehrere Zimmer und Flure ins Freie – in ein Auto, wie ich sehr bald merkte.

Das Auto ratterte davon. Ich hatte den Inder neben mir. Es war ein geschlossenes Auto. Als es sich gerade in Bewegung setzte, hörte ich das Heulen von Dampfsirenen, von drei verschiedenen. Eine klang heller, eine andere ganz tief.

Die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Zuweilen schlief ich vor Erschöpfung in meiner Ecke ein. Dann, als ich wieder einmal erwachte, fühlte ich mich weit kräftiger. Ich versuchte meine Hände aus den Windungen der Stricke zu drehen. Ich ließ mir Zeit dabei. Und – es gelang.

Das Auto fuhr durch eine bebaute Straße, wie ich aus verschiedenen Geräuschen heraushörte. Da wagte ich es – da riß ich mir mit der Linken die Decke ab, die mich am Sehen hinderte, griff mit der Rechten nach dem Türdrücker, fiel hinaus auf die Straße.

Ein anderes Auto raste über meine Brust hinweg.

Aber ich war – ein Zufall! – in ein Loch gefallen, das der letzte Gewitterregen hier in der Dorfgasse von Bitschwali ausgespült hatte.

So spürte ich den Druck der Räder kaum, blieb jedoch trotzdem halb betäubt liegen. Meine Peiniger mögen wohl gedacht haben, mir wäre der Brustkorb eingedrückt worden, zumal ein paar Leute des Dorfes zusprangen, mich aufhoben und in das nächste Haus trugen.

Dieses Haus war das Postamt von Bitschwali.

Von dem indischen Postverwalter erfuhr ich, daß Bitschwali zwanzig englische Meilen südlich von Lucknow liegt und daß in Lucknow Detektivinspektor Webster Leiter der Geheimpolizei sei. Ich ließ mich mit ihm telephonisch verbinden und bat ihn, nach Bitschwali zu kommen.

Es war jetzt sechs Uhr nachmittags. Um halb acht traf Mr. Webster ein. Nachdem ich ihm meine Erlebnisse schriftlich kurz erzählt hatte, mußte ich erst ein langes Verhör von seiner Seite hinnehmen, bevor er mir Glauben schenkte.

Dann erklärte er, der Racheplan, von dem der Graublonde gesprochen hatte, könne sich nur gegen Sie richten. Wir fuhren also nach Lucknow, wo wir um halb zwölf nachts eintrafen. Mr. Webster erhielt hier die Meldung von den Vorgängen im Palast des Gouverneurs, und wir beide begaben uns darauf durch den Park des Palastes bis an den Elefantenbrunnen, wo wir plötzlich von vier Leuten niedergeworfen, gewürgt und betäubt wurden.

Alles weitere wissen Sie, Herr Harst. Ich will nur nochmals betonen, daß ich Punkt für Punkt die volle Wahrheit berichtet habe.

Sollten Sie noch über Einzelheiten genaueres wissen wollen, so werde ich jede Ihrer Fragen gern schriftlich beantworten, falls ich dazu imstande bin.“

 

3. Kapitel.

Harald legte die Niederschrift auf den Tisch und sagte zu Webster:

„Iwannow ist unten auf der Veranda bei den Damen. Bitte holen Sie ihn herauf. Er irrt sich in einem Punkte –“

Als der Detektivinspektor das Zimmer verlassen hatte, meinte ich leise:

„Harald, ich bitte Dich inständigst: kümmere Dich nicht weiter um Daisy Bennerton! Wir wollen abreisen. Ich habe Dich selten um etwas gebeten. Jetzt beschwöre ich Dich bei unsrer langjährigen Freundschaft: Laß uns nach Europa zurückkehren! – Ich werde die Angst nicht los, Dir könnte hier etwas zustoßen! Denke auch an Deine Mutter, Harald! Du bist ja ihr einziges Kind!“

Nie werde ich den seltsamen Blick vergessen, der mich aus seinen grauen klaren Augen traf.

„Lieber Alter,“ – er streckte mir die Hand hin – „Du treue Seele verlangst einfach Unmögliches! Soll Amy Bitrys Tod ungerächt bleiben, soll die Welt von mir sagen, ich hätte geduldet, daß eine Frau für mich, an meiner Stelle starb und daß ich nicht einmal den Versuch gemacht hätte diese Untat zu sühnen?! Soll etwa General Bitry mit geringschätzigem Lächeln über mich hinwegsehen?! Soll etwa Iwan Iwannow denken dürfen, er hätte mir die Möglichkeit an die Hand gegeben, ein von habgierigen Schurken gefangen gehaltenes Weib zu befreien, und – ich wäre aus unbekannten Gründen untätig geblieben?! Sollen die Zeitungen – denn Webster hat dem Redakteur der Lucknow Morning-Post ja bereits alles erzählt – spaltenlange Artikel mit der Schlußbemerkung bringen: „Merkwürdigerweise hat Harald Harst, den diese Abenteuer Iwannows doch mit am meisten angehen, plötzlich Indien verlassen, als ob er gefürchtet hätte, hier nichts ausrichten zu können –“ – Nein, mein Alter, mag auch die Drohung des Schiwamatu über meinem Haupte wie eine Gewitterwolke schweben: nicht jeder Blitz schlägt ein! – Ich bleibe, der ich war. Ich werde dieser Prophezeiung wegen kein Feigling werden!“

Nochmals drückte er meine Hand. Dann trat er schnell an das Fenster und schaute in den abendlichen Park hinaus.

Und ich?! Ich wagte nicht mehr zu bitten. Ich suchte mir einzureden, daß eine solche Vorhersage noch eigentlich lächerlich sei. Ich wollte nicht mehr an das Schiwamatu glauben, zwang meine Gedanken in eine andere Richtung und fragte, nur um all die quälenden Sorgen zu vergessen:

„Du meinst also, daß das blonde Weib keine Verbündete Daisy Bennertons war? Kann es nicht Daisy selbst gewesen sein?“

„Nein, Daisy war es nicht. Überlege Dir: Iwannow versank mit dem beweglichen Fußbodenstück bis in eine zweite Kelleretage und sah hier sofort die blonde Frau in dem Glasschranke sitzen. Bedenke weiter, daß diese Frau in dem Gange mit rasender Wut über den Geiger herfiel.

Er hat noch die blaugrünen Flecke, die Spuren ihrer eingekrallten Finger, am Halse. Nein – außerdem solltest Du Dich besinnen, daß –“

Er schwieg. Webster und Iwannow traten ein.

Dann begann Harsts Geistesarbeit. Das, was er den Geiger fragte und was dieser schriftlich antwortete, will ich hier ganz kurz wiedergeben.

Harst: „Hatten Sie, als das Weib Sie in dem Gange plötzlich losließ, den Eindruck, als ob die Frau vielleicht von einem dritten zurückgerissen wurde?“

Iwannow: „Jetzt, wo Sie mich darauf hinweisen, daß die Frau gezwungen wurde, von mir abzulassen, möchte ich mit Ja antworten, zumal ihr Aufschrei und die Töne hinterher dies noch wahrscheinlicher machen.“

Harst: „Die Frau sollte Sie also nicht töten, sondern nur erschrecken und ängstigen. Diese Angst sollte dann durch die Kobra noch vergrößert werden. – War das Parfüm, das Sie in der Nähe der Frau spürten, Ihnen bekannt?“

Iwannow: „Ja. Aber ich kenne den Namen dieses Wohlgeruchs nicht.“

Harst (zu Webster): „Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie mir dies besorgen wollten, lieber Webster.“ (Er schrieb etwas auf einen Zettel und gab ihn dem Detektivinspektor. Dieser überflog das Geschriebene, warf Harald einen erstaunten Blick zu und verließ das Zimmer.)

Harst (zu Iwannow): „Ich möchte jetzt den Ort festzustellen versuchen, wo Sie gestern für Stunden Daisy Bennertons und ihrer Verbündeten Gefangener waren. Sie fanden sich also in einem eleganten Herrenzimmer nach dem Erwachen aus Ihrer Bewußtlosigkeit wieder. Draußen schien die Sonne. Konnten Sie sie sehen?“

Iwannow: „Ja. Sie stand gerade zwischen zwei Baumkronen, die etwa in einer Höhe mit dem Fenster lagen.“

Harst: „Schon sehr hoch? Wie spät mag es dem Stande der Sonne nach gewesen sein?“

Iwannow: „Vielleicht acht Uhr früh.“

Harst: „Wenn Sie nur die Baumkronen sahen und doch aus dem Herrenzimmer dann in den Keller mit dem beweglichen Fußbodenstück versanken, ohne eine Zwischenetage dabei zu passieren, müssen Sie sich in einem Zimmer des Erdgeschosses eines auf einem Hügel stehenden Hauses befunden haben. Die Bäume wuchsen dann also am Fuße des Hügels.“

Iwannow: „Ja, so muß es sein.“

Harst: „Konnten Sie durch das Fenster noch etwas erkennen?“

Iwannow: „Einen hohen, roten Fabrikschornstein, der aber gut fünfhundert Schritt entfernt war. Ich sah nur die Spitze des Schornsteins und darauf einen Blitzableiter als dünnen Strich. Hinter dem Schornstein zogen sich bewaldete, grüne Hügel hin.“

Harst: „Das Zimmer lag also nach Südost zu auf der Ostwand eines Tales, in dem eine Fabrik sich befindet. Sie hörten bei der Abfahrt drei Sirenen heulen. Vielleicht war es gerade ein Uhr, Mittagspause?“

Iwannow: „Das kann stimmen.“

Harst: „In dem Tale dürften also drei Fabriken liegen. Die Sirenen klangen ja verschieden. – Geben Sie nun genau acht: Fuhr das Auto über zahlreiche Brücken? – Sie müßten das an dem Geräusch, das die Räder verursachten, gemerkt haben.“

Iwannow sann eine Weile nach. Dann schrieb er:

„Ich glaube, das Auto kam über keine Brücke. Jedenfalls keine größere. Ich habe ein sehr feines Gehör.“

Harst: „Passierte es mehrere Ortschaften?“

Iwannow: „Nein. Ich schlief zwar zuweilen ein, aber wohl stets nur für wenige Minuten. Das Dorf Bitschwali war meines Erachtens das einzige, das wir durchquerten.“

Harst: „Ob das zweite Auto, das Sie überfuhr, wohl mit zu dem ersten gehörte?“

Iwannow: „Ja, bestimmt. Denn es überfuhr mich absichtlich. Es hätte ausweichen können.“

Harst: „War dieses zweite Auto ein offenes?“

Iwannow: „Ja, ein Tourenwagen. Außer dem Chauffeur saß nur ein Europäer mit Autobrille darin.“

Harst: „Und die Farbe des Wagens, dieses zweiten Wagens?“

Iwannow: „Hellgrau. Das erste bekam ich nicht zu Gesicht, obwohl ich ja aus ihm heraussprang.“

Harst: „Hat Webster in Bitschwali sich erkundigt, ob die beiden Kraftwagen dort bekannt waren?“

Iwannow: „Ja. Aber sämtliche Zeugen meiner Flucht behaupteten, die Wagen noch nie gesehen zu haben.“ –

Da kehrte Webster zurück.

Harst bat Iwannow rasch, die Augen fest zu schließen.

„Ich will nur ein kleines Experiment unternehmen,“ erklärte er.

Der Geiger gehorchte.

Webster reichte Harst zweierlei: ein schmales Pappschächtelchen und eine große, lange aufgerollte Landkarte.

Harst entnahm dem Schächtelchen ein Parfümfläschchen, öffnete es und träufelte von dem Wohlgeruch ein paar Tropfen auf sein Taschentuch, wehte dann vor Iwannows Gesicht mit dem Tuche hin und her.

Plötzlich riß der Geigenvirtuos die Augen auf, griff nach dem Taschentuch, roch daran und nickte eifrig.

„Es ist also das betreffende Parfüm, das jener blonden Frau?“ fragte Harald.

Wieder nickte der stumme Künstler.

„Also Peau d’Espagne,“ meinte Harald. „Also die erste Spur einer seit sechs Monaten Verschollenen!“

Dann entrollte er die große Karte, legte sie über den Tisch und beugte sich darüber.

Wir drei anderen traten hinter ihn.

Es war eine Karte des Landschaftsvierecks zwischen den Städten Lucknow, Banda, Benares, Gorakhpur.

In der Südostecke lag Benares, oben in der Nordwestecke Lucknow am Gumti-Fluß. Die Eisenbahnlinie Lucknow–Benares durchschnitt das Viereck als Diagonale.

Die Karte zeigte jedes Dorf, jedes Gehöft, jeden Hauptbewässerungsgraben. Das Dorf Bitschwali war leicht zu finden – genau südöstlich von Lucknow als einziges in einer weiten Ebene.

Harald fuhr mit dem Zeigefinger die Bahnstrecke Benares–Lucknow entlang, ganz langsam. Da war überall, wo kurze Nebenlinien teils zu kleineren Städten oder zu größeren Fabriken abzweigten, sogar die Zahl der Geleise angedeutet – wie stets durch Striche. Die Fabriken waren besonders kenntlich gemacht. Es gab deren genug. Die Auswahl war so bedeutend, daß ich nicht viel Hoffnung hatte, Harald könnte gerade die drei herausfinden, deren Sirenen Iwannow gehört hatte.

Webster sagte jetzt:

„Lieber Harst, die Mühe dürfte umsonst sein. Das habe ich ebenfalls schon versucht.“

Harald richtete sich auf. „Ja, ja Webster, vielleicht heißt es auch hier: „Warum in die Ferne schweifen? Sieh’, das Böse liegt so nah’!““

Da er das bekannte Zitat ins Englische übertragen hatte, wirkte es dem Sinne nach auf Webster nicht so eindringlich, wie dies bei mir geschah. Vielleicht hatte Webster den Sinn auch überhaupt nicht erfaßt, denn er ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte:

„Es wird nichts anderes übrigbleiben, als auf allen Bahnhöfen zwischen Benares und Rai Bareli – denn auf dieser Hälfte der Strecke muß Mr. Iwannow ja betäubt worden sein, nachzuforschen, ob dort nicht ein angeblich Kranker aus dem Zuge in ein Auto getragen wurde. Den Schaffner des Zuges habe ich ja bereits befragt. Er besinnt sich auf nichts. Er hat geglaubt, die beiden Herren aus dem Abteil 1. Klasse wären in Manikpur ausgestiegen.“

Harmloser Webster! Ich war fest überzeugt, daß Harald das Tal und die drei Fabriken bereits gefunden hatte.

Und Harsts nunmehr folgende Äußerung: „Ja, Webster, tun Sie es nur und geben Sie uns dann Nachricht,“ bestärkte mich in dieser Überzeugung nur.

Iwannow und Webster verabschiedeten sich bald.

„Die Karte kann ich wohl noch behalten,“ meinte Harst zu dem Detektivinspektor. „Zuweilen fliegt mir auch nachts die Erleuchtung an.“

Ich begleitete die beiden Herren bis in den Park. Hier fand ich Gelegenheit, Webster zuzuflüstern:

„Harst weiß bereits Bescheid. Lassen Sie den Bungalow hier bewachen und folgen Sie uns heimlich. Harst wird fraglos in dieser Nacht etwas unternehmen. Ich fürchte, daß wir in einen Hinterhalt geraten. Richten Sie alles recht schlau ein.“

Webster drückte mir stumm die Hand. Ich hatte ihm schon vormittags von dem Schiwamatu erzählt, und er verstand meine Angst vollkommen.

Als ich dann in unseren Wohnsalon zurückkehrte, fragte Harald gleichmütig:

„Du hast natürlich Webster einen Wink gegeben. Er soll uns – beschützen. Aber wir werden sofort aufbrechen, mein Alter. Ein Gefolge von Geheimpolizisten paßt mir nicht.“

So hatte er also wieder einmal meine geheimsten Gedanken erraten. Doch – ich wollte mich trotzdem nicht geschlagen geben. Ich sagte daher:

„Ich hielt mich für verpflichtet, für unsere Sicherheit zu sorgen.“ Dann beugte ich mich über die große Landkarte. „Wenn Du vorhin zitiertest: „Sieh’, das Böse liegt so nah’!“, dann müssen das Haus am Talabhang und die drei Fabriken in nächster Nähe von Lucknow liegen,“ fügte ich hinzu.

„Das ist richtig,“ bestätigte er. „Ich habe mir das gleich gedacht, als ich erst durch das Peau d’Espagne auf Miß Emerentia Sefton gekommen war.“

Dieser Name ließ mich herumfahren.

„Ah – Emerentia Sefton, die verschollene Milliardärswaise!“

„Ja. Du weißt, daß ihr Onkel Sefton an mich damals nach Bombay schrieb, als wir gerade das Myntor-Problem in Arbeit hatten. (Vergl. Bd. 80 „Lady Myntors letzter Wunsch“.) Wir waren unabkömmlich, und dann vergaßen wir die Sache. Das heißt: vergessen tue ich ja eigentlich nie etwas! Dazu ist mein Gedächtnis zu gut. Derartige Ereignisse pflegen in meinem Hirn gleichsam nur einzuschlafen. Eine Kleinigkeit weckt sie wieder, hier das Peau d’Espagne, denn in den Zeitungsberichten über Miß Emerentias Verschwinden in den Dschungeln und Wäldern von Hardut weit nördlich von Lucknow bei einer Elefantenjagd war erwähnt, daß die junge Milliardärin stets Peau d’Espagne benutzte und daß sie aschblondes, sehr reiches Haar hätte. Weiter war da zu lesen, daß ihr Riesenvermögen nach Ihrem Tode oder, falls die Leiche nicht gefunden würde, nach ihrer Todeserklärung ihrer Tante Sylvia Marconnay, einer Schwester ihrer Mutter, zufalle. – Dies über Emerentia Sefton. – Während Du Webster und Iwannow in den Park hinabbegleitetest, habe ich mir durch einen Diener das Einwohnerverzeichnis von Lucknow, in dem freilich nur die Europäer und die Geschäftsfirmen stehen, bringen lassen. Mr. Sefton, mit Vornamen Robert, schrieb damals aus Lucknow an uns. Und in dem Verzeichnis ist er ebenfalls noch genannt als:

Sefton, Robert, Privatgelehrter
Vorstadt Chillagoog, Villa Sefton.

Hier aber,“ – und er hielt den Zeigefinger auf die Karte auf eine Stelle hart südlich der Stadt Lucknow – „hier ist ein Tal angedeutet, in das drei Schienenstränge zu drei Fabriken von der Hauptlinie abzweigen. Hier steht der Name Chillagoog, und hier auf dem Höhenrand östlich des Tales sind drei schwarze Vierecke gedruckt, also drei Gebäude, ein größeres und zwei kleinere. Dieses größere Haus, mein Alter, muß nach alledem die Villa Sefton und der Ort sein, wo Iwannow seine furchtbaren Erlebnisse hatte –“

Ich starrte Harst ganz entgeistert an.

„Dann – dann würde also Emerentia Sefton von ihrem Onkel, den sie damals vor einem halben Jahr besucht hatte, gefangen gehalten?“

„Sehr wahrscheinlich – Ihrer Milliarden wegen! Vielleicht will er sie zwingen, ein Testament zu seinen Gunsten zu machen oder ihm einen Teil ihrer Reichtümer sonstwie zu schenken. Ich kenne diesen Robert Sefton nicht. Ich muß ihn erst kennenlernen, bevor ich mit Sicherheit behaupten darf, daß er ein Schurke ist. Jedenfalls lebt er hier ganz für sich, denn Olivia Bennerton hat seinen Namen nie erwähnt und auch Webster dürfte über ihn kaum Bescheid wissen. Es gibt ja auch andere Möglichkeiten, Emerentia Seftons Gefangenschaft in jenem Hause zu erklären. Ich meine, auch andere Personen können dabei die Schuldigen sein. Einzig und allein steht fest, daß Daisy Bennerton dort ihre zierliche, aber verbrecherische Hand mit im Spiele hat. Ich –“

 

4. Kapitel.

Es hatte geklopft. Auf Harsts „Herein!“ erschien Lord Breßfort. Er war sehr erregt, rief überstürzt:

„Der Gouverneur hat soeben telephoniert, Iwannows Geige samt dem Geigenkasten ist nun wirklich gestohlen worden. Man hat den Tresor in Iwannows Schlafzimmer erbrochen –“

„Schon gut, Breßfort,“ meinte Harald ohne besondere Teilnahme. „Wir werden sofort an den Tatort eilen. Entschuldigen Sie uns jetzt. Wir müssen ein wenig Toilette machen.“

Der Lord verstand den Wink und zog sich zurück. Weder er noch Harald hatten auf mich geachtet. Diese Nachricht, daß die Amati samt dem Geigenkasten, also auch der Geigenbogen geraubt seien, war für mich wie ein Blitz aus mäßig bewölktem Himmel gewesen. Ich hatte gehofft, ich würde Harald vor jeder Gefahr schützen können. Nun aber, wo dieser Geigenbogen, also der Bogen der Wundergeige gerade, gestohlen war, kamen mir all meine Befürchtungen mit doppelter Wucht wieder in den Sinn.

Ein schneller Entschluß dann und als Breßfort das Zimmer verließ, bohrte ich rasch eine Stecknadel in die Landkarte – in das schwarze Viereck der Villa Sefton. –

Harst nahm die Sportmütze vom Stuhl, zog sie über den Kopf und sagte:

„Drei Ersatzbatterien genügen für unsere Taschenlampen! Dann – vorwärts – durch das Schlafstubenfenster auf die Veranda und in den Park!“

Gleich darauf schritten wir durch die stillen Straßen der Europäerstadt dem Südtore Lucknows zu. Harald war sehr mißtrauisch und blickte sich immer wieder um, ob uns auch niemand folgte. Erst als er die Gewißheit erlangt hatte, daß wir unbeobachtet waren, sagte er zu mir:

„Nun hat Daisy Bennerton die Geige also doch gestohlen oder stehlen lassen. Ich bin gespannt, was wir in der Villa Sefton finden werden.“

Ich blieb still. Meine einzige Hoffnung war die Stecknadel in der Karte und Websters Anhänglichkeit an Harst. Webster würde ohne Zweifel bald merken, daß wir bereits auf und davon waren, würde dann das nur angelehnte Schlafstubenfenster finden, durch das wir auf die Veranda gestiegen waren, und ebenso die Stecknadel. Dann mußte er sich ja sagen, daß nur ich die Nadel in einer ganz bestimmten Absicht in die Karte gebohrt hätte. Er würde wie wir sich nach dort mit seinen Leuten auf den Weg machen, das Haus umzingeln und zur Hand sein, wenn uns etwas zustoßen sollte.

Jedenfalls nahm ich mir vor, von meiner Clement ohne langes Besinnen Gebrauch zu machen. Ein solcher Alarmschuß würde Webster rasch herbeirufen. –

Wie gut ich mir all das zurechtgelegt hatte, wie fest ich darauf hoffte, gegen das Unheil einen schützenden Damm errichtet zu haben! Wie – falsch war alles das! Wie anders kam alles –! –

Durch stinkende enge Gäßchen des Eingeborenenviertels nahmen wir jetzt unseren Weg. Verhüllte Weiber huschten an uns vorüber. Inder aller Altersstufen begegneten uns, warfen uns prüfende Blicke zu. Aus Singspielhallen und chinesischen Teestuben, wo überall auch dem Opiumlaster gefrönt wurde, schallte uns das Kreischen von Musikinstrumenten und das Gedudel großer Orchestrions entgegen. Die „Kultur“ hatte auch hier bei dem indischen Proletariat ihren Einzug gehalten. Die Verbreiter dieser „Kultur“ waren wie überall die Chinesen, die Israeliten des fernen Ostens.

Harald war jetzt gleichfalls verstummt. Irgend etwas mußte ihn in Gedanken stark beschäftigen. Er ging mit tief gesenktem Kopf und kümmerte sich um nichts, was ringsum von indischem Nachtleben sich bemerkbar machte.

Dann das uralte Südtor Lucknows mit seinen steinernen Götzenfiguren und Steinreliefs, die Szenen aus dem Leben der Gottheiten darstellten. Hier trafen wir den ersten Polizeibeamten, einen Inder, der rasch seine Tabakpfeife versteckte, als er uns als Europäer erkannte. Ich blickte ihn absichtlich scharf an, damit er sich auch mein Gesicht einpräge. Wenn Webster ihn dann fragte, ob wir hier vorübergekommen seien, mußte er sich notwendig auf uns besinnen.

Die Vorstadt Chillagoog begann. Palmenhaine, Hütten, Fabriken, Mais- und Indigofelder wechselten mit sandigen unbebauten Flächen ab. Haralds Ortssinn ließ uns den Weg nach der Villa Sefton leicht finden. Bald tauchte vor uns am Rande des Talabhangs ein weißes, einstöckiges Gebäude auf, von einem Garten und einer hohen Ziegelmauer umgeben.

Es war jetzt kurz vor Mitternacht. Hier war alles still, tot. Das Grundstück lag ganz einsam.

Der Mond stand tief. Trotzdem sahen wir drüben im Tale einen besonders hohen Fabrikschornstein.

Wir schritten an der Gartenmauer entlang, an der Einfahrt vorüber. Ein gepflasterter Weg lief nach Osten um die Besitzung herum.

Dann am nordöstlichen Teil der Mauer eine zweite Einfahrt. Auch hier ein Gittertor, von innen mit Blech verkleidet.

Harst blieb stehen.

„Hilf mir hinauf,“ flüsterte er.

Dann saß er oben auf der Mauer, zog mich empor.

Ein Baum lehnte mit einem dicken, wagerechten Ast an der Mauerkrone. Wir kletterten an diesem Baume abwärts.

Baumschatten, Finsternis um uns her.

Und Stille – Totenstille. Kein Lufthauch bewegte die Blätter. Nichts regte sich.

Wir schlichen über einen Rasenplatz auf die beiden Wirtschaftsgebäude zu. Da war eine Autogarage mit zwei breiten Türen und ein Stall. Alles dunkel. Auch an der Villa kein erhelltes Fenster.

Wir umkreisten sie. Da war nach Westen, nach dem Tale zu eine große Glasveranda. Harald deutete auf zwei Fenster neben der Veranda. „Das dürfte Seftons Arbeitszimmer sein!“ flüsterte er.

Das Erdgeschoß lag etwa ein Meter über dem Boden. Die kleinen Kellerfenster waren vergittert und hatten hinter den Gittern eiserne Laden.

Harald kroch die acht Steinstufen zur Veranda empor und führte die Hohlzange in das Schlüsselloch der Tür ein, da der Schlüssel von innen steckte. So drehte er den Schlüssel um und konnte die Tür öffnen. Wir huschten weiter, nachdem ich die Tür wieder abgeschlossen hatte – scheinbar! In Wahrheit ließ ich sie nur eingeklinkt.

Nun durch einen Salon in den Flur, dann nach links den Flur entlang, immer nur bei dem schwachen Lichtschein meiner mit der Hand halb verhüllten Taschenlampe.

Nur wenige Schritte. Rechts eine Tür. Es mußte die des eleganten Herrenzimmers sein.

Wir hatten sie kaum bemerkt, als wir auch schon etwas anderes hörten: Geigenspiel – ganz gedämpft.

Harald legte mir den Arm auf die Schulter.

„Die Amati!“ flüsterte er. „Man hört es am Klang! Es muß die Amati sein!“

Wir lauschten. Das Spiel schwoll zum Fortissimo an. Es war irgend eine leidenschaftdurchzitterte Melodie. Dann sanken die Töne wieder zu weichen, klagenden Akkorden gleichsam in sich zusammen.

Wieder Haralds Flüstern: „Ein Künstler ist’s, der da spielt. Vielleicht gar Robert Sefton. Vielleicht täuschen wir uns, was seinen Charakter betrifft. Es kann auch alles – alles anders sein!“

Mir war Sefton und alles andere gleichgültig. Für mich war nur eins von Bedeutung: Die Wundergeige befand sich hier im Hause, und ich – mir hatte es eine innere Stimme von Anfang an gesagt! – war fester denn je überzeugt, daß nur der Bogen der Wundergeige Haralds Leben bedrohte – nur dieser, kein anderer Geigenbogen. –

Harald hatte die Rechte auf den Türdrücker gelegt.

Geräuschlos ließ der Drücker sich senken, geräuschlos ging die Tür auf.

Dahinter ein Vorhang, durch den ein schwaches Lichtmuster durch das Gewebe schimmerte. Die Fenster mußten also sehr dicht schließende Fensterladen haben. Wir hatten ja von draußen nichts von einem Lichtschein bemerkt.

Eine elektrische Krone brannte. Unter dieser strahlenden Lichtfülle stand ein schlanker, bartloser Mann mit grauem, vollem Haupthaar, das er künstlermäßig glatt zurückgestrichen trug. Sein schmales Gesicht zeigte einen geradezu verzückten Ausdruck. Er handhabte den Bogen mit der innigen Grazie des ganz in sein Spiel versunkenen Virtuosen.

Mir kam dieses durchgeistigte Künstlerantlitz merkwürdig bekannt vor.

Dann – wie ein Hauch Haralds Stimme: „Ein Toter ist’s – ein für die Welt Toter! Ein von gehässiger Kritik Gemordeter! Es ist – der englische Geigenvirtuos Frank Elton. So lautete sein Künstlername. Niemand wußte, wie er wirklich hieß. Vor acht Jahren verschwand er, nachdem ein paar Londoner Kritiker ihn als „abgetan, veraltet“ hingestellt hatten. Du wirst ihn vielleicht auch einmal spielen gehört haben. Dieses Gesicht vergißt man nicht so leicht. Außerdem traf ihn kurz vor seiner „Ermordung“ noch ein anderer harter Schlag: man stahl ihm seine Amati-Geige! Wir werden, glaube ich, unsere Ansicht über ihn gründlich korrigieren müssen. Dieser Mann hat vielleicht nur das, was einst sein war, stehlen lassen: seine Amati!“

Es schien, als ob Robert Sefton mit seinen überfeinen Nerven die Nähe fremder Wesen spürte. Er wurde unruhig. Dann setzte er die Geige ab, legte sie auf den Mitteltisch und fuhr sich mit der Hand über die weiße Stirn, als wollte er seine Gedanken sammeln. Den Geigenbogen hatte er noch in der Hand. So verharrte er fast regungslos. Nur seine Augen glitten hin und her wie in einem ihm selbst nicht bewußten Mißtrauen.

Harald schlug den Vorhang zurück, trat ein, zog die Mütze und verbeugte sich leicht.

Ich blieb dicht hinter ihm, hatte die Rechte in der Außentasche der Sportjacke und die Clement entsichert. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Geigenbogen.

Sefton war zurückgeprallt, faßte sich aber schnell und sagte mit trübem Lächeln:

„Ah – also doch! Ich hatte es befürchtet! Sie müssen Mr. Harst sein –“

„Allerdings, Mr. Sefton. Ich –“

„Sie kommen der Amati wegen,“ fiel Sefton ihm ins Wort. „Sie ist mein Eigentum, Mr. Harst. Ich kann das beweisen. Daß Iwannow sie von dem Diebe oder dem Hehler gekauft hat, erfuhr ich erst heute früh, als ich aus Kalkutta zurückkehrte, wo ich mich drei Wochen bei meinem Freunde Oberst Gramsay aufgehalten hatte. Es war heute früh ein Mann bei mir, der mir mein Eigentum wieder verschaffen wollte, ein Fremder. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Leider ließ ich mich auf den Handel ein und zahlte ihm 50 000 Rupien für das unsaubere Geschäft. Vor zwei Stunden brachte er mir die Geige. Dort auf dem Schreibtisch liegt schon der Brief an Iwannow, dem ich das, was er einst gutgläubig für die Amati bezahlt hat, zurückerstatten will. Jedenfalls kann ich beweisen, daß die Geige mir gehörte. Ich gebe sie auch nicht wieder heraus.“

Harst machte eine gleichgültige Handbewegung. „Das erledigen Sie mit Iwannow, Mr. Sefton. Ich habe weit mehr Interesse für das Schicksal Ihrer Nichte Emerentia Sefton. Sie schrieben vor einem halben Jahr an mich, ich solle Emerentia suchen. Liegt Ihnen noch etwas daran, sie zu finden?“

„Oh – welche Frage, Mr. Harst,“ meinte Sefton weit lebhafter. „Ich fürchte nur, Emerentia ist tot. Aber –“

„Sie irren, Mr. Sefton,“ unterbrach Harald ihn. „Sie irren! Ihre Nichte lebt und wird von Verbrechern gefangen gehalten.“

Robert Sefton starrte Harald ungläubig an. Dann rief er, und in seiner Stimme war nichts als ehrliche Freude: „Wenn Sie etwas Derartiges behaupten, Mr. Harst, ist es auch wahr! Mein Gott, endlich – endlich die Erlösung aus tausend Zweifeln! Ich habe ja nie so recht daran glauben wollen, daß meine frische, muntere Emerentia wirklich tot sein sollte!“

Harst hatte sich an den Schreibtisch gelehnt. „Mr. Sefton, rasch ein paar Fragen. Seit wann wohnen Sie hier? Wem gehörte das Haus vordem? Wieviel Diener haben Sie? Wer spielte in Ihrer Abwesenheit hier den Hausherrn?“

Sefton schüttelte den Kopf. „Ihre Fragen berühren mich so seltsam, Mr. Harst. Um die letzte zuerst zu beantworten: mein Diener Sirdar vertritt mich hier stets, wenn ich verreist bin. Er ist bereits sechs Jahre bei mir. Dann habe ich noch einen chinesischen Koch, zwei andere Diener, zwei Chauffeure und einen Gärtner, alles Inder bis auf den Chinesen und den alten Gärtner, der ein Singhalese ist. Dieses Grundstück erwarb ich von dem Vormund der Geschwister Bennerton. Es gehörte deren Vater. Den Gärtner Negambo übernahm ich mit dem Grundstück.“

„War Sirdar ebenfalls vielleicht bei Mr. Bennerton früher in Stellung?“

„Ja. Viele Jahre. Er hat mir viel von den Geschwistern Bennerton erzählt. Er hing besonders an Daisy Bennerton mit großer Liebe.“

„Kennen Sie auch die Geheimnisse dieses Hauses, Mr. Sefton?“

„Geheimnisse?!“ Er lächelte. „Nein. Hier gibt es keine Geheimnisse.“

„Auch keine altindischen Mumien?“

„Wie – Mumien?! Hier?! – Ausgeschlossen.“

„Und über den Fußboden dieses Zimmers sind Sie ebenfalls orientiert?“

Sefton schüttelte abermals den Kopf. Er tat es wie jemand, der den Sinn der Frage gar nicht recht begriffen hat. Daß er tatsächlich harmlos war und mit Emerentias Entführung und Einkerkerung nichts zu tun hatte, war bereits erwiesen.

 

5. Kapitel.

Harst schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Gestatten Sie, daß ich mich hier so etwas umschaue, Mr. Sefton.“ Und zu mir gewandt: „Der Hebel für den versenkbaren Fußbodenteil dürfte sich hier vor dem Schreibtisch befinden, denn Daisy saß ja hier im Schreibsessel, als Iwannow versank.“ – Er kniete bereits auf dem Parkett, schob das Bärenfell vor dem Schreibtisch zur Seite und befühlte die Parkettstäbe. Dann ein leises Knarren, und plötzlich senkte sich ein Teil des Fußbodens zwischen Schreibtisch und Flurtür fast geräuschlos abwärts, jedoch nur eine kurze Strecke, da Harald rasch den herabgedrückten Teil des einen Parkettstabes wieder hochschnellen ließ. Auch die Versenkung kam wieder nach oben und fügte sich in das zackige Loch haargenau wieder ein.

Harald ergriff ein Lineal. „Ich werde es so festklemmen, daß der Parkettstab sich nicht wieder hebt,“ sagte er. „Bitte, treten Sie beide nur auf die Versenkung.“

Als diese sich abwärts zu bewegen begann, sprang auch er noch schnell auf die Plattform und glitt so mit uns zusammen in die Tiefe.

Unsere Taschenlampen blitzten auf.

Wir passierten den ersten leeren Keller. Aber die Fußbodenplatte senkte sich in den vier Gleitschienen auch durch den Boden dieses Kellers weiter hinab. Die Steinfliesen hatten sich, eine doppelte Falltür, nach unten geöffnet.

Dann der nächste Kellerraum – auch leer. Hier hatte der Glasschrank gestanden, hier hatte Daisy die Glasscheibe durch eine Kugel völlig zertrümmert. Und jetzt – nichts von Schrank oder sonstigen Möbeln, nur kahlgetünchte Wände.

Der sonderbare Fahrstuhl machte halt.

Und – jetzt sah ich erst, was mir bisher entgangen, daß Mr. Sefton seine Amati und den Geigenbogen zärtlich an seine Brust gedrückt hielt.

Er bemerkte meinen Blick, der geradezu entsetzt auf der Geige ruhte.

„Ich mochte sie nicht oben lassen,“ sagte er. „Sie werden das verstehen, Mr. Schraut.“

Harald untersuchte bereits die Mauern, suchte nach einer Geheimtür.

Und – er fand sie!

Hätte doch nur diesmal sein Spürsinn versagt! Dann – dann wäre vielleicht alles anders gekommen! –

Ein Teil der Nordmauer bewegte sich nach innen. Dahinter ein Gang – dunkel, drohend.

Eisige Luft schlug uns daraus entgegen. Hier waren die Wände nicht gemauert; hier bestanden sie aus kahlem Gestein; nur die leicht gewölbte Decke zeigte alte, große Ziegelsteine.

Der Gang schien endlos. Harald schritt voran. Als letzter kam Sefton. – Nun rechter Hand eine mit Eisenblech benagelte Tür, die offenbar neueren Datums war, wie auch die beiden Riegel und das große Schloß bewiesen. Der Schlüssel steckte. Aber die Riegel waren vorgeschoben.

Harald zog sie leise zurück, drehte ebenso leise den Schlüssel um, öffnete.

Vor uns Dunkelheit – und der Geruch einer Petroleumlampe. Zwei Lichtkegel schossen in das höhlenartige Gemach hinein.

Ein Schrank, ein Tisch, ein Ruhebett.

Und – eine Gestalt, die von dem Lager hochfuhr, – ein Weib, blond, verhärmt, abgezehrt.

„Emerentia!“ gurgelte Sefton mit unnatürlicher Stimme.

Dann lag sie an seiner Brust, schluchzend, wimmernd.

Harst hatte Sefton schnell die Amati und den Bogen aus der Hand genommen. Er wollte beides auf den Tisch legen.

„Halte draußen Wache,“ flüsterte er mir mit zurückgewandtem Kopf zu. „Ich traue dem Frieden hier nicht, denn –“

Dann – ein Satz an mir vorüber zur Tür.

Ich sah gerade noch eine Gestalt davonhuschen.

Und Harst hinterdrein. Die Amati lag auf dem Tische, nur den Bogen hatte er in der Eile in der Linken behalten.

Er stürmte den Gang weiter hinab – mit erhobener Taschenlampe.

Ich folgte. Ich bin noch nie so gelaufen wie damals. Ich erkannte die Gestalt, der Harald folgte: Daisy Bennerton in der Tracht des Hindumädchens, so, wie wir sie in Tallamara zuerst gesehen hatten.

Der Gang verbreiterte sich, wurde zur Höhle.

Wir drei, zwei Verfolger und die flüchtige Verbrecherin, rannten über Steingeröll dahin – lautlos fast – rannten weiter und weiter.

Jetzt vor uns – Harald hatte kaum zwanzig Schritt Vorsprung – ein seltsames Rauschen wie von fließendem Wasser.

Daisy war in eine Nebenhöhle eingebogen. Sie flog dahin – geschmeidig, ausdauernd.

Und – blieb stehen – ganz plötzlich.

In ihrer Hand blitzte es wie Metall. Diese rechte Hand hob sich.

Da – überlegte ich nicht mehr. Da – feuerte ich im Laufen.

Dreimal drückte ich ab.

Der vierte Schuß kam aus des Weibes Waffe.

Doch – sie taumelte bereits – taumelte nach hinten, ließ den Revolver fallen, griff in die Luft, stieß einen Schrei aus, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde.

Harst sprang vor.

Ich sah, wie er der in die Felsspalte Hineingleitenden den Geigenbogen hinstreckte. Zu spät. Daisy hatte schon das Gleichgewicht verloren, sie war verschwunden. Leer war die Stelle vor dem Abgrund, in dessen Tiefen der Unar schäumend und brausend dahinschoß.

Harst wandte sich mir zu und ein tiefer Ernst lag in seinen Zügen.

„Komm, mein Alter!“ sagte er mit leise vibrierender Stimme, „hier ist jede Möglichkeit einer Rettung ausgeschlossen. Diesmal hat mich der Tod hart gestreift. Ein Schritt weiter und das Schiwamatu wäre in Erfüllung gegangen.“

 

Ende.

 

 

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Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































74:
75:
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77:
78:
79:
80:
81:
82:
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84:
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93:
94:
95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „zittenden“.
  2. In der Vorlage steht: „Kollossalfiguren“.
  3. In der Vorlage steht: „einem“.
  4. In der Vorlage steht: „endete“.
  5. In der Vorlage steht: „von“.
  6. „Gebrülltes“ ist hier natürlich im übertragenen Sinne gemeint, da der Herr Iwannow ja stumm ist.