Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 113:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Es goß in Strömen …
Ein hohler Wind trieb die nassen Schnüre der Regenfluten uns beiden gerade ins Gesicht.
Dazu herrschte eine Finsternis, wie sie kaum dichter sein konnte.
Um unsere Füße sammelten sich Wasserlachen an. Wenn ich mich auch nur ein wenig rührte, merkte ich, wie mir die Nässe in den Schuhen liebevollst auch die Strümpfe durchdrang.
Mitten auf einem frischgepflügten Acker hinter einem niederen Strauche standen wir, der aus einem Steinhaufen herauswuchs.
Ich kann nicht gerade behaupten, daß diese Aprilnacht besondere Reize für mich aufwies, zumal Harald Harst mir gegenüber auch noch nicht einmal angedeutet hatte, was wir hier auf der Dahlemer Feldmark westlich von Berlin eigentlich sollten oder wollten.
Nein – gar nichts hatte er mir erklärt. Abends um halb neun hatten wir noch sehr behaglich in seinem Arbeitszimmer gesessen. Dann, so gegen dreiviertel neun, war er aufgestanden und hatte gesagt: „Lieber Alter, nun werden wir gehen.“
„Wohin?“
Er schaute mich nur merkwürdig an, faßte in die rechte Westentasche und zeigte mir ein seltsam geformtes Medaillon, das an einem noch seltsameren Kettchen hing.
Dann verschwand er in seinem Schlafzimmer, und auch ich ging in meine Räume hinüber und machte mich fertig, zog den langen Gummimantel an und setzte eine flache Mütze aus Wachstuch auf.
Woher hatte Harald das Medaillon, überlegte ich mir, und welche Bedeutung besaß es für uns?! Ich hatte es noch nie gesehen – noch nie. Ich konnte nur vermuten, daß es vielleicht Eigentum jener Frau gewesen, die wir aus dem Bosporus als Leiche herausgefischt hatten und von der wir nur sehr wenig wußten, wie der Leser sich erinnern wird. Sehr wenig: daß diese Frau oder dieses Mädchen Beziehungen zu einer Falschmünzerbande unterhalten hatte und daß sie nach Konstantinopel im Auftrage dieser Banknotenfälscher gekommen war, die ihrerseits wieder allem Anschein nach in Berlin die falschen Pfundnoten herstellten.
Als wir aus Konstantinopel heimgekehrt waren, hatte Harald immer wieder betont, er würde nicht eher ruhen, bis er diese Verbrecher aufgespürt und auch aufgeklärt hätte, wer die Frau gewesen sein mochte, die von der Konstantinopeler „Zweigstelle“ der Bande so grausam hingemordet worden war.
Nachdem wir drei Tage wieder unser schönes Heim in der Blücherstraße in Berlin-Schmargendorf freudig genossen hatten, war eine Postkarte für Harald in Maschinenschrift eingetroffen, auf der nur stand: „Geben Sie sich keine Mühe, Anna Karstens Ende zu rächen. Sie könnten sich dabei die Finger verbrennen.“ – Das war alles. Keine Unterschrift – nichts weiter als diese Drohung.
Und abermals waren dann drei Tage hingegangen. Am vierten Tage abends aber sagte Harst wie schon erwähnt: „Nun werden wir gehen …“
Wir gingen denn auch trotz des Unwetters zu Fuß bis Dahlem und jenseits der Dorfstraße auf einem Feldwege weiter. Harst sprach kein Wort, und auch ich schwieg.
Und nun standen wir bereits eine halbe Stunde in diesem Regenguß und hatten fünfzig Schritt vor uns ein Gebäude, das hier ganz einsam inmitten einer kleinen Waldparzelle lag und von dem wir nichts als ein erleuchtetes Fenster im ersten Stock sahen.
Nein – reizvoll war diese Nacht wahrhaftig nicht! Bei solchem Wetter ein abgelegenes Gebäude beobachten, machte selbst mir, der ich doch unseren Beruf außerordentlich liebte, keinen Spaß – gar keinen! –
Plötzlich hörte der Regen auf.
Das jagende dichte Gewölk öffnete sich, und der Mond beschien für Sekunden das Haus da vorn …
Nur Sekunden …
Und doch genügte diese winzige Zeitspanne zu einer Beobachtung, die meine Gleichgültigkeit und meine schlechte Laune sofort in regste Spannung verwandelte.
Das erleuchtete Fenster war kein Fenster, sondern die Glastür eines Balkons, wie ich jetzt sah.
Und auf dem weißen Vorhang, der vor den Scheiben hing, zeichnete sich in scharfen Umrissen Kopf und Oberleib eines Mannes ab, der, wie genau zu erkennen war, einen Funkhörer über dem Kopfe trug. Die beiden Muscheln des Hörers erschienen im Schattenbilde als dicke Wülste.
Nicht genug damit: hinter diesem Manne war soeben ein zweiter aufgetaucht, der sich zu ihm hinabbeugte, worauf der Mann jäh den Kopf drehte, aufstand und eine Handbewegung machte. Der andere zog sich zurück. Sein Schattenbild wurde undeutlicher. Dann – – erlosch das Licht in jenem Balkonzimmer, und fast gleichzeitig zogen sich auch die Wolkenwände unter dem Nachtgestirn wieder zusammen …
Dunkelheit … Ein feiner Sprühregen kam herab …
Da flüsterte Harst neben mir:
„Sieh da – auch Funksprucheinrichtung!! Das ist mir neu!“
„So warst Du also ohne mein Wissen bereits hier?“
„Ja – vorgestern und gestern nacht …“
„Und Du hoffst hier was zu finden?“
„Den zweiten Teil von Anna Karstens Amulett …“
Ah – also hatte ich doch recht vermutet gehabt: es handelte sich um Anna Karsten, um die Tote aus dem Bosporus! (Im vorigen Band findet der Leser die Vorgeschichte dieses Abenteuers.)
„Woher das Amulett?“ forschte ich rasch.
„Vom Halse der Leiche nahm ich’s …“
„Und der zweite Teil?“
„Besser: die andere Hälfte, mein Alter … Es ist nur ein halbes Amulett …“
„Wie bist Du denn auf dieses Haus aufmerksam geworden?“
„Die Postkarte war doch in Dahlem aufgegeben. Ich überlegte: der Absender wird denken, ich würde annehmen, daß er nicht in Dahlem zu suchen ist, gerade weil die Karte den Dahlem-Stempel trägt. Ich habe mich hier in Dahlem also verkleidet mit ein paar Wächtern der Schließgesellschaft angebiedert und sie ausgehorcht, ob hier vielleicht Leute wohnen, die Engländer sind und ganz zurückgezogen leben. Es war das ein Versuch von mir, auf diese Weise etwas zu erfahren. Und – der Versuch hatte gelohnt, denn der eine Wächter erzählte mir Langes und Breites über Mr. Edward Simpson, den Professor, der hier meteorologische Studien betreibe und vor einem Jahr das baufällige, unbewohnte Haus des verstorbenen Arztes Doktor Siegfried Schindar gekauft habe.“
„Du meinst also, Simpson könnte der Absender der Karte sein?“
„Ja. Ich hoffe es. Genau weiß …“
Er packte mich am Arm – ganz plötzlich …
„Hinknien!“ flüsterte er …
Riß mich in die Knie …
Und da erst, als ich in der Regenpfütze kniete und die Nässe meine Beinkleider durchdrang, gewahrte ich beim Lichte des abermals hervorleuchtenden Mondes einen Mann, der soeben aus einer Pforte der Gartenmauer des einsamen Hauses auf das Feld hinausgetreten war und der nun, einen aufgespannten Schirm über sich haltend, gerade auf uns zukam.
Pech war’s … Pech …
Der Mond wollte sich ausgerechnet jetzt nicht wieder verstecken …! Wenn wir Fersengeld gaben, mußte der Mann uns sehen. Selbst kriechend hätten wir den Platz nicht verlassen können.
Der Mann näherte sich rasch. Er trug in der Hand ein Glasgefäß.
„Verdammt …!“ murmelte Harald …
Oh – Freund Harst fluchte so sehr selten …
„Verdammt, da steht ja vor dem Busche ein Regenmesser …! Wenn ich …“
Der Mann war schon heran, prallte mit einem Male zurück. Er hatte uns bemerkt.
Harst richtete sich auf.
„Fürchten Sie nichts,“ sagte er sehr laut zu dem ängstlich Zurückweichenden. „Mein Freund und ich sind Detektive. Wir haben …“
Der Mann war rasch dicht vor uns – mit zwei Schritten, die er nur mit seinen endlos langen Beinen bewältigen konnte.
„Ah – Detektive!“ rief er halblaut. „Und – was suchen Sie hier?“
„Einen Menschen, der vorhin über die Mauer gestiegen ist …“ log Harald geistesgegenwärtig. –
Nun konnte ich mir den Herrn aus der Nähe anschauen.
Es war ein hagerer, sehr großer Mann mit grauem kurzen Vollbart und einer Brille vor den Augen.
Er fragte überhastet: „Ein Mensch ist in den Garten geklettert? Wissen Sie das bestimmt?“ – Sein Deutsch klang wie das eines Ausländers.
„Ja, bestimmt!“ nickte Harald. „Wir haben den Kerl nämlich bis hierher verfolgt. Es handelt sich um einen gewissen Peter Bratz, einen berüchtigten Einbrecher.“
„Professor Simpson,“ nannte der Lange nun ebenso hastig seinen Namen. „Vielleicht helfen Sie mir, Garten und Haus zu durchsuchen, meine Herren. Ich wohne hier nur mit einem uralten Diener. Ich will nur noch das Regenwasser aus dem Messer in das Glas hier füllen.“
Er tat es. Der Regenmesser war wie stets auch hier an einem Pfahle befestigt.
Dann schritt der Professor uns voran der Pforte zu. Er hatte es sehr eilig. – Ich wußte nicht recht, was ich von alledem halten sollte. Mir kam es sehr unwahrscheinlich vor, daß Simpson wirklich zufällig nur uns hinter dem Strauche ertappt haben sollte.
Nun – der weitere Verlauf der Dinge klärte dies ein wenig.
Wir durchstöberten zunächst den Garten, fanden keinen Peter Bratz, der ja nur in Haralds lebhafter, nie verlegener Phantasie existierte.
Wir betraten das Haus, von dem nur oben drei Zimmer möbliert waren, – ein feuchtes, nach Moder duftendes Gebäude, eine wahre Ruine …
Sahen auch den Diener jetzt, ein buckliges Männchen.
Suchten auch hier – bis zum Keller hinab, bis zum Boden hinauf …
Fanden natürlich ebenso wenig den Peter Bratz …
Standen nun in dem Balkonzimmer und mußten Simpsons dringende Einladung zu einem Glase Grog annehmen.
Setzten uns um den Sofatisch, nachdem Harst seinen und meinen Namen genannt hatte.
Worauf der Professor erstaunt fragte:
„Wie – der Detektiv Harald Harst?“
„Allerdings, Herr Professor …“ Und Harald streckte im Sessel die Beine von sich. „Allerdings: Harald Harst!“ Er lächelte dabei und legte plötzlich mit sehr eindrucksvoller Handbewegung seine Clementpistole in den Schoß …
Simpson, dessen faltiges, langes Gesicht bisher freundlich uns entgegengestrahlt hatte – zu freundlich für meinen Geschmack! –, dieser Mr. Edward Simpson kreischte leise auf und stöhnte:
„Oh – – Sie … Sie sind gar nicht Harst!! Das – das ist ein Überfall … ein schlauer Einbruch – ein …“
Harald lächelte noch stärker und fiel Simpson ins Wort:
„Wozu die Komödie – wozu?!“
In dem Moment trat der Diener mit einem dicht bestellten Teebrett ein.
„Setzen Sie es ab und nehmen Sie dort Platz!“ befahl Harst sehr kurz angebunden.
Der alte Mann blickte verwirrt auf seinen Herrn und fragte auf englisch:
„Mr. Simpson entschuldigen: was geht hier vor?“
Harst beobachtete die beiden. Und auch mir entging es nicht, daß um den verkniffenen Mund des Dieners ein kaum merkliches höhnisches Zucken lief.
„Gehorchen Sie, Granier!“ befahl der Professor da. „Sie sehen doch, mit wem wir es zu tun haben …“
Der Mann stellte das Teebrett beiseite und setzte sich auf den Stuhl neben den mächtigen Kachelofen.
„Schraut, schließe die Türen von innen ab,“ sagte Harald dann.
Der Professor in seiner Sofaecke kreischte wieder:
„Ich werde Ihnen alles aushändigen, was ich an Wertsachen besitze …“
Diesmal gelang es ihm schon besser, den von Todesangst Gepeinigten zu spielen.
Ich drehte die Schlüssel in den Türschlössern um. Ich dachte an mancherlei: an die Funkspruchhörer und an den Menschen, der als Schattenbild sich zu Simpson hinabgebeugt und ihm offenbar etwas gemeldet hatte. Und dieser Mensch war nicht der bucklige Diener gewesen! Es war also noch eine dritte Person im Hause. Wo aber?! Wir hatten doch alles durchsucht …
Ich setzte mich wieder.
Harald wandte sich an den angeblichen Professor.
„Ich schlage Ihnen vor,“ sagte er kühl, „daß wir uns zunächst auf gütlichem Wege zu verständigen streben …“
Mir fiel sofort dieses in dem Satze so etwas ungeschickt klingende Verbum „streben“ auf.
„Ich bin Harald Harst. Das wissen Sie sehr gut,“ hatte Harst hinzugefügt. „Sie sind nicht etwa zufällig dort zu dem Regenmesser gekommen. Räumen Sie das ein, Simpson?“
Der Professor stierte Harald an. „Mein Gott,“ murmelte er, „wenn Sie wirklich Herr Harst sind: was wollen Sie dann von mir?“
„Meine Geduld ist sehr bald zu Ende,“ meinte Harald ebenso gelassen. „Antworten Sie also … oder – ich rufe die Polizei herbei …“
Das Benehmen Simpsons änderte sich jäh.
„Tun Sie es! Tun Sie es doch!“ rief er. „Mir wäre damit nur gedient.“
„Hm – Sie … streben danach, eine Zelle des Berliner Polizeipalastes kennen zu lernen, Simpson. Das ist sehr töricht von Ihnen.“
Wieder … wieder das Verbum „streben“ … Was sollte das?!
Simpson schien nun ebenfalls darauf aufmerksam geworden zu sein. Seine Augen hinter den Brillengläsern kniffen sich zu schmalen Spalten zusammen.
„Rufen Sie doch die Polizei …!“ meinte er, und es schien, als ob er erleichtert aufatmete. Seine Augen öffneten sich wieder. „Hier muß irgendein Mißverständnis vorliegen, Herr Harst, – wirklich! Sie können mir glauben, daß …“
„Schraut – telephoniere!“
Harald hatte jetzt die Clement in der Hand.
Ich hatte das Telephon auf dem Schreibtisch zwischen Balkontür und Fenster bereits bemerkt.
Ich nahm den Hörer von den Stützen. Da rief Simpson mir zu, während ich mit der Linken noch im Telephonverzeichnis blätterte:
„Dann bitte auch gleich den Geheimrat … (er nannte einen Namen, der eng mit der Geschichte der deutschen Funkentelegraphie verknüpft ist). Der Geheimrat hat Amt Lützow Nummer 18 182. Er kennt mich seit zehn Jahren. Er wird Ihnen bestätigen, daß er mit mir sehr viel verkehrt und daß meine Person einwandfrei ist …“
„Tu’s!“ befahl Harst gleichmütig. „Bitte Bechert hierher. Er soll ein Auto nehmen …“
Dem Leser ist Fritz Bechert längst bekannt: Perle aller Kriminalkommissare, Gemütsmensch, treuester Kamerad …
Ich telephonierte. Ich hatte mich an den Schreibtisch gelehnt und behielt Harst und die beiden fragwürdigen Herrschaften im Auge. Vielleicht – vielleicht geschah irgend etwas …
Und – es geschah wirklich etwas …
Es … klopfte plötzlich an die Flurtür …
Klopfte so kräftig, daß ich den Hörer sinken ließ …
Ich sah auch, daß der Drücker des Türschlosses bewegt wurde.
Simpson lachte schrill …
„Nun – nun werden Sie Farbe bekennen müssen,“ meinte er ironisch zu Harst. „Nun wird sich zeigen, wer Sie in Wahrheit sind. Ich habe Sie nur hinhalten wollen …“
Draußen im Flur hatte sich jemand mit voller Kraft gegen die Tür geworfen …
Splitternd und krachend flog die Tür auf …
Drei … vier Beamte der Schutzpolizei stürmten mit bereitgehaltenen Dienstpistolen herein …
Es waren echte Beamte. Nicht etwa nur Hilfstruppen Steward Simpsons. Ihr Eingreifen hier war bald klargestellt. Der Wächter der Schließgesellschaft, mit dem Harald verhandelt hatte, und durch den er erst auf Simpson aufmerksam geworden, war wieder seinerseits ein sehr mißtrauischer Mensch, dazu ein überaus eifriger nächtlicher Beschirmer fremden Eigentums. Er hatte Harst für einen von der Zunft der Herren Langfinger gehalten, der eine gute Gelegenheit zum Einbrechen auskundschaften wollte, hatte Simpson alles erzählt, der dann seinerseits um verstärkten polizeilichen Schutz bat.
Jedenfalls: nachdem Harald sich den Beamten gegenüber legitimiert hatte, wurde aus Professor Simpson ein sehr unnahbarer, fast hochmütiger Herr, der nun in Gegenwart der vier Schupowachtmeister von Harst mit allem Nachdruck Aufschluß über die Gründe für Haralds seltsames Benehmen hier forderte.
Ich gebe zu: die Lage für uns war peinlich! Und Harald machte denn auch ein wenig erfreutes Gesicht, entschuldigte sich bei Simpson und sagte ganz ehrlich, daß er hier das Hauptquartier der von der englischen, türkischen und deutschen Polizei gesuchten Fälscherbande gefunden zu haben geglaubt hätte, erwähnte auch die Postkarte und wurde schließlich von Simpson mit einem liebenswürdig-nachsichtigen Lächeln unterbrochen:
„Genug, Herr Harst … – genug! Ich verüble Ihnen nichts. Damit Sie aber Ihren Mißgriff noch deutlicher erkennen, werde ich jetzt meinen Freund, den Geheimrat, anrufen, der Ihnen bestätigen wird, daß ich sehr reich bin und jetzt zum Beispiel hier in Deutschland auf meine eigenen Kosten ausgedehnte Studien über die Wetterverschiebung Nordeuropas nach dem Weltkriege vornehme.“
Er ließ sich denn auch durch Harst in keiner Weise davon abhalten, den Geheimrat jetzt um Mitternacht zu stören, reichte Harald den Hörer, nachdem die Verbindung hergestellt war, und lächelte wieder leicht ironisch, als der berühmte Erfinder und Großindustrielle voll bestätigte, Simpson sei ein alter Bekannter von ihm und ein untadeliger Ehrenmann.
Der Abschied von dem Professor, der jetzt den Großmütigen, Nachsichtigen spielte, vollzog sich in höflichsten Formen, und wir beide verließen das einsame Haus, in dem wir uns so bedenklich blamiert hatten, kurz nach den vier Schupobeamten. –
Blamiert?! – Hm – ich wußte doch nicht so ganz bestimmt, ob dieser nächtliche Ausflug wirklich mit einer Blamage geendet hatte. In mir stritten allerlei Empfindungen miteinander. Während wir schweigend und völlig durchweicht (Harst ließ sich auf keinerlei Unterhaltung ein) heimwärts gingen, überlegte ich mir alles nochmals aufs gründlichste. Und: das Ergebnis war, daß Mr. Edward Simpson, englischer Professor, Mitglied verschiedener gelehrter Gesellschaften, mir – – höchst anrüchig erschien!!
Aber ich hielt den Mund. Mit Harald über etwas reden, wenn er nicht will, ist unmöglich. Es gibt keinen rücksichtsloseren Menschen als ihn – in dem einen Punkte.
Wir kamen zu Hause an. Im Flur sagte er – mit gedämpfter Stimme:
„Lieber Alter, der Simpson ist ein Mordsesel!! Gute Nacht.“
Und er zog sich in seine Räume zurück. –
Anderen Tags gegen elf saßen wir beim Frühstück. Harald sah die Morgenzeitungen durch.
Und las mit einem Male vor:
„Abermals sind bei drei Banken in der Provinz größere Mengen jener so tadellos gefälschten englischen Pfundnoten angehalten worden, und zwar in Magdeburg, Lübeck und Augsburg. Es handelt sich um insgesamt 48 000 Pfund Sterling. Die Fälscher haben wieder ein glänzendes Geschäft gelandet. Die Dinge liegen nun bald so, daß niemand mehr englische Pfundnoten annehmen kann, da ja nur die allergenaueste mikroskopische Untersuchung die Falschstücke erkennbar macht …“
Harst fügte hinzu und griff nach einer seiner süßlichen Mirakulum-Zigaretten:
„Ich habe mir die Orte gemerkt, wo in letzter Zeit Falschstücke aus der Fabrik des Herrn Professor Simpson aufgetaucht sind: Danzig, Stettin, Rostock, Frankfurt a. O., Leipzig, und nun noch Magdeburg, Lübeck und Augsburg. Vergiß die Städte nicht …“
Ich war froh, daß er nun endlich redete, und ich war noch froher, daß ich richtig vermutet hatte: Harsts Verdacht gegen Simpson war nicht erloschen!!
„Erkläre mir bitte,“ fragte ich schnell, „weshalb Du das Wort „streben“ so merkwürdig …“
„Streben, Doktor Streben ist der Amerikaner, der die Farbenphotographie so sehr vervollkommnet hat, daß die Herren Fälscher in der Lage sind, Banknoten auf photographischem Wege herzustellen. Und dies ist auch Simpsons Fabrikationsmethode.“
„Ah – und er merkte, daß Du auf Doktor Streben hinwiesest. Er kniff die Augen zu …“
„Ja – er ist wie gesagt ein Mordsesel, mein Alter. Er hat noch mehr Fehler gemacht. Wie konnte er sich zum Beispiel als Schattenbild mit den Hörern über dem Kopfe am Fenstervorhang zeigen, wo er doch keine sichtbare Antenne an seinem Hause hat, also heimlich irgendwie eine Funksprucheinrichtung benutzt?! Außerdem …“
Er schwieg, machte eine kurze Handbewegung. „Nein – darüber später …!“ meinte er kühl. „Darüber – über seinen größten Fehler!“
„Bitte, nenne mir diesen gleich,“ meinte ich ernst. „Wer weiß, wozu es gut ist …“
Harald lachte. „Alterchen, so lockst Du mir den Haupttrick nicht heraus!! Gedulde Dich …“
Und – wahrscheinlich um meine Gedanken abzulenken, reichte er mir nun das Medaillon Anna Karstens hin. „Sieh es Dir genau an,“ sagte er in ganz anderem Tone. „Sehr genau! Es ist interessant – sehr interessant …! Es ist ein Amulett, wie man sie in England trägt. Vielmehr ein Teil eines Amuletts …“
Das, was ich bisher für ein besonders geformtes Medaillon gehalten, war nichts als ein Stück einer großen Bronzemünze, auf die ein Plättchen aufgelötet war, unter dem ein paar Fasern hervorragten …
„Ein wenig von dem Strick eines Delinquenten,“ erklärte Harald jetzt. „Das sind die Fasern, mein Alter. In vielen Gegenden Europas herrscht der Aberglaube, daß solch ein Strick, der einen Menschen vom Leben zum Tode beförderte, geheimnisvolle Wirkungen hat. Die Münze aber ist eine Nachahmung jenes Geldstücks, das die Königin Elisabeth von England angeblich zum Andenken an die Hinrichtung ihrer Rivalin Maria Stuart prägen ließ. Diese Nachbildung ist gewaltsam zerbrochen. Die Bruchstelle ist sehr unregelmäßig. Ich nehme an, daß die andere Hälfte der Münze jemand ebenfalls als Amulett trägt – jemand, der Anna Karsten nahestand. Und nun noch der Draht, an dem das Amulett befestigt ist. Das ist … Antennenlitze, geflochtene Antennenlitze, deren Enden verlötet sind. Also ein ganz modernes Kettchen zu einem modernen Requisit des unausrottbaren Aberglaubens …“
Das war alles recht interessant. Das eröffnete allerhand Möglichkeiten, allerhand Aussichten auf besondere Zusammenhänge.
„Ein wirklich durchaus nicht alltäglicher Fall,“ betonte nun auch Harst und nahm eine frische Zigarette. „Wir haben hier also einen Gelehrten von Ruf, der sein gefährliches Verbrechertalent hinter streng wissenschaftlicher Betätigung verbirgt, einen Fälscher, wie ihn die Kriminalgeschichte bisher nicht kennt, einen Mann, der weiß, daß wir hinter ihm her sind und der heute den Stier bei den Hörnern packte, indem er uns mit in sein Haus nahm und uns klarmachte, daß er ein harmloser Meteorologe sei. Nun bildet dieser selbe Herr sich vielleicht ein, daß wir ihn fortan in Ruhe lassen werden. – Und weiter ist da Anna Karsten, ist das sonderbare Amulett und … – Ah – der Briefträger mit der Mittagspost … Nimm ihm die Sachen ab. Er kommt gerade durch den Vorgarten …“ –
Unter den Postsachen befand sich ein Brief aus Danzig den ich hier gekürzt wiedergeben will.
Geehrter Herr!
Sie werden verzeihen, wenn ich mir erlaube, mich Ihnen mit einer Bitte zu nahen. Ich bin nur eine einfache Frau, Witwe eines Beamten, und wohne hier westlich des Vorortes Langfuhr bei Danzig in einem Häuschen des Dorfes Pietzkendorf. Ich habe nun wiederholt in den Zeitungen Ihren Namen gelesen, geehrter Herr Harst, und da nun doch meine Tochter Anna seit fünf Wochen verschwunden ist, nachdem sie nach Berlin gereist war, um eine neue Stellung anzutreten, und da die Polizei von ihr nichts mehr entdeckt hat, wende ich arme einsame Frau mich nun an Sie, der doch schon vielen geholfen hat. Anna ist mein einziges Kind. Sie schickte mir aus Berlin vor genau fünf Wochen noch zehn Dollar, die ich gut gebrauchen konnte. Seitdem weiß ich nichts mehr von ihr. Sie war in Berlin im Pensionat Schlüter am Schiffbauerdamm Nr. 22 abgestiegen. Von da ist sie verschwunden. Vielleicht sind Sie so freundlich und prüfen einmal, ob meine Anna nicht womöglich ins Ausland verschleppt worden ist. Sie sollte Sekretärin bei einem amerikanischen Kaufmann namens John Setter werden, hat diesen aber nicht mehr aufgesucht. Er wohnt in Berlin-Schöneberg, Am Stadtpark Nr. 38.
Hochachtungsvoll
Frau Emilie Krug,
Witwe.
Anna – Anna Krug zwar, aber doch – es stimmte zeitlich ganz genau: diese Anna Krug konnte die Tote sein, die wir im Bosporus gefunden hatten und die als Abgesandte der Fälscherbande nach Konstantinopel gekommen war.
Harst hatte den Brief mir kaum vorgelesen, als er auch schon aufsprang und im Fernsprechverzeichnis nach Mr. John Setter suchte.
Wirklich – Setter war dort enthalten.
Harald telephonierte. Setters Diener erklärte, sein Herr sei verreist – nach München. Rückkehr ganz unbestimmt. – Dann wollte der Diener durchaus wissen, wer am Apparat sei …
Harst erwiderte: „Das ist ja gleichgültig … Ich habe eine geschäftliche Angelegenheit mit Mr. Setter zu besprechen.“
Der Diener: „Ich habe Befehl, jeden Anruf zu notieren, mein Herr. Vielleicht sind Sie also so liebenswürdig und sagen mir Namen und Adresse …“
Harst: „Karsten ist mein Name. Ich bin zurzeit …“
Der Diener: „Wie – – Karsten?! Das ist aber merkwürdig!“
Harst: „Inwiefern?“
Und dann – dann des Dieners Antwort: „Ich heiße nämlich selbst Karsten …“
Harald hat mir die Angaben des Mannes hinterher genau wiederholt, so daß ich sie hier nun nach meinen Notizen wörtlich anführen kann.
Harst: „Das ist allerdings ein Zufall … Nun – der Name Karsten ist nicht selten. Stammen Sie auch aus Westpreußen?“
Karsten: „Ja – aus Danzig …“
Jeder kann sich leicht vorstellen, wie diese Antwort auf Harald wirkte!
Anna Krug sollte bei Mr. Setter Sekretärin werden, verschwindet aus Berlin, wird nicht mehr gefunden. Und nur stoßen wir bei diesem Mr. Setter, der Anna Krug nach Berlin berief, auf einen Danziger namens Karsten – also auf den Namen, den Anna Krug in Konstantinopel führte! – –
Eine Stunde später läuteten zwei ältere Herren, die mit Harst und Schraut auch nicht die geringste Ähnlichkeit hatten, an der Flurtür der Hochparterrewohnung Mr. Setters.
Ein jüngerer Mann öffnete uns, ein Mensch von recht sympathischem Äußeren, stattlich, groß, schlank, nur – – nur sehr unruhigen Augen – sehr unruhigen!
Harst zog seine Legitimation hervor, zeigte sie dem Manne flüchtig und sagte:
„Wir sind Beamte des Schöneberger Wohnungsamtes. Wir sind beauftragt, die Angelegenheit Mr. Setters nachzuprüfen. Wer sind Sie? Mr. Setter selbst?“
„Nein, sein Diener. Mr. Setter ist verreist.“
„Dann werden Sie uns einige Fragen beantworten können.“
„Bitte … Wollen die Herren nähertreten …“
Er führte uns in ein sehr elegantes Herrenzimmer. Er war völlig ahnungslos.
„Seit wann hält sich Mr. Setter in Berlin auf?“ begann Harald.
„Seit einem Jahr …“
Das Verhör ging weiter. Harst tat so, als ob das Wohnungsamt hier eine Schiebung als vorliegend erachte.
Und dann – nur ein Harald Harst vermag solche Überfälle auf schwachnervige Menschen zu inszenieren – dann zog er sein Taschentuch hervor und … das Amulett fiel Karsten gerade vor die Füße …
Karsten bückte sich diensteifrig …
Dann – dann fuhr er hoch, stieß einen gurgelnden Schrei aus und taumelte leichenblaß in den nächsten Sessel, sank schwer hinein und stierte wie gebannt abwärts auf den Teppich – auf das Amulett …
Harald tat, als hätte er das seltsame Benehmen des Dieners ganz falsch eingeschätzt.
„Ihnen ist anscheinend nicht ganz wohl,“ meinte er mitfühlend. „Sind Sie krank? – Hm – weshalb starren Sie so entsetzt auf das Ding da?!“ Er lachte. „Ja – das ist ein komisches Medaillon … Ich hab es gefunden …“
Karsten umkrallte die Sessellehnen, schaute Harald wild an.
„Wo – wo haben Sie es gefunden?“ rief er schrill. „Und – – gefunden?! Das – das ist ja gar nicht möglich.“
„Hm – kennen Sie denn das Ding, die zerbrochene Münze?!“
„Ob ich sie kenne …“ Er hüstelte dann … „Das heißt, ich habe mal eine ähnliche gesehen. Also – wo fanden Sie das Amulett?“
Jetzt sagte er richtig „Amulett“ …! Und das war sehr wichtig. Das bewies: er mußte zu Anna Krug Beziehungen gehabt haben. Er wußte, daß es ein Amulett und kein bloßes Medaillon war!
Harald erwiderte achselzuckend: „Gestern im Stadtbahnzuge lag das Ding auf der Bank. Ein Unsinn, daß ich’s einsteckte. Es ist wertlos.“
„Oh – schenken Sie es mir,“ bat Karsten hastig. „Schenken Sie es mir. Ich bitte Sie …!“
Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Er war noch immer völlig verstört.
„Gut – meinetwegen! Da haben Sie’s! – Die Sache wäre dann hier vorläufig erledigt …“
Er hatte das Amulett Karsten gereicht, der es ihm geradezu aus der Hand riß.
Wir sahen, daß des Dieners Augen sich mit Tränen füllten. Wir taten aber, als bemerkten wir’s nicht.
Gleich darauf wanderten wir durch den Stadtpark heimwärts.
Harst hatte mich untergefaßt. „Alterchen, das nennt man Glück haben! Oh – das Netz um den ehrenwerten Herrn Professor Simpson zieht sich immer enger zusammen. Wir … fahren nach Danzig zu Frau Krug.“ –
Abends benutzten zwei ältere elegante Herren den D-Zug nach Königsberg. In Marienburg stiegen wir nach Tiegenhof um und entgingen so den lästigen Paßscherereien.
In Danzig stiegen wir im Hotel Kontinental am Hauptbahnhof ab. Und nachmittags gegen drei wanderten wir durch den Langfuhrer Stadtpark und über die Berge nach Pietzkendorf, fragten ein paar spielende Kinder nach dem Häuschen der Witwe Emilie Krug und standen dann vor diesem blitzsauberen kleinen Anwesen, in dem Anna Karstens Mutter wohnte.
Idyllisch unter alten Kastanien lag das Häuschen abseits des Dorfes. Hinter dem einstöckigen Bau zog sich ein großer Gemüsegarten in Terrassen einen Berg hinan.
Wir gingen am Zaune entlang, um erst einmal zu rekognoszieren …
Mit einem halblauten „Nein – ist das merkwürdig!!“ blieb Harald dann stehen und deutete auf einen Regenmesser, der zwischen zwei Beeten an einem Pfahl befestigt war …
Ein Regenmesser war’s, an dem es wirklich nichts zu sehen gab.
Und doch – Harald fügte sinnend hinzu: „Wenn Frau Krug etwa mit zu …“
Und hielt mitten im Satz inne …
Eine kleine, magere, sonngebräunte Frau war vom Häuschen her näher gekommen und musterte uns argwöhnisch, rief dann nicht eben freundlich:
„He – daß Sie mir ja nicht über den Zaun klettern! Ich lasse mir meine Beete nicht zertrampeln!“
Harst zog den Hut. „Entschuldigen Sie, liebe Frau … Was ist das da für ein Apparat an dem Pfahl?“
„Ja – das ist’s ja eben!“ erwiderte sie unwillig und näherte sich dem Zaune. „Des Dinges wegen habe ich so viel Ärger. Immer wieder klettern Neugierige nachts über den Zaun und zertreten mir die jungen Pflanzen. Ein Regenmesser ist das. Wenn der Professor mich nicht so gut dafür bezahlte, daß ich das Ding hier dulde, würde ich …“
„Welcher Professor, liebe Frau?“
„Nun – ein englischer Professor, Herr Edward Simpson. In Berlin wohnt er – bei Berlin …“
Sie lehnte sich an den Zaun. Nun hatte ich ihr gutes, vergrämtes Gesicht dicht vor mir.
Harald meinte darauf: „Ein hübscher Besitz, den Sie Ihr eigen nennen dürfen, wirklich hübsch …“
Ich hörte gar nicht mehr recht auf das Gespräch hin. Ich dachte nur an dieses weitere Glied der Kette, die sich zwischen Anna Karsten und Setter und dem Diener Karsten nun auch bis Simpson hinzog …
„Versehen Sie denn den großen Garten ganz allein?“ fuhr Harald fort. – Oh, er verstand es ja so glänzend, auch hier wieder diese schlichte Witwe auszuhorchen.
Über das biedere Gesicht des Weibleins huschte eine Wolke tiefen Grames.
„Allein?“ meinte sie traurig. „Ich hatte eine Tochter, Herr, aber die ist … ja sie ist verschwunden im großen Berlin, nachdem sie mir schon vorher genug Herzeleid bereitet hatte. Bei den Mädchen ist’s ja immer so: sie sehen nur nach dem Äußeren, lassen sich so leicht blenden. Ich konnte doch nicht dulden, daß sie den Menschen da heiratete, der schon vorbestraft war. Nein, ich bin eine einfache, aber anständige Frau, lieber Herr …“
„Hm – ein Mann kann sich bessern, Frau Krug …“
Sie schaute überrascht auf.
„Wie, Sie kennen meinen Namen?“ rief sie erstaunt.
„Ich … bin Harald Harst, Frau Krug …“
Sie musterte uns von oben bis unten. „Das kann nicht sein,“ erklärte sie dann sehr bestimmt. „Herr Harst sieht ganz anders aus. Ich habe Bilder von ihm in der Illustrierten Rundschau gesehen.“
Harald zeigte ihr seinen Ausweis. „Wenn man Detektiv ist, liebe Frau Krug, verändert man sich nach Wunsch.“
Nun war sie doch überzeugt, daß wir sie nicht täuschen wollten, zumal Harst ihr noch ihren Brief vorwies. Sie nötigte uns ins Haus, und hier hörten wir dann den Namen des Verehrers Anna Krugs, hier bestätigte die arme Mutter uns, daß er Karsten hieß, Albert Karsten, und von Beruf … Photograph war.
Photograph – – und die falschen Banknoten!! Das war abermals sehr bedeutungsvoll …! –
Nach einer halben Stunde verabschiedeten wir uns. Wir hatten mit Frau Krug verabredet, daß wir als Sommergäste eins der Vorderzimmer beziehen würden.
Abends siedelten wir aus dem Hotel nach Pietzkendorf über. Wir hießen hier Hirter und Schrann und waren Kunstmaler aus Düsseldorf.
So begann die Reihe unserer Danziger Abenteuer …
So begann die völlige Einkreisung des größten Banknotenfälscherkonsortiums, das je die Welt mit ihren Produkten überschwemmt hat.
Unser Zimmer in dem Häuschen war äußerst sauber. Auch unsere Verpflegung hatte Frau Krug übernommen. Schon am nächsten Nachmittag stellten wir durch Nachfrage auf dem Danziger Standesamt fest, daß die volljährige Anna Krug zwei Tage vor ihrer Abreise aus Danzig mit Albert Karsten sich verheiratet hatte. – Frau Krug weinte und jammerte, als Harst ihr dies abends mitteilte. Daß Anna tot war, verschwieg er ihr. Was wir sonst noch über das Mädchen von ihrer Mutter hörten, war nicht allzu günstig. Sie mußte ein sehr stark ausgeprägtes Selbständigkeitsgefühl besessen haben. Sie hatte zuletzt in Danzig allein gewohnt und war als Buchhalterin tätig gewesen, hatte ihre Mutter aber jeden Tag besucht und ihr bei der Arbeit geholfen.
Weiter sagte uns dann Frau Krug, daß der Regenmesser des Professors hier von dem Gastwirt Knobloch bedient würde, einem Manne, der sich eines wenig guten Rufes erfreute. Knobloch käme nach Regentagen abends und morgens und messe die Wassermenge in dem Zinkbehälter. –
Und an diesem selben Abend des 1. Mai ereignete sich dann etwas so Merkwürdiges, daß selbst Harald, der doch gewiß Nerven wie Stahltaue hat, ein wenig außer Fassung geriet.
Zunächst möchte ich noch bemerken, daß mir der Zweck unseres hiesigen Aufenthaltes nicht recht ersichtlich war. Frau Krug war ja ohne Zweifel niemals eine Verbündete Simpsons. Das hätte jeder für ausgeschlossen gehalten, der auch nur ein paar Worte mit der früh verblühten Frau gewechselt hatte. Also – weshalb blieben wir noch in Danzig?! – Als ich Harald hiernach fragte, erwiderte er nur: „Des Regenmessers wegen …“
Man wird begreifen, daß diese Antwort mich überraschte. Allerdings bin ich ja daran gewöhnt, aus Harsts Worten mehr herauszulesen als andere es könnten. Der Regenmesser – also der Gastwirt Knobloch!! dachte ich mir. Harald hält eben Knobloch für ein Mitglied der Fälscherbande.
Und nun war es zehn Uhr abends. Frau Krug schlief bereits. Wir hatten sie darauf vorbereitet, daß wir sehr unruhige Mieter seien, die auch nachts ein- und ausgingen.
Es war ein wolkiger, kühler Abend. Es drohte mit Regen.
„Vorwärts!“ sagte Harald ganz unvermittelt. „Beziehen wir nun unseren Beobachtungsposten in der Glaslaube hinter dem Hause. Ich habe die Türgelenke gut geölt. Es wird ja langweilig werden, aber – was hilft’s?!“
Schweigend schlüpfte ich in den warmen Ulster.
Und dachte wieder an Knobloch, den Gastwirt …
Oh – es kam anders …
Ganz anders kam’s …
Es konnte kaum einen besseren, geeigneteren Beobachtungsstand geben als Mutter Krugs Glaslaube, die nach drei Seiten Fenster hatte und von der aus bis zum Regenmesser keine zwölf Schritt zurückzulegen waren.
Wir hatten unsere Prismenferngläser mitgenommen. In einer mäßig dunklen Nacht tut ein solches Glas gute Dienste.
Nur einen einzigen Nachteil hatte die Laube: in Richtung nach dem Regenmesser hin gab es eine Reihe Stachelbeersträucher, und diese Sträucher verdeckten den dicken, viereckigen Pfahl des Regenmessers vollständig. Trotzdem konnte uns jedoch ein Mann, der sich über den Staketenzaun schwang, niemals entgehen.
Harald saß in einem Gartenstuhl und ich auf einer Bank. Wir rauchten. Die Tür der Glaslaube hatten wir nur angelehnt.
Ringsum herrschte bis auf das Rauschen der Bäume und bis auf das ferne Kläffen einiger Dorfköter völlige Stille.
Es wurde elf Uhr. Wir saßen und schauten gelegentlich durch die Fenster hinaus. Wir schwiegen. Harst hatte meinen Versuch, eine geflüsterte Unterhaltung zu beginnen, abgelehnt.
Ich sah abermals nach dem Leuchtzifferblatt meiner Uhr …
Einviertel zwölf …
Und – da geschah draußen etwas …
Da richtete sich plötzlich neben dem Pfahle ein Mann, der nur anderswo über den Zaun gestiegen sein konnte, neben dem Regenmesser halb auf …
Er mußte bis dahin auf allen vieren gekrochen sein – mußte! Wir hätten ihn sonst früher bemerkt.
Harald griff nach dem Fernglas. Ich tat dasselbe. Meine Müdigkeit, die ich bisher nur durch die starke Havanna bekämpft hatte, war verflogen – vollständig …
Der Mann kniete neben dem Pfahle. Das erkannte ich durch das Glas ganz genau. Er hielt den Kopf gesenkt und arbeitete mit den Händen an dem Regenmesser. Es war ein recht großer, hagerer Mensch mit schwarzem Vollbart. Er hatte eine weiche, dunkle Mütze auf.
Plötzlich flüsterte Harst:
„Achtung – – ein zweiter …!!“
Ja – da stieg jetzt sehr gelenkig und sehr rasch ein anderer Mann über den Zaun, war mit drei, vier Sätzen vor dem Knienden und … taumelte mit einem Male zurück, sank langsam in die Knie und vornüber …
Der erste Mann aber entfloh jetzt, als Harst die Tür aufstieß und dabei leider eine Gießkanne umwarf, infolge dieses Geräusches die Terrassen aufwärts …
Harald hinter ihm her …
Noch nie habe ich meinen Harst so windschnell dahin jagen gesehen wie damals. Im Laufen riß er sich den ihn behindernden Ulster vom Leibe, schleuderte ihn beiseite.
Ich blieb sehr bald zurück. Kein Wunder: kürzere Beine, ein Bäuchlein …! Das sind keine günstigen Anhängsel für einen Schnelläufer …
Aufwärts die Terrassen ging’s …
Bis an den Zaun, bis an das Kornfeld, das hier begann …
Harst, ebenso der Verfolgte, waren verschwunden, als ich den Zaun erreicht hatte. Ich wußte, daß fünfzig Meter weiter eine schmale Schlucht sich steil durch die Äcker zog, eine jener Schluchten, die dort nordwestlich der nunmehr „freien“ Stadt Danzig keine Seltenheit sind.
Ich kehrte um. Ich wollte mich doch mal um den anderen Mann bekümmern, den ich im Dahinjagen flüchtig inmitten der Beete liegend bemerkt hatte.
Der Mann lag noch dort. Ich beugte mich über ihn, leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht, fühlte nach dem Puls.
Der Fremde war tot. Er hatte ein bartloses, verkniffenes Bulldoggengesicht und eine sehnige kleine Figur. Sein Sportmantel war kurz, und sein weicher Filzhut hatte im Futter einen Londoner Firmenaufdruck.
Harald erschien neben mir – keuchend, verstimmt, schwitzend …
„Entwischt!“ sagte er …
Dann sah er sich den Toten an.
Er fand keinerlei Papiere, nur reichlich Geld, eine Repetierpistole und andere Kleinigkeiten in den Taschen des Fremden, der – und das war sehr merkwürdig – durch einen Stich ins Herz getötet worden war. Merkwürdig insofern, als ich jederzeit hätte beschwören können, daß der Mann, der uns entkommen war, überhaupt nicht irgendeine Armbewegung nach dem Ermordeten hin gemacht hatte.
Als ich Harald dies sagte, nickte er nur. „Ganz recht – ein seltsamer Mord!“
Wir standen nebeneinander vor dem Toten. Harald schien nachzudenken. Mechanisch zog er sein Zigarettenetui hervor. Mechanisch zündete er eine Mirakulum an.
Mir zuckten die Lippen vor Ungeduld. Ich konnte mich nicht länger beherrschen.
„Der Flüchtling war vielleicht der Gastwirt Knobloch,“ meinte ich zaghaft.
Harald blieb stumm.
„Wir sollten zu Knobloch gehen,“ erklärte ich gereizt, denn Harsts wenig angenehme Gewohnheit, gerade in den aufregendsten Momenten den großen Schweiger zu spielen, ärgerte mich stets aufs neue.
„Gut – gehen wir … Er wird Telephon haben. Und wir müssen ja die Danziger Polizei benachrichtigen,“ erwiderte er ebenso versonnen.
Dann zog er seinen Ulster über und fügte hinzu:
„Betrachte mal den Boden. Ich möchte die Spuren rasch skizzieren. Frau Krug hat den Platz um den Regenmesser nachmittags frisch geharkt gehabt.“
Er zeichnete flink eine sehr übersichtliche Skizze. Und kaum zehn Minuten darauf klopften wir August Knobloch heraus. Das heißt: Knobloch war nicht daheim. Nur seine Frau riß ein Fenster auf und kreischte wütend: „Das ist ja unerhört!! Schon wieder eine Störung! Was wünschen Sie denn?“
Das Gasthaus, das wir uns schon am Tage von außen angesehen hatten, machte einen sehr verwahrlosten Eindruck. Frau Knobloch schien hier hineinzupassen.
„Ihren Mann möchten wir sprechen,“ erklärte Harald sehr liebenswürdig.
„Der ist vor fünf Minuten weggegangen …“
„So?! Vor fünf Minuten?“
„Nun, es können auch sieben oder acht sein … Jedenfalls: er ist nicht da.“
„Wohin ging er denn?“
„Mit einem Herrn, der uns geweckt hatte.“
„So … so – Also mit einem Bekannten …“
„Das weiß ich nicht. Der Herr sagte nur zu meinem Mann, die Sache sei eilig. Ich kenne den Herrn nicht, und August, mein Mann, verkehrt mit allen möglichen Leuten.“
„Haben Sie Telephon, Frau Knobloch …?“
„Ja …“
„Ich muß die Polizei in Danzig anrufen …“
Da verstummte die Frau gänzlich. Und – warf das Fenster zu, verschwand.
„Hm!!“ machte Harald sehr gedehnt. „Hm – Polizei liebt Frau Knobloch nicht …“
Wir wollten weiter und im anderen Gasthof unser Glück versuchen.
Da blieb Harst stehen, horchte …
Hinter Knoblochs Gebäude zog sich ein großer Garten in die Felder hinein. Und – da hinten irgendwo heulte ein Hund – ganz merkwürdig …
„Hm!!“ machte Harald wieder … „Ich denke, wir sehen einmal nach … So heult ein Hund nur, wenn er sich bei einer Leiche befindet …“
Die langgezogenen Klagelaute des Tieres weckten seltsamerweise kein Echo in den Nachbarhäusern, während sonst doch die Herren Dorfköter nur darauf warten, daß einer zu blaffen beginnt und dann sämtlich mit einstimmen …
Harst umging das Gebäude. Wir kamen in den von Stallungen umgebenen Hof, dann in den verwilderten Obstgarten.
Hier wies uns der Hund den Weg. Es mußte ein sehr großes Tier sein.
Wir näherten uns vorsichtig der Westecke des Gartens. Und dann – dann sahen wir das Tier neben einer im Grase liegenden Männergestalt …
Ein Wolfshund war’s …
Harald rief ihn an. Der Hund knurrte drohend.
Harald ging näher …
Ich wurde Zeuge, wie Harst sogar mit diesem starken Tiere fertig wurde, das ihn plötzlich wütend ansprang.
Er bekam den Hund beim Halse zu packen, würgte ihn.
Und doch: keine hastige Bewegung hatte er getan, hatte ruhig abgewartet, bis der Hund im Sprunge in der Luft schwebte.
Das Tier zappelte, keuchte …
Und fiel zu Boden. Es war bewußtlos …
Harst hielt sich nicht lange bei August Knoblochs Leiche auf …
Knobloch, nur in Unterhosen, Hemd und einem alten Mantel und Filzschuhen, hatte ebenfalls genau dieselbe Herzwunde wie der Fremde am Regenmesser – genau dieselbe.
Er lag auf dem Rücken. In dem gedunsenen Gesicht jenes kleinen, dicken Menschen lag ein Ausdruck zügellosester Wut. Selten sah ich ein Antlitz so verzerrt wie dieses.
Der Hund bewegte die Füße.
„Gehen wir,“ sagte Harald halblaut. „Ich weiß nun genug – übergenug!“
Wir verließen den Garten. Wir wanderten die stille Dorfstraße entlang.
Ich – ich sann und sann. Ich wollte einen Zusammenhang zwischen dem ersten Mord und diesem zweiten Verbrechen herstellen. Und erklärte schließlich:
„Es ist derselbe Täter. Es ist der lange Mensch, der neben dem Regenmesser kniete.“
„Aber – aber wie?“ fragte Harst nur.
„Du meinst, wie der Unbekannte den ersten Mann erstach? Ja – das weiß ich nicht …“
Da schob er seinen Arm in den meinen. „Lieber Alter, der Täter hatte einen Spazierstock bei sich …“
Ich stutzte … Ich erinnerte mich sofort an Degenstöcke.
Harst fügte schon hinzu: „Der Täter besitzt einen Stock, aus dessen Zwinge durch einen Druck eine schmale lange Klinge mit großer Kraft hervorschnellt und auch wieder zurückfährt. Nur so kann es sein. Ein gewöhnlicher Degenstock ist’s nicht. Denn der Täter hätte, da der Fremde ihn so überraschend ansprang, nie Zeit gehabt, den Degen zu ziehen. Du verstehst …“
„Ja – ich verstehe … – Und – wer mag der Täter sein?“
„Der Figur nach … Professor Simpson …“
Das war für mich wie ein Schlag gegen die Stirn.
Simpson … Simpson …?!
„Unmöglich, Harald!“ rief ich zweifelnd.
„Warte ab. Ich werde es beweisen. Simpson hat ausgespielt …“
Wir riefen vom anderen Gasthof die Danziger Polizei an. Um zwei Uhr morgens traf die Mordkommission in Pietzkendorf ein. Harald hatte sich am Fernsprecher zu erkennen gegeben. Wir beide hatten den Platz am Regenmesser bis dahin nicht mehr betreten.
Nun, als wir mit den drei Beamten dorthin gingen, als wir mit großen Karbidlaternen die Stelle beleuchteten, sahen wir, daß jemand mit einer Harke sämtliche Spuren gründlich verwischt hatte. Das konnte nur der Täter ausgeführt haben. Diese seine Handlungsweise zeigte, daß der Mann trotz der beiden Morde nicht im geringsten seine Ruhe verloren hatte. Harst behauptete, der Täter sei fraglos erst nach der Ermordung Knoblochs in den Garten der Witwe Krug zurückgekehrt und mußte uns beide beobachtet haben, wie wir Frau Knobloch herausklopften.
Die Polizei hatte einen Hund mitgebracht, der die Fährte dann auch tadellos ausarbeitete. Das Tier gelangte über die Felder in den Garten Knoblochs, von da wieder auf kürzerem Wege in den der Frau Krug und schließlich in die sogenannte Heide westlich von Langfuhr.
Hier nun die neue Überraschung: der Hund versagte plötzlich vollständig. Er lief umher, kam aber immer wieder zu demselben Fleck, dem Ende der Spur, zurück.
Harst versuchte die Fährte nun selbst weiter zu verfolgen. Es wurde heller und heller. Der Morgen nahte.
Harald kniete neben dem Endpunkte der Spur und beugte sich tief über die taufeuchten Gräser.
Er suchte … suchte …
Auch er versagte.
Es war nun ganz hell …
Er erhob sich, schob den Hut aus der Stirn, blickte in die Runde …
Flach, eben lag die Heide da, ein Terrain von vielleicht tausend Meter Breite …
Und wieder griff seine Hand ganz mechanisch in die Tasche, holte das Zigarettenetui hervor.
Er rauchte, starrte schräg abwärts …
Auf den Gesichtern der drei Danziger Herren bemerkte ich leises ironisches Lächeln. Sie glaubten wohl, der berühmte Harst spiele hier so etwas durch sein eigentümliches Benehmen Komödie – wolle Eindruck machen …
Harst stand und rauchte …
Und ich erkannte nun, daß sein Blick auf einem langen Strich ruhte, der sich durch das dürre Gras und über sandige helle Maulwurfshügel hinzog …
Nein – nicht ein einzelner Strich …
Zwei Striche waren’s – vielleicht eine Wagenspur …
Dann drehte Harst den Kopf und sagte zu dem Kriminalkommissar:
„Nicht wahr, nun ist’s klar, weshalb Ihr Hund nicht weiter arbeitet?“
Der Herr schwieg.
„Bitte – wollen Sie mal diese Räderspuren weiter verfolgen,“ meinte Harald höflich.
Der Kommissar erwiderte kühl: „Das tat ich schon, Herr Harst. Es handelt sich um ganz alte Spuren, die nach rechts und links schon nach siebzig Meter wieder verschwinden. Der Mörder ist nicht mit einem Wagen davongefahren, wie Sie annehmen.“
„Oh – Sie irren … Ich denke gar nicht an einen Wagen. Die Spuren sind auch nicht alt, sondern ganz frisch. Daß sie dann weiterhin beiderseits aufhören, hat doch eine Bedeutung, die mit der modernsten Beförderungsart zusammenhängt. Hier ist eben ein Flugzeug gelandet und wieder aufgestiegen. Und der Täter entfloh im Flugzeug.“ –
Ich habe dann auf den Gesichtern der drei kein ironisches Lächeln mehr bemerkt. Ich habe mich nur gefreut, daß die Herren meinen Harst jetzt wie ein rohes Ei behandelten. –
Gegen sieben Uhr standen wir alle abermals vor der Leiche August Knoblochs. Harst hatte weder von dem Degenstock, noch von Professor Simpson etwas erwähnt, hatte mir bei guter Gelegenheit warnend zugeflüstert: „Schweig’ von alledem, was wir wissen … Ein Professor Simpson wird nie durch die offizielle Polizei überführt werden – nie! Dazu gehören andere Leute – – wir!“ – Das klang im letzten Teil vielleicht etwas anmaßend, etwas überhebend. Wenn der Leser aber erst die weitere Entwicklung der Dinge kennt, wird er Harst recht geben: die Polizei hätte hier nichts ausgerichtet. Nur ein Harst ersann das Mittel, Simpsons Schandtaten aufzudecken.
Und jetzt, als der Polizeiarzt die Brust des toten Gastwirtes noch weiter freimachte, da … da enthüllte er ein seltsames Medaillon, das der Leiche an einem Draht um den Hals hing …
Es war … Anna Karstens Amulett.
Oder genauer gesagt: es war ein völlig gleiches Amulett!
Harald tat, als hätte er solch ein merkwürdiges Medaillon noch nie gesehen …
Frau Knobloch aber fragte er dann, woher dieses „Medaillon“, diese halbe Münze, stammte. Sie wußte es nicht. Sie sprach die Wahrheit. Zum Lügen war sie zu beschränkt. „Ich kann nur sagen, daß mein Mann die Münze schon seit einem Jahre trägt,“ erklärte sie. Im übrigen schwieg sie auf alle Fragen, die ihr unbequem waren. –
Bei dem Toten im Garten Frau Krugs fanden wir keine solche Münze. Wir beide suchten allein danach. Wir waren eine Weile unbeobachtet.
„Der Täter,“ sagte Harst, „hat auch nicht etwa diesem Toten das Amulett abgenommen, als er die Spuren mit der Harke beseitigte. Nein – der Litzendraht hätte am Halse einen dunklen Streifen wie bei Knobloch zurückgelassen. Dieser Fremde gehört nicht mit zu der Bande der Falschmünzer, deren Abzeichen das Amulett ist …“
So – nun wußte ich, was es mit Anna Karstens Amulett auf sich hatte …
Es war eine Vermutung Harsts, die sich auf mancherlei Tatsachen stützte. Die Vermutung war richtig, wie ich jetzt schon angeben will. –
Und am selben Tage noch, am 2. Mai, kehrten wir mittags mit dem Flugzeug eines Danziger Großindustriellen in aller Stille nach Berlin zurück, landeten um sechs Uhr nachmittags auf dem Flugplatz Johannisthal und fuhren von da heim nach der Blücherstraße.
Harald rief nun sofort den Geheimrat S., den Bekannten Simpsons, telephonisch an und fragte, ob wir ihn besuchen dürften.
Um neun Uhr betraten wir des Geheimrats Villa in der Villenkolonie Grunewald.
Und – fünf Minuten darauf wußten wir, daß Professor Simpson gestern, am 1. Mai, abends an einer Herrengesellschaft im Hause des Geheimrats teilgenommen hatte, die um halb neun begonnen und erst gegen zwei Uhr morgens ihr Ende erreicht hatte.
Der Geheimrat lächelte Harst freundlich an und sagte noch:
„Mein Lieber Herr Harst, – Ihre Fähigkeiten als Detektiv in Ehren! Aber hier sind Sie wirklich auf falscher Fährte. Simpson ist ein untadeliger Ehrenmann …“
Harald seufzte und lachte gleichfalls. „Ja – das sehe ich nun selbst ein, Herr Geheimrat. Und – ich hielt den Professor für einen Doppelmörder. In Danzig sind zwei Männer getötet worden, die …“
Der Geheimrat hielt sich die Ohren zu …
„Hören Sie auf … hören Sie auf! Simpson ein Mörder?!“
Und sein Benehmen uns gegenüber wurde dann so eisig und zugeknöpft, daß wir uns sofort verabschiedeten. Er hatte es Harald sehr übelgenommen, daß dieser es gewagt hatte, Simpson für einen Schwerverbrecher zu halten.
Unten auf der Bismarckallee sagte Harald ganz vergnügt – und mein Erstaunen wird jeder begreifen:
„Der Geheimrat mag bei seiner Ansicht bleiben. Wir bleiben bei der unsrigen, mein Alter, und – das ist die richtige!“
Ich erwiderte nichts. Wie sollte ich auch?! Simpson war in der kritischen Zeit hier in Berlin gewesen. Das stand fest. Der Geheimrat war als Alibizeuge einwandfrei[1]. Und doch: Harald tat, als hätte er den größten Sieg errungen!
Da fügte er denn auch schon hinzu, und seine Stimme klang ganz anders:
„Der Danziger Mörder kann nicht Edward Simpson gewesen sein. Das ist richtig. Aber – er hatte genau Simpsons Gestalt und Bewegungen – genau! Und das ist der eine Punkt, von dem ausgehend wir weiterarbeiten werden …“
Wer so lange wie ich mit Harald gemeinsam auf der Jagd nach Übeltätern die ganze Welt durchstreift hat, der hört, wie ich schon einmal betonte, aus geringfügigen Andeutungen allerlei heraus, der ist auch geistig so weit rührig, daß er einfache Schlußfolgerungen mühelos bewältigt.
Auch ich sah die Dinge nun mit anderen Augen an und sagte:
„Simpson kann einen Bruder haben …“
„Aha!“ lachte Harst. „Aha – Dir ist ein Licht aufgegangen. Beweise, daß es ein Licht von großer Kerzenstärke ist …“
„Hm – wie meinst Du das?“
„Nun – wo finden wir den Bruder?“
Diese sanfte Nachhilfe genügte …
„Am Stadtpark Nr. 38 …“ rief ich.
„Schrei’ nicht so …! – Ja, dort suchen wir den Mörder, der Mr. John Setter heißt! Dafür lege ich meinen Kopf auf den Block!“ –
Wir kamen zu Hause an. Wir waren zu Fuß gegangen. Und – gerade als Harald die Tür aufschloß, rollte draußen auf der Straße ein Auto heran – hielt vor unserer Gartenpforte.
Ein Herr stieg aus, zahlte, trat in den Vorgarten ein …
Es war Professor Simpson …
Er grüßte kühl.
„Soeben hat mich Geheimrat S. angerufen, Herr Harst, und hat mir mitgeteilt, daß Sie mich mit zwei Verbrechen in Zusammenhang gebracht haben …“
„Wollen wir das nicht besser drinnen besprechen, Mr. Simpson,“ fiel Harald ihm ins Wort.
„Mir nur lieb …“
Gleich darauf saßen wir in Haralds Arbeitszimmer.
Simpson hatte den Mantel anbehalten und hielt seinen großen schwarzen Schlapphut im Schoße. Sein Gesicht drückte eine unheimliche Entschlossenheit aus. Von den durchgeistigten Zügen war nichts mehr zu bemerken. Das da war ein Mann, dem jeder Menschenkenner es schon von den Augen ablas, daß er über Leichen ging …
„Die Sache muß ein Ende haben,“ begann Simpson ebenso eisig-drohend. „Ich könnte gegen Sie eine Beleidigungsklage anstrengen, wenn ich wollte …“
„Verzeihen Sie …“ unterbrach Harald ihn sehr höflich. Er stand rechts von Simpson am Schreibtisch. „Ihnen hängt da seitwärts aus dem Kragen eine Drahtschleife oder dergleichen heraus, – es scheint Antennenlitze zu sein …“
Simpson schoß das Blut ins Gesicht. Mit hastiger Handbewegung griff er nach dem Halse, tastete verwirrt nach der Litze, die … gar nicht da war …
Harst lachte schallend. Sagte aber kein Wort.
Und Simpson wurde bleich vor Wut. Seine Augen bohrten sich in die Haralds förmlich ein.
„Was sollte der Scherz?“ fragte er keuchend …
Und Harst erwiderte nun mit einem unendlich überlegenen Lächeln, indem er seine Clementpistole hinter seinem Rücken zum Vorschein brachte:
„Der Scherz bewies mir, daß Sie das Amulett Anna Karstens sehr gut kennen, daß Sie ebenfalls solch ein Bundeszeichen tragen. Sie werden jetzt ruhig dulden, daß mein Freund Ihnen das Ding abnimmt, oder – ich schieße Sie nieder, Edward Simpson, so wahr ich Harald Harst heiße!“
Simpson gewann seine Selbstbeherrschung zurück. Auch er lächelte plötzlich. Es war ein gräßliches Grinsen …
Er knöpfte sich die Weste, das Oberhemd auf …
Ich trat an ihn heran …
Er – trug kein Amulett. Ich fand keins an seinem Halse …
Und dann erhob er sich. „Herr Harst, ich kenne weder eine Anna Karsten, noch ein Amulett. Ihr Gefasele verstehe ich nicht.“ Er sprach es ganz mit der Würde der gekränkten Berühmtheit. „Morgen werde ich Sie beide wegen Bedrohung zur Anzeige bringen,“ fügte er hinzu.
Dann ging er … –
Er ging – – in sein Verderben. Er ahnte es nicht. –
Ich nehme an, daß die geneigte Leserin und der freundliche Leser so weit mit den Requisiten der modernsten Fernübertragung von Sprache und Musik, mit dem Funkspruch, vertraut sind, daß sie wissen, was Antenne ist. Es ist eben der Draht, mit dem die elektrischen Wellen aufgefangen werden. Man kann nun an Stelle solch einer Antenne auch Hilfsantennen verwenden, eben jede metallische Fläche, die groß genug ist, genügend viel Wellen in sich aufzunehmen und dann einem Radioapparat zuzuleiten.
Damals, als wir Mai 1923 den Professor Simpson uns als Opferlamm erkoren hatten, waren zwar die technischen Einzelheiten des Radioverkehrs bereits fast ebenso weit vorgeschritten wie heute. Aber ein Voxhaus[2], das uns jeden Tag laut und deutlich Musik, Vorträge und anderes übermittelt, gab es noch nicht. Auch Harald und ich besaßen noch keinen „Radio“. Heute, wo ich dies niederschreibe, am 27. Februar 1924, habe ich soeben kurz vor zehn Uhr abends mit meinem einfachen Detektorapparat die Tagesneuigkeiten vom Voxhause abgehört, so zum Beispiel, daß in Rußland heute früh zwanzig Grad Kälte, in Frankreich sechs und in England vier waren, daß der Dichter Hoffman von Fallersleben Gedenktag hatte – und anderes mehr. Zum Schluß kam „Deutschland, Deutschland über alles“, was jedoch sehr dünn, wie ein altes Spinett, klingt.
Und dann habe ich meine Arbeit wieder vorgenommen und will nun nach dieser kurzen Abschweifung auf ein ganz modernes Gebiet mich freundlichst wieder mit Edward Simpson weiterbeschäftigen. –
Der Herr Professor stelzte also davon.
Ich hatte ihn hinausgelassen, schaute ihm nach.
Er drehte sich an der Gartenpforte noch einmal um, blieb stehen und schaute zu mir hinüber …
Dann ging er nach links die Blücherstraße hinab.
Ich wollte die Haustür wieder abschließen …
Da trat aus Haralds Arbeitszimmer ein Mensch in den Flur, der mit meinem Harald kaum noch Ähnlichkeit hatte …
Ein Strolch war’s: zerlumpte Jacke, rotes Halstuch, wirrer Vollbart, schäbige Mütze …
Nur – nur die Unterpartie des Stromers war sehr kultiviert: Lackschuhe, gebügelte Beinkleider …
Dies beides hatte Harst eben in der Eile nicht mehr wechseln können, und seine Nase rieb er sich jetzt noch schnell mit Schminke blaurot, während er fragte:
„Welche Richtung?“
„Links hinab …“
„Du folgst mir – als Frau … Ich male Dir mit Kreide an jede Straßenecke Zeichen …“
Ich schloß ab und eilte in unser Ankleidezimmer.
In zehn Minuten war von Max Schraut nicht mehr viel übrig: Max Schraut, ehemaliger Schmierenkomödiant und Darsteller von Charleys Tante, hatte sich in ein Weib verwandelt wie man sie nur in Stromerherbergen antrifft. –
Ich steckte die Clement in die Tasche meines zerlöcherten Rockes. Ich steckte eine Taschenlampe und drei Ersatzbatterien ein, dazu Zündhölzer und ein Pappschächtelchen mit drei Zigarren.
Wie es bei Harst nicht ohne Mirakulum-Zigaretten geht, so geht es bei mir nicht ohne Zigarren. Das weiß zum Beispiel auch mein Verleger. Wenn ich ihn besuche, spendet er mir immer eine Zigarre aus jener Kiste, die im Geldschrank steht. Und was dort steht, ist gut. Leider spendet er nur immer eine. Er ist eine sparsame Natur und auch um meine Gesundheit besorgt. Viel Rauchen ist schädlich … –
Ich verließ unser Heim. Ich hatte Freude an dieser Jagd auf den Professor. Ich war so recht bei Laune.
Als ich die Straße betrat, war’s genau elf Uhr. Also gar nicht so sehr spät.
Ich schritt die Blücherstraße nach links hinab. An der nächsten Ecke fand ich am linken Hause einen geraden Kreidepfeil. Ich löschte ihn aus, so gut ich dies konnte, und ging geradeaus weiter.
Der Leser würde es höchst uninteressant finden, wenn ich ihm nun im einzelnen angeben wollte, wie Harst mich durch die Kreidezeichen hinter sich herzog. Diese Zeichen hatten wir ja schon längst genau vereinbart, und sie sind nicht unsere Erfindung, sondern stammen von den Zigeunern her.
Jedenfalls: Simpson hatte nicht die Richtung nach Dahlem eingeschlagen, sondern hatte sich nach Charlottenburg gewandt.
Ich landete schließlich am Charlottenburger Bahnhof. Hier lehnte in der Halle mein Freund Harald mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, denn – – Simpson war ihm hier entwischt.
„Er fing es schlau an,“ flüsterte der blaurotnasige Stromer mir zu. „Er war im Umsehen im Menschengewühl eines gerade eingetroffenen Fernzuges verschwunden …“
Wir beide, die wir wahrlich nicht vertrauenerweckend aussahen, erhielten jetzt den Beweis, wie echt wir wirkten.
Ein stämmiger Herr in Zivil trat an uns heran.
„Hier meine Marke. Ich bin Kriminalbeamter,“ sagte er leise. „Haben Sie beide Legitimationspapiere?“
Harald griff in die Hosentasche …
Ach – die schönen Beinkleider und die Lackschuhe hatte er inzwischen durch Kreide und Straßenschmutz nett zugerichtet!!
Er griff in die Tasche und hielt dem Beamten seine Legitimation mit Lichtbild hin, sagte dazu nur:
„Ich bin Harald Harst …“
„Ah – entschuldigen Sie, Herr Harst …“
„Bitte, hat nichts zu bedeuten … Sie könnten mir einen Gefallen tun.“
„Sehr gern …“
„Rufen Sie Kriminalkommissar Bechert an und bestellen Sie ihm, er solle sofort das Haus Schöneberg, Am Stadtpark 38 scharf überwachen lassen. Dort wohnt Hochparterre[3] links ein Mr. John Setter. Auf den habe ich es abgesehen.“
„Gut – sofort, Herr Harst. Also Stadtpark 38, Hochparterre links – John Setter … – Guten Abend …“
„Halt – noch etwas. Bechert soll jeden, der das Haus verläßt, beobachten, jeden. Und – Ihrer Diskretion bin ich sicher, Herr Assistent?“
„Vollkommen …“ –
Auch wir verließen den Bahnhof.
Wir suchten eine nahe Kneipe auf, die unserem Kostüm entsprach. Es war eine üble Kaschemme, eine ganz üble …
Wir setzten uns in eine Ecke, und Harst bestellte zwei Kalbsschnitzel und zwei Glas Grog.
„Wie is’s mit Plente?“ fragte der dicke Wirt.
Harald gab ihm Geld. „Plente jenug,“ grinste er.
Der Wirt verschwand.
„Es ist besser, wir soupieren erst noch ordentlich,“ flüsterte Harald. „Die Nacht kann lang werden.“
Dann beugte er sich noch weiter über den Tisch.
„Wir wissen nun, daß Simpson zeitweise ebenfalls das Bundesabzeichen trägt, eben ein Amulett. Heute trug er es nicht.“
„Allerdings – er hat sich verraten,“ nickte ich.
„Vielleicht ist er, da er mit einer Verfolgung durch uns rechnete, jetzt bei Setter,“ fuhr Harald fort. „Wahrscheinlich sogar. Und doch werden wir uns lieber nach Dahlem hinausbegeben und dort in dem alten Gebäude mal Umschau halten. Ich will feststellen, wo Simpson die Antenne seines Radioapparates verborgen hat.“
Der Wirt brachte das Essen.
Nach einer halben Stunde bestiegen wir die Straßenbahn und fuhren bis Roseneck, stiegen aus und gingen zu Fuß weiter.
Dann – – standen wir wieder genau hinter demselben Strauche in der Nähe des Regenmessers, der schon im Anfang dieses Abenteuers eine Rolle spielt.
Aber heute hatten wir klaren Himmel über uns, und auch nicht ein Tropfen Regen fiel.
Des Professors Heim lag in völliger Dunkelheit da.
„Er ist fraglos nicht zu Hause,“ meinte Harald. „Ich denke, wir wagen’s. Hunde hat er nicht – das weiß ich. Also vorwärts …“
Wir schlichen an die Mauer heran. Harst probierte, ob sein Patentdietrich das Schloß der Mauerpforte öffnete. Es gelang.
Wir lehnten die Tür nur an, damit wir recht rasch wieder hinaus könnten, und huschten dem alten Gebäude zu.
Es hatte nach dem Hauptwege des Gartens zu eine kleine Terrasse. Von dieser führte eine verwitterte eichene Flügeltür ins Innere.
Auch an dieser Tür versuchte Harald sein Glück.
Auch hier gelang’s …
Wir kamen hinein, und Harst schloß wieder ab.
Die Vorhalle war nur mäßig groß.
Wir standen regungslos und lauschten – minutenlang.
Nichts regte sich – nichts …
Und doch – doch hatte ich plötzlich ein unbehagliches Gefühl – ganz so, als ob mir eine innere Stimme zuraunte: „Kehrt um!“
Ich weiß nicht, wie diese innere Stimme so plötzlich in meinen feinsten, allerfeinsten Nerven lebendig wurde …
Bis – bis ich – – doch etwas hörte …
Ein … Ticken …
Ein hastiges, ganz schwaches Ticken – wie von einer Taschenuhr …
Genau so …
Wie von einer großen, schlechten Taschenuhr, die sehr laut tickt und die man durch Weste und Rock hindurch hört.
Dann – dann auch schon Haralds Mund an meinem Ohr: „Hast Du eine Uhr mit?“
„Nein …“
„Dann … ist Simpson hier in der Vorhalle …“
Das war nicht geflüstert, das war nicht geraunt. Das war nur gehaucht …
„Simpson hat eine altertümliche englische Taschenuhr,“ fügte Harald ebenso gehaucht hinzu. „Besinne Dich – damals der erste Abend hier …“
Ja – ich besann mich. Auch ich hatte das Monstrum von Uhr gesehen.
„Wenn wir eine Taschenlampe einschalten, knallt er uns nieder … Er hat uns erwartet … Er wird sich dann herausreden, er habe uns für Einbrecher gehalten …“
Ein Eiszapfen strich mir den Rückgrat entlang …
Das war ja eine allerliebste Situation …
Erschießen würde er uns …! Ja – auch ich war davon überzeugt …
„Bleib’ stehen,“ hauchte Harald weiter. „Oder besser – bücke Dich und tritt ein paar Schritt nach links …“
In denselben Moment kam aus der rabenschwarzen Finsternis vor uns eine Stimme – die tiefe Stimme Simpsons:
„Rühren Sie sich nicht. Ich warne Sie …“
Wir verharrten am selben Platze …
Wir wußten: Simpson hatte uns in seiner Gewalt! Wir waren ihm in die Falle gegangen.
Und die Stimme kam abermals aus der Finsternis:
„Herr Harst, weshalb sind Sie eigentlich so töricht, mir nachzustellen?!“
Harald schwieg …
… Und hauchte mir gegen das Trommelfell:
„Still – keinen Laut …!“
Eine Weile nichts … Dann wieder Simpson, durchaus nicht drohend, eher liebenswürdig-eindringlich:
„Herr Harst, so antworten Sie doch! Ich habe damit gerechnet, daß Sie mir folgen würden, daß Sie dann hierherkommen würden.“
Harald schwieg …
Und wiederum Simpson – jetzt mit leiser Ironie:
„Wie soll ich Ihr Verhalten mir auslegen? Haben Sie nicht den Mut, zuzugeben, daß Sie Harald Harst sind?“
Ich wurde jetzt stutzig …
Das war keine Falle von der Art, wie man sie Leuten stellt, die man beseitigen will. Da war noch irgendein Nebenumstand, der diese Situation unklar und verworren machte … Der Ton unseres Todfeindes Simpson – denn das war er ja fraglos – entsprach doch nicht dem eines Mannes, der zwei Leute unserer Art glücklich in seiner Hand hat.
Unvermittelt dann die Aufklärung …
Und so überraschend, daß ich unwillkürlich den Atem anhielt …
Eine andere Stimme meldete sich …
Ich erkannte sie sofort: es war das hellere, selbstbewußtere Organ des Geheimrates S.
„So machen Sie doch Licht, Simpson …“ rief er ungeduldig. „Diese Komödie ist ja widerwärtig. Es genügt doch, daß Sie zwei Zeugen dafür haben, daß Herr Harst und sein Freund Schraut widerrechtlich mit Hilfe von Nachschlüsseln hier eingedrungen sind …“
Und da flammte auch schon die große Ampel in der Halle auf …
Schräg über meinem Kopfe befand sich die milde Lichtquelle …
Da saßen mir an der anderen Wand in Lehnsesseln drei Herren gegenüber: Simpson, Geheimrat S. und einer, den ich nicht sofort unterzubringen wußte, bis ein nochmaligen Blick in sein rundes, frisches Gesicht meine Erinnerung weckte: es war der Direktor der Urania-Elektrizitätswerke, Doktor Ing. Hammer – derselbe Guido Hammer, der als Herrenrennfahrer einen Weltruf genoß.
Aber – – wo war Harst geblieben – – wo – –?!
Meine Augen glitten durch die Halle …
Harst war verschwunden …
Auch Simpson sprang schon empor …
„Wo ist Herr Harst?“ rief er schrill. Und in diesem Ruf lagen Unruhe, Verwirrung, schlecht verhehlte Wut …
Die Frage galt mir. Ich spielte hier wahrlich keine beneidenswerte Rolle …
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte ich der Wahrheit gemäß.
Auch der Geheimrat stand auf und trat an mich heran.
„Herr Schraut, offen gestanden: ich hätte Ihnen beiden derart törichte Taktlosigkeiten nicht zugetraut. Wirklich nicht …! Sie werden die Folgen zu tragen haben. Was Sie beide heute nacht hier taten, ist Hausfriedensbruch …“
Simpson lachte ärgerlich auf. „Lieber Geheimrat, ich muß Ihre und Herrn Hammers Hilfe leider noch weiter in Anspruch nehmen. Harst kann nur dort rechts über die Treppe in die oberen Räume geflüchtet sein. Hier in der Halle gibt es kein Versteck, und an uns konnte er nicht vorüber. Suchen wir ihn …“
Inzwischen hatte ich nach diesem peinlichen Erlebnis doch wieder meine Haltung zurückgewonnen.
„Wenn Sie gestatten, Herr Simpson,“ sagte ich eisig-höflich, „werde ich hier in der Vorhalle warten …“
„Meinetwegen …“ Ein Blick traf mich dabei – ein Blick, der mir verriet: zwischen diesem Manne und euch beiden gibt es keine Schonung mehr!
Die drei Herren schritten die Treppe empor.
Ich setzte mich …
Und versank sehr bald in jenes tiefe Grübeln, das uns die Umwelt völlig vergessen läßt …
Wo war Harst geblieben? Weshalb hatte er die Halle verlassen? Es mußte hierfür doch ein sehr zwingender Grund vorhanden gewesen sein …
Die drei Herren kehrten zurück …
Simpson war bleich vor Erregung … Stand nun vor mir, fauchte mich an:
„Also Sie hatten bereits einen Rückzugsweg vorbereitet! Wir haben das dünne Seil dort am Bodenfenster gefunden!“
Seine Lippen zuckten. Er konnte nicht weiter sprechen. Er ging zur Haustür, schob den Schlüssel ins Schlüsselloch und machte eine kurze Handbewegung …
Er – – warf mich hinaus …
Nun – mochte er!! Ein Seil an einem Bodenfenster!! Wir hatten dieses Seil dort nicht befestigt! Und – dieses Seil verhieß neue Verwicklungen … Aber auch neue Vorteile für uns! Nur jemand, der Simpson ebenfalls nachspürte, konnte dieses Seil angebracht und … Harald irgendwie aus der Vorhalle weggeholt haben …
Ich fühlte mich jedenfalls keineswegs gedemütigt. Ich machte dem Geheimrat und Direktor Hammer eine Verbeugung, die freilich übersehen wurde, und schritt an Simpson gelassen vorüber – in den Garten hinaus …
Durchschritt die Pforte und kam auf das offene Feld.
Die Äcker dufteten kraftvoll, begannen die Saat emporzutreiben. Es war ja Mai … Maiennacht …
Ich ging bis zur nächsten Straße, denselben Weg, den wir gekommen waren … Ich hoffte, Harald irgendwo zu begegnen …
Nein – ich blieb allein, allein in der stillen Nacht auf den einsamen Straßen der Vororte.
Wanderte heim …
Und gelangte in unsere Blücherstraße, sah schon von weitem die beiden Fenster von Haralds Arbeitszimmer hell erleuchtet. Fand meinen Freund in Gesellschaft eines Mannes vor, den der Leser längst kennt:
Lionel Barring, ehemals Lord Allan Gnirable!
Ich erkannte ihn sofort. Ein Gesicht wie dieses vergißt man nicht … –
Der Leser wird sich erinnern, daß Harald in Konstantinopel Lionel Barring entweichen ließ – einen Mann, der bei all seiner Verworfenheit auch gute Eigenschaften besaß. Wir hatten ihn und sein Doppelleben damals in Schottland enthüllt. Wir hatten ihn aus dem alten Schlosse seiner Väter verjagt. Wir hatten ihn gehetzt, hatten ihn in Konstantinopel in unserer Gewalt.
Und nun – nun saß er hier in einem Klubsessel, die Zigarette zwischen den Fingern, erhob sich jetzt bei meinem Eintritt, nickte mir zu …
Harald sagte erklärend: „Wir sind im Auto davongefahren …“
Mehr sagte er nicht. Er nahm eben an, daß die Leine am Bodenfenster gefunden worden sei und daß ich mir zusammengereimt hätte, weshalb er aus der Halle verschwunden war.
Ich nahm Platz.
Barring hatte sich gleichfalls wieder gesetzt.
„Herr Harst,“ wandte er sich an mich, „war so liebenswürdig und nachsichtig, mir zu gestatten, ihn zu begleiten.“
Er rauchte ein paar Züge. Sein intelligentes Gesicht zeigte die Spuren starker seelischer Erregungen. Er war um Jahre gealtert.
Barring lächelte trübe …
„Die Sache ist die, Herr Schraut,“ fügte er hinzu. „Ich habe mich entschlossen, mich der Polizei zu stellen, wollte vorher aber noch wenigstens ein gutes Werk tun …“
Meine überraschte Miene verstärkte noch seinen schmerzlich-trüben Gesichtsausdruck.
„Sehen Sie, Herr Schraut, jeder Mensch hat einmal eine Stunde, wo das wenige Gute in der Seele selbst des Schlechtesten sich gleichsam Bahn bricht. Als Sie beide mich in Konstantinopel entschlüpfen ließen, hielt ich Abrechnung mit mir selbst … Ein ungeheurer Ekel packte mich – vor mir selbst! Und diesem Ekel entsprang ein rascher Entschluß: ich löste alle Beziehungen zu meinen Verbündeten (vergl. Band 111: „Die große Null“) und wollte, bevor die Gerichte mir die Sühne meiner Verbrechen zudiktierten, wenigstens Ihrem Freunde beweisen, daß und wie dankbar ich ihm bin! Ich habe Sie beide nicht aus den Augen gelassen. Ich habe beobachtet, wie Sie das erstemal des Professors Haus in Dahlem …“
Da fiel Harald ihm ins Wort:
„Wir können Ihre Angaben abkürzen, Lord Gnirable.“
Ah – er nannte ihn wieder Gnirable, nannte ihn nicht mehr Barring …! Das bewies, daß er den Verbrecher Barring aus seiner Erinnerung gestrichen hatte.
Und – er fuhr fort: „Lord Gnirable hat, während wir in Danzig waren, hier den Professor auf Schritt und Tritt heimlich verfolgt und hat mir dann heute erklärt, daß ich mich hinsichtlich Simpsons fraglos auf ganz falscher Fährte befinde. Simpson sei ein harmloser Mensch …“
„Ich habe sein Haus durchsucht – heute nacht, daher die Leine am Bodenfenster,“ warf der Lord ein …
Harald griff nach einer neuen Mirakulum.
„Lieber Alter, wir werden einen schweren Stand gegenüber Simpson haben,“ meinte er mit einer gewissen feinen Ironie. „Der Geheimrat S., der Direktor Hammer, der Lord: alle wollen für Simpsons Harmlosigkeit die Hand ins Feuer legen! Gnirable betonte, daß der Professor bestimmt in seinem Hause nichts verborgen hielte, was zu einer Radioeinrichtung gehören könnte … nichts …“
„Ich war zwei Stunden ganz allein in dem Gebäude,“ warf der Lord wieder ein. „Ich habe mich überall sehr gründlich umgesehen. In solchen Dingen bin ich ja kein Neuling. Daß Ihr Freund, Herr Schraut, den Professor als geheimen Besitzer einer Radioeinrichtung beargwöhnt, erfuhr ich allerdings jetzt erst. Aber …“
„Mylord,“ unterbrach Harst ihn abermals, „wenn Professor Simpson zum Beispiel Funkspruchapparate zur Verfügung hat, kann er sich mit seinen Komplicen ganz bequem unter Vermeidung des gefährlichen Telephons oder des noch gefährlicheren Briefwechsels in Verbindung setzen.“
„Gewiß, gewiß, Herr Harst. Aber dazu gehört eine Antenne, gehört ein Sender, ein Empfänger und mancherlei anderes …“
„Ganz recht … Das gehört dazu, das alles ist nötig,“ nickte Harst gleichmütig. „Ich sagte Ihnen ja schon: wir haben Simpson mit einem Kopfhörer gesehen!“
„Das Schattenbild kann getäuscht haben …“
„Niemals!“ Und jetzt beugte Harst sich vor und erklärte leise, aber mit desto größerem Nachdruck: „Die Hauptsache, aber auch die Hauptverräterin, ist eine Antenne. Ein solcher Draht fällt auf. Es – – gibt Hilfsantennen, Mylord!“
Gnirable blickte etwas verständnislos drein.
„Hilfsantennen: so ein Balkongitter, so Antennen, die im Zimmer gespannt werden, so auch Zinkregenrinnen, die keinen Erdanschluß haben …“ dozierte Harald weiter …
Da flog Gnirables Kopf mit einem Ruck empor …
„Ah – das Haus Simpsons hat ganz neue Zinktraufen …!!“
„Ja – die hat es, Mylord! Die hat es! Während Simpson im übrigen für das baufällige Gebäude und für den verwilderten Garten nichts getan hat, ist er so wenig sparsam gewesen, das Haus oben mit einer neuen, ringsum laufenden Rinne und mit vier ebenso neuen Abflußrohren versehen zu lassen. Wir werden morgen den Bauklempner schon ausfindig machen, der die Rinnen angebracht hat. Der Mann wird uns dann auch sagen können, ob die alten Rinnen wirklich bereits so sehr schadhaft waren.“
Gnirable rief: „Ein guter Gedanke, Herr Harst!“
Und Harald fügte mit verstecktem Gähnen hinzu:
„Ich wette, er benutzt die Rinnen als Hilfsantennen. Das hat seine großen Vorteile. Zimmerantennen können bei einer plötzlichen Haussuchung leicht entdeckt werden. Ein Ableitungsdraht von einer Rinne kann so angelegt werden, daß er gar nicht auffällt. Ich behaupte, Simpson hat die Radioapparate gar nicht im Hause, sondern irgendwo im Garten verborgen. Wir werden ihn schon abfassen …“
Gnirable stand auf. „Sie sind müde, Herr Harst. Ich werde mich verabschieden. Ich darf Ihnen also weiter gegen Simpson helfen?“
„Ja, natürlich, Mylord …“
Gnirable zögerte noch. „Wenn nur etwas dabei herauskommt …“ meinte er sinnend. „Simpson ist ein so bekannter Gelehrter, und seine jetzigen meteorologischen Studien hier, die er auf eigene Kosten …“
Haralds Lachen ließ ihn verstummen.
„Mylord, diese Unkosten bringt das Falschmünzergeschäft reichlich ein. Simpsons famose Regenmesserstationen sind seine Filialen für den Vertrieb der tadellosen Pfundnoten – das ist’s, um Ihnen auch in diesem Punkte die Augen zu öffnen!“
Gnirable blickte Harst unsicher an. „Oh – wenn Sie recht hätten,“ sagte er noch nachdenklicher.
„Ich habe recht … Der ermordete Gastwirt Knobloch trug das Zeichen des Bundes um den Hals: das Amulett Anna Karstens! Und dasselbe Amulett kennt Simpson. Dasselbe Amulett wirkte auf Mr. Setters Diener, den Gatten Anna Karstens, wie ein Blitzstrahl. Knobloch bediente den Regenmesser. Frau Krug war empört, daß ihre Beete nachts zertreten wurden. Das tat Knobloch nicht, das taten Leute, die nicht aus Neugier den Regenmesser besuchten. Nächste Nacht, Mylord, werden wir uns mal das Ding da auf dem Felde am Hause Simpsons genauer ansehen …! – Gute Nacht denn … Kommen Sie heute abend gegen zehn Uhr zu uns …“
„Wollen Sie mich nicht besser durch den Gemüsegarten hinauslassen, Herr Harst?“
„Nicht nötig. Glauben Sie denn, Simpson wird so töricht sein, mich mit Spionen zu umgeben?! Nein – Sie irren! Da ist er zu schlau dazu. Spione können abgefaßt werden und plaudern. Simpsons Panzer ist eben sein … harmloser Gelehrtenlebenswandel …“
Gnirable verließ uns.
Wir waren allein. Harald ging im Zimmer auf und ab, blieb vor meinem Sessel stehen …
„Merkwürdig, wie ein Mensch plötzlich Sehnsucht nach dem Tode empfinden kann,“ sagte er sehr ernst. „Gnirable weiß, daß man ihn in England aufknüpfen wird, denn dem Buchstaben des Gesetzes nach ist er ja ein Mörder. Seine Reue ist fraglos aufrichtig. Er … tut mir leid …“ –
Gleich darauf lag ich im Bett und schlief auch sofort ein, träumte sehr aufregend, daß ich vor Gericht wegen Hausfriedensbruch zum Tode verurteilt wurde und daß ich unter einem Galgen stand, an dem schon ein Gerippe an einem Strick hing.
So warf ich im Traum die drohende Anzeige wegen Eindringens in fremdes Eigentum und Lord Allan Gnirables Geschick durcheinander.
Um zehn Uhr vormittags saßen Harald und ich hinten in der Veranda beim Frühstück. Die Maisonne lachte durch die Fenster herein. Die Spatzen lärmten im Weinspalier, und auf dem Fensterrande hockten ein paar von unseren Tauben, die besonders zahm waren.
So fand Freund Fritz Bechert uns, der uns Bericht erstatten wollte.
Er hatte das Haus Am Stadtpark 38 beobachten lassen, jedoch … nichts wesentliches feststellen können.
„Weshalb haben Sie es auf diesen Setter abgesehen?“ fragte er dann gespannt.
„Weil er der Mörder des Gastwirts Knobloch und eines englischen Detektivs ist, dessen Namen ich bisher nicht kenne.“
Bechert war über die beiden Kapitalverbrechen in Danzig bereits unterrichtet.
Aber er ahnte genau so wenig wie ich, daß der Tote neben dem Regenmesser im Garten der Krug ein englischer Kollege sei. Er machte daher auch ein sehr erstauntes Gesicht und meinte:
„Der Mann hat doch keinerlei Papiere bei sich gehabt, lieber Harst, und nach einer telephonischen Meldung aus Danzig, die wir heute früh erhielten, hat man bisher über die Person jenes Fremden …“
„… Es ist ein Detektiv, Bechert.“ Harst nahm eine Zeitung aus der Tasche. „Bitte – hier die Berliner Tagespost von vor zwei Wochen … Hier steht, daß das Bankhaus Golden, Laws u. Comp. in London durch die Falschmünzer ebenfalls um 21 000 Pfund geschädigt worden ist und daß die Bank daher beabsichtigt, auch ihrerseits der gefährlichen Fälscherbande nachzuspüren. Dies kann nur durch einen Detektiv geschehen, und der Fremde im Garten der Krug hatte das typische englische Detektivgesicht, hatte eine Waffe bei sich und … war dem Herrn Professor Simpson wahrscheinlich genau so dicht auf den Fersen wie ich …“
Bechert schüttelte den Kopf. Wir hatten vorhin bereits über Simpson und die Ereignisse der Nacht mit ihm gesprochen …
„Harst, Harst, – das wird ein Mißgriff werden,“ meinte er warnend. „Auch Sie können sich mal verhauen.“
„In diesem Falle nicht, mein lieber Bechert! Simpson ist bereits eingekreist. Mag er wähnen, daß sein schlauer Gelehrtenkopf noch nicht in der Schlinge steckt – desto besser! Mag er und sein Genosse Setter glauben, ich tappte noch im Dunkeln! Ich – – tappe nicht – ich gehe im hellen Lichte! Knobloch wurde ermordet, nachdem der Engländer beseitigt war. Knobloch hätte sich verraten können. Man hätte ihn ja fraglos vernommen – des famosen Regenmessers wegen, übrigens ein genialer Gedanke, auf die Weise Vertriebsfilialen einzurichten!“
Harald stand auf. „Bechert, eine Bitte: lassen Sie durch Ihre Beamten feststellen, welcher Klempner für Simpson die neuen Zinkrinnen angefertigt hat. Das bekommen Sie schneller heraus als ich. Und lassen Sie Setter weiter beobachten.“
„Gern … – Noch etwas?“
„Ja. Ermitteln Sie schleunigst, ob in der Nähe von Berlin jemand ein Flugzeug mit eigenem Landeplatz besitzt. Setter ist ja mit einem Flugzeug nach Danzig gefahren und auch hierher auf dem Luftwege zurückgekehrt. Er muß in nächster Nähe Berlins ein zweites Heim haben. Suchen Sie es, Bechert. Das sind Aufgaben, die Sie mit Ihrem Beamtenheer leichter bewältigen als wir beide …“
Bechert verabschiedete sich. Man merkte ihm an, daß er den Professor Simpson jetzt anders einschätzte.
Nun begann unsere Vormittagsarbeit. Harald setzte eine Depesche für das Bankhaus Golden, Laws u. Comp. in London auf, eine Depesche mit bezahlter Rückantwort.
Wir gingen zum nächsten Postamt und besorgten das Telegramm. Dann winkte Harst ein Auto herbei. Wir fuhren nach Dahlem hinaus. Harald hatte den Chauffeur angewiesen, in mäßigem Tempo durch sämtliche Straßen der Villenkolonie zu fahren.
„Ich suche ein Haus, das Antennen auf dem Dache hat,“ erklärte er mir. „Wir werden dem Chauffeur vielleicht eine ganze Menge Fahrgeld zu verdienen geben. Wenn wir in Dahlem nichts finden, suchen wir im Kreise weiter. Und wenn ich drei Stunden fahren müßte: ich will einen Erfolg haben!“ –
Der Erfolg war da: in der Helmholzallee sahen wir eine reizende Blockhausvilla, auf deren Dach eine Doppelantenne hing.
Wir stiegen aus.
„Chauffeur, warten …“ befahl Harst …
An der Gartenpforte glänzte ein blankes Messingschild:
Dr. F. Winter.
„Ah – das ist der bekannte Chemiker,“ nickte Harald. „Hoffentlich ist er daheim …“
Ein niedliches Stubenmädchen mit weißem Häubchen führte uns in einen Anbau der Villa, in Doktor Winters Laboratorium.
Winter, der noch verblüffend jung aussah, begrüßte uns sehr zuvorkommend …
„Ich nehme an, daß Sie mich beruflich zurate ziehen möchten, Herr Harst … Ich stehe ganz zu Diensten …“
Wir nahmen in einer Ecke des hellen Laboratoriums Platz. Dicht daneben stand ein Tisch mit schwarzer Marmorplatte und verschiedenen Apparaten: Radioapparate!
Harald deutete auf den Tisch. „Deshalb komme ich, Herr Doktor … Sie experimentieren mit Funkspruchapparaten, nicht wahr?“
„Jetzt sogar ausschließlich, Herr Harst. Ich will die bisherigen Verstärker einfacher gestalten.“
„Sie versuchen auch zu telephonieren?“
„Ja – drahtlos. Das meinen Sie doch.“
„Werden Sie zuweilen durch elektrische Wellen, die aus der Nähe abgeschickt werden, gestört?“
Winter machte ein überraschtes Gesicht. „Hm – das nicht gerade, Herr Harst. Aber … etwas anderes habe ich festgestellt.“
„Es telephoniert jemand drahtlos, und dieser Jemand muß Ihrer Überzeugung nach in der Nähe wohnen?“
„Ja – so ist’s. – Ich bin übrigens erstaunt, daß …“
„Ich werde Ihnen später alles erklären, Herr Doktor. Jetzt nur noch eine Frage: Der Jemand telephoniert stets zur selben Zeit?“
„Hm – eigentlich sind es ja zwei, die telephonieren, Herr Harst. Zufällig habe ich vor drei Wochen herausgefunden, daß die beiden folgendermaßen sich drahtlos verständigen: morgens acht Uhr mit Welle 480, nachmittags ein Uhr mit Welle 610 und abends sieben Uhr mit Welle 510. – Sie sind doch über die Grundbegriffe des Radioverkehrs im Bilde?“
„So etwas …“
„Dann werden Sie verstehen, daß nur ein Zufall mich hinter die Künste dieser beiden Herren kommen ließ.“ Er lächelte. „Die beiden müssen glänzende Apparate zur Verfügung haben. Die Sprache der Sender ist außerordentlich klar …“
„Sie haben die Gespräche wohl des öfteren aufgefangen?“
„Ja – aus Fachinteresse. Ich brauche ja nur meinen Apparat zu der bestimmten Zeit auf die bestimmten Wellenlängen einzustellen …“
Harst zog seine Uhr.
„Halb eins … Würden Sie mir gestatten, um ein Uhr das Gespräch der beiden zu belauschen?“
„Gern, Herr Harst. Ich vermute, Sie sind hinter fragwürdigen Leuten her. Sie werden dann hier eine Enttäuschung erleben. Die beiden Herren sprechen nur die alltäglichsten Dinge.“
Harald nickte. „Das kann sein – kann. Ich weiß ja auch gar nicht, ob ich hier auf der richtigen Fährte bin. – Sprechen die beiden viel über das Wetter, über Regenfälle – dergleichen …“
„Können Sie aber gut raten, Herr Harst!! Tatsächlich – es ist so: über das Wetter …!“
„Das genügt mir,“ sagte Harald jetzt sehr ernst. „Herr Doktor, ich darf Sie wohl um allerstrengste Diskretion bitten. Es handelt sich um zwei Mitglieder einer weitverzweigten Verbrecherbande, die der Allgemeinheit bereits ungeheuren Schaden zugefügt hat. Die beiden sind Engländer, beherrschen aber das Deutsche vollständig …“
„Auch das stimmt,“ rief Doktor Winter leicht erregt. „Man hört es im Telephon, daß die Leute mit fremdem Akzent sprechen …“
„Noch eine technische Frage: Halten Sie es für möglich, daß man zum Telephonieren durch elektrische Wellen eine Zinktraufe an einem Hause benutzen kann?“
„Ja – wenn sie gut isoliert ist, – warum nicht? Jedes Metall fängt die Wellen auf …“
Doktor Winter erklärte uns dann an seinen Apparaten, wie die Wellen ausgesandt, wie sie empfangen wurden. Damals hörte ich zum ersten Male die Fachausdrücke Spule, Kondensator, Detektor. Damals gab es noch kein Voxhaus. Und doch: wir vernahmen im Kopfhörer, im Telephon, deutlich die singenden Töne, die beim drahtlosen Telephonieren entstehen. Wir waren nun mit einem Schlage auch praktisch in die Geheimnisse des Radioverkehrs eingeweiht worden.
Inzwischen war es auch kurz vor eins geworden. Wir beide behielten gleich die Kopfhörer auf.
Doktor Winter drehte an den Stellknöpfen …
Im Telephon knatterte es leise …
„Welle 640,“ sagte Doktor Winter.
Und dann – klar und deutlich eine Stimme, so klar, daß ich ordentlich über die Lautstärke erschrak. Weit stärker jedenfalls, als durch ein gewöhnliches Telephon …
Eine Stimme …: das tiefe, sonore Organ des Professors, – unverkennbar …
Simpson: „Julius, bist Du zur Stelle?“
– Julius – –?! Hm – ob das nicht richtig „John“ heißen sollte?!
Der andere: „Zur Stelle … – Wie geht’s?“
Simpson: „Bisher nichts Neues. Wie steht’s mit dem Wetter in Danzig?“
– Aha – – Danzig!! Die dummen Kerle!!
Der andere: „Das Gewitter scheint sich zu verziehen. Die beiden Blitzschläge haben wenig Schaden angerichtet.“
Simpson: „Hoffentlich! Ich traue dem Frieden nicht. Die Luft ist auch hier über Berlin recht schwer. Ich bemerke dunkle Wolken, die nach Schmargendorf ziehen …“
– Schmargendorf?! Ob wir die Wolken waren?!
Der andere: „Die Wolken werden morgen erledigt sein. Ich habe alles vorbereitet. Der Wetterbericht ist gut. Am Karst zerschellt alles …“
Simpson: „Julius – nur Vorsicht! Die Geschichte wird viel Lärm machen. – In Danzig soll übrigens demnächst viel Regen fallen, der dort leicht verschwindet. Diesmal kann es die doppelte Menge sein wie das letztemal.“
– Regen – Regen?! Ob er falsche Banknoten meinte?!
Der andere: „Dann machen wir aber auch vorläufig Schluß, Edu. Die Wetterlage ist zu bedrohlich. Ich fühle mich selbst unbehaglich. Die Wolken über Schmargendorf …“
Simpson: „Hör’ auf damit …! Du widersprichst Dich ja selbst. Karst ist doch auch wirklich zuverlässig?“
– Karst – – Karst?! Natürlich Karsten!! Der Gatte Anna Krugs! Also dieser Karsten sollte uns beiden eins auswischen, noch heute! Sehr wertvoll!
Der andere (John Setter, wie nun feststand): „Karst muß zuverlässig sein – muß. Keine Sorge deshalb. – Also dann für Danzig die doppelte Regenmenge. Wer besorgt das? Meine Flügel sind lahm. Ich habe sie abmontiert und bereits nach Stettin geschickt …“
– Flügel – –? – Flugzeug – das war’s!
Der andere (fortfahrend): „Gerade weil Schmargendorf so dunkel ist und das Gewölk sich bis Danzig hinzog, hielt ich es für richtiger, die Flügel zu beseitigen. Sicher ist sicher, Edu. Willst Du dann also die Regenmenge in Westpreußen prüfen?“
Simpson: „Ich reise heute abend. Lord Fitzgerald, der interalliierte Kommissar in Danzig, ist mein Studienfreund. Ich werde mich bei ihm anmelden. Heute abend lassen wir das Gespräch ausfallen.“
Der andere: „Dann gute Verrichtung, Edu. – Halt – noch etwas … Ich habe neue Freunde gewonnen, die sehr anhänglich sind. Sie begleiten mich überall hin, die Herren. Sie wissen nur nicht, daß ich es weiß …“
– Er meinte die Kriminalbeamten Becherts …
Simpson: „Also auf Wiederhören in drei Tagen, Julius. Sei vorsichtig … Schluß …“
Der andere: „Schluß …“
Dann nur noch Geknatter im Telephon.
Das Gespräch war beendet.
Harald reichte Doktor Winter die Hand und sagte fast feierlich:
„Sie haben der Welt einen sehr großen Dienst geleistet.“ Und noch eindringlicher fügte er hinzu: „Es dürfte in der kriminalistischen Praxis zum ersten Male am heutigen Tage sich ereignet haben, daß ein Detektiv von einem ahnungslosen Verbrecher am drahtlosen Telephon das unfreiwillige Geständnis zweier Morde entgegennimmt … Die Fortschritte der drahtlosen Fernübertragung von Sprache und Zeichen haben sich zwei geniale Menschen zunutze gemacht, glaubten so das Mittel gefunden zu haben, jeder Beobachtung und Überwachung ihrer Personen spotten zu können, da sie persönlich nie zusammen kamen, sondern sich eben auf den Verkehr durch elektrische Wellen beschränkten. Fürwahr – zwei großzügige, intelligente Verbrecher!“
Doktor Winter machte ein ganz entsetztes Gesicht.
„Mörder – Mörder?!“ meinte er zweifelnd. „Die Leute unterhielten sich doch immer so harmlos …“
„Ja – wie heute, wo der eine „Blitzschläge“ sagte und an Morde dachte! – Doch, genug davon, Herr Doktor. Ich danke Ihnen nochmals. Die … Hilfsantenne hatte den Herrn Professor verraten! – Auf Ihre Verschwiegenheit kann ich mich verlassen, nicht wahr? – Leben Sie wohl! Für uns gibt es heute noch viel zu tun …“
Wir[4] bestiegen wieder das Auto.
„Blücherstraße 10!“ befahl Harald …
Der Kraftwagen ruckte an, rollte davon …
Wir langten daheim an.
Ich glaubte, daß nun allerhand Vorbereitungen getroffen werden würden. Nichts geschah. Wir aßen Mittag, dann telephonierte Harald:
Erstens – an Fritz Bechert:
Einstellung der Nachfragen nach dem Klempner, der die Regenrinne gefertigt hatte, und Einstellung der Beobachtung Setters.
Zweitens – an unseren Bekannten, Ingenieur Lenz:
Er solle zu elf Uhr abends seinen Eindecker in Johannisthal bereithalten zu einem Fluge von sechs bis sieben Stunden.
Drittens – an die Danziger Kriminalpolizei:
Ob eine Bank dort mit irgend jemand ein größeres Geschäft abschließen wolle und ob Zahlung in englischen Pfundnoten vereinbart sei.
Dieses dritte Gespräch dauerte etwas länger.
In Danzig war derselbe Kriminalkommissar am Apparat, der auf dem Heideland östlich von Pietzkendorf so spöttisch den Mund verzogen hatte.
Jetzt war er wie … wie Öl … Jetzt sagte er jede Hilfe zu – jede …
„Ich komme morgen vormittag zu Ihnen auf das Polizeipräsidium,“ erklärte Harald noch. „Verschweigen Sie aber auf jeden Fall, daß Sie mich erwarten …“
Hiermit endete das Gespräch.
Es war jetzt vier Uhr nachmittags.
Und wieder zwei Stunden darauf standen zwei ältere Arbeiter auf dem Charlottenburger Fernbahnhof und beobachteten, wie Professor Simpson den D-Zug nach Königsberg bestieg, wie der Zug davonrollte …
Die beiden Arbeiter fuhren dann mit der Straßenbahn bis zum Schöneberger Stadtpark, wo sie von einem dicken Weiblein, das neben einem mit einer Kiste beladenen Handwagen stand, erwartet wurden. Das Weiblein war Mathilde, unsere brave Köchin.
Wir waren die Arbeiter – wir nahmen die Kiste und trugen sie nach Nr. 38. Mathilde zog mit dem Handwagen ab.
Harst läutete an John Setters Flurtür.
Karsten öffnete.
„Wir bringen hier det Ding da,“ erklärte Harst keuchend. (Die Kiste war leer.) „Wiejen tut det Aas wie ’n Rhinozerus.“
„Von wem denn?“ fragte Karsten erstaunt.
„Det weeß ick nich. ’n oller Herr hat det Ding mit ’n Auto bis an die Bricke jefahren, und dort hat er’s uns überjeben.“
„Warten Sie bitte …“ Karsten warf die Tür zu.
„Achtung!“ flüsterte Harald …
Und – John Setter kam. Zum ersten Male sah ich ihn da von Angesicht zu Angesicht …
Es war der Mann mit dem Mordstock – ohne Zweifel! Und – es mußte ein Bruder Simpsons sein. Gestalt, Gesichtsschnitt, Nasenform – eine Ähnlichkeit war leicht festzustellen.
„Was hat der Herr Ihnen denn aufgetragen, hier mir auszurichten?“ fragte er kurz.
Seltsam genug: er trug einen Bambusstock in der Hand – einen jener reich geschnitzten chinesischen Stöcke, die einige Jahre so sehr modern waren.
„Na – der olle Herr sachte, ick sollte Herrn Setter bestellen, daß das Wetter schlechter würde und die Sachen in der Kiste da trocken gelagert werden mißten – det sachte er …“
Setters Gesicht verdüsterte sich. Aus dieser „Bestellung“ konnte er nur entnehmen, daß Gefahr drohe und daß Simpson ihm alle verräterischen Dinge zusende.
„Gut – bringen Sie die Kiste herein,“ befahl er.
Wir sollten die Kiste im Flur absetzen.
Als wir sie jetzt auf den Läufer stellten, öffnete sich eine nur angelehnte Tür und John Barring, Lord Allan Gnirable, trat zu uns …
Ich war so erstaunt, daß ich ihn länger als nötig anschaute …
Und – er lächelte … lächelte und sagte zu Setter und Karsten, die dicht dabei standen:
„Sie haben ja anscheinend große Einkäufe gemacht.“ Er bediente sich des Englischen und fügte hinzu: „Dann darf ich mich wohl empfehlen, Mr. Setter. Sie leugnen ja ohnedies jede Bekanntschaft mit mir ab, während ich in Ihnen mit aller Bestimmtheit den Arzt Doktor Simpson aus London wiedererkenne, der mit mir zugleich einst Mitglied im Standardklub war und der dann wegen Betrügereien zu Gefängnis verurteilt wurde … Ich …“
Und dann – dann etwas so Blitzschnelles, so Ungeahntes, daß Harald und ich nicht mehr eingreifen konnten.
„Ah – Spion – – Spion!!“ rief Setter oder besser Doktor John Simpson in jäh aufloderndem Begreifen. „Spion für die beiden da – für Harst und Schraut …“
Er hob den Stock …
Wie ein Blitz schoß es aus der Zwinge hervor …
Gnirable taumelte zurück, griff mit der Hand nach dem Herzen …
Zu spät kam Haralds Fausthieb, der John Simpson bewußtlos zu Boden streckte …
„Bewache ihn!“ rief Harald …
Kniete nieder, bettete Gnirables Kopf in seinen Händen …
Lord Allan Gnirable hatte ein überirdisches Leuchten in den Augen …
„Gesühnt … gesühnt …“ hauchte er. „Harst, ich … will … in dem Erbbegräbnis meiner Väter beigesetzt werden … Ich …“
Ein Zucken lief über die erblassenden Züge …
Er war tot.
So starb Lionel Barring, starb im Dienste der Gerechtigkeit – für die Menschheit … –
Setter und Karsten wurden im Polizeiauto in Gewahrsam gebracht. Sie verweigerten jede Aussage. Lord Allans Leiche ließ Harst durch ein Beerdigungsinstitut in deren Räumen vorläufig aufbahren.
Wir mußten uns beeilen, daß wir noch rechtzeitig nach Johannisthal auf den Flugplatz kamen. In rascher Fahrt sausten wir gen Süden durch die Vororte. Unsere Koffer standen im Auto. Wir hatten nicht einmal die Masken ablegen können. Wir waren noch dieselben Arbeiter, die Allan Gnirables jähes Ende nicht hatten verhindern können. –
Ingenieur Lenz war mit seinem famosen „Sturmvogel“ zur Stelle.
„Wohin?“ fragte er.
„Danzig …“
„Gut. Einsteigen.“ Lenz ist noch wortkarger als Moltke[5] …
Und wieder eine Regennacht …
Ich könnte hier fast Wort für Wort wiederholen, was ich zu Anfang dieses Bandes geschrieben habe.
Da war vor uns ein Häuschen – ein Zaun – ein Regenmesser …
Da war Professor Edward Simpson, den wir hier erwarteten, hier vor dem Häuschen der Witwe Krug … –
Ich will, um den Zusammenhang mit unserem Fluge nach Danzig herzustellen, nur noch erwähnen, daß wir morgens vier Uhr in Danzig auf dem sogenannten Großen Exerzierplatz nordöstlich von Langfuhr landeten, daß wir uns sofort nach der Privatwohnung des Kriminalkommissars S… begaben und den Herrn herausklingelten. Wir blieben bei ihm bis zum Abend. Und er war’s, den wir dann mit uns hinaus in den Garten der Witwe Krug nahmen.
Uns dreien, die wir hinter Fliederbüschen halb verborgen in dichtester Finsternis dastanden, rann das Wasser über die Gesichter. Die Regenfluten machten es uns unmöglich, viel zu sehen.
Wir standen daher auch nur fünf Schritt von dem Regenmesser entfernt.
Ich hatte nach der Uhr gesehen …
Elf war’s … –
Vergebens hatte Kommissar S… Harald gefragt, weshalb Harst denn erwarte, daß Simpson sich ausgerechnet hier einfinden würde.
„Weil der Regenmesser die Tauschstelle ist …“
Das war alles gewesen. –
Und – – jetzt, jetzt dort vor uns eine Gestalt …
Sie kam näher …
Kniete nieder …
Neben dem Pfahl des Regenmessers …
Kniete genau so – wie damals John Setter, der Mörder …
Genau so …
Hantierte an dem Pfahl herum …
Was er tat, konnte ich nicht erkennen. Mir schien’s aber, als ob er ein helles Päckchen aus dem langen Gummimantel hervorgeholt hätte …
Dann stieß Harald uns leise an …:
„Vorwärts!“
Wir sprangen zu …
Drei gegen einen, den der Schreck völlig gelähmt hatte … völlig …
„Guten Abend, Herr Professor,“ sagte Harst erst, als die Stahlschellen um die Handgelenke zuschnappten. Es war keinerlei Triumph in Haralds Stimme. Und welche Gefühle ihn in diesem Augenblick beseelten, zeigte das, was er hinzufügte:
„Es ist schade um Sie. Ein Mann von Ihrer Intelligenz ein Banknotenfälscher!“
Simpson war noch immer wie niedergebrochen, war stumm, willenlos …
Ließ sich in ein Zimmer des Häuschens der von uns vorher verständigten Witwe führen …
Die Fensterladen waren geschlossen, die Vorhänge dicht zugezogen.
Frau Krug stierte den Professor entsetzt an. Die Petroleumlampe beschien das intelligente Gesicht des auf einem Stuhl Zusammengesunkenen …
„Frau Krug,“ sagte Harald leise, „dies ist auch der Mann, der Ihre Tochter in den Tod geschickt hat. Denn – Anna ist tot …“
Sie schrie leise auf …
„Simpson sandte sie als Beauftragte einer Banknotenfälscherbande nach Konstantinopel. Dort wurde sie ermordet, Frau Krug … Und – dieser selbe Mann ist der Bruder des Mörders des Gastwirtes Knobloch und eines englischen Detektivs …“
Frau Krug weinte in sich hinein.
Der Kommissar wollte jetzt mit Simpson ein Verhör beginnen.
„Das ist nicht nötig,“ meinte Harald. „Binden wir ihn hier auf dem Stuhle fest … Wir haben noch draußen zu tun …“ –
Dann standen wir abermals hinter den Büschen …
Dann – tauchte genau um Mitternacht ein anderer Mann auf, kniete nieder – – am Pfahle des Regenmessers.
Wir drei schlichen näher …
Und plötzlich leuchtete Haralds große Taschenlampe auf. Beschien den Pfahl … den Mann … die geheime Öffnung in dem Pfahle, deren tadellos versteckte Tür jetzt offen war, … und beschien das Päckchen in des Mannes Hand … –
Der Mensch war gut gekleidet.
„Sie wollten hier die falschen Banknoten abholen,“ fügte Harald zu dem an allen Gliedern Schlotternden …
Kommissar S… rief: „Das ist ja der Kaufmann Lorenz, der mit der Norddeutschen Bank zusammen das Geschäft in englischer Wolle abschließen …“
„… und in Pfundnoten zahlen wollte … – Herr Lorenz, wer hat Ihnen denn die falschen Banknoten angeboten?“
„Ein Fremder – schon vor Wochen … Ich sollte sie hier aus dem Regenmesser herausnehmen und dafür den Preis hineinlegen – zwanzigtausend Gulden …“
„Sie sind ehrlich. Das ist verständig. – Herr Kommissar, alle die Wetterfilialen Simpsons dürften dieselben Regenmesser haben – eine ungefährliche Art, falsches Papiergeld dem Käufer auszuhändigen …“ –
Als wir dann das Zimmer der Witwe Krug betraten, kam für uns die Überraschung:
Edward Simpson war entflohen! Frau Krug lag bewußtlos am Boden. Simpson hatte den Willenlosen nur geheuchelt, hatte uns bewiesen, daß er gefährlicher war als wir ahnten … –
Morgens brachte Lenz uns nach Berlin.
Die genaue Durchsuchung des Gartens Simpsons ergab, daß von der Hilfsantenne ein Draht an einem Ast einer uralten, mächtigen Buche entlanglief, die im Innern völlig hohl war und unter deren Wurzeln sich ein kleiner, gemauerter Raum befand, der die Radioapparate enthielt und durch einen Gang mit den Kellern des Hauses sehr geschickt verbunden war.
So war denn auch das Zubehör der Hilfsantenne gefunden …
So konnte infolge Karstens Geständnis die ganze Fälscherbande festgenommen werden. – –
Hiermit schließe ich unser erstes Abenteuer mit Edward Simpson …
Er löste Lionel Barring sozusagen ab. Er war jetzt das Wild, das wir jagten …
Darüber im folgenden Band …
Nächster Band:
Verlagswerbung:
Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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Band |
1–6: |
vergriffen. |
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– Preis pro Band 20 Pf. – Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26, Elisabeth-Ufer 44. |
Anmerkungen: