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Das Wunder von Patna

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 94:

 

Das Wunder von Patna

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Eine Despotin.

Detektivinspektor Edward Dalbam hatte uns morgens im Continental-Hotel in Agra besucht und uns das Ergebnis seiner Nachforschungen nach dem flüchtigen Agraer Kaufmann John Barring mitgeteilt, der uns vorgestern nacht ein Stück außerhalb der Stadt in einem Grottentempel hatte unschädlich machen wollen, um zu verhüten, daß wir seine Schandtaten aufdeckten.

Dalbam war recht niedergeschlagen gewesen und hatte zum Schluß gesagt:

„Lieber Harst, wenn Sie nicht helfen, John Barring einzufangen, werden wir ihn nie vor Gericht stellen können.“

Harald Harst, der im Zimmer auf und ab ging, blieb jetzt vor Dalbam stehen.

„Lieber alter Dalbam,“ meinte er, „da werden dann wohl Schraut und ich einspringen müssen. – Der Chauffeur, der zusammen mit Barring entflohen ist, heißt also Timar Bondri, ist Inder, 28 Jahre alt, der Religion nach Hindu und –“

Es hatte geklopft – sehr energisch. Auf Haralds etwas unwilliges „Herein!“ wurde die Tür mit einem Ruck aufgestoßen und unseren erstaunten Blicken zeigte sich eine grauhaarige Dame von so grimmen, eigenartigen Zügen, daß Harald der ältlichen, ganz in Grau gekleideten Besucherin vor Überraschung mit einem Anflug eines belustigten Lächelns in das rote, schmale Gesicht starrte, auf dessen scharfer Wippnase ein goldener Kneifer sehr schief und verwegen saß.

„Lady Gulbrar,“ platzte die spindeldürre Dame heraus. „Zum Teufel – was stieren Sie mich so an?! Der Nase nach sind Sie Mr. Harst!“

Ein tadelnder Blick traf jetzt Dalbam und mich. Wir waren vor heiterem Staunen nämlich wie festgeklebt sitzen geblieben, schnellten nun aber empor und verbeugten uns.

„Mein Name ist Harst,“ stellte Harald sich in aller Form nun vor. „Mylady gestatten: dort Detektivinspektor Dalbam – das da mein Freund Max Schraut. – Wenn Mylady Platz nehmen wollten. – So. – Womit kann ich dienen?“

Lady Gulbrar hatte einfach Dalbams Korbsessel mehr nach der Mitte des Zimmers gerückt und sich darin niedergelassen.

Harald lächelte wieder.

„Komme ich Ihnen so komisch vor?!“ schnauzte die eigentümliche Dame ihn grob an. „Ich bin mit meinem Auto direkt von Patna hierher geeilt, nachdem ich in der Zeitung gelesen, daß Sie in Agra sind. – Machen Sie sich reisefertig. In einer Stunde fahren wir.“

Das war in der Tat ein Original! Sie kommandierte einfach! Sie rechnete offenbar gar nicht mit einer Weigerung unserseits. – Ich war gespannt, wie Harald sie nun abfertigen würde.

Zu meiner grenzenlosen Verwunderung erklärte er jedoch:

„Ganz wie Mylady befehlen. – In einer Stunde sind Schraut und ich bereit.“

Sie blickte ihn durchdringend an.

„Und Sie fragen gar nicht, weshalb und wohin, Mr. Harst? – Kennen Sie mich denn – vom Hörensagen?“

„Wer kennt Lady Elisabeth Gulbrar nicht?!“

„Dachte ich mir! – Es geht nach Patna!“

„Dachte ich mir, Mylady. Ich bin im Bilde.“

„He – wollen Sie mich aufziehen?!“

„Das würde ich der reichsten und energischsten Frau Indiens gegenüber nicht wagen. Ich nehme an, Sie sind in Patna bestohlen worden wie so viele andere –“

„Das stimmt. Ich alte Person mußte mich verleiten lassen, den Humbug mir anzusehen –“

„Das Wunder von Patna –“

„Ja. – Aber wenn Sie alles wissen, weshalb bin ich denn hergekommen?! Da hätte ich Ihnen auch depeschieren können.“

„Ihr silbernes Handtäschchen wurde Ihnen im Gedränge der Schaulustigen von einem Taschendiebe abgekniffen, Mylady –“

Sie war jetzt völlig sprachlos.

„Waren Sie denn gestern abend in Patna?“ stieß sie hervor.

„Nein, Mylady. Aber an der linken Seite ist der Stoff Ihres grauseidenen Kostüms durch die silberne Tasche, die sie über dem linken Arm zu tragen pflegen, dunkler gefärbt – ein Scheuerfleck. Die Tasche haben Sie heute nicht bei sich. Daher riet ich, daß gerade dies silberne Täschchen Ihnen gestohlen sein müßte.“

Die Lady nickte ernsthaft.

„Ich vergaß, daß ich Harald Harst gegenübersitze. – In der Tasche befanden sich dreißigtausend Rupien in Banknoten, außerdem meine Ringe, die dreimal so viel wert sind. Es sind teure Andenken. An dem Gelde liegt mir nichts. Aber die Ringe will ich wieder haben.“

Sie sah nach der Armbanduhr.

„Zwanzig Minuten vor neun. Um halb zehn steht mein Auto unten vor dem Hotel.“ – Sie hatte sich erhoben. „Ich hoffe, Sie sind pünktlich, meine Herren!“ Dann grüßte sie kurz und schritt hinaus.

Wir drei waren wieder allein.

Dalbam lachte.

„Das Mannweib! Wissen Sie, daß sie erst vierzig Jahre alt ist?“

„Ich weiß, daß ihr hier Landbesitz im Umfange Bayerns gehört,“ erwiderte Harald, ebenfalls in glänzender Laune. „Ich weiß weiter, daß sie auf ihrem Schlosse bei dem Städtchen Biraniri wie eine Despotin herrscht und daß sie, mit dreißig Jahren kinderlose Witwe, ihre Plantagen und Viehzüchtereien musterhaft bewirtschaftet, insgeheim viel Gutes tut und von den Eingeborenen ihrer Besitzungen vergöttert wird.“

Dalbam war ernst geworden.

„Und John Barring, lieber Harst?“ meinte er kleinlaut.

„Der kommt auch noch an die Reihe. Die Geschichte in Patna wird nur ein paar Tage in Anspruch nehmen.“

„So – so! Hoffen wir’s! – Sie haben von dem Wunder von Patna gelesen?“

„Gestern abend unten im Lesesaal. Auch eine Photographie des alten Springbrunnens gesehen. Eine nicht alltägliche Sache! Der Fakirtrick mit dem auf den Wasserstrahlen sitzenden Mädchen ist neu.“

„Gestatten Sie: kein Trick!“ Dalbam ereiferte sich. „Allen Gesetzen der Schwere zum Trotz schwebt die Tochter des Fakirs Rawura tatsächlich auf den Strahlen – ganz oben, wo diese sich wieder abwärtsneigen!“

Harald streckte die Beine lang.

„Mein lieber Dalbam, gerade über dem Springbrunnen läuft, wie ich auf der Photographie sah, ein starker Baumast entlang. Ob da das Mädchen nicht in Drähten an dem Aste hängt?“

Der Inspektor schlug sich knallend auf den Schenkel.

„Also auch Sie – auch Sie! Genau dasselbe haben schon meine Patnaer Kollegen vermutet. Einer von ihnen, der gerissene Tom Green, versteckte sich nachts in dem Baume. Aber – er hatte sich umsonst bemüht, ganz umsonst! Keine Spur von Drähten! Und ebensowenig sitzt die Inderin etwa auf einer Stange, die von unten aus dem Brunnen herausragt. Nein, auch davon ist keine Rede. Sie schwebt – schwebt und lockt täglich Hunderte in den alten Park.“

Harst hatte sich eine Zigarette angezündet.

„Und doch muß es ein Trick sein!“ sagte er bedächtig und blies den Rauch in Pausen von sich.

„Dann finden Sie ihn doch heraus,“ rief Dalbam. „Seit acht Wochen bemühen sich viele intelligente Köpfe, dieses Wunder zu ergründen.“

„Und noch mehr Diebstähle kommen in dem Gedränge vor,“ nickte Harald. „Auch das las ich in der Zeitschrift. In Patna scheint jetzt eine Hochschule für Taschendiebe sich zu befinden.“

„Oh – das ist übertrieben! Gewiß, man hat dort in dem Park schon einige Touristen –“

„– stets Leute, bei denen es sich lohnte, ausgeplündert,“ vollendete Harald den Satz. „Ich hätte Lady Gulbrars „Befehl“ auch nie so gehorsam hingenommen, wenn mich das Wunder von Patna nicht reizen würde. – So, nun werden wir zu packen beginnen. Bestelle die Rechnung, lieber Alter,“ wandte er sich an mich. „Und Ihnen, Dalbam, sagen wir nun vorläufig lebewohl. – Auf Wiedersehen! John Barring entgeht uns nicht.“ –

Punkt halb zehn standen wir vor dem Hotel.

Da hielt ein großes offenes gelbes Tourenauto. Auf dem Chauffeursitz erkannten wir – die Lady, jetzt mit einer Mütze auf dem grauen Kopf und einer Hornbrille vor den Augen.

„Einsteigen!“ rief sie.

Unsere Koffer waren bereits hinten aufgeschnallt.

Zwei Inder in einer Art Livree schwangen sich neben die Lady vorn in den Wagen. Kaum hatte ich dann neben Harald Platz genommen, als das Auto davonsauste. –

An diese Fahrt werde ich denken! Nicht nur, weil die Lady wie der Teufel dahinraste, sondern weil wir in den Wara-Bergen um ein Uhr mittags mit knapper Not einem Bergrutsch entgingen, der dicht hinter uns einen Hagel von Felsblöcken auf die Straße schleuderte.

Mit diesem Steinregen fing das wahrhaft Ungemütliche dieser Hetzjagd an.

Eine Stunde später hatten wir gerade die Stadt Jaunpur hinter uns, als wir die tadellose Kunststraße, die hier durch dichten Dschungel führte, durch drei riesige Bäume gesperrt fanden.

Wir stiegen aus. Die Lady wetterte. Einer der Diener mußte Leute herbeiholen, die die Bäume wegräumen sollten.

Harald war über den Straßengraben in das Dickicht eingedrungen. Als er nun wieder erschien, nahm er die Lady abseits und erklärte leise, die drei Urwaldriesen seien erst vor kurzem durch – Sprengung entwurzelt worden.

„Schon der Steinschlag in den Wara-Bergen kam mir verdächtig vor, Mylady,“ fügte er hinzu. „Jetzt bin ich überzeugt, daß man mich hindern will, Patna zu erreichen. Man weiß offenbar, daß Sie mich nach Patna holen. Die Taschendiebe, die dort in Patna arbeiten, mögen Ihnen ein Auto nachgeschickt haben, das nun stets vor uns ist und für Hindernisse sorgt.“

Lady Gulbrar lächelte verächtlich. „Es gibt kein zweites Auto in Indien, das schneller oder auch nur ebenso schnell wie das meine ist, Mr. Harst. Wenn Sie Angst haben, kehren Sie um!“

„Ich nehme diese Bemerkung als mißglückten Scherz hin, Mylady!“ Und er drehte sich kurz um und trat an das Auto heran, schnallte unsere Koffer los und trug sie an den Straßenrand.

Lady Gulbrar merkte, daß sie es mit Harald verdorben hatte. Sie kam zu uns. Wir saßen neben der Straße auf ein paar Steinen.

„Seien Sie nicht empfindlich, Mr. Harst,“ meinte sie einlenkend. „Was Sie da von Versuchen redeten, das Auto aufzuhalten, ist Unsinn!“ Ihre wahre Natur gewann schon wieder die Oberhand. „Sie sind viel zu mißtrauisch! Sie sollten –“

„– umkehren, Mylady. Das will ich auch.“

„Das werden Sie nicht tun! Ich muß die Ringe wiederhaben!“

„Die Polizei wird Ihnen helfen –“

„Ah bah – die Polizei! Sie werden’s!“

„Mylady, Sie gestatten, daß wir uns verabschieden!“

Er stand auf und hob den einen Koffer auf die Schulter.

Da – von der Baumsperre her die Stimme des bei uns zurückgebliebenen Dieners:

„Mylady – ein Zettel – beschrieben! Hier an einem Ast hängt er.“

Harst setzte den Koffer wieder ab und schritt zu dem Inder hin.

 

2. Kapitel.

Der Batta Mampu.

Der Zettel war ein halber Bogen weißes Papier.

Darauf stand mit lila Tintenschrift:

„Bleibe fern! Batta Mampu.“

Lateinische Schrift – englische Worte.

Was hieß Batta Mampu?

Hinter uns jetzt Lady Gulbrars Stimme:

„Wissen Sie, was Batta Mampu bedeutet?“

Diese Stimme klang anders als bisher. – Wir drehten uns um. Die Lady hatte die Mütze aus der Stirn geschoben. Die Stirn lag in Falten.

„Batta Mampu ist ein Gemisch von Dialekten und heißt „Alle, die nehmen“, also „Alle, die stehlen“ –“ erklärte das weibliche Original, da Harald sie nur fragend angeblickt hatte. „Es ist also ein Bund von Dieben, die, wie hier üblich, eine besondere Gottheit verehren, – ein Bund, über ganz Indien verbreitet, straff organisiert, tadellos geleitet, nie zu fassen, nie zu überführen.“

Harald nicke jetzt. „Ich besinne mich. Der Bund soll Jahrhunderte alt sein.“

„Das ist er fraglos. Genau wie dieser Zettel eine Drohung ist. Jetzt glaube ich an die Hindernisse, Mr. Harst. Ich bin ich überzeugt, daß Sie recht haben: der Steinschlag war ein Attentat, und –“

Harald hatte den Zettel umgedreht.

Die Lady sah die Rückseite – sah das seltsame Bild darauf, eine rohe handgroße Bleistiftzeichnung und rief:

„Das ist der altindische Schlangenring meines verstorbenen Mannes! Der Ring wurde mir mit dem Täschchen gestohlen. Ich – ich –“

Sie schwieg, senkte den Kopf.

Ihre langen Oberzähne gruben sich so tief in die Unterlippe ein, daß ein Blutstropfen aus der Lippe hervorrann.

Was hatte die Lady plötzlich? Weshalb diese Zeichen einer ungeheuren Erregung, weshalb dieser fahle Schimmer auf den Wangen, dieses krampfhafte Öffnen und Schließen der Hände?!

Da wandte sie sich mit einem Male um und ging langsam zum Auto, lehnte sich an den Wagen und starrte regungslos geradeaus, uns den Rücken zukehrend.

Harst warf mir einen besonderen Blick zu. Dann steckte er das Blatt in die Tasche.

„Mit dem Ringe dürfte es etwas besonderes auf sich haben,“ meinte er leise. „Wir werden die Grobheiten dieser Despotin hinnehmen. Patna reizt mich jetzt noch mehr. Der Fakir Rawura und seine schwebende Tochter, der Batta Mampu und nun noch der Ring, – das lohnt!“ –

Ja – es lohnte sehr! Die Überraschungen nahmen kein Ende.

Lady Gulbrar kam auf uns zu.

„Tiwa mag Sie beide mit dem Auto nach Jaunpur zurückbringen, meine Herren,“ erklärte sie mit verdächtiger Liebenswürdigkeit. „Von Jaunpur haben Sie Anschluß mit der Bahn nach Agra zurück.“

Dann winkte sie dem Diener Tiwa, flüsterte mit ihm und rief uns zu:

„Leben Sie wohl, Mr. Harst! Wir würden schlecht miteinander auskommen.“

Nickte freundlich und – schritt in das Dickicht hinein.

Das war eine Entlassung. Das war – die Folge der Zeichnung, dachte ich! Die Lady wollte uns los sein! Weshalb –? –

Wir fuhren nach Jaunpur – bis zum Bahnhof.

Hier überreichte Tiwa sehr unterwürfig Harst vom Chauffeursitz aus einen zusammengefalteten Zettel und ließ den Wagen davonrollen.

Der Zettel war ein Scheck über 50 000 Rupien auf die India-Bank in Bombay.

„Die Lady bezahlt uns großartig für – die Kündigung,“ lächelte Harald.

„Und – des Ringes wegen –“

„Ja, mein Alter! Die Zeichnung jagte ihr einen bösen Schreck ein. Das „Bleibe fern!“ galt mir. Die Zeichnung galt der Lady. Sie wird sich um das silberne Handtäschchen nicht weiter kümmern, behaupte ich. Aber – wir werden es tun!“

Ein indischer Gepäckträger trug unsere Koffer in die Wartehalle. Harst ging sich nach den Zügen erkundigen. Ich hatte für uns warme Gerichte bestellt und blätterte in einem englischen Witzblatt. Ein alter zotteliger Bettler, einen Korb mit indischen Süßigkeiten am Riemen vor dem Leibe, bot mir seine fragwürdigen Herrlichkeiten an. Um ihn und seinen noch fragwürdigeren Asiatenduft loszuwerden, gab ich ihm drei Rupien. Er verließ den Wartesaal, hatte mir eine kandierte Weintraube auf einem Blättchen Papier auf den Tisch gelegt. Ich schob sie weg und – sah, daß das Papierblättchen beschrieben war.

Indem kehrte Harald zurück. Schweigend wies ich auf das Papierblatt. Die Traube hatte ich in den Aschbecher geworfen.

„Bleibe fern! Batta Mampu.“

stand auf dem Papier.

Aber es fehlte der Ring auf der Rückseite. Diese Warnung galt nur Harald, der nun recht ernst sagte:

„Die Geschichte wird bedenklich! – Ich habe soeben Fahrkarten nach Patna gelöst. Da war ein zerlumpter alter Inder hinter mir – mit einem Korbe voll Süßigkeiten. Die kandierte Traube dort stammt also von dem selben Spion. Wir werden beobachtet.“

Der eingeborene Kellner brachte das Essen. –

Nachmittags sechs Uhr waren wir in Benares am Ganges-Fluß. Hier mußten wir umsteigen. Oder besser: wir hätten umsteigen müssen, nahmen jedoch am Bahnhof ein Auto und fuhren bis zum Prinz Albert-Hotel, ließen unsere Koffer sofort durch den Hotelpark an das Parktor bringen, von wo ein zweites Mietauto uns über die Gangesbrücke und die Niederung des heiligen Stromes bis Charkar, die nächste Station hinter Benares, entführte. Wir hatten genau achtgegeben, ob uns jemand folgte. Unsere List war geglückt. Dicht vor Charkar schickten wir das Auto zurück und machten im Walde eine kleine Verwandlung durch, die uns wie stets tadellos gelang.

Als wir in Charkar den Zug nach Patna um neun Uhr abends bestiegen, war von Harst und Schraut äußerlich wenig übriggeblieben. Vorsichtshalber benutzten wir auch getrennte Abteile. Um sieben Uhr früh waren wir in Patna, verließen den Zug jedoch schon in dem Vorort Bankipur, begaben uns jeder für sich in das Hotel Viktoria in Bankipur und belegten benachbarte Zimmer, deren verstellte Verbindungstür sich unschwer öffnen ließ. –

Bankipur, dreißig Kilometer westlich von Patna gelegen, ist mit diesem durch eine am Flußufer sich hinziehende Prachtstraße verbunden, die zu beiden Seiten von Gärten, Basaren, Villen und alten Bauten eingerahmt wird. Diese Straße hat in der ganzen Welt kaum ihresgleichen. So schmutzig und armselig Patna selbst ist: die Basarstraße nach Bankipur läßt die unschönen Eindrücke der dicht bevölkerten Stadt sofort vergessen. Bankipur, der Vorort, zeichnet sich durch Sauberkeit und eine Moschee aus, die hier am Muharramfest gegen hunderttausend Pilger vereinigt.

Wir waren nicht fremd in Patna. – Wo waren wir denn überhaupt fremd? Es gab nur einen Erdteil, den ich nicht kannte: Australien! –

Nach dem üblichen Bad und dem Frühstück unten im Palmengarten, wo sich die Kaufleute Schrooter und van Haarken aus Batavia (Niederländisch Indien) freudig ob dieses unverhofften Wiedersehens begrüßt und am selben Tische Platz genommen hatten, bestiegen wir eins der leichten Ponywägelchen und fuhren die Prachtstraße hinab.

Wieder hatten wir sorgfältig aufgepaßt, ob etwa der Batta Mampu-Bund[1] trotz all unserer Vorsicht uns Spione nachgeschickt hätte.

Nichts Verdächtiges bemerkten wir – nichts.

Auf der Prachtstraße ging es jetzt um die zehnte Vormittagsstunde sehr lebhaft zu. Lastwagen, Autos, Ochsenkarren, Fußgänger aller Nationalitäten und Farben schoben sich in endlosen Ketten aneinander vorüber. Vor den Basaren mit ihren die Promenadenwege zur Hälfte sperrenden Tischauslagen staute sich das Heer der Touristen. Amerika, England, Frankreich und die Balkanstaaten sandten ganze Trupps durch den Krieg reichgewordener Lieferanten mit ihrem Anhang nach dem Zauberlande Indien. Das Geschäft der Reisebüros blühte. Der Deutsche, früher in Indien eine gewohnte Erscheinung, war ausgestorben.

Alle Sprachen klangen aus den vorbeifahrenden Riesenautos der Reisebüros an unser Ohr. Neben balkanesischen Gaunergesichtern saß der eine erhabene Gleichgültigkeit heuchelnde amerikanische Millionenschieber. Patna war für alle diese Leute nur Durchgangsstation nach den westlichen Städten Benares, Agra, Dehli, Lucknow und Lahore.

„Die Taschendiebe müssen hier ungeheure Beute machen,“ sagte Harald, behaglich seine Zigarette rauchend.

„Bei dem Fakir Rawura –“

„Ja. – Ich bin sehr gespannt auf die Örtlichkeit und den Springbrunnen! Schade, daß das Wunder immer erst abends um sieben Uhr zu sehen ist. – Hm – ob man nicht auch jetzt den Park besuchen könnte? Ich werde mal den Kutscher fragen –“

Er klopfte dem Inder auf den Rücken, der sofort am Rande des Fahrdammes hielt.

Die Antwort des Kutschers überraschte uns.

„Sahib, was will Du jetzt dort? Der Park ist eine Wildnis. Der Springbrunnen mit den fünf sitzenden Steintigern lebt erst nachmittags auf. Wo der Fakir Rawura wohnt, weiß niemand. Er ist mit seiner Tochter da, wenn es Zeit ist, und beide verschwinden wieder. Es gibt viele, die behaupten, es seien nur Schadrani.“ (Schadrani, eine indische Umwandlung der mongolischen Bezeichnung Schamanen, Priester, die imstande sein sollen, an mehreren Orten zugleich zu weilen, und deren Körper gleich dem der Dschinn, der Geister, aus dem verdichteten Rauch der Scheiterhaufen der Hinduverbrennungsstätten bestehen soll.)

„Hat der Park mehrere Eingänge?“ fragte Harald weiter.

„Ja, Sahib, vier. Außerdem ist die Südmauer überall eingestürzt.“

„Dann fahre uns nach der Südmauer.“

Der Wagen ruckte an. Die Straße war gerade auf fünfzig Meter Weite völlig leer. Ein gelbes Auto kam von Patna her angesaust. Lady Elisabeth Gulbrar saß darin. Sie erkannte uns nicht. Wie sollte sich auch?!

Blitzschnell huschte sie vorüber wir eine Vision.

„Sie ist also doch nach Patna gekommen,“ meinte Harald. „Und dabei liegen ihre Besitzungen im Süden in den Zentralprovinzen.“

Ein anderes Auto erschien. Vorn ein Inder als Chauffeur, hinten zwei andere, in hellen Staubmänteln, Seidenmützen, hohen weißen Stehkragen und Autobrillen.

Es war ein sehr großer Wagen. Lautlos fast glitt er dahin.

Harald drehte sich um und blickte ihm nach.

Dann wandte er sich mir zu.

„Lady Gulbrar ist links abgebogen. Das zweite Auto ebenfalls. Ich wette, dieses zweite war gestern vor uns!“

„Das des Batta Mampu?“

„Ja. – Schade, daß wir nicht auch im Kraftwagen sitzen. Wir könnten hinterdrein. Nun, merken wir uns: das Auto war dunkelgrün. Ich würde es jeder Zeit wiedererkennen.“

Auch unser Kutscher lenkte jetzt von der Hauptstraße ab. Wir fuhren nach rechts einen holzgepflasterten Villenweg entlang. Hier Stille und Frieden. Hier prächtige Gärten mit hohen Mauern oder zierlichen Gittern. Villen jener Art, wie man sie zumeist in Indien baut: einstöckig, herumlaufende Veranda: Bungalow!

Zwischenein auch Steinhäuser, fensterlos nach der Straße hin, düster wie Burgen, eingebettet in Grün und dichte Hecken, die jeden neugierigen Blick abwehren, – Wohnungen reicher Mohammedaner, die auch hier im sonnigen Indien ihr Familienleben ängstlich verbergen.

Und wieder bog der Wagen rechts ab. Vor uns eine staubige Straße zwischen Feldern. Rechter Hand aber eine verwitterte Backsteinmauer, dahinter ein förmlicher Urwald.

„Halt!“ rief Harst dem Kutscher zu. „Kehre um! Schnell!“

Da vor uns war noch etwas anderes.

Eine Staubwolke – ein Auto.

Es hielt jetzt. – Dann hatte unser Kutscher schon gewendet. – Ein Windstoß trieb graue Wolken von dem Wege hoch, trieb sie hinter uns her, bis wir links in der Villenstraße verschwanden.

Hier stiegen wir aus.

„Warte!“ befahl Harald dem Inder. „Da – zwanzig Rupien im voraus.“

„Ich warte, Sahib –“

 

3. Kapitel.

Der Palast Schah Arganis.

Wir gingen zu Fuß den staubigen Weg entlang, gingen im Schutz der Sträucher, die hier wucherten.

Nun sahen wir das gelbe Auto wieder. Es hatte gewendet und fuhr langsam davon. Es war das Lady Gulbrars. Aber die Lady saß nicht mehr darin. Nur der Chauffeur und der Diener.

Unser Kutscher hatte uns erklärt, die hohe Backsteinmauer sei die des Parkes der Palastruine Schah Arganis, dessen Grabmal in Bankipur sich befindet. Dieser Park war der Ort, wo das Wunder von Patna gezeigt wurde.

Und – Lady Gulbrar hatte diesen Park betreten! Nur durch eine Lücke der eingestürzten Südmauer konnte sie hineingelangt sein. Was wollte sie zu dieser Stunde dort?

Harald wußte keine Antwort auf diese Frage. Er spähte nur nach dem anderen Auto aus, dem mit den beiden Indern in Staubmänteln. Wir konnten den ebenen Weg weithin überblicken, der endlos lang an der Mauer hinlief. Nur Lady Gulbrars Kraftwagen wehte dort den Staub empor. Nur in den Reisfeldern linker Hand arbeiteten ein paar Leute. Sonst keine Menschenseele hier.

„Warten wir noch einige Minuten,“ meinte Harald.

Wir standen hinter Büschen. Zehn Schritt weiter lag die Mauerecke. Nach rechts führte ein schmaler Pfad an der Ostseite der Mauer entlang.

Dann weiter.

Dann ein Loch in der Mauer – Ziegelschutt, unkrautumwuchert. Dahinter eine grüne Wand: der Park mit seinem verwilderten Baumbestand, rankendurchsetzt, mit Dornenbüschen gespickt, undurchdringlich schier.

Und doch drangen wir ein, fanden einen Durchschlupf, den Rest eines Weges.

Auf weißem Sonnenfleck eine schlafende Kobra. Der platte Kopf mit der schlaffen Haube lag auf den Endringen des Schwanzes.

Ein Steinwurf löste das giftige Knäuel auf. Die Kobra kroch träge davon.

„Angenehmer Anfang!“ meinte Harald.

In den Zweigen Papageien, Wildtauben, graugrüne Affen. Die Tiere kümmerten sich nicht um uns. Sie waren an Menschen gewöhnt. Hin und wieder hinter den grünen Vorhängen wütendes Gekreisch zankender Vierhänder. Dann wieder nur das zarte Gurren der Wildtauben.

Ein freier Platz öffnete sich, einst eine Rasenfläche, jetzt nur Gestrüpp, halbmannshoch. Mitten darin, unzugänglich seit Jahrhunderten, ein eingestürzter Marmorpavillon, von Grün umschlungen, schön in seiner eigenartigen Zerstörung.

Weiter.

Nun ein neuer Pfad. Und hier die Zeichen, daß er benutzt wurde. Hier zertretene Gräser und Pflanzen.

Harst bückte sich, deutete auf den Eindruck eines kleinen Stiefelabsatzes mit Gummiecke auf dem Blatte einer kriechenden Giftpflanze. Der Absatz war klar wie ein Stempel zu erkennen.

„Die Lady,“ sagte er nur.

Wir folgten der Spur. Der Pfad wand sich der Mitte des großen Parkes zu, bis eine weite Lichtung sich auftat.

Wir blieben stehen, spähten.

Da vor uns die Palastruine. Weißer Marmor, halbe Säulenreihen, halbe Wände, Einblick gewährend in Hallen, deren bunt eingelegte Wände im Sonnenlicht strahlten.

Harst bückte sich ganz tief, schritt weiter der Spur nach. Förmliche Dornenverhaue umsäumten den Weg, der am Rande der Lichtung hinlief.

Dann hatten wir die Fährte der kleinen Stiefelabsätze verloren, hatten schon die halbe Lichtung umrundet, mußten kehrt machen.

Harald flüsterte: „Die Ruine ist des Dornengestrüpps wegen scheinbar ebenso unzugänglich wie der Pavillon. Und doch, wette ich, befindet sich Lady Gulbrar jetzt dort drinnen.“

Er hielt die Augen auf den Weg geheftet, bis er die Spur des Absatzes endlich wieder entdeckt hatte.

„Ah – ich hätte genauer hinsehen sollen,“ flüsterte er wieder. „Da ist der schwache Eindruck einer Sandale über dem Absatzstempel. Hier hat ein Inder die Lady erwartet.“

Er kniete. Er wandte den Oberkörper hierhin und dorthin. Auch ich gab mir alle Mühe, die Fortsetzung der Fährten zu finden. Von der Palastruine aus konnten wir nicht bemerkt werden. Das Gestrüpp war zu hoch. Nur ein gerade des Weges Kommender hätte uns gesehen. Doch – wer hatte in diesem Teile des weiten Parkes etwas suchen? Der Springbrunnen lag mehr nach der Prachtstraße zu. Das wußten wir. Neugierige Touristen hätten den Haupteingang benutzt.

Dann schob Harald sich quer über den Weg der Baumwand zu, zeigte stumm auf ein paar flach gedrückte Gräser.

Am Außenrande des Weges lagen hier flache Steinblöcke, scheinbar Stufen einer eingestürzten Treppe. Im Dickicht schimmerte es grauschwarz unter dem Blattgewirr: weitere Steinblöcke!

Und auf einem dieser Blöcke zwei zertretene Blätter – hinter einem sich vorbeugenden Busch abermals ähnliche Spuren.

Wir krochen vorwärts, standen bald inmitten der Reste eines kleinen Bauwerks, gedeckt durch Baumkulissen.

Da war eine tiefe, runde Grube, ausgemauert, ringsum Reste zerfressener Eisengitter.

„Raubtierkäfig,“ sagte Harst nur. „Die Fährte geht dort hinab –“

Wir kletterten über Steine, waren dicht vor der nördlichen Grubenwand. Schlinggewächse hingen von oben, dicht wie ein Gewebe, ein ganzer Vorhang.

Und dahinter eine kleine verrostete Eisentür, schmal, ein Durchschlupf nur – nur angelehnt. Aber die plumpen Angeln dunkel von Öl, das in fettigen Streifen nach unten getropft war.

Harst zog die Tür auf. Der grüne Vorhang gab nach und bauschte sich. Ein gemauerter Gang lief fünf Stufen tief abwärts, lief geradeaus.

Unsere Lampen durchschnitten mit hellen Leuchtkegeln die Finsternis, erloschen wieder.

Wir tappten weiter, Harald voran. Dünner Lichtstrahl irrte dann und wann nach vorn. Hier war es kühl. Aber die Luft hatte nichts von Modergeruch, war rein.

Der Gang hatte nördliche Richtung, auf die Palastruine zu, endete in einem Keller, dessen Decke einen klaffenden Riß zeigte. In der Dämmerung dieses Raumes verharrten wir regungslos.

Denn irgendwoher drangen Stimmen bis zu uns.

Und – wurden deutlicher.

Harst riß mich seitwärts, wo der Schutt der Kellerdecke einen spitzen Hügel bildete. Zwischen Wand und Schutt klemmten wir uns ein.

Näher kamen die Stimmen.

Dann Stille – dann das Geräusch von Schritten.

Dicht an uns vorüber ging ein dunkelbärtiger Inder in weißseidenem, reich gesticktem Gewand, einen weißen Turban auf dem Kopf, im Gürtel zwei alte Steinschloßpistolen, deren Kolben von edlen Steinen funkelten, in der Linken einen langen kostbaren Dolch, in der Rechten eine Laterne mit einer brennenden Kerze darin.

Hinter ihm her kam Lady Elisabeth Gulbrar.

Am linken Arm hing ihr ein silbernes Handtäschchen.

Ihr folgte eine junge, schlanke Inderin, gehüllt in einen bunten Seidenstoff, der durch eine seidene Schnur um die Hüften zusammengehalten wurde.

Die drei verschwanden in dem Gange.

Der Lichtschein der Laterne erlosch. Die schwache Dämmerung war wieder um uns.

Harst verließ das Versteck. Wir eilten weiter – dorthin, woher die drei gekommen. In der Kellerwand eine Türöffnung, dann nichts als Schuttmassen, von oben durch ein zackiges Loch ein breiter Streifen grellen Sonnenscheins.

Harald umging den Schuttberg nach rechts. Eine Steintreppe lief hier nach oben in ein großes quadratisches Gemach, dessen Bogenfenster durch grüne Pflanzenvorhänge von außen verhüllt waren. Die Decke war gut erhalten, lag nur etwas schief. Moderne Möbel standen hier: Schränke, Tische, Rohrsessel, ein Diwan, drei Tische. – Nach links ging eine Tür in einen kleineren Raum. Auch der war möbliert.

„Erwarten wir die beiden,“ meinte Harald und setzte sich in den größeren Raum in eine Ecke neben ein mit Zeitungen bedecktes Tischchen, legte die entsicherte Clement vor sich hin und winkte mir. Ich zog einen zweiten Rohrsessel in die Ecke. Hier waren wir erst zu sehen, wenn die beiden Inder den Raum betreten hatten.

Rechts neben uns lag das eine Fenster, von dem nur noch die Maueröffnung vorhanden. Harst schob die Ranken beiseite und blickte hinaus.

„Der Hof des Palastes,“ flüsterte er. „Der Inder dürfte der Fakir Rawura gewesen sein, das Mädchen seine Tochter – die schwebende Jungfrau!“

„Ein sehr eleganter Fakir! Meist sind diese Leute ausgesuchte Schmutzfinken –“

„Rawura wird noch einen Nebenerwerb haben. Als Fakir dürfte er anders aussehen.“

„Und – was willst Du nun hier von ihm?“

„Ihm etwas zeigen und ihn nötigenfalls – Still – sie kommen!“ –

Mir behagte dies alles sehr wenig. Ich fand Haralds Absichten mild gesagt übereilt. Er hatte doch genau so wie auch ich am Arme Lady Gulbrars das Silbertäschchen gesehen. Es war ohne Zweifel nicht etwa ein neues, ein neu gekauftes. Nein – es war sicherlich das gestohlene Täschchen, das sie den Dieben, die es ihr zum Rückkauf angeboten haben mochten, wieder abgehandelt hatte. Sie hatte also dieses Täschchen samt den Ringen wieder im Besitz. Unsere Mission war damit beendet. Wir hatten ihr ja nur das Täschchen samt Inhalt zurückverschaffen wollen. Daß Harst nebenbei das Wunder von Patna zu ergründen dachte und aus altem Interesse an geheimen Organisationen den Batta Mampu etwas unter die Lupe nehmen wollte, wie er sich mir gegenüber ausgedrückt hatte, war eine Sache für sich. Aber eine Sache, die er sich, was „das Wunder“ betraf, doch unglaublich erschwerte oder deren Erfolg er völlig vereitelte, wenn er nun hier dem Fakir durch unsere Anwesenheit bewies, daß wir uns mit seiner Person bereits mehr beschäftigt hatten als ihm lieb sein konnte. Rawura würde jetzt seinen Trick noch sorgfältiger verschleiern als bisher und vielleicht „das Wunder“ überhaupt einstellen. Aber ganz abgesehen hiervon: es blieb auch ein großes Wagnis, daß wir uns hier in der Ruine dem Fakir offen zeigten. Konnte man wissen, über welche Machtmittel Rawura verfügte?! Konnte er uns nicht einfach verschwinden lassen?! –

Das menschliche Hirn arbeitet zu Zeiten mit einer verblüffenden Geschwindigkeit. So jetzt das meine. In Sekunden hatte ich mir das alles überlegt. Wie sehr die Hast dieser Gedankenarbeit jede Logik zerstört hatte, sollte ich sehr bald einsehen. –

Die Schritte kamen näher.

Aber – es waren die einer einzelnen Person.

Nun erschien diese in der Türöffnung.

Es war – Lady Elisabeth Gulbrar!

Blaß, verstört, erregt – so ließ sie die Augen suchend umhergleiten, sah uns, schritt auf uns zu, rief leise:

„Wer sind Sie, meine Herren? Was tun Sie hier?“

Sie erkannte uns nicht. Sie suchte ihre Erregung zu bemänteln.

„Ich bin Lady Elisabeth Gulbrar,“ fügte sie hinzu, als wir uns erhoben hatten und uns verneigten.

Ihr Blick haftete auf unseren Clementpistolen, die auf dem Tischchen lagen.

„Wer sind Sie?“ wiederholte sie die Frage schärferen Tones.

Harst wies auf einen Sessel, der mehr nach der Tür zu an der Wand stand.

„Mylady, wir wollen hier doch keine Komödie spielen,“ sagte er ernst. „Sie wissen recht gut, wer wir sind.“ Er griff nach der kleinen schwarzen Waffe und behielt sie in der Hand. „Man hat uns beobachtet. Man hat Sie zu uns geschickt, damit Sie von uns auf – friedlichem Wege etwas erreichen.“

Einen Moment lang nahm das hagere Gesicht Lady Gulbrars einen hilflosen Ausdruck an. Sie trug wieder den goldenen Klemmer auf der schmalen Nase, rückte ihn jetzt nervös zurecht und erklärte, die Worte immer schroffer hervorstoßend:

„Ich kenne Sie nicht. Ihre Andeutungen sind mir völlig unverständlich, mein Herr –“

„Sie kämpfen für eine verlorene Sache, Mylady,“ meinte Harst kühl. Seine Augen waren ruhelos, sahen alles, eilten hierhin, dorthin. „Sie kämpfen jetzt nur für Ihr eigenes Geheimnis. Das Interesse der Allgemeinheit ist Ihnen gleichgültig. – Sagen Sie: weshalb kehrten Sie hierher zurück?“

Lady Gulbrar hatte sich wieder völlig gefaßt. Ihre Mienen wurden hochmütig, verschlossen und drohend.

„Sie scheinen nicht zu wissen, daß Sie sich hier auf meinem Grund und Boden befinden, meine Herren. Die Palastruine und der Park sind mein Eigentum. Ich habe beide nur so lange der öffentlichen Benutzung freigegeben, als dies mir gefällt. Irrtümlicherweise berichteten die Zeitungen, der Park sei Staatsbesitz. Bitte – entfernen Sie sich! Ich mache von meinem Hausrecht Gebrauch. Ihre Unhöflichkeit, mir nicht einmal Ihre Namen zu nennen, überhebt mich der Pflicht. Sie beide –“

Harald hatte sie durch eine energische Handbewegung unterbrochen.

„Sie sollen Ihren Willen haben, Mylady. Wir sind Harst und Schraut! – Bitte – heucheln Sie kein Erstaunen. Es paßt so wenig zu Ihrem sonstigen Charakter, jetzt durch eine Sie entehrende Komödie –“

Die Szene wurde mir immer unbegreiflicher.

Lady Gulbrar rief heftig: „Diesen Ton verbitte ich mir, Mr. Harst! Sie haben sich unerlaubterweise hier eingeschlichen. Sie haben mich offenbar in Gesellschaft des Fakirs und seiner Tochter gesehen, denen ich gestattet habe, insgeheim hier zu wohnen. – Ich bitte Sie nochmals dringend, sich zu entfernen. Dort durch jene durch einen Vorhang verdeckte Tür werden Sie ins Freie gelangen –“

Sie neigte kaum merklich den Kopf und schritt auf dieselbe Tür zu. Der Vorhang glitt hinter ihr wieder in die alte Lage zurück.

 

4. Kapitel.

Der Fakir Rawura.

Harald setzte sich.

„Wir bleiben,“ meinte er. Und dann sehr laut und scharf: „Rawura, tritt nur aus dem Schranke hervor! Du hast gelauscht!“

Es waren drei große hohe Schränke in diesem Raume. Zwei standen uns gegenüber an der anderen Wand. Zwischen ihnen befand sich die verhängte Tür, die ich bisher nur für eine Wanddekoration gehalten hatte, da auf dem Vorhang ein paar alte Waffen befestigt waren. Der dritte Schrank befand sich linker Hand an der Längswand.

Auf diesen Schrank schlug Harald jetzt mit der Pistole an.

„Rawura, ich zähle bis –“

Er kam nicht weiter.

Die Schranktür flog auf. Der Fakir wurde sichtbar, trat heraus, drückte die Tür wieder zu, kreuzte die Arme über der Brust und sagte demütig:

„Sahib, Du wirst mich nicht verraten. Ich wohne hier heimlich. Mylady Gulbrar –“

Auch dieser Satz wurde nicht beendet.

Es ereignete sich etwas, das wieder einmal bewies, daß diese alten indischen Paläste weit sinnreichere geheime Vorrichtungen bargen als die deutschen Raubritterburgen.

Vor uns hob sich ein Teil des mit Marmorfliesen belegten Fußbodens blitzschnell wie eine mächtige Klappe hoch und bildete eine neue Wand, die unsere Ecke in eine enge Zelle verwandelte – in eine dreieckige, rechtwinklige Zelle – dunkel, eng – ein festes Gefängnis.

Diese neue Wand legte sich an einen Querbalken der Decke so fest an, daß auch nicht mehr ein einziger Lichtstrahl in die Zelle fiel.

Sofort hatte Harald jedoch seine Taschenlampe eingeschaltet und rief mir leise zu:

„Hier geht’s um mehr als die Freiheit! Hier geht’s ums Leben!“

Auch ich riß die Clement aus der Tasche.

Da erlosch der weiße Lichtkegel bereits.

Eine Hand packte mich, stieß mich zur Seite.

„Hinwerfen!“ keuchte Harst.

Wir lagen nebeneinander auf dem kleinen Bastteppich. Als ich mich hatte nach vorn fallen lassen, war irgend etwas über meinen Kopf hinweggestrichen wie ein heftiger kurzer Luftzug.

Und hinter mir an der Fensterwand hatte es einen hellen scharfen Ton gegeben, als schlüge man mit einem Eisenstück gegen die Mauer.

Abermals flüsterte Harald:

„Sie schießen mit Pfeilen, die Schufte! Krieche vorwärts – rasch!“

Da – schon wieder war’s dicht über mir wie ein Flügelschlag einer unsichtbaren Fledermaus.

Ein Pfeil – ein Pfeil mit einer Eisenspitze – vergiftet vielleicht!

Ich schob mich vorwärts. Ich hörte Harald neben mir atmen. Ich fühlte seine Hand.

„Halt – hier sind wir sicher!“ Es war nur ein Hauch, der mein Ohr erreichte. „Das Loch, durch das sie die Pfeile hereinsenden, liegt über uns! Hier geht es hart auf hart!“

Mir war’s dann, als ob Harald sich aufrichtete.

Ich hob den Kopf etwas.

Da war in der schwarzen Finsternis etwas wie ein handgroßer grauer Fleck.

Und in dem Fleck etwas, das sich bewegte – etwas wie ein Strich – ein Pfeil.

Dann erschien neben dem Strich der Umriß einer Hand, die eine Clement hielt.

Und jetzt dicht über mir ein Knall.

Draußen ein gellender Schrei.

Draußen wütende Rufe. Stille.

„Einer hat dran glauben müssen!“ sagte Harald nicht allzu leise. „Der Bogenschütze! Sie werden diese kindischen Versuche nun wohl einstellen! Ich werde sie schon einschüchtern!“

Ich sah, daß Harald die Hand in das Mauerloch schob.

Und – wieder knallte die Clement.

Harst hatte die Waffe durch das Loch gesteckt – feuerte bald hierhin, bald dorthin – alle acht Patronen, die noch im Rahmen waren.

Dann riß er draußen einen vor dem Loche hängenden Stoffetzen weg, rief hinaus:

„Rawura, Du wirst uns sofort freigeben – sofort!“

Keine Antwort.

Abermals drohte Harst.

„Rawura, ich warne Dich!“

Und jetzt eine Antwort – in schlechtem Englisch:

„Du wirst Rawura nicht mehr lebend wiedersehen, weder ihn noch Tapalo, seine Tochter!“

Höllischer Triumph, satanische Grausamkeit vibrierten in dieser Stimme.

Dann nichts mehr – nichts.

Minuten schleppten sich träge hin, wurden zur Viertelstunde – zur halben Stunde.

Jetzt von draußen ein leiser Schrei:

„Rawura!“

Das war Lady Elisabeth. Das war ein Schrei des Entsetzens.

Harst meldete sich, hielt den Mund dicht an das Mauerloch.

„Mylady, hier sind wir – hier! Wenn Sie nicht wollen, daß wir Sie für mitschuldig halten, lassen Sie den beweglichen Teil des Fußbodens wieder zurücksinken!“

Ich hatte mich aufgerichtet. Durch das Loch spähten wir beide nun hinaus, sahen einen Teil der gegenüberliegenden Zimmerwand, sahen Lady Gulbrar im Sehkreis des Loches erscheinen.

Sahen, daß sie leichenblaß war, daß sie zitterte.

„Mein Gott, was ist hier geschehen?!“ stammelte sie und stierte auf die Maueröffnung.

Von der Seite eine andere Stimme:

„Mylady – dort an der Wand links von der Tür hinter dem Schranke befindet sich der Hebel!“

Die Stimme war die des Fakirs. Sie klang wie erstorben.

Lady Gulbrar verschwand. Wir vernahmen heftiges Hin und Her von Fragen und Antworten.

Dann – dann senkte sich die Wand – erst langsam, immer schneller – paßte sich genau wieder in den Fußboden ein.

Nun hatten wir freien Ausblick über den ganzen Raum – nun war dieser Raum wieder nur ein einziges Gemach.

Dort stand Lady Gulbrar, band gerade der Tochter des Fakirs die Hände los.

Dort saß Rawura in einem der Korbsessel neben seinem Kinde – gefesselt.

Vor ihm auf dem Boden lag ein Knebel.

Auch Tapalo, die junge Inderin, hatte noch einen Knebel im Munde.

Und vor den Sesseln von Vater und Tochter eine große Blechkanne. Um diese herum Papier, trockenes Laub, trockene Zweige.

Es war eine gefüllte Benzinkanne von mindestens zwanzig Liter Inhalt. Eine Zündschnur lief auf den Fliesen des Bodens zu einer tellergroßen Fläche, die mit Schwarzpulver bestreut war. Die Zündschnur war tot – verkohlte nicht mehr. Lady Gulbrar hatte sie ausgetreten. –

Wir halfen Rawura und das Mädchen losbinden.

Dann erzählte Lady Elisabeth folgendes:

Sie war vor etwa zwanzig Minuten im Hotel Windsor, wo sie abgestiegen, ans Telephon gerufen worden. Jemand, der fraglos der Sprache nach ein Inder gewesen, hatte ihr durch den Fernsprecher mitgeteilt, daß sie in der Ruine des Palastes Schah Arganis etwas finden würde, das ihr wertvoll sei. Sie solle sich nur nach einer Stunde dorthin begeben.

Da hatte die Unruhe sie sofort aus dem Hotel getrieben. Ein Mietauto brachte sie in rascher Fahrt an den Haupteingang des Parkes. Sie eilte durch den ihr bekannten Gang in die Ruine und sah hier in diesem Raume nun sofort die glimmende Zündschnur, das Pulver, das Papier, die Benzinkanne, trat die Zündschnur aus, riß Rawura den Knebel aus dem Munde, hörte Harsts Stimme. –

Alles weitere wußten wir: Rawura hatte ihr erklärt, wo der Hebel zu suchen, und sie hatte den Fußboden wieder zurückgleiten lassen. –

Dann hatte auch der Fakir sich von der ausgestandenen Angst erholt.

„Sahib Harst,“ sagte er matt, „man wollte Tapalo und mich aus Rache verbrennen!“ Sein Blick irrte zu der Benzinkanne hin.

„Wer wollte das?“ fragte Harald, der noch immer in der Rechten die Clement hielt, in die er einen anderen Patronenrahmen geschoben hatte.

„Ich kenne die Leute nicht, Sahib. Ich will Dir alles genau berichten. Heute morgen kam ein Mann, ein Inder, zu mir, den ich noch nie gesehen hatte. Er sagte mir, Lady Gulbrar wurde mich gegen elf Uhr vormittags[2] besuchen. Er müsse mit der Lady reden. Er setzte sich dann dort in das Nebengemach. Die Lady kam und fragte sofort, ob ein Inder sie hier erwarte. Ich zeigte auf das Nebengemach. Sie ging hinein und –“

„Halt,“ meinte Lady Elisabeth da. „Ich muß hier einfügen, daß ich morgens im Hotel einen Brief erhalten, in dem ein Unbekannter mir schrieb, ich würde mein silbernes Handtäschchen mit dem gesamten Inhalt zurückbekommen, wenn ich dafür 250 000 Rupien zahlen würde. Ich sollte mich mit dem Gelde hier allein einfinden. Würde ich etwa die Polizei oder Mr. Harst benachrichtigen, so könnte ich sicher mit baldigem Tode rechnen. Ich traf dann dort im Nebengemach einen fremden Inder, der das Handtäschchen tatsächlich bei sich hatte. Da der Inhalt vollständig vorhanden, zahlte ich die Viertelmillion Rupien und sah noch, wie der Inder sich durch eine mir bis dahin nie aufgefallene Geheimtür in der Wand entfernte. Rawura und Tapalo begleiteten mich dann ins Freie. Rawura sah in der Staubschicht der Treppe, die in den früheren Raubtierzwinger führt, die Spuren Ihrer Schuhe, Mr. Harst. So wußte ich denn, daß nur Sie und Ihr Freund hier eingedrungen, mir also gefolgt sein konnten. Ich kehrte auf Rawuras Bitten um. Er beschwor mich, Sie beide zu veranlassen, sein Versteck hier zu verschweigen. Leider stellte ich dies etwas verkehrt an, Mr. Harst. Wir gerieten so etwas aneinander und schieden im Zorn. Ich verließ die Ruine und fuhr ins Hotel Windsor zurück.“

Rawura, der jetzt in demütigster Haltung vor uns stand, erklärte weiter:

„Ich hatte dort im Schranke gelauscht. Der Schrank ist nichts als eine Tür in einen anderen Raum. Tapalo war dicht neben mir. Da rief Sahib Harst mich an. Ich trat aus dem Schranke heraus. Und – dann hob sich plötzlich der Fußboden. Ich habe nie etwas von dieser Einrichtung geahnt. Ich war starr vor Schreck. Kaum war das Fußbodenstück oben gegen den Balken der Decke geklappt, als ein paar Leute, die dort hinter dem Vorhang hervorkamen, mich packten und niederrissen. Während einer dann mit einem Bogen eine Menge Pfeile –“

„Danke, Rawura. Es ist jetzt alles klar,“ unterbrach Harald ihn. „Völlig klar. – Der Bogenschütze ist tot?“

„Nein, Sahib. Die Kugel drang ihm in die Schulter.“

„Wieviel Inder waren hier?“

„Sieben – acht. Genau weiß ich es nicht, Sahib. Sie trugen alle große Bärte. Aber die Bärte waren falsch.“

„Dann sind es Mitglieder des Batta Mampu-Bundes gewesen –“

Rawura lächelte mit einem Male und schüttelte langsam den Kopf.

„Sahib, nur die Polizei glaubt an diesen Bund der Diebe. Die Polizei behauptet, es gebe einen solchen Bund. Sie behauptet es, weil sie keinen der Diebe fängt, die –“

„Ganz meine Ansicht!“ fiel Harald ihm ins Wort. „Ich wollte nur hören, wie Du über den Batta Mampu denkst.“

 

5. Kapitel.

Es war kein Wunder mehr.

Alles, was sich hier jetzt abspielte, begriff ich nur zum geringsten Teil. Ich hatte das Gefühl, daß Rawura log, daß die Lady log, daß sie unter einer Decke steckten! – Aber – weshalb all das?! Weshalb setzte sich eine Frau wie Elisabeth Gulbrar in ein so zweifelhaftes Licht?! –

Harst wandte ich nach kurzer Pause abermals an Rawura.

„Wie steht es nun mit dem Wunder von Patna?“

Er sah den Fakir dabei scharf an.

Merkwürdig: wie mit einem Schlage fiel alles Unterwürfige von Rawura ab. Seine Gestalt schien zu wachsen. Sein Auge ward stolz und abweisend.

„Sahib Harst,“ sagte er würdevoll, „Du bist ein berühmter Mann. Du kennst meine Heimat Indien. Ihr Europäer nennt Indien das Zauberland. Hältst Du mich für einen Taschenspieler, für einen Eurer Zauberkünstler?! Das Zauberland Indien, Sahib Harst, hat mehr Geheimnisse aufzuweisen, als all Eure großen Gelehrten sie enthüllen könnten. Du sollst das Wunder sehen – heute, wenn die Sonne gesunken ist! Du sollst neben mir stehen, abseits von den Scharen der Neugierigen, Du und Dein Freund! Finde Dich um halb acht abends vor der Ruine des Palastes in der Nähe des alten Raubtierhauses ein.“

„Gut, Rawura. – Und – wenn ich Dir dann nachher sagen werde, wie Du Deine Tochter Tapalo oben auf den Wasserstrahlen der wasserspeienden Tiger schweben läßt?!“

„Du wirst nichts sagen, Sahib, nichts!“

„Ich glaube so schwer an Wunder, Rawura. Ich kenne bisher nur ein einziges: das Schiwamatu!“ (Vergl. Band Nr. 86, Die Wundergeige des Virtuosen.)

„Du wirst glauben lernen, Sahib.“ –

Dann verließen wir mit Lady Gulbrar die Ruine, nachdem Harst noch festgestellt hatte, daß die Eisenspitzen der Pfeile wirklich vergiftet worden waren und er Rawura noch versprochen hatte, niemandem zu verraten, wo der Fakir und sein Kind hausten.

Wir schritten neben Lady Gulbrar durch den jetzt in die Glutwellen der Mittagssonne getauchten Park. Harald sagte nichts, als Lady Elisabeth erklärte, sie würde schon nachmittags drei Uhr nach ihrem Schlosse bei Biraniri abreisen. Wir verabschiedeten uns von ihr mit aller Höflichkeit. Ihr Mietauto wartete. Sie stieg ein und fuhr davon.

Wir gingen und suchten den Ponywagen auf.

Harst war schweigsam – stumm.

Dann ganz unvermittelt:

„Sind wir beide wirklich solche Ausnahmen, oder – sind die anderen Menschen tatsächlich so sehr begriffsstutzig? Wie konnten Rawura und die Lady nur annehmen, ich würde das Spiel nicht durchschauen?! – Mein lieber Alter: diese Frau muß eine entsetzliche Angst davor haben, daß das Geheimnis des Schlangenringes ihres Gatten an den Tag kommen könnte! Des Ringes wegen log sie – unterstützte fremdes Lügen! Aber – es half ihr nichts – gar nichts! Wir werden das Wunder von Patna enträtseln – und dann das Geheimnis des Schlangenringes! Und dazu noch mehr! Aber – darüber abends!“ –

Wir fuhren nach Bankipur ins Hotel Viktoria zurück, wo Harald mich dann zwei Stunden allein ließ. Ich lag gegen zwei Uhr nachmittags auf dem Diwan und las, als es klopfte und einer der eingeborenen Hotelkellner eintrat. Der Mann drückte die Tür zu, lächelte mich an.

„Kennen Sie mich, Mr. Schraut?“

Ich sprang auf die Füße. Der Argwohn lenkte meine Hand rasch in die Tasche.

„Lassen Sie die Pistole nur stecken, Mr. Schraut. Ich bin Edward Breßfort!“

Breßfort! Freund Breßfort, Polizeigewaltiger von Patna! Perle aller Detektivinspektoren!

Ich streckte ihm beide Hände bin. „Tag, lieber Breßfort! Wie kommen Sie denn hierher?“

„Harst hat mich herbestellt – auf sehr geheimnisvolle Art.“

Da trat Harald auch schon ein.

„Aha – Breßfort! Willkommen! – Setzen Sie sich. Bin zufrieden mit Ihnen. Zigarette gefällig? – So, nun an die Arbeit! – Also, lieber Breßfort, erzählen Sie mal, wie Sie die Razzien gegen die Taschendiebe angestellt hatten, die dort beim Wunderspringbrunnen „arbeiteten“?“

„Da ist nicht viel zu erzählen. Ich habe durch eingeborene Geheimpolizisten, die als harmlose Neugierige verkleidet waren, an vier Abenden die kleine Lichtung, auf der das Wunder sich abspielt, umzingeln lassen und nach „Schluß der Vorstellung“ das gesamte Publikum auf Herz und Nieren geprüft. Jeder, ob Europäer, ob Farbiger, mußte einzeln an mir vorüber. Jeder wurde durchsucht. Aber obwohl an den vier Abenden wieder eine ganze Anzahl Taschendiebstähle vorgekommen waren, wurde auch nicht ein einziges Stück der Beute bei einem der dergestalt scharf „Durchgesiebten“ entdeckt.“

„Hm – hatten Sie denn den Springbrunnen mit einkreisen lassen?“

„Und ob – und ob! Keine Maus wäre entschlüpft.“

„So – so! Dann gebe ich Ihnen für heute abend folgenden Rat: mögen Ihre Leute abermals diese Umzingelung vornehmen, aber dabei genau achtgeben, ob nicht jemand vielleicht – etwas in den Springbrunnen wirft! Die Diebesbeute dürfte nämlich dort sehr sicher untergebracht gewesen sein. – Und dann, Breßfort: Sie selbst und vielleicht noch zwei Ihrer Kollegen verkleiden sich als Touristen, passen genau auf, wo Schraut und ich mit Rawura in den Büschen stehen und schleichen sich sehr vorsichtig hinter uns. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. – Nun verschwinden Sie wieder, lieber Freund, sonst fällt es den Spionen hier im Hotel auf, daß ein Kellner so sehr lange bei uns weilt. Spione sind hier nämlich vorhanden – fünf Leute, die die reichen Kaufleute aus Kalkutta spielen – alles Batta Mampu-Brüder!“

Breßfort verabschiedete sich. „Diese Batta Mampu-Bande müßte hängen!“ sagte er ingrimmig. „Aber – glaubt man mal den Richtigen erwischt zu haben – stets ist es ein ganz harmloser Mensch!“

„Scheinbar harmlos, lieber Freund! Das größte Geheimnis des Bundes dürfte darin bestehen, daß die Mitglieder – ehrbare Angehörige geachteter Berufsklassen sind!“ –

Der Abend nahte. Wir fanden uns rechtzeitig vor der Palastruine ein. Rawura hatte uns schon erwartet. Er trug genau dasselbe reiche Kostüm wie vormittags.

„Folgt mir,“ sagte er nur.

Sehr bald standen wir nun dem Wunderbrunnen auf fünfzehn Schritt, durch Büsche gedeckt, gegenüber.

Wir hatten unsere Ferngläser mitgebracht. Noch spritzten die fünf Steintiger auf dem Brunnenrand ihre Wasserstrahlen nicht in die Höhe; noch war der Brunnen nichts als ein halb mit Wasser gefülltes altertümliches Bassin von großem Umfang.

Rawura hatte sich hinter uns an einen Baum gelehnt. Die Sonne war längst versunken. In der Lichtung vor dem Brunnen sammelten sich immer mehr Neugierige an. Ich schätzte die Menge auf vielleicht dreihundert Personen. Und ständig vermehrte sie sich noch. Es wurde rasch dämmerig.

Dann sprangen plötzlich die fünf dicken Wasserstrahlen aus den Tigermäulern hoch, vereinigten sich oben zu einer sprudelnden, abwärtsstürzenden Flut und bildeten eine schillernde Glocke aus feinstem Tropfenregen, der so dünn an der Außenseite war, daß man ohne Mühe hindurchblicken konnte. Mit Hilfe des Glases überzeugte ich mich jetzt und auch nachher, daß keinerlei fester Gegenstand sich in der Wasserglocke befand – keine Stangen, keine Stäbe, auf denen Tapalo hätte sitzen können.

Und – nun erschien auch schon die Inderin, in ein dünnes Gewand gehüllt.

Sie hatte eine ganz leichte Bambusleiter mit, lehnte die Leiter jetzt an den Ast, der über der Wasserstrahlenkrone hinlief, und – war im Nu oben – saß im Nu mit untergeschlagenen Beinen auf der Höhe der Wasserstrahlen, umsprudelt von den Wasserspritzern.

All das war so eigenartig, so verblüffend, daß ich gar nicht auf Harald achtete.

Ich fuhr erst erschrocken zusammen, als dreierlei fast gleichzeitig geschah:

Harst schoß mit der Clement – rasch hintereinander drei – vier Mal.

Schon nach dem zweiten Schuß stürzte drüben die Inderin in das Bassin hinab.

Und hinter uns brüllte Edward Breßfort:

„Wir halten ihn! Er hatte schon den Dolch gezogen, wollte zustoßen!“

Rawura suchte sich vergebens freizumachen. Er schäumte vor Wut. Er sah, daß Harst auf den Springbrunnen zulief. Er wollte hinterdrein. Ein paar von Breßforts Beamten hielten die Inderin fest, die schnell aus dem Bassin herausgestiegen war. Dann sanken die fünf Strahlen in sich zusammen. Dann holte Harald aus dem Bassin – drei Stücke von durchsichtigen Glasröhren heraus, die etwa armdick waren. –

Die Zuschauer waren eng eingekreist. Niemand durfte sich entfernen.

Der ganze Schwindel kam jetzt an den Tag. Unter dem Brunnenbassin befand sich eine gemauerte Kammer, die durch einen unterirdischen Gang mit der Palastruine in Verbindung stand. Der Boden des Bassins aber hatte drei Öffnungen, durch die ein Gehilfe Rawuras drei Glasröhren, die in dem Sprühregen nicht zu sehen waren, so weit emporschob, daß Tapalo auf den Enden dieser Röhren jene zwanglose sitzende Stellung einnehmen konnte. – Die Sache war also höchst einfach: der Trick beruhte auf der Durchsichtigkeit der Glasröhren – nur darauf! – Harst hatte zwei der Röhren zerschossen, und da war die junge Inderin hinab ins Wasser gefallen, weil sie sich auf der Spitze der dritten allein nicht im Gleichgewicht halten konnte.

Das Wunder von Patna war kein Wunder mehr.

Aber noch anderes kam nun zum Vorschein: in dem Bassin lagen auch drei goldene Uhren, zwei Brieftaschen und zwei Geldbörsen, die den Besitzern heute hier gestohlen worden waren. –

Hiermit schließe ich den ersten Teil des Wunders von Patna. Der zweite Teil bringt die Lösung all der anderen noch offen gebliebenen Fragen.

 

 

Der Schlangenring.

 

1. Kapitel.

Harsts drei Fragen.

Die Zuschauer, umringt von Breßforts Leuten, mußten sich gedulden. Große Karbidlaternen wurden der zunehmenden Dunkelheit wegen herbeigebracht. Dann mußten Männlein und Weiblein einzeln an Harst, mir und Breßfort vorüber.

Schon den dritten Inder hielt Harald an.

„Tritt beiseite!“ befahl er kurz.

So suchte er im ganzen dreizehn Inder heraus.

Wie er sie heraussuchte, weshalb ihm gerade diese dreizehn verdächtig erschienen, sagte er nicht.

Sie sowohl als auch Rawura, dessen Tochter und der in der Kammer unter dem Springbrunnen vorgefundene Inder mußten jetzt in einem Lastauto den Weg zum Polizeigebäude antreten, abermals umringt von Beamten.

In Breßforts großem Dienstzimmer spielte sich nun sofort eine sehr bewegte Szene ab. Harst trat nämlich auf einen der Inder zu, die übrigens sämtlich gut gekleidet waren, und zog ihn mehr nach vorn unter das Licht der elektrischen Deckenlampen.

„Breßfort, sehen Sie sich diesen Inder mal genauer an,“ meinte er.

Der Detektivinspektor Edward Breßfort war einer der fähigsten Beamten, die wir kannten. Er stellte sich dicht vor den Inder hin.

„Der Bart ist falsch,“ sagte er. „Der Mann ist ein Europäer.“

„Ja – wahrscheinlich der gesuchte John Barring!“

Es war so. Als man dem Inder Bart, Perücke und Jacke, Weste und Hemd abgenommen hatte, zeigte es sich, daß wir tatsächlich John Barring erwischt hatten.

Barring, der den eigenen Freund aufs schmählichste betrogen hatte (vergl. Band 93, Die tote Karawane), der uns auf heimtückische Art zu ermorden versucht hatte, der dann aus dem Polizeigebäude in Agra mit seinem Chauffeur entflohen war, – dieser John Barring brach jetzt völlig zusammen.

Noch nie hatte ich es erlebt, daß einen Verbrecher, der sich plötzlich entlarvt und gefangen sah, die Angst vor der Strafe und vor der gesellschaftlichen Ächtung mit solcher Gewalt packte wie diesen Mann, der in der Europäerkolonie in Agra eine gewisse Rolle gespielt hatte.

Ohne Zweifel hätte er in dieser Stimmung, die nahe an Reue grenzte, ein offenes Geständnis abgelegt, wenn nicht Rawura, der Fakir, ihm ein einziges Wort zugerufen hätte, das ich nicht verstand, das aber auf Barring eine Wirkung ausübte, als ob man ihm etwa sein Todesurteil verkündete.

Er fuhr zusammen, ließ die Hände vom Gesicht sinken und zeigte uns ein leichenfahles, verzerrtes Antlitz, aus dem geradezu grauenvolles Entsetzen sprach.

Sofort ließ Inspektor Breßfort John Barring in das Nebenzimmer führen. Es war jedoch bereits zu spät. Barring schwieg hier all unseren Fragen und unserem eindringlichen Zureden gegenüber mit einer Hartnäckigkeit, die fraglos durch – Angst hervorgerufen war – durch Angst vor dem Fakir.

„Nun – dann auf andere Weise!“ meinte Harald schließlich. „Gehen wir wieder hinüber! Ich werde Rawura nun vollends entlarven.“

Die dreizehn Inder, der Fakir und dessen Tochter waren unter der Bewachung von mehreren Polizeibeamten in dem großen Dienstzimmer zurückgeblieben.

Wir traten wieder ein. Wir beide hatten Barring in die Mitte genommen.

Harst schob ihm dann einen Stuhl hin. „Setzen Sie sich,“ sagte er kurz. „Rawura,“ wandte er sich an den Inder, „tritt vor! Ich werde drei Fragen an Dich richten –“

In demselben Moment wurde die Tür nach dem Flur aufgerissen und Mr. Horace Taffarell, der Polizeichef von Patna, erschien in höchsteigener Person.

Breßfort erstattete ihm nun zunächst Meldung von den Geschehnissen, die den quecksilbrigen Mr. Taffarell eilends herbeigelockt hatten.

Dann begrüßte dieser auch Harst und mich in zuvorkommendster Weise.

„Ich habe Sie durch meinen Eintritt gestört, Mr. Harst,“ meinte er. „Bitte – tun Sie, was Ihnen beliebt. Vor einer Autorität, wie Sie es sind, beugen wir uns in Demut.“

Das war nicht etwa versteckte Ironie. Nein, das war eine scherzhafte Anerkennung des geistigen Übergewichts meines geistvollen Freundes.

Harald verbeugte sich denn auch leicht und erwiderte:

„Ich danke Ihnen, Mr. Taffarell. – Ich habe diese vierzehn Inder scheinbar willkürlich herausgesucht. Es sind sämtlich, wie bereits feststeht, Fremde, Leute aus anderen Städten und hier unbekannt. Ich behaupte, daß sie sämtlich dem Batta Mampu-Bunde angehören.“

Der kleine hagere Polizeichef von Patna, der trotz seiner wenig imponierenden Figur doch in den grauen Augen einen Ausdruck hatte, als ob er über sehr viel zielbewußte Energie verfügte, blickte Harst überrascht an.

„Wirklich, Sie glauben, diese Leute –“ Dann eine kurze Handbewegung. „Ich vergesse ganz, daß ein Harald Harst diese Behauptung aufstellt –“

Harald schaute jetzt den Fakir scharf an.

„Drei Fragen wollte ich an Dich richten,“ sagte er langsam. „Du hast bisher geschwiegen –“

„Das tue ich weiter!“ In diesen Worten Rawuras lag eine ungeheure Anmaßung, eine bodenlose Frechheit, eine Herausforderung geradezu.

„Du wirst nicht schweigen!“ meinte Harald kalt. „Also die erste Frage: wie kommt es, daß die dreizehn da, ferner John Barring, Deine Tochter und Du selbst, – also daß Ihr alle im Haar des Hinterkopfes eine weiße Strähne habt, einen weißen Fleck, den auch die Göttin der Diebe, Pravana, die Schlaue, am Hinterkopf als besonderes Kennzeichen trägt, da dieser weiße Haarbüschel bei Euch künstlich gebleicht, das Symbol erprobter Schlauheit ist?“

Rawuras Augenlider sanken rasch herab. Aber nicht schnell genug. Der Blick, der Harst getroffen, war bestürzt, ängstlich, scheu.

Der Fakir hob die Lider und lächelte jetzt – ein genau so freches Lächeln wie es soeben seine Worte gewesen.

Und – er schwieg.

Da sagte Harald: „Du hast schon geantwortet, Rawura. Das Auge des Menschen ist der Spiegel der Gedanken. Deine Gedanken waren aufgescheucht vor Schreck, als Du sie zu verbergen suchtest. – Meine zweite Frage: Hast Du dies geschrieben?“

Er hatte schnell ein Blatt Papier hervorgeholt. Es war das Titelblatt eines Buches. Auf dem Blatt stand links oben in lateinischer Schrift:

Doktor Ahmed Aruwar dem weißen Freunde.

Der Titel des Buches lautete:

Geschichte des großen indischen Aufstandes
von Doktor Ahmed Aruwar, zur Zeit Bibliothekar des
ehrwürdigen Lord Cecil Gulbrar.

„Diese Titelseite,“ fügte Harald hinzu, „riß ich aus einem Buche heraus, das in der Ruine Schah Arganis unter den Zeitungen auf dem Tischchen lag, an dem Schraut und ich Platz genommen hatten. Die Räume dort bewohntest Du, Rawura, der Du hier den Fakir spieltest. Doktor Aruwar und Rawura sind, worauf schon die Umkehrung der Namen hinweist, ein und dieselbe Person. Der weiße Freund der Buchwidmung dürfte Barring sein. – Ich wiederhole die zweite Frage: hast Du diese Widmung geschrieben?“

Des Fakirs Gesicht ward zur Fratze ohnmächtiger Wut. Selten nur verliert ein Inder die Gewalt über sich und seine Gesichtsmuskeln. Das Asiatenblut wallt heiß, aber es wallt heimlich.

Und – wieder schwieg Rawura.

Wieder sagte Harst: „Du hast schon geantwortet – durch Dein Antlitz! Du bist Doktor Aruwar.“

Abermals griff er in die Tasche und – zog das Blatt Papier hervor, das an einem Zweig des Baumverhaus befestigt gewesen und das vorn die Drohung „Bleibe fern! Batta Mampu“ und auf der Rückseite die Zeichnung des Schlangenringes enthielt.

„Hier diese Schrift mit lila Tintenstift, Doktor Aruwar, gleicht der des Titelblattes so sehr, daß man getrost behaupten kann: es ist dieselbe Schrift! Und – der Schreiber bist Du!“

Aruwar lief langsam ein Blutstropfen von der Unterlippe das Kinn hinab in den dunklen Bart, – so fest hatte der frühere Bibliothekar des Gatten Lady Elisabeth Gulbrars die Zähne in die Lippe gepreßt.

„Die dritte Frage –“ fuhr Harst fort. „Weshalb hast Du, Doktor Aruwar, am Hinterkopfe zwei gebleichte Strähnen? Alle anderen Verhafteten haben nur eine, Du allein zwei! – Als ich heute nachmittag mich etwas genauer nach dem Batta Mampu erkundigte, erzählte man mir, dieser berüchtigte nie zu fassende Bund der Diebe soll ein geheimnisvolles Oberhaupt haben.“

Jetzt lachte Aruwar höhnisch auf. Er ließ insofern die Maske fallen, als er sich nun als studierter Eingeborener, als gebildeter Mann, nicht mehr der unterwürfigen Anrede „Sahib“ bediente, sondern Harst als Gleichgestellten behandelte.

„Mr. Harst,“ meinte er achselzuckend, „der Batta Mampu existiert nur in der Phantasie überhitzter, erfolgloser Polizeiköpfe. Das betonte ich Ihnen gegenüber schon einmal. Ich hätte wirklich mehr von Ihrer Intelligenz erwartet – weit mehr!“

„Eine Unverschämtheit!“ rief Horace Taffarell.

Harst blieb ruhig. „Immerhin hat Doktor Aruwar geantwortet, Mr. Taffarell. Ich finde diese Antwort genügend. Wer etwas in solcher Weise ableugnet, wie Aruwar es hinsichtlich des Bundes der Diebe tat, gibt das Abgeleugnete in Wahrheit zu. – Ich bin mit Aruwar und dem Batta Mampu fertig, Mr. Taffarell. Aruwar ist das Oberhaupt des Bundes, und diese dreizehn Inder, Barring und das Mädchen sind Mitglieder der Geheimorganisation. Ich will jetzt auch noch das Wort klar aussprechen, das vorhin aus Aruwars Munde John Barring so sehr einschüchterte. Es war – der Name der Göttin der Diebe, Pravana, aber – in anderer Mundart, so, wie er in Südindien ausgesprochen wird:

Prastvina.

– es war eine an Barring gerichtete Drohung, nichts zu verraten, sonst würde der Bund ihn strafen. – Ich rate Ihnen, Mr. Taffarell, sofort an alle größeren Städte Indiens zu depeschieren und alle Leute verhaften zu lassen, die am Hinterkopf weiße Haarsträhnen haben.“

 

2. Kapitel.

Die vier Scheinwerfer.

Der Polizeichef ließ die Inder ins Polizeigefängnis bringen, nachdem er sowohl Doktor Aruwar als auch jeden der anderen einzeln befragt hatte, ob sie durch ein Geständnis sich eine mildere Bestrafung sichern wollten. Sie blieben stumm. Aruwar allein hatte die Kühnheit, Harst einen Blick zuzuwerfen, der in seiner verächtlichen Kälte dennoch einen glühenden Haß verriet.

Dann waren wir vier – der Polizeichef, Breßfort und wir beide – mit John Barring allein.

Barring saß zusammengesunken da, die Arme auf die Schenkel gestützt, den Oberkörper vorgebeugt. Von der leuchtend weißen Stirn tropfte langsam der Schweiß in dicken Perlen.

Dieser Mann bot ein fast unheimliches Bild in seiner verzweifelten Mutlosigkeit dar.

Harst trat auf ihn zu. „Barring, nun reden Sie!“ sagte er mitleidig.

Dieser Mensch, der uns vor wenigen Tagen in Agra hatte beseitigen wollen, verdiente kein Mitleid. Und – es war ein jammervoller Anblick, wie er so gleich einem bereits zum Tode Verurteilten stumpfsinnig vor sich hin stierte.

Wie ein Automat hob er jetzt den Kopf, setzte sich aufrecht, sah Harst mit leeren Augen an und erklärte tonlos:

„Ja – ich werde reden. Ich bin ja doch verloren. Sie mögen mich hinbringen, wo Sie wollen, Mr. Harst: der Batta Mampu erreicht mich doch!“

Diese Behauptung wirkte gerade durch ihre schlichte Art überaus erschütternd.

Taffarell glaubte es sich schuldig zu sein, mit einem Auflachen zu erwidern:

„Barring, das ist doch Unsinn! Im Polizeigefängnis sind Sie sicherer als anderswo!“

„Glauben Sie?! Da kennen Sie den Bund schlecht. Ich werde morgen früh nicht mehr leben.“

Harald mischte sich ein. „Das bleibt abzuwarten. Wenn ich Ihnen sage, daß Ihnen nichts geschehen wird, können Sie mit aller Ruhe allem weiteren entgegensehen. – Wie kam es, daß Sie Mitglied des Bundes wurden?“

„Doktor Aruwar und ich waren seit Jahren befreundet. Ich ahnte nicht, daß er das Oberhaupt des Batta Mampu war. Bis er mir dann vor einem halben Jahr, als ich in großer Geldverlegenheit ihn um ein Darlehn bat, sich mir anvertraute und mich in den Bund aufnahm. Er wußte, daß ich ihn nicht verraten würde. Er war ja über alles unterrichtet, was meine – meine Treulosigkeit an meinem Freunde betraf. Er hatte mich völlig in der Hand.“

„Kennen Sie die Organisation des Batta Mampu genauer?“

„Nein. Erst nach dreijähriger Mitgliedschaft kommt man in den sogenannten Ring der Zweifleckigen, das sind eben die wirklich Eingeweihten. Ich kann nur eins aussagen: daß der Bund an dreitausend Mitglieder zählt.“

„Aruwar hat hier den Fakir nur deshalb gespielt, damit die Fremden, die das Wunder von Patna anstaunten, ausgeplündert werden könnten –“

„Ja, so ist es.“

„Wissen Sie etwas über Lady Gulbrars Beziehungen zu Doktor Aruwar?“

„Wenig, Mr. Harst. Aruwar ist der Lady fremd. Als er Bibliothekar bei Lord Gulbrar war, hatte dieser seine spätere Gattin noch nicht kennengelernt.“

„Der Lady gehört der Park und die Palastruine tatsächlich, wie Breßfort schon bestätigt hat. Seltsam ist es, daß die Lady mir dies bis zuletzt verschwiegen hat. Ahnen Sie, weshalb?“

„Nein, Mr. Harst. Ich kann nur folgendes über die Lady und das Silbertäschchen angeben: Aruwar hat die Lady zu heute vormittag in die Ruine bestellt gehabt. Sie hat für die Rückgabe des Täschchens einen ungeheuren Preis bezahlt. Aruwar kann auf sie jeden beliebigen Druck ausüben. Er weiß irgend etwas aus der Vergangenheit ihres Gatten – etwas, das mit dem Schlangenring zusammenhängt. Er sagte zu mir, er könnte die Lady vernichten, wenn er wollte. – Das ist alles, was ich hier zu Protokoll geben und nötigenfalls beschwören kann – wirklich alles! Ich lüge nicht. Ich halte mit nichts zurück. Ich – werde sterben. Das weiß ich!“

Trostloseste Mutlosigkeit ließ sein Gesicht wie verfallen erscheinen.

„So hat also Aruwar die Lady auch gezwungen, wieder umzukehren und das Gemach zu betreten, wo wir uns befanden?“

„Ja –“

„Und was sollte Lady Gulbrar von uns erreichen?“

„Sie sollten Patna verlassen –“

„Oh – das hat sie dann aber sehr ungeschickt angestellt!“ –

Harald winkte uns dreien. Wir traten in eine Ecke und hörten nun seine uns völlig überraschenden Vorschläge an.

Taffarell war sofort einverstanden.

Harst ging zu John Barring.

„Wir werden Sie jetzt in einen uniformierten Polizeibeamten verwandeln,“ erklärte er leise. „Dann nimmt Mr. Breßfort Sie mit in seine Wohnung. Ich aber werde Ihre Rolle hier spielen.“

Barring begriff nicht sofort. Dann rief er: „Nein – nein, das darf nicht sein! Man wird Sie töten Mr. Harst!“

„Diese Gefahr abzuwenden, überlassen Sie nur mir, Barring. – Breßfort, bitte besorgen Sie alles Nötige.“ –

Eine Viertelstunde drauf fuhr Breßfort in seinem Dienstauto heim. Vorn neben dem Chauffeur saß ein eingeborener Polizist: John Barring.

Harst wieder wurde von zwei Beamten, nachdem er sich Barrings Inderkostüm angezogen und sich Gesicht, Hals, Nacken und Hände braun gefärbt hatte, in eine Zelle des Polizeigefängnisses geführt.

In diesen Personenaustausch war nur noch ein Polizeidetektiv namens Wilbry eingeweiht worden, ein junger Engländer, der aus reiner Neigung diesen Beruf erwählt hatte. Auch er war von Harald für die bevorstehenden Ereignisse derart maskiert worden, daß er für einen flüchtigen Beobachter ganz jenem Herrn glich, der mit mir im Hotel Viktoria in Bankipur als Holländer van Haarken abgestiegen war.

Mit diesem Pseudo-Haarken bestieg ich dann ein Mietauto, das uns in rascher Fahrt die Prachtstraße entlang nach dem Hotel Viktoria brachte.

Wilbry, der hier nun Harst-Haarken spielte, benahm sich tadellos. Er besaß Talent zum Detektiv. Wir blieben bis Mitternacht auf unseren Zimmern. Wir hatten uns inzwischen in Inder der ärmsten Volksschichten verwandelt, verließen das Hotel durch einen Seitenausgang und fanden Taffarells Auto dicht vor Bankipur an der vereinbarten Stelle. – Taffarell lenkte den Wagen selbst, als Chauffeur verkleidet. In raschestem Tempo sausten wir die wenig belebte Straße dahin. Wir waren jetzt unserer Sache sicher: es war niemand hinter uns! Niemand von den übrigen Mitgliedern des Batta Mampu, die Harald hier in Patna noch vermutete.

In einer Seitenstraße des großen Gebäudevierecks, dessen Vorderfront der Polizeipalast bildete, stiegen wir aus. Er steuerte das Auto dann weiter in eine entferntere Straße.

Nun begann unser Dienst. Wir schlenderten wie harmlose Eingeborene um das Häuserviereck herum. Wir hatten die Augen überall.

Das Polizeigefängnis nahm den linken Seiten- und den Hinterflügel ein. Es war von einer sehr hohen glatten Mauer umgeben, die oben durch nach außen gewölbte spitze Gitter verlängert war.

Sollte wirklich ein Versuch unternommen werden, Harst (den angeblichen Barring also) in seiner Zelle zu ermorden, so mußten die Abgesandten des Batta Mampu zunächst diese Mauer überklettern.

Wir hatten die Mauer bereits fast völlig umrundet, als uns ein anderer Inder entgegenkam. Er ging an uns vorbei und flüsterte:

„Alles in Ordnung!“

Es war Freund Breßfort.

Wir blieben dann in einer Tornische stehen.

Die Nacht war heiß und gewitterschwül.

Am Himmel war nicht ein einziger Stern zu sehen. Das Firmament erschien schwarz wie eine schwarze Tuchglocke.

Das Licht der wenigen Straßenlaternen hier in den engen Gassen, die zumeist Warenspeicher enthielten, deren hohe Giebel sich der Gefängnismauer gegenüber gleichmäßig wie nach einer Schablone gebaut in die Finsternis emporreckten, – dieses Licht kämpfte mit wenig Erfolg gegen die Dunkelheit an.

„Eine scheußliche Nacht!“ flüsterte Wilbry neben mir. „Die elektrische Sättigung der Luft fährt einem in die Nerven! Ich bin doch sonst recht hundeschnäuzig. Heute ist’s mir, als müßte jeden Moment etwas passieren.“

Wilbry sprach nur das aus, was ich selbst empfand.

„Beginnen wir die Runde von neuem,“ meinte ich nur.

Wir traten aus der Tornische heraus.

Da kam von links ein Auto mit zwei grellen Scheinwerfern herbei. Es fuhr langsam. Es hüllte uns in blendende Lichtfluten.

Dann hielt es – kaum fünf Sekunden.

Fuhr schneller – fuhr an uns vorüber.

Wir unterschieden drei Gestalten darin.

Schon war es vorbei – bog um die Ecke.

„Verdammt – man sieht nichts!“ schimpfte Wilbry. „Diese Scheinwerfer –“

Ich hatte ihm die Hand um den Arm gelegt, hatte fest zupackt.

„Was haben Sie, Mr. Schraut?“ fragte der Detektiv hastig.

„Mir schien es so, als ob sich dort auf der Mauer etwas bewegte,“ stieß ich hervor. „Rasch – laufen wir!“

Wir liefen. Unsere geblendeten Augen unterschieden wieder alle Einzelheiten ringsum, so weit die schwache Beleuchtung dies zuließ.

Aber – die Mauer war leer! Ich mußte mich geirrt haben. In der Straße war ja auch, bevor das Auto nahte, kein Mensch zu sehen gewesen.

Und doch: sollte ich mich so sehr getäuscht haben?! Ich hatte da oben über dem Eisengitter der Mauerkrone eine Gestalt zu bemerken geglaubt. Sollten mir meine durch das grelle Scheinwerferlicht überreizten Sehnerven diese Gestalt nur vorgegaukelt haben?!

Ich blieb an der Stelle stehen, wo ich das Verdächtige wahrgenommen hatte.

„Hier sah ich’s,“ flüsterte ich Wilbry zu.

„Also einen Menschen?“

„Ja – vielleicht –“

„Das ist ausgeschlossen, Mr. Schraut. Wo soll der Mensch hergekommen sein?!“

„Aus dem Auto,“ erwiderte ich sinnend.

„Aber – aber, diese Mauer läßt sich doch nicht in Sekunden erklettern!“

„Mit einer Leiter ja! Die Leiter kann im Auto gelegen haben –“

„Dann muß sie ganz kurz gewesen sein. Im Auto war keine Leiter. Und eine kurze hätte hier nichts genützt.“

Von der anderen Seite nahte Breßfort in seiner indischen Kulimaske. Er machte bei uns halt.

„Etwas Neues?“

Ich teilte ihm meine Beobachtung mit.

„Hm – das Auto hatte auch hinten zwei Scheinwerfer, die dann freilich sehr bald erloschen,“ meinte er nachdenklich.

„Wann erloschen sie?“ fragte ich schnell.

„Nachdem der Kraftwagen kurze Zeit gehalten hatte.“

Diese Antwort sagte mir alles.

Ich war jahrelang Haralds Begleiter, Haralds Schüler gewesen. Ich hatte manches von ihm gelernt – von seiner Kunst, das Hirn zu gebrauchen.

„Dann haben die Leute im Auto mit den vier Scheinwerfern nur beabsichtigt, jeden zu blenden, der vor oder hinter ihnen war,“ erklärte ich schnell. „Dann haben sie, als sie hielten, einen von ihnen über die Mauer geschickt. Wenn dieser Mann zum Beispiel sich einer jener leichten ausziehbaren Bambusleitern bedient hat, wie sie hier so viel in Gebrauch sind, kann ein geschickter Mensch sehr leicht in ein paar Sekunden vom Auto aus mit Hilfe der Leiter auch über die vorgeneigten Eisenspitzen hinüber und kann drüben in den Gefängnishof hinabgesprungen oder an einer Leine hinabgeklettert sein.“

Dies leuchtete Breßfort und Wilbry ein.

Breßfort nickte. „Lieber Schraut, Sie werden wohl recht haben! Mag Wilbry hierbleiben. Wir beide eilen ins Gefängnis.“

Wir schritten rasch dahin. Wir betraten das Hauptgebäude. Der Nachtpförtner schloß uns die Tür zum Gefängnisflügel auf. Wir läuteten hier den wachthabenden Aufseher des Aufnahmebüros heraus. Der Beamte ließ uns ein, gab uns die Schlüssel mit.

Haralds Zelle lag im Hinterflügel, hatte die Nr. 61. In Nr. 65 saß Doktor Aruwar.

Der Schließer des Hinterflügels begleitete uns. Leise schlichen wir den Flur im Erdgeschoß entlang, die Treppe empor. Hier im ersten Stock standen wir drei nun vor Haralds Zelle.

Ich hob den Schieber des Guckloches. Oben an der Decke der Zelle brannte eine matte elektrische Birne. Ich mußte meine Augen anstrengen. Dann – dann sah ich, daß Harald vor dem eisernen Bett auf den Steinfliesen lag.

„Aufschließen – aufschließen!“ keuchte ich vor jäher Angst.

Da war ja ohne Zweifel etwas geschehen.

Da mußte bereits eine Teufelei ausgeführt worden sein! –

Die Zellentür ging auf.

Ich stürmte hinein.

Taumelte zurück.

Erstickender beißender Geruch drang mir in die Nase.

Ich hielt den Atem an, sprang vor, hob Harst auf, schleppte ihn in den Flur.

Er regte sich nicht. Er war wie tot.

Der Gefängnisarzt wurde geholt. Ein Beamter jagte mit einem Rade zum Krankenhaus nach einem Sauerstoffapparat. –

Bis früh gegen fünf Uhr kämpften wir mit dem Tode, der Harst schon halb in den Klauen hatte.

Dann war die Gefahr beseitigt.

Im Büro des Gefängnisses lag Harst auf einem Diwan. Wir standen um ihn herum. Auch Taffarell hatte sich eingefunden. Drei Ärzte waren anwesend. Wir hatten inzwischen in der Zelle auch die Gaspatrone gefunden, die Harald beinahe ins Jenseits befördert hatte. Es war – eine sogenannte „Pestpatrone“ zum Ausschwefeln der Häuser bei einer Pestepidemie. Das giftige Gas, das der Bleihülse nach Entfernung des Verschlusses entströmte, hätte genügt, ein paar Dutzend Menschen zu töten. Wären wir auch nur einige Minuten später in die Zelle eingedrungen, dann wäre Harald nicht mehr zu retten gewesen.

 

3. Kapitel.

Die Jagd auf das Oberhaupt.

Harsts robuster Körper hatte die Wirkungen des Gases jetzt so weit überwunden, daß seine Lippen bereits einzelne Silben lispeln konnten.

Ich hatte Harald auf seinen fragenden und doch noch so matten Blick hin alles mitgeteilt.

Jetzt lag er wieder mit geschlossenen Augen da.

Nun hob er die Lider.

Nun traf mich ein neuer Blick.

Ich beugte mich über ihn.

„Aruwars – Zelle –“ quälte er mühsam hervor.

Wir hatten bisher uns um Doktor Ahmed Aruwar nicht gekümmert. Wir hatten in seine Zelle durch das Guckloch nur flüchtig hineingeschaut und ihn auf dem Bett schlafend bemerkt.

Breßfort und ich eilten jetzt wieder in den Hinterflügel.

Breßfort schloß die Zelle Nr. 65 auf, nachdem er die zweite Deckenbirne von draußen eingeschaltet hatte.

Und – nun kam die Überraschung:

Auf dem Bett lag unter der Decke – eine zusammengerollte Bastmatte, die den Körper vorgestellt hatte. Der Kopf aber war ein Wachskopf, wie man sie bei uns daheim in dem Schaufenster mancher Friseurläden und in allen Wachsfigurenkabinetten sehen kann: der Kopf eines Inders, bärtig, dunkelhaarig, auf einige Entfernung leicht mit dem Doktor Aruwars zu verwechseln.

Breßfort fluchte.

Ich sagte nur: „Jetzt ist die Sache noch dunkler! Wer hat die Pestpatrone in Harsts Zelle eingeschmuggelt, wer hat diese Puppe hier ins Bett gelegt, wer den Wachskopf so schnell beschafft?!“

„Batta Mampu!“ meinte Breßfort achselzuckend. „Barring hat diese Bande richtig eintaxiert! Sie können mehr als wir ahnten, diese Kerle!“ –

Wir kehrten ins Büro zurück.

Unser Bericht erregte einen wahren Sturm von Fragen. Taffarell war empört, grimmig, fühlte sich blamiert. Hier in Patna mußte sich derartiges abspielen, wo er Polizeichef war! Das brachte ihn aus dem Häuschen.

Harald blieb stumm.

Er hatte sich durch Kissen halb aufrichten lassen und trank in kleinen Schlucken die Medizin, die man für ihn rasch hatte herstellen lassen.

Taffarell fragte ihn, nachdem er sich etwas beruhigt hatte:

„Mr. Harst, das Sprechen fällt Ihnen schwer. Wollen Sie aufschreiben, was wir tun sollen, was Sie von alledem halten?“

Harald nickte.

Man gab ihm einen großen steifen Aktendeckel als Unterlage, dazu Papier und Bleistift. Er schrieb mit unsicherer Hand:

„Man hole sämtliche Gefängnisbeamten her. Man stelle heißes Wasser, Seife und einen Schwamm bereit.“

Taffarell schüttelte den Kopf, las den Zettel immer wieder, blickte Harald an, als ob er an dessen klarem Verstande zweifelte, und – befahl trotzdem nach Harsts Wünschen zu verfahren.

Harald selbst saß auf dem Diwan mit geschlossenen Lidern und atmete tief und ruhig.

Zehn Minuten drauf war das gesamte Gefängnispersonal zur Stelle, ebenso Wasser, Seife, ein Schwamm.

Ich hatte neben dem Diwan Platz genommen und sagte nun:

„Harald – es ist alles bereit.“

Er öffnete die Augen. Man hatte die vierzehn Beamten, zwei Europäer und zwölf Inder, so aufgestellt, daß er sie sehen konnte. Er ließ seine bereits wieder so klaren scharfen grauen Augen über die Gesichter hingleiten.

Dann hob er den Arm, legte ihn auf die Schreibunterlage und schrieb:

„Den Indern die Hinterköpfe mit Seife waschen.“

Und – kaum hatte ich dies gelesen, als mir seine Absicht verständlich wurde: er nahm an, daß sich unter den eingeborenen Gefängnisbeamten ein Mitglied des Batta Mampu befand! Er wollte diesen Mann, der inzwischen aus Vorsicht die weiße Haarsträhne dunkel gefärbt haben mochte, durch Wasser und Seife entlarven! –

Die Prozedur begann. Ich hatte Breßfort und Wilbry zugeflüstert, worauf es ankäme.

Und – der Erfolg bewies die Richtigkeit von Harsts Vermutung: einer der Aufseher wurde durch die Kopfwäsche tatsächlich überführt! Er hatte eine weiße Haarsträhne, die freilich so geschickt angelegt war, daß sie noch durch eine Schicht von Haaren in der natürlichen Farbe bedeckt gewesen. Durch Wasser und Seife ward die Stelle wieder weiß.

Der Gefängnisaufseher, ein älterer Inder namens Taowar, hatte bis zuletzt sich äußerlich in nichts anmerken lassen, daß er ein schlechtes Gewissen hätte. Nun aber, als durch Befragen seiner Kollegen rasch festgestellt wurde, wann er im Hinterflügel Dienst gehabt, und als sich ergab, daß er kurz vor Mitternacht nochmals die Runde in den Korridoren gemacht hatte, – als nun Taffarell sofort Handschellen anlegen ließ und ihn anbrüllte:

„Taowar, Du weißt, daß ein Mordversuch an einem Europäer Dir den Strang einträgt!“ da ließ der Inder die Maske fallen.

Doch – weit gefehlt, zu denken, er wäre jetzt aus Angst zu einem Geständnis bereit gewesen! Weit gefehlt anzunehmen, er hätte nun etwa um Gnade gewinselt.

Nein – er reckte sich höher, schaute Taffarell geringschätzig an und sagte mit eisigem Hohn:

„Der Batta Mampu wird nicht dulden, daß ich den Strang schmecke. Der Batta Mampu wird eher Euch alle an den Galgen bringen als zulassen, daß ich sterbe!“

Taffarell, der kleine leicht erregbare Herr, schäumte vor Wut.

„Halunke – so wahr ich Taffarell heiße!“ rief er heiser. „Du wirst baumeln! Und zwar bald!“

Taowars Mienen zeigten nichts als eisige Geringschätzung.

Ihn zu verhören, wäre zwecklos gewesen.

Er wurde abgeführt. –

Dann brachte ich Harst auf seinen Wunsch im Auto nach dem Hotel Viktoria. Ich ließ die Verbindungstür zwischen unseren Zimmern öffnen, nachdem ich ihn mit Breßforts Hilfe sorgsam gebettet hatte.

Auch der junge Wilbry hatte uns begleitet. Mittlerweile waren bereits Depeschen nach allen Seiten abgegangen, um Doktor Aruwar die Flucht zu erschweren und festzunehmen.

Taffarell hatte aus sich selbst heraus diese vorläufigen Maßnahmen zur Ergreifung des Flüchtlings angeordnet und auch gleichzeitig die anderen Polizeiämter Indiens durch Runddepesche von den besonderen Kennzeichen der Mitglieder des Batta Mampu-Bundes benachrichtigt. –

Breßfort und Wilbry wollten sich jetzt verabschieden. Harald hielt sie noch zurück. Er hatte sich so weit erholt, daß er wieder ohne große Anstrengungen sprechen konnte.

„Ihres Chefs Jagd auf Aruwar wird ergebnislos bleiben,“ sagte er zu den beiden. „Mr. Taffarell könnte ganz Indien durch ein Sieb schütten, durch dessen Löcher nur die Ehrlichen hindurchschlüpfen. Selbst dann würde er Aruwar nicht in dem Siebe vorfinden. Bestellen Sie ihm daher einen Gruß von mir und raten Sie ihm in meinen Namen, vorläufig mehr zum Schein die Jagd auf Aruwar zu betreiben. Ich will versuchen, Aruwar auf meine Weise zu finden. Außerdem bitte ich Sie, lieber Breßfort, für sich und Mr. Wilbry acht Tage Urlaub zu erwirken und noch zwei Beamte auszuwählen, die Schraut und mich ebenfalls begleiten sollen. Schließlich besorgen Sie für uns sechs noch ein gutes Tourenauto in aller Heimlichkeit, das morgen nacht kurz vor zwölf Uhr auf der Straße nach Gaya (südlich von Patna) an der Brücke über den Shergatti-Fluß uns erwarten soll. Die Vorbereitungen zu dieser unserer gemeinsamen Fahrt müßten so vorsichtig getroffen werden, daß niemand etwas davon merken kann. Nur Taffarell darf noch eingeweiht werden. Der Erfolg dessen, was ich vorhabe, hängt von der genauesten Beachtung dieser meiner Anweisungen ab.“

Breßfort und Wilbry leuchtete die helle Freude aus den Augen, weil Harald sie mitnehmen wollte. Sie versprachen sich wohl von Harsts Vorhaben ein Abenteuer besonderer Art, und die Zukunft lehrte auch, daß ihre Erwartungen noch übertroffen wurden. Breßfort erklärte, Harald würde schon mit ihm zufrieden sein. Den Urlaub würde Taffarell unter diesen Umständen ohne weiteres bewilligen. – Dann verließen Breßfort und Wilbry uns. Harst und ich waren kaum allein, als auch schon für uns das begann, was der Polizeichef von Patna zunächst „nur zum Schein betreiben“ sollte: die Jagd auf Doktor Ahmed Aruwar!

Harald hatte mich an sein Bett gewinkt. Ich setzte mich. Er hatte sich eine Mirakulum anzündet und fragte nun:

„Ist Dir nicht aufgefallen, daß der Chauffeur John Barrings, der Inder Timar Bondri, unter den Verhafteten fehlte? Dieser Timar ist doch ganz fraglos ebenfalls Mitglied des Bundes.“

„Allerdings – das ist auffallend,“ nickte ich.

„Und weiter: kannst Du Dir nicht einen Ort denken, wo Aruwar vor allen Nachstellungen sicher wäre?“

„Ah – die Ruine des Palastes Schah Arganis!“

„Hm – der Gedanke ist an sich nicht schlecht. Die Ruine kann noch mehr bewohnbare Räume haben. Aber – ich selbst vermute Aruwar anderswo.“

„Und das wäre?“

„Bei – Lady Gulbrar!“

Ich schaute Harst überrascht und zweifelnd an.

Er lächelte schwach. „Glaubst Du daran, daß die Lady Patna wirklich verlassen hat? Wird sie nicht – sie ist ein Weib! – neugierig gewesen sein, ob es mir wirklich gelingen sollte, das Wunder von Patna zu enträtseln? Wird sie viel vielleicht heimlich hiergeblieben sein, um sich zu überzeugen, wie ich mit dem Manne fertig werde, den sie selbst so sehr fürchtet: Ahmed Aruwar! Dürfte nicht auch die Angst, ich könnte Aruwar irgendwie als Schwindler entlarven, sie hier zurückgehalten haben, da sie doch fürchten muß, Aruwar könnte das mit dem Schlangenring verknüpfte Geheimnis verraten, wenn er sich verloren sieht?!“

„Das mag alles schon stimmen. Ich verstehe nur nicht, was –“

„Einen Augenblick, mein Alter. – Ich fragte Dich vorhin auf der Fahrt hierher ganz leise, ob Du nicht gesehen hättest, welche Farbe das Auto hatte, das zu Aruwars Befreiung benutzt wurde. Du erwidertest: „Ein heller Wagen!“ – Wir wissen nun, daß der Kraftwagen, der dem Bunde gehört oder diesem doch zur Verfügung steht, dunkelgrau ist. Wir sahen ihn ja auf der Prachtstraße gestern vormittag dem gelben Lady Gulbrars folgen. Es war also nicht das Auto des Bundes, das den durch den Aufseher aus der Zelle herausgelassenen Aruwar, den Du auf der Mauerkrone noch flüchtig sahst, aufnahm. Nein – ein heller Wagen war’s! Vermutlich der Lady Gulbrars, die durch den Chauffeur Barrings und durch andere hier noch auf freiem Fuße befindliche Mitglieder des Batta Mampu gezwungen worden sein mag, ihren Wagen zu dieser Entführung Aruwars herzugeben.“

„Ah – mir geht ein Licht auf! Man hat Lady Gulbrar mit dem Geheimnis des Ringes gedroht –“

„– und Aruwar befindet sich jetzt sehr wahrscheinlich in einer guten Verkleidung unterwegs nach dem Schlosse der Lady, das südlich von Raipur in den Kanker-Bergen bei dem Städtchen Biraniri liegt und denselben Namen hat: Schloß Biraniri! Meinst Du nicht auch, daß Aruwar dort inmitten der ungeheuren Ländereien dieser Despotin, die sich um Gesetze und Anordnungen der Behörden nie einen Deut kümmert, – inmitten einer Bevölkerung, die der Lady blind ergeben ist, – inmitten eines noch heute zum Teil unerforschten Gebietes der Zentralprovinzen ebenso sicher wie etwa auf dem Monde zu sein glaubt?“

Ich nickte eifrig. „Ich gebe Dir recht, Harald. Nur dort ist Aruwar zu fassen!“

„Deshalb werden wir auch sofort dieses Hotel gegen ein anderes Unterkommen vertauschen, bevor die Batta Mampu-Brüder ihre Spione uns vor die Türen stellen. Geh’ zum Schein schlafen. Dann kleide Dich im Dunkeln an, packe aus unserem Requisitenkoffer alles Nötige für eine Verkleidung als älteres Ehepaar in den kleineren Koffer und gebrauche dabei möglichst wenig Deine Taschenlampe.“

Morgens um vier Uhr, kurz vor Tagesanbruch, schlichen wir die eine Hintertreppe hinab in den Park. Harst hatte einen Brief für den Hoteldirektor zurückgelassen, des Inhalts, daß wir für ein paar Tage verreisen müßten, die Zimmer aber behielten, und daß unsere Koffer gut aufgehoben werden sollten.

Der Hoteldirektor wußte bereits, daß die beiden holländischen Kaufleute in Wahrheit einen weniger harmlosen Beruf hatten.

 

4. Kapitel.

Der Jugendfreund Partisan.

Harald hatte mir noch nicht mitgeteilt, wo er bis morgen nacht zu bleiben gedachte. Ich selbst wäre kaum auf den Gedanken gekommen, die Ruine des Palastes als Versteck zu benutzen. Aber er war ja längst wieder im Vollbesitz seiner geistigen Regsamkeit. Er hatte alles bis ins einzelne überlegt. Die Ruine war ja bereits gleich nach der Verhaftung Aruwars und der anderen Diebe durch ein großes Polizeiaufgebot durchsucht worden. Man hatte dort nichts Wesentliches gefunden. Wir konnten uns also in der Ruine leidlich sicher fühlen. Die Batta Mampu-Brüder würden sich hüten, den Park zu betreten.

Wir kamen auch glücklich durch den Raubtierzwinger und den unterirdischen Gang in die noch bewohnbaren Räume. Harald legte sich sofort zum Schlafe nieder, während ich für alle Fälle die Wache übernahm.

Ich könnte über diesen Aufenthalt in den Trümmern des Palastes mancherlei berichten. Ich will hier nur erwähnen, daß Harald nachmittags, als ich schlief, einen Zugang zu drei großen Kellerräumen fand, den nur ein Mensch von seiner Intelligenz und von seinen vielfachen Erfahrungen entdeckten konnte. Der Polizei war diese geheime Falltür, ein Meisterstück derartiger Anlagen, entgangen. In diesen Kellern war Diebesgut aller Art aufgeschichtet. Aus diesen Beutestücken ging klar hervor, daß die Bande auch Frachtschiffe und Eisenbahnwagen geplündert hatten und daß ihr Hauptquartier fraglos Patna war. Diese ungeheure Beute wurde nachher von der Polizei beschlagnahmt. – Was Harald dort in den Kellern außerdem noch gefunden, sollte ich erst später und zwar in einer Lage erfahren, die vielleicht nie sich derart zu unseren Gunsten gewendet hätte, wenn Harst nicht – Doch – ich will nicht vorgreifen. –

Abends um zehn Uhr verließen ein älterer, graubärtiger Herr, der nur einen Arm, den rechten hatte und anstelle des Linken einen künstlichen zu tragen schien, sowie eine ebenfalls grauhaarige etwas korpulente Dame, beide wie reisende Amerikaner gekleidet, die Ruine und fuhren in einem Mietwagen nach Patna. Dort lohnten sie den Kutscher ab und gingen zu Fuß weiter, kamen auf die Straße nach Gaya und bald auch an die Brücke über den Shergatti-Fluß.

Das Ehepaar waren Harald und ich. Damenrollen waren mir nichts Neues. Harsts „künstlicher“ Arm war ein Gebilde, das nach Haralds Idee von uns hergestellt worden war. Jedenfalls wirkte der Lederhandschuh mit Erde gefüllt ganz wie eine künstliche Hand. Es kam Harst darauf an, von Lady Gulbrar auf keinen Fall erkannt zu werden.

Breßfort und Wilbry waren mit dem Auto pünktlich zur Stelle. Sie hatten auch zwei Riesenreisekoffer hinten festschnallen lassen, hatten sich tadellos als Touristen maskiert, hatten die beiden Beamten als Diener und Chauffeur herausstaffiert und alles genau befolgt, was Harald angeordnet hatte.

Da die Straße von der Brücke nach Patna zu mehrere hundert Meter schnurgerade lief, konnten wir unschwer feststellen, ob jemand etwa dem Auto gefolgt war. In dem beruhigenden Gefühl, die Batta Mampu-Spione abgeschüttelt zu haben, begannen wir die Fahrt südwärts. Von Gaya bogen wir nach Südost ab. Abends waren wir bis Barrackar gelangt, den Eisenbahnknotenpunkt der Linien von Kalkutta nordwärts und westwärts. Hier stiegen wir im Hotel Windsor als John Partisan nebst Gattin, Privatsekretär, Arzt und Bedienung ab. – Harald legte uns also den Namen eines der bekanntesten Eisenbahnmagnaten Amerikas zu. Schon vorher hatte er uns alle genau eingeweiht. Lady Gulbrar hatte nämlich uns gegenüber so nebenbei erwähnt, daß ihr verstorbener Gatte als Junggeselle mit John Partisan befreundet gewesen sei und daß sie hoffe, Partisan sehr bald persönlich kennen zu lernen, da er ihr unlängst geschrieben habe, er würde aus Anlaß einer Vergnügungsreise nach Indien sich gestatten, ihr seinen Besuch auf Schloß Biraniri zu machen.

Partisan hatte nur einen Arm. Und Partisan hatte sehr dichtes hochstehendes graues Haar und unter dem linken Auge einen großen Leberfleck. All das hatte Harst jetzt auch.

Vom Windsor-Hotel aus schickte Harst sofort eine Depesche an Lady Gulbrar und fragte an, ob sein Besuch genehm sei. Die Antwort traf morgens ein: Lady Gulbrar würde sich freuen, den Jugendbekannten ihres Mannes auf Schloß Biraniri als Gast begrüßen zu dürfen. Sie sei erst vor wenigen Stunden heimgekehrt und glücklich, daß die Depesche sie erreicht habe. –

Eine Stunde später ging’s weiter.

Am anderen Morgen gegen acht Uhr passierten wir die Stadt Biraniri und fuhren weiter dem Schlosse zu.

Breßfort sollte den Leibarzt des Eisenbahnmagnaten, Wilbry den Privatsekretär spielen. Damit wir uns nicht etwa bei der Unterhaltung mit Lady Gulbrar über John Partisans Reise widersprachen, wurde alles bis ins kleinste festgelegt, was vielleicht im Gespräch erwähnt werden mußte. Auch der Diener und der Chauffeur, zwei der begabtesten Leute aus Breßforts Untergebenen, waren aufs sorgfältigste instruiert worden.

Das Schloß lag in halber Höhe eines bewaldeten Berges und war ein ganz moderner Bau mit zwei schlanken Türmen, einer großen Terrasse, riesigen Fenstern und vollständig in leicht gelblichem Sandstein ausgeführt[3]. Ein Serpentinenweg zog sich in drei Windungen um den Berg herum, durch einen wundervollen Park und bis vor die Schloßterrasse. Unser Auto war auf dem Serpentinenwege längst bemerkt worden. Die Lady empfing uns am Fuße der Terrassentreppe. Hinter ihr stand ihr Hofstaat: vier Europäer, etwa ein Dutzend Inder, etwa zwei Dutzend Diener.

Harald als John Partisan war glänzend. Die Vorstellung verlief glatt. Nur der brave Breßfort bekam keinen schlechten Schreck, als Lady Gulbrar zu ihm sagte: „Mein Arzt Doktor Ragarell – dort der weißhaarige Herr, wird sich freuen, bei Ihnen als jüngerem Kollegen seine etwas eingerosteten Kenntnisse moderner Behandlungsmethoden wieder auffrischen zu können.“

Diese Äußerung entsprach so ganz Lady Gulbrars oft etwas peinlicher Offenherzigkeit.

Der Hausmeister wies uns dann unsere Gastzimmer an.

Als Harst und ich allein waren, als wir uns vom Reisestaub befreiten, sagte er leise: „Lieber Alter, es kann dies hier für uns eine Falle werden, aus der wir nicht mehr herauskommen. Mit Dir bin ich zufrieden. Du hast Frau Partisan großartig gemimt. Nur Breßforts und Wilbrys bin ich nicht sicher. Sie können alles verderben.“ Und noch leiser: „Bemerktest Du, wie blaß und nervös Lady Elisabeth war? Ich wette: Aruwar ist hier!“ –

Um halb elf war große Frühstückstafel. Sie verlief ohne Zwischenfälle.

Nach Tisch bat Lady Gulbrar uns in ihren Damensalon, um mit dem Ehepaar Partisan ungestört über ihren Gatten sprechen zu können, den sie noch immer aufrichtig zu betrauern schien.

Wir drei hatten am Fenster um ein kleines Tischchen herum Platz genommen. Harst rauchte eine Zigarre. Lady Elisabeth desgleichen. Ich war mehr Zuhörerin, genoß daher doppelt Haralds phantasievolle Schilderungen gemeinsamer Jugenderlebnisse mit Lord Gulbrar. Alles, was Zeit und Örtlichkeit betraf, so allgemein gehalten, daß er sich nicht in Widersprüche verwickeln konnte. Es war fraglos eine unerhörte geistige Anstrengung, dergestalt jedes Wort vorher zu prüfen, ob es auch nicht Lady Gulbrar stutzig machen könnte.

Dann aber – und jetzt wurde ich nervös! – dann fragte er:

„Besitzen Sie eigentlich noch den berühmten Schlangenring, Mylady?“ Dabei lächelte er vielsagend.

Die hagere Frau dort in dem kostbaren Brokatsessel war zusammengefahren. Sie starrte Harst geradezu entgeistert an.

„Wie – Sie wissen etwas über den Ring, Mr. Partisan?“ meinte sie tonlos.

„Nicht alles, Mylady. Immerhin genug, um mich für den Ring zu interessieren. Ich habe jedoch Stillschweigen gelobt.“

Lady Elisabeth hatte rasch ihren goldenen Kneifer abgenommen und putzte ihn nun mit dem Seidentüchlein – putzte so lange, daß ich merkte, sie wollte Zeit gewinnen.

Dann erwiderte sie, nachdem sie sich weit vorgebeugt hatte:

„Mr. Partisan, der Unglücksring ist noch vorhanden. Als mein Mann im Sterben lag, wollte er mir noch die Geschichte des Ringes vollständig mitteilen, über die er mir gegenüber bis dahin nur dunkle Andeutungen gemacht hatte. Ich bitte Sie inständig, mir das anzuvertrauen, was Ihnen darüber bekannt ist. Der Ring ist mir letztens entwendet worden. Ich habe ihn den Dieben wieder abgekauft, die leider die Geschichte des Ringes besser zu kennen scheinen als ich. Mein Mann hatte seiner Zeit einen Bibliothekar, einen Inder namens Aruwar, Doktor Ahmed Aruwar –“ Sie flüsterte nur noch. „Dieser Inder muß irgendwie Mitwisser des Geheimnisses geworden sein. Er hat mich jetzt völlig in seiner Gewalt!“

Ihr Gesicht verzerrte sich. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Ihre Augen sprühten.

Harst sagte jetzt, als sie schwieg, – ebenfalls mit gedämpfter Stimme:

„Erzählen Sie mir erst, was Sie wissen, Mylady. Dann will ich zusehen, ob ich Ihnen den Rest mitteilen darf.“

Lady Elisabeth, das Mannweib, war wie ausgewechselt. In ihren Augen standen Tränen.

„Ja, ja, Sie sollen alles hören, Mr. Partisan,“ flüsterte sie erregt. „Sie glauben nicht, was ich in den letzten Tagen des Ringes wegen an Demütigungen erlitten habe! Und noch erleide – noch! – Viel kann ich nicht berichten. Mein Mann beichtete mir auf seinem Sterbelager folgendes –“

 

5. Kapitel.

Das halbe Geheimnis.

„Im Jahre 1890 ließ er die Schmalspurbahn von Biraniri nach Kanker bauen. Dabei mußte ein Bergvorsprung durch einen Tunnel durchbrochen werden. Als dieser Tunnel halb fertig war, kam ein greiser Inder zu meinem Manne und erklärte, in dem Bergvorsprung liege ein alter Höhlentempel, dessen Eingang seit Jahrzehnten verschüttet sei. Er wolle meinem Manne diesen Zugang zeigen, da sonst bei den Sprengungen durch plötzlichen Einsturz der Höhle großes Unheil entstehen könnte. Der Inder behauptete weiter, daß in dem Tempel sich noch eine Menge kostbarer Geräte befänden, ferner altindische Schmucksachen. Er gab meinem Manne einen altertümlichen Schlangenring, der aus dem Höhlentempel stammen sollte –“

Lady Elisabeth machte eine Pause, atmete schwer und fuhr dann fort:

„Mehr weiß ich nicht, Mr. Partisan. Mein Mann hatte nicht mehr die Kraft, weiterzusprechen. Als er dann beerdigt war und als ich mir seine Beichte in Ruhe überlegte, kam ich auf Grund seiner früheren Andeutungen zu der Überzeugung, daß er den Inder heimlich beseitigt und den Höhlentempel ausgeräumt hätte. Er hatte mir ja so und so oft gesagt: „Wenn die Welt je die Geschichte dieses Ringes erführe, wäre der Name Gulbrar für alle Zeit entehrt.“ – Auch Aruwars Andeutungen haben diese Überzeugung in mir befestigt, obwohl mein Mann es wahrlich nicht nötig hatte, sich Reichtümer auf solche Art zu verschaffen. Doch – des Menschen Herz ist unergründlich. Jedenfalls: der Ring ist mir wie ein stetes –“

Sie vollendete den Satz nicht.

Der Türvorhang war zurückgeschoben worden. Und – sehr rasch traten jetzt drei Inder ein.

Drei – als erster – Doktor Ahmed Aruwar, als zweiter John Barrings Chauffeur Timar Bondri, und als dritter ein uns Unbekannter.

Aber – alle drei waren bewaffnet.

Jeder hielt in der Rechten einen jener kurzen Bogen, wie sie von dem indischen Zwergenvolke der Batschupa noch heute benutzt werden.

Jeder hielt einen Pfeil auf der Sehne bereit – einen Pfeil mit derselben Eisenspitze, wie wir diese schon bei den Geschossen in der Palastruine in Patna gesehen hatten – vergiftete Eisenspitzen!

Aruwar, der hier Dienertracht anhatte, sagte sofort:

„Bleiben Sie sitzen! Bewegen Sie sich nicht! Ein lautes Wort, und Sie sind verloren!“

Er sprach das mit einer kalten Geringschätzung, mit einem versteckten Triumph.

„Sie beide haben wir sofort erkannt,“ fügte er hinzu. „Und dann auch Inspektor Breßfort! Wir sind hier jetzt zwölf Mitglieder des Bundes im Schlosse – die Führer! Wir gelten als neu eingestellte Diener, da die Lady Besuch erwartet. Der Besuch ist da – wir auch! Wir werden Sie beide nur unter einer Bedingung schonen, denn Lady Gulbrar wird von selbst schweigen –“

Wieder hatte sich der Türvorhang bewegt. Wieder traten sechs weitere Inder ein – bewaffnet wie die ersten drei.

„Und diese Bedingung wäre?“ fragte Harald kurz, während Lady Elisabeth mit geschlossenen Augen halb ohnmächtig im Sessel ruhte.

Aruwar erwiderte: „Sie sorgen dafür, Mr. Harst, daß meine Tochter und die übrigen Verhafteten, auch der Gefängnisaufseher, entfliehen können und sichern uns volle Verschwiegenheit über das zu, was hier vorgefallen, verlassen Indien und kümmern sich nie mehr um uns.“

Harald legte den künstlichen Arm auf das Tischchen.

Aruwar lächelte ironisch. „Sie halten ihre Finger in dem Handschuh in anerkennenswerter Weise still. Die Hand sieht wirklich aus wie aus Holz geschnitzt.“

Daß in dem langen weiten Ärmel Haralds richtige Hand verborgen war, hatte Aruwar also doch nicht bemerkt!

Harst schien zu überlegen.

Dann sagte er: „Sie haben von Lady Gulbrar mit Hilfe des Schlangenringes allerlei erpreßt, Aruwar. Sie haben der Lady Angst eingejagt, die – überflüssig war. Sie haben sie in der Annahme bestärkt, Lord Cecil Gulbrar hätte jenen greisen Inder beseitigt. Sie haben überaus schlau Ihre Kenntnis der damaligen Vorgänge ausgenutzt. Die Tatsachen aber sind ganz anders, als es nach der halben Beichte des Lords den Anschein hatte. Er dürfte die Warnung des Inders nicht beachtet haben, hat den Mann wohl für einen Schwindler gehalten. Er kaufte ihm den Ring ab. Kurz darauf fand im Tunnel eine neue Sprengung statt. Dabei wurden, weil die Höhle jetzt tatsächlich einstürzte, einige dreißig Arbeiter getötet, darunter auch der Inder – wahrscheinlich. Lord Cecil hütete sich, jemandem anzuvertrauen, daß er gewarnt worden war. Er fühlte sich an dem Tode der Verschütteten schuldig. – Als ich in Patna mich mit Ihnen, Aruwar, und mit Lady Gulbrar näher beschäftigte, habe ich auch über den Lord Erkundigungen eingezogen. So erfuhr ich zufällig auch von dem Einsturz der Tunnelsohle und dem Tode der Arbeiter, für deren Familien der Lord aufs beste gesorgt haben soll. Als mir Lady Gulbrar hier nun soeben das Geheimnis des Ringes erzählte, habe ich mir sofort unschwer das Richtige zusammengereimt. Lord Cecils ganze Schuld besteht[4] in der Nichtbeachtung der Warnung des greisen Inders. Sie, Aruwar, dürften diesen Inder und den Lord damals belauscht haben. Vielleicht haben Sie die Kostbarkeiten aus dem Höhlentempel dann schnell beiseite geschafft. Tempelgeräte aus Gold, Schmuck und edle Steine fand ich in den Kellern des –“

Hier fiel Aruwar Harst ungestüm ins Wort.

„Das lügen Sie!“ Und zu seinen Freunden gewandt: „Geht – bleibt vor der Tür! Ich werde mit den beiden allein fertig werden.“

Sein Einfluß auf die Mitglieder des Bundes mußte sehr groß sein. Timar Bondri und die übrigen gehorchten, obwohl sie gemerkt haben mußten, daß Aruwar sie nur entfernen wollte, damit sie das weitere nicht mit anhörten.

Aruwar hatte uns nicht aus den Augen gelassen.

Freilich, daß Harald jetzt, während die Handschuhhand auf dem Tische ruhte, mit der lebenden Hand in die linke Brusttasche langte und die Clement hervorzog, konnte er nicht sehen. Der Tisch und eine kleine Stehlampe versperrten ihm die Aussicht.

Harst ließ Aruwar denn auch gar nicht mehr zu Worte kommen.

„Diese Kostbarkeiten,“ sagte er nun gleichmütig, „hatten Sie in den Kellern in einem geheimen Wandgelaß versteckt, Aruwar! Und dieses Versteck ist Ihr Geheimnis! Davon weiß niemand vom Batta Mampu etwas. Sie haben sich soeben verraten, als Sie Ihre Helfershelfer hinausschicken. Sie sind ein Schurke, der kein Mitleid verdient. Legen Sie sofort den Bogen auf den Teppich – sofort!“

Aruwars tückische Augen glühten auf.

Anstatt zu gehorchen, spannte er den Bogen, zielte auf Harst, rief leise:

„Schwöre, daß Du alles –“

Ein Knall – ein Schrei.

Harst hatte unter dem Tische auf Aruwar gefeuert – hatte getroffen.

Die Kugel war Aruwar in das rechte Schienbein gedrungen.

Der Giftpfeil fuhr seitwärts in die Wand.

Dann hatte schon Lady Elisabeth einen kleinen Damenrevolver aus der Tasche ihres Rockes herausgerissen – dann hielt auch ich die Clement bereit – dann feuerte Harald auf den Türvorhang – feuerte ganz tief.

Niemand wagte einzudringen.

Die Schüsse riefen Breßfort, Wilbry und andere aus dem nahen Speisesaal herbei. –

Weshalb hier noch die Jagd auf die flüchtigen elf Batta Mampu-Brüder schildern? Weshalb, – wo doch Harald Harst bereits gesiegt hatte! Das Geheimnis des Schlangenringes, harmlos im Vergleich zu dem, was Lady Gulbrar über ihren Gatten vermutet hatte, war für sie kein Schrecknis mehr.

Alle elf wurden eingefangen. Aruwar hing zwei Monate später am Galgen. Die elf anderen Führer des Bundes der Diebe wanderten ins Zuchthaus. Der Bund war gesprengt. –

Wir blieben noch zwei Wochen auf Schloß Biraniri als Gäste der dankbaren Lady. Wir jagten Tiger in den Kanker-Dschungeln, wir jagten Wasserbüffel und erholten uns von den Anstrengungen der letzten Wochen, in denen wir über das Geheimnis der toten Karawane hier nach Indien an das Wunder von Patna geraten waren.

Dann eine Depesche aus Berlin: – der Hilferuf eines armen Weibes – eine flehende Bitte an Harst, das Verhängnis abzuwenden.

So traten wir denn die Heimreise an.

 

Unser nächstes Abenteuer:

Frau Inges Tränen.

 

 

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Anmerkungen:

  1. „Batta Mampu-…“ / „Batta-Mampu-…“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Batta Mampu-…“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „vermittags“.
  3. In der Vorlage steht: „aufgeführt“.
  4. In der Vorlage steht: „bestehe“.