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Das Geheimnis des Bosporus

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 112:

 

Das Geheimnis des Bosporus

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Maximilian aus Stambul.

… Vor mir liegen eine Anzahl Postkarten, sämtlich mit Ansichten von Konstantinopel, sämtlich von meinem Freunde Neumann, – oder besser – von unserem Freunde Neumann, denn Harald Harst hat ebenfalls Anteil an dieser Freundschaft, die durch das Geheimnis des Bosporus begründet wurde.

Diese Postkarten stellen sozusagen die einzelnen Etappen unseres Abenteuers in der Türkei vor. Neumann hat mit großem Geschick gerade all die Ansichten gewählt, die in uns allerlei Erinnerungen wecken mußten. Im übrigen: er schreibt noch immer. Er ist dankbar. Wir haben ihm damals das Leben und Hab und Gut gerettet. –

Die ganze Geschichte begann ja auch mit einem Neumannschen Brief, der an Harald gerichtet war.

Im Mai 1923 traf der Brief ein, eines Morgens …

In Berlin war damals nichts für uns zu holen – flaue Zeit. Kleine harmlose Sächelchen beschäftigten uns: Die Ermordung des Gutsinspektors Reisser, das Verschwinden der Kommerzienrätin Rosenholz und anderes, was wir zur Allstagsware rechnen.

Seit unserem Abenteuer mit Lionel Barring auf Sumatra, wo der vornehme Hochstapler und Dieb mit fünf Genossen von einem Schoner entwischt war, hatten wir keine vernünftige Arbeit gehabt. Barring war nicht zu finden gewesen, hatte sich auch nicht mehr gemeldet. Harald rechnete damit, daß er samt den fünf anderen vielleicht auf See umgekommen sei. – Der Leser erinnert sich fraglos noch an Barring. Ich glaube wenigstens nicht, daß man den Inhalt des vorigen Bandes: „Die große Null“, so leicht vergißt. Zum mindesten bleibt jedem die zahme Dohle des Flickschusters im Gedächtnis haften – jenes Schusters, der nachher ganz was anderes war, als er scheinen wollte. –

Richtig: Maximilian Neumanns Brief!

Nun – der lautete wie folgt:

Konstantinopel, den 4. Mai 1923.

Sehr geehrter Herr Harst,

wenn diese Zeilen Sie erreichen, bin ich vielleicht nicht mehr am Leben.

Vielleicht!!

Oh – ich bin kein Feigling, Herr Harst, obwohl ich 192 Pfund wiege und Korpulente im allgemeinen höchst friedfertig, um nicht zu sagen feige, sind. Das liegt an dem Speck, der die Nerven polstert. Zur Kühnheit gehört ein gewisser Teil Nervosität.

Oder sind Sie anderer Ansicht?

– Als ich Maximilians Brief so weit gelesen hatte, sagte ich zu Harald:

„Du, das muß ein kleines Original sein, dieser Neumann!“

Dann las ich weiter:

„Jedenfalls, Herr Harst: ich werde mich nicht so ohne weiteres abkehlen lassen! Ich werde mich wehren. Ich trage stets eine Mauserpistole mit mir herum, obwohl ich noch nie im meinen Leben auf irgend was geschossen habe, nicht mal auf Spatzen …

Lachen Sie nicht, Herr Harst! Auch ein Spatz hat seine Existenzberechtigung!

Um nun mit beiden Beinen sofort mitten in den Kern meines Anliegens hineinzuspringen: ich habe keine Ahnung, weshalb die braunen Schufte mir jeden Tag Drohbriefe schicken!

Aber schicken tun sie diese Wische, Tag für Tag, und in jedem steht:

Wenn Du es nicht herausgibst, bist Du im Mai eine Leiche!

Nett von den Kerlen, nicht wahr?!

Bisher bin ich noch keine Leiche. Bisher grübele ich nur darüber nach, was dieses „es“ sein könnte, das ich herausgeben soll.

Bei Allah, Mohammed und sämtlichen Propheten: ich weiß es nicht!

Ich weiß nur, daß es zwei braune Halunken, anscheinend Araber, sind, die mir die Briefe in meinen Briefeinwurf der Tür stecken und verduften.

Ich weiß nur, daß ich bei der hiesigen Polizei keine Unterstützung und Hilfe finde.

Man hat mich ausgelacht. Ein schlechter Witz seien die Briefe!

Na – das stimmt schon gar nicht!

Denn – nun kommt’s! – denn die Kerle haben gestern abend, als ich am Ufer des Bosporus abends lustwandelte und mich wieder einmal über den herrlichen Anblick des im Abendsonnenrot daliegenden Häusermeeres freute, – ja, da haben die Schufte mich abmurksen wollen, durch einen Messerstoß. Zum Glück hatte ich meinen Spazierstock mit, und der Messerheld wird seinen Schädel wohl noch heute brummen hören.

Das Messer hat er fallen lassen. Ich nahm es als Siegestrophäe mit mir, Herr Harst. Es ist ein dolchartiges Messer mit einem Geheimnis.

Ohne dieses Geheimnis hätte ich gar nicht an eine Berühmtheit wie Sie zu schreiben gewagt.

Also: der Griff des Messers hat einen Messingknopf, der sich abschrauben läßt. In dem hohlen Knopf lag der beifolgende Zettel.“ –

Dieser Zettel, will ich hier gleich bemerken (ich, war Schraut, Haralds Freund und Begleiter), war ein Streifen Pergamentpapier von 8 Zentimeter Länge und 4 Zentimeter Breite. Darauf stand mit blauer, unverwaschbarer Tinte folgendes:

Falkate sifi sinerwe dunt gsindreik iste

Das war alles.

Als Harald diesen Zettel sich kurze Zeit angesehen hatte, lachte er schallend …

„Famose Geheimschrift!“

Ich nahm den Zettel und prüfte ihn ebenfalls.

„Das letzte heißt fraglos „Kiste“,“ meinte ich stolz. „Und davor steht „drei“, also vielleicht „Kiste drei“. Aber das andere ist …“

„… genau so leicht – genau so!“

„Möglich! – Nur nicht für mich, Harald …“

Damit war der Pergamentstreifen vorläufig erledigt. –

Der Schluß von Maximilians Brief lautete:

„Dieser Zettel, Herr Harst, scheint deutsche Geheimschrift zu sein. Ich habe herausgefunden, daß da von einer „Kiste drei“ die Rede ist. Das beunruhigt mich.

Alles weitere überlasse ich Ihrer Weisheit.

Vorläufig bleibe ich anonym. – Antwort erbitte Konstantinopel hauptpostlagernd unter M. A. X. 100.

Ihr ergebenster

noch immer lebender Leichnam.

  1. Nachschrift: Falls Sie hierher kommen wollen, bezahle ich die Reise 2. Klasse und acht Tage Aufenthalt.
  2. Nachschrift: Falls ich schon tot bin, finden Sie bei der Osmanischen Bank hier 100 engl. Pfund für sich deponiert.
  3. Nachschrift: Die silberne Krücke meines auf dem Schädel des einen Halunken zerschlagenen Spazierstockes hat der andere Halunke mitgenommen. – Frechheit!“

Harald lachte – lachte …

Ich lachte auch …

Dieser Briefschreiber hatte Humor. –

Nachdem wir dann nochmals den Brief überflogen hatten, sagte Harst:

„Wir fahren heute abend …“

Ich war überrascht.

Eine Reise nach Konstantinopel ist doch schließlich kein Katzensprung! Und der M. A. X. 100-Brief war meiner Ansicht nach keineswegs so welterschütternd, ebenso wenig der Pergamentstreifen, daß man sich deswegen vier Tage lang in der Eisenbahn durchrütteln läßt!

So dachte ich. – Aber mein Freund Harald hatte wieder die übliche Überraschung in der Tasche und hielt sie mir nun in Gestalt einer Depesche unter die Nase …

„Da – lies! Das Telegramm hat den Brief überholt!“ –

Es lautete:

Harald Harst, Berlin-Schmargendorf, Blücherstr. 10.

Habe die beiden dingfest. – Kommen Sie auf jeden Fall.

Maximilian Neumann,

Konstantinopel, Merdschan Jolu,
Buchhandlung International.

„Wann kam die Depesche?“ fragte ich.

„Heute früh halb sieben, als Du noch schliefst. Du wirst begreifen, daß ihr Inhalt mich einigermaßen verwirrte. Ich kannte ja den Brief noch nicht, wußte nichts von den beiden braunen Halunken … gar nichts!“

Er lächelte. „Ich ahnte natürlich, daß ein Brief unterwegs sein müßte. Wir fahren also. Wir haben Konstantinopel oder, wie die Türken es nennen, Deri Seadet, Pforte der Glückseligkeit, auf unseren Reisen nur zweimal flüchtig berührt. Jetzt wollen wir es uns genauer ansehen.“

Ich freute mich, freute mich ehrlich … Da war ja ein Abenteuer, das sicherlich harmlos sein mußte, … und da war Deri Seadet, der Bosporus, das Goldene Horn, – alles Namen wie Märchenklänge … –

Vergnügt pfeifend, packte ich nachmittags die Koffer.

Am anderen Morgen waren wir in Wien, und um fünf Uhr nachmittags saßen wir in einem Abteil erster Klasse des Orient-Expreß.

Harald hatte im übrigen zu Maximilians Depesche nur noch geäußert:

„Ob er etwa die beiden Kerle auf eigene Faust gefangen hält?! Fast scheint es so!“

Und nun trug uns der Zug mit wachsender Geschwindigkeit aus dem immer noch fidelen Wien gen Osten – durch ungarische Pußten mit schaffellbehangenen Hirten – durch Budapest – immer weiter – weiter … der Pforte der Glückseligkeit entgegen … – – dem … Verhängnis … und … Maximilian Neumann, Buchhandlung International, Merdschan Jolu … –

Wir hatten ein junges deutsches Ehepaar als Reisegesellschaft, harmlose verliebte Leutchen, die sich wenig um uns kümmerten. Sie waren in Wien erst nach uns in das Abteil gekommenen, und erst nach Stunden stellte der Ehemann sich vor: Doktor Hitzgräfe, Chemiker.

Wie gesagt, – sie hatten den Vorzug, keineswegs zu stören. Ich konnte in Ruhe meinen Baedeker[1] studieren und mir die Hauptpunkte von Stambul, Konstantinopel, Istambul[2] oder Zarigrad, wie man es nennen will, einprägen. –

Die Reisetage vergingen sehr schnell. Bulgarien lag hinter uns. Und gegen Mittag dann das erste Wahrzeichen der türkischen Hauptstadt, als der Zug unweit des Marmara-Meeres mit verringerter Geschwindigkeit die Westgrenze Stambuls erreichte – das erste Wahrzeichen: die Ruinen des Schlosses der sieben Türme, die den Südpunkt der alten Befestigungswerke bilden …

Kirchhöfe mit schlanken türkischen Grabsteinen, Zypressen, Platanen, – überragt von dem weiten Ruinenkomplex …

Ich stand am Fenster und schaute hinüber …

Ahnungslos, daß dort in jenen Ruinen …

Aber nein – wozu den Ereignissen vorgreifen, zumal dann auf dem Hauptbahnhof, der im Nordwesten der Stadt unweit der Neuen Brücke (nach Galata hinüber) liegt, die Harmlosigkeit des Ehepaares Hitzgräfe jäh dahinschmolz wie Butter auf heißer Platte …

Und – das kam so. Sie hatten sich kaum von uns verabschiedet, waren kaum in dem Wagengewühl verschwunden, als Harald neben mir murmelte:

„Alterchen, Alterchen, die Sache fängt übel an! Hitzgräfes wurden von einen Auto abgeholt, dessen Lenker ein Monokel trug und ein vornehm-fahles, blasiertes Gesicht hatte …“

Das war wie ein Hieb gegen die Stirn …

Monokel – Monokel …!!

„Etwa … etwa Lionel Barring?“

„Ja. So gewiß Lionel Barring, wie ich mich jetzt hüten werde, in einem Hotel oder in einem Pensionat abzusteigen! – He – Freundchen, – – hierher!!“

Der Angerufene, ein Fremdenführer, kam eilends herbei. Es war ein Armenier. Das sah ich auf den ersten Blick.

… Sind zumeist fragwürdige Burschen, die Armenier. Haben alle so was Hinterhältiges an sich …

 

2. Kapitel.

Im Hause Ibrahims.

Harald fragte, ob der Mann uns eine kleine Motorjacht nachweisen könne, die zu vermieten sei.

Herr Sistawa, so nannte der Edle mit dem zerrissenen Strohhut sich, überlegte lange, nickte dann hoheitsvoll und winkte einen Wagen herbei.

Er sprach etwas Deutsch. Er trug einen Anzug, der dem langen Menschen viel zu klein war. In Berlin hätte er in dem Habit bequem als dummer August im Zirkus Busch auftreten können.

Jedenfalls: wir fuhren durch die berü…chtigten Konstantinopeler Gassen gen Nordwest, am Handelshafen vorbei, am Goldenen Horn, dem tief nach Norden zu einschneidenden Meerbusen, entlang und hielten jenseits der Alten Brücke in einem Gäßchen vor einem jener echt türkischen Viereck-Häuser, deren Fenster sämtlich dem Innenhofe zugekehrt sind.

Nachdem wir fünf Minuten in der höchst unangenehmen Maisonne geschmort hatten, dazu noch umgeben von allerlei höchst fragwürdigen Düften und von einer lärmenden Schar Stambuler Rangen, erschien Sistawa endlich und meldete, daß der Bootsverleiher Ibrahim in einer halben Stunde nach Hause kommen würde. Wir sollten nur so lange in seinem Bureau warten. Unser Gepäck könnte mit ins Haus geschafft werden.

Harald nickte, stieg aus. Sistawa bezahlte den Kutscher, und drei halbwüchsige Bengel in langen Mänteln mit dem Fez auf dem Schädel schleppten unsere Koffer vor uns her.

Das Bureau Ibrahims lag rechter Hand im Erdgeschoß und enthielt an Einrichtungsgegenständen nichts als drei Stühle, einen schäbigen Diwan und einen Riesentisch, auf dem allerhand Papiere, Bücher und dergleichen lagen.

Die Hitze draußen hatte uns müde gemacht. Sistawa verschwand und brachte vier Flaschen ziemlich kühle Limonade, dazu drei Gläser von höchst fragwürdiger Sauberkeit.

Alles das war so überaus harmlos, daß selbst dem mißtrauischen Harald keinerlei Verdacht aufstieg.

Wir tranken, rauchten und ließen uns von dem armenischen Halunken nochmals versichern, daß Ibrahim eine Achtmeterjacht besäße, die wir auch als Wohnschiff benutzen könnten.

Dann ging er wieder hinaus.

Zehn Minuten verstrichen.

Die Fenster des Bureaus lagen so tief, daß man den Anblick des Springbrunnens in der Mitte des Hofes dauernd genießen konnte – leider! Denn das Marmorbassin war Herrn Ibrahims Müllhaufen …

Da sagte Harald leise:

„Sistawa ist unter dem Fenster entlanggekrochen und hat das Haus verlassen …“

Ich wurde stutzig.

„Es ist so, mein Alter … Sein famoser Strohhut war zum Teil noch zu sehen. Er hatte den Kopf nicht genug herabgeduckt. Ich denke, wir machen uns dünne. Mir gefällt es hier nicht. Die drei Bengel, die unsere Koffer trugen, waren Schüler der Gilde der heulenden oder tanzenden Derwische. Und diese Derwische sind im Nebenberuf alles mögliche …“

Er sagte es – sagte es leider zu spät …

Der dicke, schmierige Vorhang, der die Türöffnung verdeckte, hob sich …

Drei … vier … fünf … Kerle traten ein.

Keine Türken – bewahre!

Europäer in hellen Anzügen, äußerlich sehr tipp topp.

Aber jeder mit einem schwarzen Ding in der Hand, wie die moderne Waffenindustrie sie in verschiedenen Systemen erzeugt. Typ: Mauserpistole! –

Da waren wir beide ja in eine allerliebste Falle getaumelt!!

Und damit wir ja nicht im Zweifel blieben, daß die fünf nicht lediglich zum Scherz die schwarzen Dinger mit sich führten, sagte der eine auf englisch:

„Meine Herren, wir wissen, wer Sie sind. Sie sind uns hier höchst unbequem. Falls Sie sich nicht ehrenwörtlich verpflichten, Konstantinopel sofort wieder zu verlassen, müssen wir mit Ihnen in der kommenden Nacht jene Prozedur vornehmen, die zur Folge hatte, daß heute noch durch Schiffsanker zuweilen Ledersäcke mit Leichen- oder Knochenresten aus dem Bosporus zutage gefördert werden.“

Jedenfalls: die fünf Gentlemen zielten auf uns!

Fünf Repetierpistolen reden nun für jeden eine ziemlich eindringliche Sprache.

So erwiderte Harald denn auch:

„Wollen Sie uns bitte Zeit zum Überlegen lassen …“

„Ja – eine Minute.“

Der Mann zog die goldene Taschenuhr und ließ den Deckel aufspringen.

„Und wenn die Minute vorüber ist?“ fragte Harald.

„Dann fesseln wir Sie beide …“

„Nun – wir denken nicht daran, Konstantinopel wieder den Rücken zu kehren,“ meinte Harst achselzuckend. „Wir sind zum Vergnügen hierher gereist …“

Der Mann hatte aufgelacht. Die vier anderen grinsten.

„Mr. Harst,“ erklärte der Sprecher, „wir sind genau informiert. Maximilian Neumann hat Ihnen telegraphiert. Wir haben ihn beobachtet.“

„Danke,“ sagte Harald ironisch. „Das wollte ich nur wissen. Grüßen Sie Lionel Barring von uns …“

Der Mann machte ein ehrlich überraschtes Gesicht …

„Wie war der Name, Mr. Harst?“

Auch seine Freunde bewiesen durch Miene und Haltung, daß Barring ihnen fremd.

„Der Name ist Schall und Rauch, Master. Den Mann mit dem Monokel meine ich.“

„Bedauere: unbekannt, – geht uns nichts an.“

„Danke. Ich weiß nun so einiges. – Also reden wir vernünftig miteinander. Weshalb sollen wir aus Stambul wieder verschwinden?“

Der Sprecher steckte die Uhr weg …

„Die Minute ist vorüber. Ihr Schicksal entschieden, meine Herren. Hätten Sie gehorcht, so würden wir von jeder Gewalttat abgesehen haben. So aber …“

Er gab dreien seiner Freunde einen Wink. Sie zogen eng aufgewickelten Klavierdraht aus der Tasche. Draht hält zuverlässiger als Stricke.

„Einen Augenblick …“ meinte Harald.

Wir saßen auf Stühlen an der Wand gegenüber der Tür. Eine Ecke des Tisches war zwischen uns und den Gegnern.

„Einen Augenblick, ich möchte Sie noch auf eins aufmerksam machen – in Ihrem Interesse …“

Und Harst schlug ein Bein über das andere und trommelte mit den Fingerspitzen der Linken gegen das Limonadenglas, das vor ihm stand.

Er lächelte dazu …

„Die Sache ist die, meine Herren …“ Er trommelte stärker. „Es scheinen hier zwei Parteien sich mit Herrn Maximilian Neumann zu beschäftigen, von denen die eine nichts von der anderen weiß …“

Der Sprecher runzelte die Stirn. Er war bartlos und untersetzt. Jedenfalls kein Gentleman trotz der Kleidung. Seine Hände waren ausgearbeitet und muskelstrotzend.

„Zwei Parteien? – Das ist unmöglich, Mr. Harst,“ sagte er ärgerlich.

„So?! Neumann hat doch zwei Leute in sicherem Gewahrsam …“

„Wo?“

Harst kniff das eine Auge zu. „Ja, das möchten Sie gern wissen! Ich aber weiß nun, daß die beiden zu Ihnen gehören. Das genügt mir.“

Es war ein Genuß, Harald zu beobachten, wie er diese Burschen hineinlegte, wie er aus ihnen herausholte, was er klarstellen wollte. – Er fügte nach ganz kurzer Pause hinzu:

„Die andere Partei hat uns beobachten lassen, hat gemerkt, daß der Armenier am Bahnhof als Spion für uns bereitstand und will uns aus dieser Falle befreien …“

Die Gesichter der fünf wurden unruhig.

„Sie … Sie wollen uns einschüchtern!“ sagte der Sprecher zögernd. „Wir kennen Sie, Mr. Harst. Wir sind nicht dumm!“

„Bitte – wenn Sie zum Fenster hinausschauen … Was sehen Sie da?“

Ich blickte ebenfalls in den Hof hinaus …

Da … stand das Ehepaar Hitzgräfe …

Die blonde Frau Anni photographierte den Müllberg.

Und hinter ihr wieder stand lang und schmal ein … Polizeibeamter der Entente-Kommission. Die Entente hatte damals Konstantinopel noch besetzt.

Dann – ein Klirren … draußen im Hof ein zweites Klirren:

Harald hatte blitzschnell das Glas und eine Limonadenflasche durch die Scheiben auf den Hof geschleudert.

Die fünf Gentlemen waren jetzt so verdattert, daß sie angstvoll uns und den strammen Polizisten beobachteten, der langsam auf das Fenster zugeschlendert kam …

„Stecken Sie schleunigst Ihre Pistolen weg,“ rief Harald freundlich. „Kneifen Sie aber auch nicht etwa aus. Das dulde ich nicht …“

Und plötzlich hatte er selbst seine Clement in der Hand und schob die Sicherung zurück, steckte aber den Arm mit der Waffe unter die Jacke.

Die fünf waren etwas blaß geworden. Ihre Waffen verschwanden.

Der baumlange englische Polizist schaute ins Zimmer hinein …

Harst nickte ihm zu …

„Sehr heiß heute …“

„Well, well …“ Der Lange faßte an die Mütze und kehrte zu dem Ehepaar zurück.

Ich hielt es für ratsam, gleichfalls die Clement zu zeigen.

Die fünf waren unser.

„So,“ sagte Harst gemütlich, „nun wollen wir mal die Dinge klären, meine Herren … Zuvor bemerke ich, daß ich unweigerlich jedem von Ihnen eine Kugel zu kosten gebe, der nicht gehorcht. Setzen Sie sich dort rechts an die Wand auf den Fußboden. Bitte – Ihre Anzüge können Sie nachher ja abbürsten …“

Die Gentlemen gehorchten widerwillig.

„Wo befindet sich Mr. Neumann zurzeit?“ fragte Harald den Sprecher.

„Das wissen wir nicht …“

„Und wo sind die beiden Kerle, die er dingfest gemacht hat?“

„Das wissen wir auch nicht …“

„So … so. Wenn Sie lügen, werde ich Ihnen kaum mildernde Umstände zubilligen …“

„Mein Wort, – ich lüge nicht!“ meinte der Sprecher eifrig. „Mr. Harst, wir wollten ja gerade von Ihnen erpressen, wo …“

„Aha – das ist’s!! – Nun gut. Wir sind wieder einen Schritt weiter gekommen.“

Er zog mit der Linken sein Zigarettenetui und zündete eine Mirakulum an.

Ich ahnte jetzt, weshalb die fünf sich hatten auf den Fußboden setzen müssen. Sie konnten so den Hof nicht überschauen. Der Polizist und das Ehepaar waren verschwunden, wie mir ein flüchtiger Blick zeigte.

Harald rauchte und wippte mit der Fußspitze.

„Wem gehört dieses Haus?“ fragte er weiter.

„Dem Bootsverleiher Ibrahim …“

„Von dem Sie wohl diesen Raum gemietet haben?“

„Ja – den ganzen Flügel, Mr. Harst.“

Wieder eine Pause.

Der Duft der Mirakulum betäubte den faden Gestank, der so vielen türkischen Wohnungen anhaftet.

„Um was für Falsifikate handelt es sich?“ wandte Harald sich mit absichtlicher Strenge im Ton an den Sprecher. Der Kerl prallte vor Schreck mit dem Kopf gegen die Wand. Sein weicher Filzhut fiel ihm in den Schoß. Auch seine Freunde rissen die Mäuler entsetzt auf. –

Falsifikate – – Falschstücke – Nachahmungen?! Wie kam Harald gerade darauf?!

Schon sprach er weiter:

„Lag der Sendung das Dolchmesser bei mit dem abschraubbaren Knopf? – So reden Sie doch!“

Der Wortführer der Gentlemen wurde sehr bleich und schaute zu Boden …

Schwieg …

„Schraut, hole den Polizeibeamten herein,“ befahl Harald mir.

Da rief der Sprecher:

„Es … es waren falsche englische Banknoten, Mr. Harst.“

„Was ähnliches dachte ich mir. – Und wie kamen Sie zu dem Dolchmesser?“

„Wir … wir haben es ge… geraubt …“

„Durch einen Mord?“

„Nein – nein! Nur niedergeschlagen haben wir den Mann …“

 

3. Kapitel.

Auf dem Bosporus.

Der Sprecher wollte offenbar noch mehr hinzufügen. Er – hatte es nicht mehr nötig …

Jetzt – änderte sich die Lage[3] leider zu unserem Nachteil …

Der Türvorhang flog plötzlich beiseite …

Draußen zwei der halbwüchsigen Derwische …

Und – zwei jener schweren Holzkeulen, wie türkische Gaukler oder Jongleure sie so meisterhaft zu werfen wissen, flogen uns mit solcher Kraft gegen die Brust, daß Schmerz und Atemnot uns für Sekunden wehrlos machten …

Wie die Teufel waren die fünf schon über uns her …

Fäuste, des Boxens gewohnt, krachten gegen meine Stirn …

Ich sank vom Stuhl … Man würgte mich, man umwickelte mir Hand- und Fußgelenke mit Draht, man schob mir einen Knebel in den Mund, band den Knebel fest …

Die Gentlemen umtanzten uns vor Freude wie die Verrückten …

Der Armenier kam hinzu …

Ich war bei Besinnung, hörte, wie er zu den fünfen hastig sagte:

„Sie müssen sofort weg … Auch die Koffer, auch alles andere. Räumt die Wohnung. – Faßt an …!“

Sie trugen uns durch halbdunkle muffige Gemächer, durch eine kleine Pforte nach Westen zu auf einen winzigen, völlig verwilderten türkischen Friedhof, der an das Haus grenzte.

Feierliche Zypressen empfingen uns mit sanftem Rauschen. Vom Hafen her das Heulen von Dampfersirenen. Über uns die Sonne …

Und wir – wir zwei wehrlose Bündel, der Willkür dieser Menschen preisgegeben!

Dann warf man uns in das Gras. Zwei Kerle blieben bei uns.

Ich hatte in der Brust die wütendsten Schmerzen, Blutgeschmack im Munde. Meine Handgelenke brannten unter dem Druck der Drähte wie Feuer. Die Hände quollen mir auf.

Kisten brachte das Gesindel herbei, sechs alte Kisten …

Mich verstauten sie in der einen, nagelten den Deckel zu.

Da war ein Astloch …

Ich sah, daß die Kisten durch ein Gittertor, das mit morschen Brettern benagelt war, auf eine leere Gasse, auf einen Tafelwagen geschafft wurden.

Der Armenier fuhr mit uns davon. Die drei Derwisch-Lehrlinge hockten auf den Kisten und trommelten mit den Hacken dagegen.

Dann sehr bald das Bild des Hafens: ankernde Dampfer, zwei hellgraue Kriegsschiffe … unzählige Boote, Barken, Segler, Motorknatterer …

Und ein Lastenmotorboot nahm uns auf. Die Kisten standen auf dem Hinterdeck.

Mein Guckloch zeigte mir „die Pforte der Glückseligkeit“ vom Wasser aus …

Das wunderbare Stambul, das bezaubernde Küstenbild der berühmten alten Stadt zog an mir vorüber …

Ein Meer von Kuppeln, schlanken Türmen, – leuchtender Marmor im dunklen Grün, zierliche Kioske, neuere Bauten …

Unter der Sultan-Valide-Brücke hindurch ging’s bis zur Nordostspitze der Halbinsel, bis zum Serai Burnu …

Dann südwärts – am Militär-Hospital vorüber, an den weitläufigen Bauten des Top Kapu Serai – hinein ins Marmara-Meer …

Der Turm des Seraskeriats winkte herüber, dessen Spitze den höchsten Punkt all dieser Herrlichkeiten darstellt.

Dann bog das ratternde, benzinstinkende Fahrzeug nach Südosten ab, überquerte das Wasser, legte drüben an der asiatischen Seite unweit des Derwisch-Klosters im Süden von Skutari[4] an …

Lag nun in einem schmalen Bootshafen inmitten plumper Segelbarken …

Widerlicher Gestank von faulenden Fischen, von faulendem Gemüse, von Teer, Benzin und anderen Düften drang in meinen hölzernen Schwitzkasten …

Die Derwisch-Jünglinge[5] trommelten noch immer mit den Hacken gegen die Seitenwand.

Bis man meine Kiste durch eine Ladeluke unter Deck schaffte und öffnete.

Durch die Luke fiel das Tageslicht herein. Und hier sah ich Harald wieder. Hier band man uns mit Draht an eine Zwischenwand in sitzender Stellung, band uns die Füße an rasch eingeschlagene Nägel fest …

Auch der Sprecher war plötzlich wieder da. Sein breites Gesicht leuchtete vor Hohn und Triumph.

„Sie haben uns da ja fein hineingelegt, Mr. Harst,“ sagte er boshaft. „Das Ehepaar wollte ja nur den Hof photographieren und hatte den Polizeiknecht lediglich aus Angst vor dem entlegenen Orte gebeten, ein Weilchen bei ihnen zu bleiben. Na – zum zweiten Male führen Sie uns nicht aufs Glatteis! Und – dumm sind Sie auch gewesen! Wir wissen jetzt, daß Sie genau so wenig wie wir das Versteck dieses dreimal verdammten Neumann kennen! Sie beide sind also wertlos für uns! Nachts werden Sie ersäuft …! Da hilft Ihnen kein Gott mehr!“

Dann blieben zwei der Derwischschüler bei uns. Der Lukendeckel knallte zu.

Finsternis ringsum …

Nur durch ein verstaubtes kleines Fenster kam ein wenig Licht herein. –

Das waren Stunden, die man so leicht nicht vergißt! Stunden unerhörter Qual in dieser Hitze unter Deck! Die Sonne brannte auf die Planken. Man roch den schmorenden Anstrich. Ohnmachtsanfälle ließen vor meinen Augen Lichtbündel aufzucken …

Damals schwor ich mir zu: wenn Du einen dieser Schurken vor den Lauf Deiner Clement bekommst, so ist der Kerl erledigt! –

Ob ich dann einschlief oder wirklich die Besinnung verlor, weiß ich nicht …

Laternenschein umspielte plötzlich mein Gesicht …

Man hob mich empor …

Trug mich nach oben …

Nacht ringsum … Der Mond stand als schmales silbernes Horn über der fernen, altehrwürdigen Stadt – ein Halbmond über diesem Mittelpunkt des Reiches der Halbmondanbeter, der Türken, der Mohammedaner …

Zwischen Kisten lag ich neben Harald …

Kam zu mir – immer mehr …

Kühler Wind umstrich das dahinschießende Fahrzeug.

Nordwärts ging’s in den Bosporus hinein.

An Bord bewegten sich vier Gestalten: der Sprecher, zwei der Derwisch-Jünger und der Armenier. Am Steuer stand ein zweiter der fünf Gentlemen.

Zwischen den Kisten hindurch konnte ich die asiatische Küste, Skutari, als funkenbesätes Nachtbild betrachten …

Ein Leuchtturm …

Kiß Kudessi mit dem Leanderturm[6] … –

Hero und Leander – Poesie – Liebe … Tragik …

Und – auch hier eine ungeheure Tragik auf diesem Frachtboot: zwei Menschen, die in Ledersäcken ersäuft werden sollten! –

Der Armenier hatte die Säcke schon bereitgelegt, hatte Steine hineingetan, rief nun dem Sprecher zu:

„He, Wilson, es wird Zeit!“

Da hörte ich den Namen des Sprechers zum ersten Male. Also Wilson – ausgerechnet Wilson!

Die beiden beugten sich über Harst, hoben ihn hoch, schoben die Beine in den Ledersack …

Ich war durch die im Laderaum ausgestandenen Qualen viel zu matt, um Angst – Todesangst zu empfinden …

Ich war so gleichgültig gegen alles, daß ich mich wunderte, als Harst plötzlich den Knebel, den er irgendwie gelockert haben mußte, mit der Zunge herausstieß und sagte:

„Ich möchte noch mit Ihnen sprechen, Wilson, – in Ihrem Interesse!“

Der Kerl holte sofort mit der Faust zum Schlage aus …

„Hund, Du hast …“

Das war so ziemlich sein letztes Wort …

Harald hatte mit einem Male die Hände frei …

Die Arme waren hinter dem Rücken vorgeschnellt.

Und – sein Fausthieb gegen Wilsons Kinn war wie ein Schmiedehammerschlag …

Sein zweiter Hieb warf den Armenier über Bord …

Das ging alles so blitzartig, daß die beiden Derwisch-Jünglinge und der Mann am Steuer nichts mehr unternehmen konnten …

Harst hatte die Clement schon in der Hand …

Man hatte uns die Waffen nicht abgenommen. Sie sollten mit uns verschwinden …

Die beiden Tanzschüler der frommen Gilde der Heulenden warfen ihre Mäntel ab und sprangen ins Wasser. Der Mann am Steuer tat dasselbe …

Das Boot knatterte weiter.

Aber – jetzt steuerte ich, und Harald fesselte den halb bewußtlosen Mr. Wilson, der etwa vierzehn Zähne eingebüßt hatte … Vielleicht auch weniger. Aber zu dem Namen Wilson gehört nun mal die Zahl vierzehn: Wilsons berüchtigte vierzehn Punkte[7], der größte Schwindel der Weltgeschichte!

Dann wollten wir die vier über Bord Gegangenen auffischen. Es war jedoch zu dunkel. Wir fanden sie nicht. Später stellte sich heraus, daß der Armenier ertrunken war.

Wir gaben das Suchen auf, wollten jetzt nach dem Hafen von Stambul zurück. Harald stand neben mir am Steuer. Wir fuhren westwärts …

Und dann – dann kam … das andere …

 

4. Kapitel.

Auf dem Grunde des Bosporus.

Der alte Leanderturm, Kiß Kudessi, lag jetzt genau nördlich von uns. In der windstillen, etwas wolkigen Nacht waren wir bei der immerhin beträchtlichen Dunkelheit beinahe auf einen ohne Laternen vor Anker gegangenen kleinen Segler aufgerannt.

Haarscharf glitten wir an dessen Heck vorüber. Ich sah, daß von der Backbordreling an einer Strickleiter gerade ein Taucher aus dem Wasser emporstieg.

Einer der auf dem Fahrzeug befindlichen Leute hatte uns wütend angebrüllt – in englischer Sprache:

„Verdammt – nehmt Euch doch in acht! Sperrt die Augen auf!“

Aber eine andere leisere Stimme wies den Schreier sofort zurecht:

„Ruhe da vorn! Seid Ihr nicht recht gescheit?!“

Dann waren wir schon vorüber …

Harald pfiff plötzlich leise durch die Zähne …

„Kanntest Du die zweite Stimme, mein Alter?“ fragte er.

„Bekannt kam sie mir ja vor … wer ist’s?“

„Barring …, – Barring, der das Ehepaar Hitzgräfe vom Bahnhof abholte, seine Helfershelfer, seine Spione, die uns hatten beobachten sollen, schon während der Fahrt.“

Er zog den Hebel des Motors zurück. Die Schraube schlug langsamer …

Und fuhr fort: „Ja, die Hitzgräfes waren schon in Berlin unsere Nachbarn, wohnten möbliert in der Blücherstraße.“ Er lachte ironisch auf. „Es gibt noch immer Leute, die mich so niedrig eintaxieren, daß sie glauben, ich hätte ein miserables Personengedächtnis. Es machte mir viel Spaß, das harmlose, verliebte Getue des Pärchens während der Eisenbahnfahrt zu … belauern. Hin und wieder verrieten sie sich. Ich wußte schon zwei Meilen hinter Wien, was ich von den Herrschaften zu halten hätte …“

„Und verheimlichtest mir das …!“

„Ja. – Wozu sollte ich Dich beunruhigen?! – Also Barring war der Mann auf dem ohne Laternen ankernden Segler, und – – die erste Stimme war der angebliche Doktor Hitzgräfe …“

„Ah – das stimmt!“

„Wenn man berücksichtigt, daß der Segler ohne Lichter dort Taucharbeiten ausführte, daß unsere Freunde Barring und Hitzgräfe an Bord sind und daß drittens der Pergamentstreifen die Aufschrift enthielt:

Falsifikate sind unterwegs in Kiste drei,

so kann man unschwer zu dem Schluß gelangen, die Kiste drei könnte dort im Bosporus liegen, wo der Taucher arbeitet, das heißt: der Taucher will sie heben – die Kiste mit den falschen Banknoten …“

Das leuchtete mir ein.

„Und deshalb, lieber Alter, werde ich jetzt unser Boot verlassen und mich schwimmend an den Segler heranschleichen. Ich bin überzeugt, daß Barring unseren Auftraggeber Maximilian Neumann „geschnappt“ hat und gefangen hält. Du weißt ja: Wilson, der da soeben wieder lebendiger wird und an seinen Fesseln zerrt, – dieser edle Wilson sprach uns gegenüber als Tatsache aus, daß Maximilian samt den beiden braunen Halunken seit Tagen verschwunden ist.“ –

Es hat alles in allem sehr selten bei unseren Erlebnissen eine Gelegenheit gegeben, wo ich meinem Herrn und Meister und Freunde einen Vorschlag machen konnte, der seine Pläne aussichtsreicher gestaltete.

Hier war es der Fall.

Zunächst gefiel es mir nämlich gar nicht, daß Harald sich allein an den Segler heranmachen wollte. Aus diesem Mißbehagen, das halb Angst um Harst war, halb wieder auch Ärger, hier an Bord des Motorbootes untätig zurückbleiben zu müssen, – aus diesem Mißbehagen entsprang dann ein Gedanke, den ich Harald sofort in kurzen Umrissen mitteilte.

Und – Harald war entzückt, begeistert …

„Famos, Alterchen, – machen wir!“ erklärte er. „Vorwärts denn! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Der Motor knatterte lebhafter. Harst steuerte jetzt. Er wußte hier besser Bescheid.

Auf der Reede diesseits der Sultan-Valide-Brücke lag eine ganze Anzahl großer Seedampfer vor Anker. Wir fanden ein holländisches Schiff. Wir riefen die Bordwache an. Nach kurzer Verständigung nahmen sie uns an Deck. Wir verwandelten uns in der Kabine des ersten Steuermanns in zwei überaus echte, abgerissene, struppige Schwarzmeerfischer. Unseren Gefangenen, unser Gepäck versprach man gut aufzuheben. Haralds Ausweis hatte Wunder gewirkt. –

Dann fuhren wir wieder davon – südwärts, ließen unweit der Serai-Landspitze unser Motorboot an einer Anlegestelle zurück und „liehen“ uns einen elenden Nachen, das heißt, wir ketteten ihn los und ruderten ostwärts – dorthin, wo im Dunkel der schwülen Nacht Lionel Barrings Taucher nach der Kiste Nr. drei auf dem Grunde des Bosporus suchte.

Unser Programm war so einfach wie möglich. Das Gelingen hing von Harald ab, der im Vertrauen darauf, daß die Leute an Bord des Seglers sämtlich Europäer seien und der türkischen Sprache nicht mächtig (wie wir!!), im Levantiner Hafenidiom sich mit Barring verständigen wollte, also in einem Mischmasch aller möglichen Sprachbrocken, während ich den Taubstummen zu spielen hatte.

Schlimmstenfalls hatten wir ja unsere Clements bei uns, deren knallige Mundart fraglos überzeugend wirken würde. –

So – – rammten wir denn, wie durch Ungeschick, in der Dunkelheit den Segler an der Backbordseite mit solcher Kraft, daß unser Nachen, wie erwartet, dabei zum Teufel ging und wir beiden abgerissenen Kerle gerade noch die Strickleiter zu packen bekamen.

Dieser Besuch schien nun sowohl Barring als auch dem Herrn Doktor Hitzgräfe äußerst unangenehm zu sein.

Hitzgräfe fluchte wie ein be…trunkener Maat. Barring musterte uns mit mißtrauischen Blicken, sah aber natürlich bei der schwachen Beleuchtung durch Mondsichel und Sterne so gut wie nichts.

Dafür überschüttete Harald die beiden mit einem nicht endenwollenden Schwall von blumigen Redensarten, kauderwelschte Entschuldigungen und benahm sich so außerordentlich echt und aufgeregt, daß Barring, der die Luftpumpe der Taucherausrüstung ununterbrochen bediente, schließlich erklärte:

„Gut, wenn Du brauner langer Lump mal in Odessa Hafentaucher gewesen bist, könnt Ihr vorläufig an Bord bleiben. Unser Taucher hält den Wasserdruck hier in zehn Meter Tiefe sehr schlecht aus und kommt alle Augenblicke nach oben …“ –

Man sieht: Harald hatte wieder mal das Richtige getroffen, als er mit seiner Ausbildung als Taucher renommiert hatte! –

Inzwischen war denn auch Barrings Taucher wieder auf der Strickleiter erschienen, kletterte an Deck und ließ sich den Kupferhelm abschrauben.

Wer beschreibt unser Erstaunen, als wir nun dieses Tauchers feines Stimmchen vernahmen!! Es war – – Anni Hitzgräfe!! –

Fünf Minuten später war der Segler an dem langen Ankertau zehn Meter weiter südlich festgelegt worden, und Harald kletterte im Taucheranzug die Strickleiter hinab, schaltete die elektrische Lampe erst unter Wasser ein und blieb eine volle Viertelstunde unten.

Barring hatte ihm befohlen, nach einer hellen Holzkiste sich unten auf dem Grunde umzusehen, – einer Kiste, auf die eine lateinische Drei gemalt sei.

Daß mir, der ich als Taubstummer oben unbeachtet an der Reling stand und ins Wasser hinabstierte, bei alledem nicht wohl war, wird jeder leicht begreifen.

Wenn Barring zum Beispiel auch nur den leisesten Verdacht geschöpft hatte, dann befanden wir uns hier in einer Falle, im Vergleich zu der unser Eingangsabenteuer im Hause Ibrahims eine Partie Skat mit unbegabten Gegnern gewesen!

Nun – Barring war harmlos. Das merkte ich sehr bald. Auch ich hatte mich ja durchaus zweckmäßig benommen und Haralds Kauderwelsch mit den lebhaften Gesten und Zeichen unterstützt. Man hielt mich in der Tat für taubstumm. Barring und Hitzgräfe sowie der dritte noch an Bord befindliche Europäer, ein blondbärtiger kleiner Kerl, sprachen ganz unbekümmert über ihre Pläne, und Anni Hitzgräfe gab auch noch ihren Senf dazu.

Allerdings war aus diesen abgehackten Bemerkungen nicht allzu viel zu entnehmen.

Erstens: daß Anni nicht Hitzgräfes Frau, sondern Artistin war und ihre Ausbildung als Taucher nur zu einer Varieteenummer erhalten hatte. – Dann: Barring weilte seit einem Monat unter dem Namen eines Grafen d’Oglia in Stambul und hatte ganz zufällig mal den Mr. Wilson und dessen Kumpane belauscht und so erfahren, daß sie in Berlin hergestellte falsche englische Banknoten von vorzüglicher Ausführung hier absetzen wollten. – Drittens: Barring hatte (und das war das wichtigste!) unseren Maximilian Neumann „geschnappt“ und irgendwo eingekerkert. – Wo, – das erwähnten die Herrschaften leider nicht! –

Dann gab Harald von unten mit der Signalleine ein Zeichen.

„Ah – wir sollen das Tau hochziehen!“ rief Hitzgräfe erfreut! „Der Kerl hat die Kiste wahrhaftig gefunden!“

Ich half …

Wir zogen und zogen …

Dann plätscherte das Wasser …

Dann – tauchte ein … großer Sack auf …

„Verdammt!“ fluchte Hitzgräfe, als der Sack auf den Deckplanken lag …

Aber – schon wieder ein Signal mit der Leine …

„Wir sollen das Tau wieder hinablassen,“ meinte Barring, der von den vieren am ruhigsten blieb.

Das Tau sank an der Bordwand entlang in die Tiefe, wo ein schwacher Lichtschimmer uns zeigte, daß Harald sich senkrecht unter uns befand.

Er bekam das Tau auch zu fassen, und der Lichtschimmer wanderte weiter vom Schiffe ab: Harst entfernte sich abermals, mußte also noch einen zweiten Gegenstand gefunden haben. –

Barring schnürte den Ledersack auf.

Hitzgräfe leuchtete mit einer halb abgeblendeten Laterne …

Dann – fuhr Barring zurück …

Er hatte den Kopf einer weiblichen Leiche freigelegt, den Kopf einer Europäerin …

 

5. Kapitel.

In den Gewölben des Jedi Kule, des Schlosses der sieben Türme.

Hitzgräfes Laterne warf rötlichen Lichtschein auf das aufgedunsene, schrecklich entstellte Gesicht.

Die Artistin Anni war mit einem Schrei des Entsetzens gegen mich getaumelt, der – ich prahle nicht – jetzt doch der Kaltblütigste hier an Bord des Seglers war, oder besser: der, dem der Anblick der entstellten Toten am wenigsten etwas anhaben konnte!

Wir, Harald und ich, hatten schon ganz andere Leichen als diese gesehen. Mehr als das: wir hatten uns über halb verweste Körper gebeugt und deren Kleidung durchsucht! Ich denke da nur an unser australisches Abenteuer, das erst kurze Zeit zurücklag, an die Motorjacht ohne Namen, die uns nach der Insel der Seligen geführt hatte! Das halbe Skelett, das auf der Jacht an den Mast gebunden war und das Deck verpestete, war eine Probe auf standhafte Nerven gewesen! – Der Leser wird sich auf diese Einzelheiten besinnen. Ich habe in Band 108 diesen grauenvollen Fund eingehend beschrieben. –

Gewiß – auch diese blonde Tote hier in dem Ledersack, der mit Steinen beschwert war, bot einen grauenvollen Anblick dar. Und doch wird dem Berufs- oder Liebhaberdetektiv eine derartige unbekannte Tote deshalb stets weniger die Nerven vor Grauen vibrieren machen als einem anderen Zeugen des Wiederauftauchens eines heimtückisch in den Fluten eines geheimnisvollen Gewässers, wie es der Bosporus stets gewesen, absichtlich versenkten Weibes. Der Detektiv bleibt Beobachter, bleibt Grübler, sinnt sofort über das Wer?, Wie?, Warum? nach, läßt seine geübten Gedanken sofort Bahnen einschlagen, die ihn von dem tragischen Schauspiel selbst ablenken. –

Anni, die Artistin, hatte in ihrem ersten Schreck meinen Arm umklammert. Erst Barrings leiser Ausruf: „Da – schon wieder das Signal zum Einziehen des Taues!“ brachte sie zur Besinnung. –

Das Tau wurde eingeholt. Unten war – – die Kiste befestigt.

Hitzgräfe vergaß die Leiche, jubelte: „Wir haben sie, Graf! Wir haben sie!“

Der angebliche Graf d’Oglia half die Kiste an Deck heben und sagte leise:

„Die beiden schmierigen Kerle werde ich reich beschenken. Wir setzen sie an der Station Jedi Kule an Land. Die Leiche werfen wir wieder ins Wasser. Was geht die Tote uns an?!“

Harst kam die Strickleiter empor, stieg an Deck. Hitzgräfe schraubte ihm den Helm ab, half ihm aus dem wasserdichten Anzug. Barring band den Ledersack wieder zu.

Dann wandte er sich an Harald.

„He, weshalb hast Du uns den Sack hochhissen lassen, Freundchen?! Da – wirf ihn wieder in den Bosporus.“

Harst begann mit Händen und Armen wild herumzufuchteln.

„Mister, Master werden Sack mitnehmen. Studenten zahlen in Istambul viel Geld für Tote. Ich armer Fischer bin … Mister werden mir nicht verhindern ein wenig Verdienst …“

„Unsinn, Ihr sollt von mir mehr Geld bekommen, als Ihr in einem Jahr verdient. Aber schwören müßt Ihr beim Barte des Propheten, daß Ihr das Maul haltet, was wir diese Nacht hier vorhatten.“

Harst lamentierte weiter. „Mister, ich kenne berühmten Hekim (Arzt), der noch mehr zahlt und ganz verschwiegen ist. Mustafa und ich (er deutete auf mich) werden schweigen, Mister. Wir nicht wollen haben zu tun mit Policeman, gar nicht. Wir … Schmuggler sind, Mister …“

Barring zuckte die Achseln.

„Meinetwegen! Schafft den Sack aber unter Deck und werft Netze darauf!“

So bewahrte Harst die unbekannte Tote vor dem erneuten Hinabsinken in die Tiefen des Bosporus. So schuf er die Möglichkeit, die Unbekannte zum Ausgangspunkt von Ermittlungen zu machen, durch die ihr Tod volle Aufklärung erhalten sollte. –

Der Anker wurde eingezogen. Der kleine Segler hatte einen Hilfsmotor. Die Positionslaternen brannten nun, und langsam kroch das Fahrzeug mit arbeitendem Motor südwärts ins Marmara-Meer, bog nach Westen ab und landete außerhalb der alten Befestigungsmauern Konstantinopels unweit der Eisenbahnstation Jedi Kule an einsamer Uferstelle, wo Büsche und Bäume bis an das durch Balken und Bretter befestigte Ufer heranreichten.

Hier händigte Barring Harald ein Päckchen Scheine aus. Hier mußten wir mit dem Ledersack und der Leiche darin verschwinden. Harald deutete an, daß wir die Tote auf einem der nahen Friedhöfe vorläufig verbergen würden.

Dann nahm er die unheimliche Last auf den Rücken und schlich davon. Ich blieb hinter ihm.

Aber kaum fünfzig Meter vom Ufer ab legte er den Sack rasch in ein Gestrüpp am Fuße einer halb eingestürzten Mauer.

„Kehrt!“ flüsterte er …

Wir kamen gerade noch zur rechten Zeit …

Wir beobachteten von Land aus, daß Barring aus der geöffneten Kiste eine Menge Bücher in zwei Rucksäcke verstaute, mit denen sich dann der „Herr Graf“ und der kleine Blonde beluden.

Der Segler aber glitt unter Führung Hitzgräfes wieder ins offene Wasser hinaus. Anni, die Artistin, war ebenfalls an Bord geblieben.

Es war nicht schwer, Barring und dem Blonden unbemerkt weiter nachzuschleichen.

Sie mieden die gebahnten Wege, näherten sich im Bogen nach Westen zu dem Schlosse der sieben Türme, an dessen Ruinen mit den Jahren stellenweise sich hohe, dichte Gestrüppmassen gebildet hatten.

In eins dieser Dickichte drangen die beiden, nachdem sie ein paar Zweige eines stachligen Baumes beiseite gebogen hatten, kriechend ein.

Nun endlich konnte auch ich meinen Trumpf ausspielen, flüsterte:

„Barring hat Maximilian Neumann gefangen genommen, wie ich aus den Gesprächen der vier entnahm, und dies hier dürfte das Versteck sein, wo unser Auftraggeber eingekerkert ist!“

Harald schwieg dazu.

Dann schob auch er die Zweige beiseite …

Dann bückte er sich, tastete den Boden ab …

Auch wir krochen durch den in das Gestrüpp geschnittenen Gang, kamen so an die Grundmauer eines der Türme und an ein bogenförmiges, halb mit Schutt ausgefülltes Loch …

Harsts Taschenlampe, durch die Hand zum größten Teil verdeckt, schickte einen schmalen Lichtstrahl eine bröckelige Steintreppe hinab.

Wir horchten, klommen lautlos, jeden Schritt berechnend, abwärts …

Befanden uns in einem schmalen Gewölbe …

Gingen weiter – den Stimmen nach, die vor uns irgendwo laut wurden …

Und dann – dann eine enge Türöffnung – ein Lichtschein – ein zweites Gewölbe …

Fünf Menschen in der einen Ecke … drei davon gefesselt, zwei waren Araber, dergleichen, – einer ein Europäer, ein großer, breitschultriger Mann mit vollem Haupthaar, blondem Spitzbart, frischem, treuherzigem Gesicht: Maximilian Neumann!! Unser Landsmann!!

Und er sagte gerade auf Englisch zu Barring:

„Graf, ich betone nochmals: ich habe nie mit diesen Banknotenfälschern etwas zu tun gehabt. Es ist mir unbegreiflich, wie in eine für mich bestimmte Sendung falsches Papiergeld hineingeschmuggelt worden ist!“

Und – Barring lachte ungläubig …

So lernten wir Freund Maximilian, den Absender der neben mir liegenden Postkarten, kennen … –

Der zweite Teil des Geheimnisses des Bosporus aber soll den Titel erhalten, den der Leser auf der nächsten Seite findet …

 

 

Die Frau im Sack.

 

1. Kapitel.

Wir nur als Lauscher.

Ich will das nun folgende Gespräch zwischen Barring und unserem Maximilian hier ohne jede Zwischenbemerkung wiedergeben.

Barring: „Sie haben bisher gelogen und lügen weiter, Mr. Neumann. Ich behaupte, Sie stehen seit langem mit den Fälschern im Bunde, die aus der Staatsdruckerei in London ausrangierte Banknotendruckplatten und ebenso Banknotenpapier gestohlen haben und auf diese Weise in Berlin Falsifikate herstellen konnten, die von den echten Scheinen kaum zu unterscheiden sind.“

M. Neumann (etwas ironisch): „Ich bin Ihnen für diese Angaben sehr dankbar, Graf. Leider muß ich Ihre Hoffnung, daß etwa ich im Besitz eines ganzen Lagers dieser Fälschungen bin, zerstören. Ich gebe Ihnen mein Wort, Graf, das Wort eines Ehrenmannes, daß ich mit den Fälschern nicht im Bunde stehe.“

B.: „Der Ausdruck Ehrenmann ist lächerlich, Mr. Neumann. Ein Mann ist so lange Ehrenmann, als er sich nicht ertappen läßt. Sie sind ertappt worden. Ich habe eine Unterhaltung zwischen einem gewissen Wilson, den Sie wohl kennen dürften, und …“

N.: „Ich kenne nur einen Wilson, und zwar den Expräsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, dem Namen nach, den Herrn mit den … vierzehn Punkten …“

B.: „Lassen Sie mich gefälligst ausreden, Mr. Neumann. – Wilson und ein anderer dunkler … Ehrenmann sprachen über die tadellosen Falsifikate und über die Büchersendung, die Sie aus Berlin erwarteten. Es ging aus ihrer Unterhaltung hervor, daß unter den sieben Kisten Büchern sich eine befände, die durch eine römische Drei gekennzeichnet war. Diese Kiste enthielt die falschen Scheine. – Na – was sagen Sie nun dazu?“

N. (etwas erregt): „Ich sage: ich bin kein Verbrecher! Ich weiß nur, daß ich leider, leider mich verleiten ließ, insofern die Gesetze zu übertreten, als ich die sieben Kisten nicht verzollen wollte und durch Bestechung auch erreichte, daß sie von Galata aus, wo sich das Hauptzollamt befindet, nachts über den Bosporus nach Skutari und von da einen Tag später in meinen Laden geschafft wurden. Diese Fahrt von Galata nach Skutari über den Bosporus sollte jedoch mir insofern einen Verlust bringen, als eine der Kisten spurlos verschwand.“

B.: „Sie sind ein glänzender Heuchler, Mr. Neumann!!“

N. (wütend): „Ich verbitte mir diese Unverschämtheiten!“

B.: „Sie spielen den Ehrenmann vorzüglich! – Die Sache liegt in Wahrheit so, daß Sie die Kiste vorerst im Bosporus versenken ließen. Wir haben Wilson weiter beobachtet. Ein Armenier namens Sistawa …“

N.: „Ah – also der Lump ist mit im Bunde!! Das ist ja gerade der, dem ich das Geld gab, damit er die Kisten …“

B.: „… Sistawa hat die Kiste über Bord geworfen. Und Sie wollten sie später wieder herausholen …!“

N. „Sie gestatten, Graf, daß ich Sie auslache. Mein reines Gewissen wird am besten dadurch bewiesen, daß ich dem deutschen Detektiv Harald Harst erst einen Brief und dann eine Depesche schickte, weil ich diese beiden braunen Kerle fürchtete und weil ich dem einen jenes Dolchmesser abnahm, das Sie bei mir vorfanden …“

B. (erstaunt): „Das ist mir allerdings neu …!“

N.: „Nun also! Ich habe Harst hierher gebeten. Und ich depeschierte ihm, daß ich diese beiden braunen Schufte nun dingfest hätte, die ich hier in die Ruinen lockte, wo ich sie infolge meiner genauen Kenntnis der verschütteten Keller in ein enges Gelaß einsperren konnte. Als ich den beiden Halunken dann am nächsten Tage Speise und Trank brachte, überfielen Sie mich und behaupteten, die beiden hätte ich nur deshalb gefangen gehalten, weil sie Mitwisser der Falsifikatsendung seien und weil ich von ihnen Verrat argwöhnte. – Das ist Unsinn! Wenn Harald Harst hier wäre, könnte er Ihnen bezeugen, daß ich ihn um Hilfe gebeten habe. Wäre ich ein Verbündeter der großen Fälscherbande, so würde ich wohl kaum einen Mann wie Harst mir wie eine Laus in den Pelz gesetzt haben! Was sage ich: Laus!! Unsinn, Unsinn: Harst ist wie ein Vampyr, der tödliche Wunden denen schlägt, die seine Gegner sind!“

B. (sinnend): „Ja, das ändert die Sache … denn Harst – ist hier!“

N. (sehr freudig): „Nicht möglich!! Hier – hier in den Ruinen der sieben Türme?“

B. (lachend): „Das gerade nicht, Mr. Neumann. Im Gegenteil: Mr. Wilson hat sich mit des Armeniers Hilfe der Herren Harst und Schraut in liebevollster Weise angenommen, das heißt: er hat sie genau so in eine Falle gelockt, wie Sie die beiden da! – Ich hatte nämlich mit Harst vor einiger Zeit schon einige kleine Differenzen, die es mir ratsam erscheinen ließen, zwei meiner Freunde in der Blücherstraße in Berlin-Schmargendorf einzuquartieren, damit ich rechtzeitig erführe, wenn Harst etwa mir wieder nachzustellen begönne …“

N. „Sie scheinen ja eine feine Nummer von Graf zu sein!!“

B.: „Bleiben wir lieber bei dem Gentleman-Ton, Mr. Neumann.“

N: „Gern, wenn Sie – ein Gentleman sind …“

B.: „Meine Freunde also reisten mit Harst und Schraut im selben Abteil hier nach Stambul und beobachteten dann, daß die beiden rührigen Detektive von dem schlauen Sistawa in das Haus des Bootsverleihers Ibrahim geführt wurden, von wo man sie später in Kisten auf ein Lastboot schaffte. Wo sie dann geblieben sind, weiß ich nicht. Jedenfalls: sie sind gut aufgehoben!“

N. (von seiner Kiste hochschnellend): „Die Schurken werden meine Landsleute ersäufen!! Graf, ich biete Ihnen tausend Pfund, wenn Sie mich sofort freilassen, damit ich Harst und Schraut retten kann! Ich habe sie hierher gebeten, ich bin schuld an ihrem Mißgeschick! Ich verspreche Ihnen auf mein Wort, all das zu vergessen, was ich über Sie und die Banknoten weiß, – – alles! Ich halte mein Wort! Tausend englische Pfund, Graf! Das ist ein Drittel meines Vermögens! Ich opfere das Geld gern!“

B. (sehr ernst und doch herzlich): „Sie sind ein anständiger Charakter, Mr. Neumann. Und – – Lionel Barring kann großmütig sein!“ –

(Das wußten wir! Er war ein Verbrecher. Aber in einem Winkel seines Herzens schlummerten doch noch edlere Regungen. Der Leser kennt ja ebenfalls den überraschenden Abschluß unseres Abenteuers in den Tokkara-Höhlen, Band 110.)

B. (fortfahrend): „Mr. Neumann, Sie sind frei – ohne Lösegeld! Nur gegen das Versprechen, zu schweigen.“

Er erhob sich, löste Maximilians Stricke und meinte:

„Diese beiden braunen Burschen werde ich vorläufig hier festhalten. – Kommen Sie, ich bringe Sie ins Freie.“

Ich glaubte natürlich, daß Harald nun vorspringen und der Situation eine ganz andere Wendung geben würde.

Ich irrte mich gründlich.

Harst zog mich rasch seitwärts in ein anderes Gewölbe hinein, wo wir zwischen Schutthaufen uns verbargen.

Wir hörten Barrings und Maximilians Schritte …

Wir hörten Barring allein zurückkehren.

Und da flüsterte Harald:

„So – nun ran an den Feind! Aber kein Wort über Maximilian Neumann!“

Fügte nachdenklich hinzu:

„Nein – warten wir noch zehn Minuten …“

Ich wartete gern …

Einen Barring festzunehmen, ist immer eine kitzliche Sache. Barring kann großmütig sein. Aber – in die Enge getrieben, wird er zum Tiger – mordet – schießt – sticht.

Zehn Minuten …

Da hatte ich Zeit, alles nochmals zu prüfen, was wir nun über diese Fälscherbande wußten, deren Obermacher hier in Stambul Mr. Wilson war, der jetzt an Bord des holländischen Dampfers Amsterdam gefesselt in einer Vorschiffkammer lag …

Ja – so ziemlich alles war geklärt.

Nur – das Dolchmesser, das Dolchmesser?! Was für eine Rolle spielte es bei alledem? Und dann der Zettel – der Zettel, der Streifen Pergament mit der Aufschrift:

Falkate sifi sinerwe dunt gsindreik iste,

was nach Harst heißen sollte:

Falsifikate sind unterwegs in Kiste drei.

– Ich empfehle dem lieben Leser, hier nun einmal die Geheimschrift und die Lösung sich genau anzusehen.

Dann merkt man: der ganze Witz der Geheimschrift besteht in einem Durcheinandermischen von Silben und Wortstücken!

Ja – der ganze Witz! Aber, Hand aufs Herz, Leser: Hast Du den Witz entdeckt?! – Ich nicht. Und – Du auch nicht! – –

Während ich so an den Pergamentstreifen dachte, kam mir die Erleuchtung: das Dolchmesser war fraglos den hiesigen Fälschern zugestellt worden, damit sie wüßten (durch den Zettel in der Kapsel!), daß die Sendung abgeschickt sei.

Diese Erleuchtung hatte aber sofort eine zweite Frage zur Folge: was war’s, das Maximilian den Schuften hatte aushändigen sollen – was?! –

Harst stieß mich an …

„Vorwärts! Clement heraus!“

 

2. Kapitel.

Auf Ehrenwort!

Barring und der Blonde, der übrigens Latrome genannt wurde, packten gerade die Rucksäcke aus. Die beiden braunen Kerle saßen jetzt mit verbundenen Augen in einem Winkel, noch immer gefesselt.

Barring legte die Bücher auf eine Kiste und zählte die Anzahl.

„Es stimmt, Latrome,“ sagte er dann. „Es sind siebzig Bücher, und jedes Buch enthält hundert Banknoten. Ein schönes Geschäft …!“

„Ein – schlechtes Geschäft, Lionel Barring!“ erklärte da Harald vom Eingang her.

Und rief warnend:

„Hände hoch! Ich bin Harst!“

Die beiden Verbrecher standen wie die Bildsäulen.

Dann reckte Barring die Arme empor, meinte:

„Gratuliere, Herr Harst … Die Schmuggler und armseligen Schwarzmeerfischer haben ihre Sache vorzüglich gemacht!“

„Schraut – fesseln!“ befahl Harald. „Erst Latrome. Treten Sie mehr zur Seite, Latrome …“

Am Boden lagen Stricke.

Ich band Latrome die Hände auf dem Rücken zusammen. Harsts Clement drohte indessen unausgesetzt.

Auch Barring war gefügig, sagte seufzend:

„Sie kommen immer zur Unzeit, Herr Harst …!“

„Für Sie ja, Barring … – So, nun nehmen Sie beide dort auf der Kiste Platz …“

Wir lehnten uns an die etwas feuchte Mauer.

„Barring,“ begann Harald ernst, „es ist schade um Sie. Gerade weil ich weiß, daß Sie bei all Ihrer Verworfenheit noch Ihre guten Seiten haben, fällt es mir schwer, Sie an den Galgen zu liefern.“

„Verbindlichsten Dank, Herr Harst. Halten Sie sich aber nicht mit Redensarten auf. Wozu reden Sie von „schwerfallen“ und dergleichen, wo Sie doch gezwungen sind, uns der Polizei zu übergeben.“

„Das hat Zeit, Barring. Das hat deswegen Zeit, weil ich den Tod der Europäerin aufklären möchte, die ich aus dem Bosporus herausholte. Die Tote im Sack ist nämlich nicht etwa ertränkt, sondern durch zwei Stiche ins Herz ermordet und dann erst versenkt worden. Ich habe die Leiche auf dem Grunde des Bosporus mir angesehen, so gut dies ging. Die Frau war noch jung, etwa zwanzig. Sie ist eine … Deutsche.“

„Ah – woraus schließen Sie das?“

„Aus den gestickten Firmenschildchen in ihrer Bluse und ihrem Rock … Diese Firmen sind Berliner Firmen. – Die Leiche mag etwa vierzehn Tage im Wasser gelegen haben.“ –

Es war das in der Tat eine merkwürdige Unterhaltung zwischen einem gefesselten Verbrecher und meinem Freunde – unter noch merkwürdigeren Umständen. –

„Hegen Sie bereits irgendeine Vermutung über die Persönlichkeit der Toten?“ fragte Barring gespannt und ganz mit der Miene eines Mannes, den Kriminalfälle interessieren.

„Ja …“

„Das ist wirklich erstaunlich, Herr Harst.“

„Durchaus nicht. – Aber – bevor ich’s vergesse, Schraut, stelle Dich in die Türöffnung, damit nicht etwa das sogenannte Ehepaar Hitzgräfe uns überrascht.“

Ich tat es. Ich hörte weiter zu, horchte aber auch in das Nebengewölbe hinein …

Harst wiederholte:

„Durchaus nicht erstaunlich, Barring … Meine Vermutung möchte ich vorläufig noch für mich behalten.“

„Schade. Wenn ich erst im Gefängnis sitze, werde ich mich nicht mehr an Ihrer Findigkeit erfreuen können.“

„Allerdings nicht. Ich habe mit Ihnen über die Tote jetzt auch nur aus dem Grunde gesprochen, weil ich Gewißheit haben wollte, ob Sie mit diesem Morde in Verbindung zu bringen sind …“

„Ich?! – Nein, Herr Harst, wirklich nicht.“

„Das weiß ich jetzt …“ –

In diesem Moment vernahm ich ferne Schritte.

Ich gab Harst ein Warnungszeichen.

Wir duckten uns hinter einer Kiste nahe dem Eingang zusammen …

Der Lichtkegel einer Taschenlampe tauchte in der Finsternis des Vorraumes auf …

Und … Anni und Doktor Hitzgräfe betraten unser Gewölbe …

Blieben verdutzt stehen …

„Barring – was heißt das?!“ rief Hitzgräfe. „Sie … gefesselt?!“

Barring sagte gelassen:

„Schauen Sie nur nach rechts, Amigo (Freundchen)!“

Unsere kleinen Clementpistolen reckten sich dem Pärchen entgegen.

„Wie – die beiden Schmuggler?!“ kreischte die schlanke Artistin.

„Harst und Schraut!“ erklärte Graf d’Oglia mit Betonung. „Das Spiel ist aus, Hitzgräfe!“ –

Auch diese beiden saßen dann gefesselt auf einer Kiste.

Barring seufzte: „Ihnen glückt alles, Herr Harst.“

„Das bleibt abzuwarten … – Schraut, bring’ mal die Braunen näher heran …“

Ich führte die Burschen in die Mitte des Gewölbes.

„Versteht Ihr Englisch?“ fragte Harst.

Der eine nickte.

Die Kerle waren noch jung, wenn auch bärtig, hatten tückische Augen und machten einen miserablen Eindruck: richtige Galgengesichter!

„Was sollte Mr. Maximilian Neumann Euch ausliefern?“ begann Harald das Verhör.

Die Braunen blickten zu Boden, schwiegen.

Harst hob die Clement und hielt sie dem einen vor die Stirn.

„Antworte!“

In dem Ton seiner Stimme lag eine so eisige Drohung, daß der Mensch zurückfuhr und stotterte:

„Ich … ich weiß nicht, Mister …“

„Du lügst!“

Die Pistolenmündung berührte wieder die Stirn.

„Antworte …!!“

„Die … die … erste Kiste,“ keuchte der braune Halunke angstvoll.

„Ah – also es war schon eine Sendung abgegangen?“

„Ja …“

„Wann?“

„Vor … vor einem Monat …“

„Und Ihr nahmt an, daß Mr. Maximilian Neumann entdeckt hätte, daß in den Büchern zwischen den Blättern Banknoten lägen, nicht wahr?“

„Ja …“

„Diese erste Sendung habt Ihr also nicht abfangen können?“

„Nein …“

„Weshalb nicht …?“

„Weil … weil der Brief verloren ging, der sie anmeldete.“

„Das dachte ich mir. Und da habt Ihr der Sicherheit halber, damit nicht nochmals eine Kiste Euch entging, die Anmeldung durch das Dolchmesser besorgen lassen, das von Berlin aus hierher geschickt wurde – durch einen Boten. In dem Messer steckte der Zettel.“

„Davon weiß ich nichts, Mister. Ich bin ja genau so wie Ali Melak nur ein … ein Diener des Mr. Wilson und werde nur wenig eingeweiht.“

„Wie kamst Du denn zu dem Dolchmesser?“

„Mr. Wilson schenkte es mir.“

„Wann?“

„Nachdem die sechs Kisten durch Sistawa an Mr. Neumann abgeliefert waren.“

„Habt Ihr beide geholfen, die Kisten von Galata über den Bosporus zu schaffen?“

„Nein. Wir mußten Mr. Neumann stets beobachten und bedrohen.“

„Das erscheint glaubwürdig. – Schraut, fessele ihnen die Füße wieder. Zurück in die Ecke mit den Kerlen.“ –

Barring meldete sich plötzlich:

„Herr Harst – auf ein Wort,“ sagte er abermals in deutscher Sprache, die er ziemlich fließend beherrschte.

„Bitte …“

„Herr Harst, ich versichere Ihnen, daß weder ich noch meine Komplicen von hier entfliehen werden. Ich möchte, bevor ich ins Gefängnis und von da an den Galgen wandere, noch gern wissen, wie Sie die Persönlichkeit der Toten festgestellt und deren Mörder entdeckt haben. Daß Ihnen dies gelingen wird, bezweifle ich nicht.“

„Ich auch nicht,“ meinte Harst ohne jede Prahlerei.

„Halten Sie uns also hier noch so lange gefangen, bis Sie die Mörder haben. Ich wiederhole: ich gebe Ihnen mein Wort als Lord Allan Gnirable, der ich einst war, wie Sie wissen, daß ich nicht von hier fliehen und auch nicht dulden werde, daß Latrome, Anni Sanden und Hitzgräfe von hier entweichen. Begreifen Sie, daß ich, der den Taucherapparat hergab, mit dessen Hilfe Sie die Leiche fanden, gern die Enträtselung dieses …“

Harald unterbrach ihn:

„Lord Allan Gnirable, wenn Sie Ihr Wort brechen, schieße ich Sie bei nächster Gelegenheit nieder! – Sie sollen frei sein. Sie werden Ihre drei Gefährten und die beiden Burschen da bewachen.“

Er löste Barrings Stricke.

„Herr Harst,“ erklärte der Verbrecher stolz, „ich war Lord Gnirable. Ich halte mein Wort. Ich danke Ihnen.“

„Dort sind noch genügend Lebensmittel und Trinkwasser, wie ich sehe. – Gute Nacht, Barring …“

Wir packten die Bücher (es waren alles Wörterbücher Deutsch – Englisch – Türkisch) in die Rucksäcke, schüttelten diese auf und verließen die Gewölbe. –

Nie hat wohl ein Detektiv einem Verbrecher solches Vertrauen geschenkt.

Ich zweifelte, ob Barring sein Wort wirklich halten würde. Man denke: ihm drohte der Galgen! –

Wir wanderten schweigend durch dürftig erhaltene Gassen dem Nordostteile Stambuls zu …

 

3. Kapitel.

Bei Maximilian.

Es war jetzt drei Uhr morgens …

Paläste, Moscheen, weite Plätze, – dann wieder düstere Häuser, ärmliche Hütten, – und abermals die ganze sinnberückende Pracht und phantastische Großzügigkeit morgenländischer Riesenbauten: all das genossen wir wie halbdunkle Traumbilder beim Gange durch das nächtliche Stambul …

Bis wir am Finanzministerium vorüber auf den Platz vor dem Eski Serai gelangten und den hohen, schlanken Turm vor uns sahen …

Von hier bogen wir in die Merdschan-Jolu-Straße ein …

Fragten einen in einer Tür lehnenden alten Türken nach dem Laden des Buchhändlers Maximilian Neumann.

„Dort – drei Häuser weiter. Aber er ist verreist … Sein Laden ist seit Tagen geschlossen. Ali, sein Diener, wollte schon zur Polizei gehen, denn sein Herr kann auch verunglückt sein …“ –

Freund Maximilians Haus war ein echt türkisches Gebäude, aber mit modernisierter Vorderfront.

Zwei große Schaufenster, dazwischen eine Ladentür.

Rechts davon der eigentliche Hauseingang, ein Durchgang nach dem viereckigen Hofe, durch ein Gitter versperrt.

Die Gittertür war verschlossen. Klingel oder dergleichen nicht vorhanden.

Harst schwang wortlos seinen Rucksack über die hohen spitzen Stäbe. Schwang auch den meinen hinüber.

Das Überklettern des Gitters war nicht so einfach. Oben gab es noch eine Verlängerung durch drei Stacheldrähte. Trotzdem schafften wir es. Harst bog die Drähte auseinander, und ich schob mich als erster hindurch, sprang in den Durchgang hinab. Harald folgte.

Wir nahmen die Rucksäcke auf. Im Hofe war alles dunkel. Auch hier ein Springbrunnen, aber kein Müllberg. Der Springbrunnen plätscherte sanft. Ein paar Bäume und Büsche, Rasenstücke und Blumenbeete umgaben ihn.

Wir traten in den Hof hinaus. Drei Erdgeschoßfenster erleuchtet. Nein – vier … da war eins mit Milchglasscheiben.

Wir steuerten auf die Tür neben den hellen Fenstern zu … – –

Oh, Maximilian Neumann, mußtest Du uns armen Maskierten gerade diesen Empfang bereiten …!!

Uns, Deinen Helfern …!!

Weiß der Himmel, wo die vier Diener so plötzlich herkamen! Auf nackten Sohlen hatten sie sich an uns von hinten herangemacht!

Und Kerle waren’s, mit Muskeln wie die Hafenstauer!

Mir sprang der eine ins Genick, daß ich sofort vornüber fiel – zum Glück mit dem Bauch auf den Rucksack.

Harald ging’s nicht anders …

Und als wir so dalagen und uns lange, spitze Messer warnend den Hals kitzelten, uns beiden abgerissenen, braun gefärbten Europäern, da tat sich die Tür auf und Maximilian Neumann, gehüllt in einen Bademantel, Strohpantoffel an den Füßen, das volle Haar naß und in malerischer Unordnung, beleuchtete uns grinsend mit einer Karbidlaterne.

„Bindet die Schufte,“ sagte er zu seinen Leuten. „Das scheinen ja nette Früchtchen zu sein!“

„Morgen, Herr Landsmann,“ meinte Harald da etwas keuchend. „Wir danken für den Empfang, der …“

Krach – klirr – – zerschellte die Laterne auf den Fliesen.

Maximilians Arme sanken vor Schreck schlaff herab. Der schöne Faltenwurf des Bademantels lockerte sich und enthüllte einen prallen, runden Bauch …

Der Anblick war so komisch (die Laterne brannte weiter), daß ich losprusten mußte …

„Wer – wer seid Ihr?“ stammelte der offenbar soeben der Badewanne entstiegene Maximilian entgeistert …

„Baliner – echte Baliner …“ lachte Harst. „Im übrigen, Herr Neumann, – Sie geben sich zurzeit allzu starke Blößen …“

Hastig raffte Maximilian seine Toga wieder empor.

„Wie – etwa Herr Harst?“ rief er dabei freudig.

„Immer derjenige, welcher …“ erklärte Harald und erhob sich.

„Mein Gott … entschuldigen Sie nur, meine Herren!“ Und in der Freude seines Herzens streckte er Harst beide Hände entgegen, griff dann aber mit der Linken wieder nach dem Gewandzipfel … –

Und gleich darauf saßen wir sehr behaglich in einem äußerst gemütlichen Herrenzimmer auf dem Sofa.

Maximilian ergänzte nebenan im Schlafzimmer seine Toilette und unterhielt sich mit uns durch die offene Tür.

Er hütete sich dabei, irgendeine Frage zu stellen, die zu seinem Brief und seiner Depesche in Beziehung stand, denn sein Diener Ali ging hin und her und deckte den Frühstückstisch.

Einen zweiten Diener hatte er schon vorher mit einem Schreiben Haralds nach dem Dampfer Amsterdam mit seinem Motorboot geschickt, damit unser Gepäck herbeigeschafft würde, denn wir sollten nun Maximilians Gäste sein. In dem Schreiben hatte Harald dem Ersten Steuermann der Amsterdam noch mitgeteilt, daß wir Mr. Wilson vormittags abholen würden.

Jetzt erschien unser Maximilian in einem hellen Anzug, drückte uns nochmals zum Willkomm die Hände und musterte den Frühstückstisch.

Die Besichtigung fiel zu seiner Zufriedenheit aus. Wir waren ebenfalls – sehr zufrieden. Maximilians Speisenkammer und Likörschrank barg allerlei Erstklassiges.

Der Mokka duftete verführerisch, und nachdem wir uns dann noch schnell die Hände gründlich gesäubert hatten, begann das Frühstück, begann eine der gemütlichsten und interessantesten Stunden, die wir je im Auslande erlebt haben.

Wir drei Landsleute waren allein. Nichts von Zwang, nichts von Fremdsein trotz der kurzen Bekanntschaft gab es zwischen uns. Maximilians ganzes Wesen war so recht dazu angetan, uns drei fühlen zu lassen, daß wir als Deutsche hier auf fremdem Boden Brüder seien. Selten habe ich dabei einen Mann von so urwüchsigem, sprudelndem Humor kennen gelernt wie unseren liebenswürdigen Wirt, der als geborener Berliner seine Taufe mit Spreewasser trotz seines nunmehr zwölfjährigen Aufenthalts in der Türkei noch immer durch ein paar Brocken „echt Berlinsch“ verriet.

Wir aßen, tranken. Maximilian erzählte seine Lebensgeschichte: armer Eltern Kind, Buchhändlerlehrling, Unternehmungsgeist, Wandertrieb, Reise nach Stambul mit fünfhundert Mark Kapital, Bahnhofsbuchhändler, Kolporteur, langsamer Aufstieg, Erwerb dieses Hauses, eigener Laden mit kleiner Druckerei für Geschäftspapiere, Offerten und so weiter. Der Krieg hatte ihm nicht viel angetan. Und nun ging’s weiter aufwärts … –

Kein Wort war bisher über den Anlaß unserer Fahrt hierher gefallen.

Ich ahnte, warum: Maximilian fürchtete unsere Fragen hinsichtlich seines Aufenthaltes in den letzten Tagen! Er durfte ja die Wahrheit nicht sagen! Er hatte Barring Verschwiegenheit gelobt! –

Dann blickte er abermals in die Zimmerecke, wo die Rucksäcke lagen …

Er war vielleicht zu taktvoll, sich nach deren Inhalt zu erkundigen, obwohl er doch an den scharfen Eindrücken und Ausbuchtungen der Rucksäcke erkennen mußte, daß Bücher sich darin befänden.

Harst war’s, der jetzt erklärte:

„Landsmann, das da ist der Inhalt der einen Bücherkiste, die Ihnen verschwand …“

Maximilian wurde verlegen. Er hatte sich ja bei dieser Sendung einer Zollhinterziehung schuldig gemacht.

„So … so,“ meinte er. „Und die Kiste haben Sie aufgestöbert, Herr Harst …?“

„Ja. Bevor ich Ihnen die näheren Umstände mitteile, eine Frage. Sie waren verreist. Wohin?“

Maximilian strich seinen Spitzbart. „Lügen möchte ich nicht. Ich darf darüber nicht reden.“

„Das ist brav,“ lächelte Harald. „Ein Versprechen muß man halten, selbst wenn es einem Grafen d’Oglia gegenüber abgegeben worden ist …“

Da richtete Maximilian sich im Sessel kerzengerade auf …

„Sie … Sie wissen, Herr Harst?“

„Wie Sie hören, Landsmann. Ich weiß alles. Die Bücher da in den Rucksäcken enthalten falsche Banknoten und stammen aus den Gewölben des Schlosses der sieben Türme …“

„Nun wird’s Tag!! Sollte man’s für möglich halten!! Sie beide waren also dort?“

„Ja – als unsichtbare Zuhörer Ihrer Unterredung mit dem angeblichen Grafen, der in Wahrheit ein von mehreren Polizeibehörden gesuchter Verbrecher ist. Was Sie also, mein lieber Herr Neumann, dem Grafen zusicherten, wissen wir, kennen auch alles, was die Fälscherbande angeht. Nur etwas wissen Sie noch nicht: daß unter der Sendung, die Sie vor einem Monat etwa erhielten, ebenfalls eine Kiste mit verlötetem Zinkeinsatz und Büchern mit falschen Banknoten darin sich befunden hat. Diese Kiste sollten Sie Wilson und Genossen herausgeben. Deshalb waren die beiden braunen Kerle hinter Ihnen her. Wo haben Sie denn die Kisten jener Sendung gelassen? Noch gar nicht ausgepackt?“

„Nein, Herr Harst. Die acht Kisten stehen im Keller.“

Der Diener Ali trat ein, hinter ihm der andere Diener, der unser Gepäck hatte holen sollen.

Und – nun die recht peinliche Überraschung: unsere Koffer waren da, aber – – Mr. Wilson hatte sich von Bord der Amsterdam mit polnischem Abschied empfohlen!

Harst runzelte etwas die Stirn, sagte:

„Unangenehm!!! Wilson wird uns, fürchte ich, das Leben hier nicht gerade versüßen! Wie brutal der Kerl ist, hat er uns ja bereits gezeigt.“ –

Dann wies Freund Maximilian uns unsere Gastzimmer an. Sie lagen im Südflügel des Hauses, von unseres famosen Wirtes Schlafgemach nur durch einen Flur und die Badestube getrennt.

Wir nahmen ein Bad, verwandelten uns wieder in Europäer. Harst meinte, als er sich vor dem Spiegel im gemeinsamen Schlafzimmer die Krawatte knotete:

„Wir werden jetzt zunächst in aller Stille zusammen mit Freund Maximilian den Sack mit der Leiche holen. Ich will die Tote genau besichtigen.“ –

Neumanns frisches Gesicht wurde ein wenig länglich, als Harst ihm unseren ersten Programmpunkt mitteilte.

„Eine Leiche?! Aus dem Bosporus?! Hm, hm – det jefällt mir nich! Wenn die Polizei …“

„Ich trage die Verantwortung, Landsmann.“

Maximilian nickte und gab Befehl, seinen Einspänner bereitzuhalten.

 

4. Kapitel.

Nochmals im Jedi Kule.

Der leichte Wagen fuhr durch die im Morgensonnenschein daliegende altehrwürdige Sultansstadt.

Ali spielte den Kutscher. Er war der Vertraute seines Herrn.

Maximilian machte uns auf diese und jene besondere Schönheit der Prachtbauten aufmerksam. Harst erstattete Bericht über Wilson, unsere Gefangenschaft, über die Gegenpartei Wilsons, den Grafen, und die nächtliche Taucherarbeit.

So nahten wir uns dem Südwestende Stambuls, kamen an der Station Jedi Kule vorüber, sahen die leicht bewegte glitzernde Wasserfläche des Marmara-Meeres und hielten auf einem Wege, der nach den nördlichen Friedhöfen führte.

Wir stiegen aus. Die verlassene Mauer und das Gestrüpp, wo der unheimliche Ledersack lag, waren nicht weit entfernt.

„Schicken Sie Ali nach Hause,“ sagte Harst zu Maximilian. „Ich habe mir die Sache anders überlegt. Wir nehmen die Leiche mit in die Gewölbe hinab. Es ist besser so.“

„Det stimmt, Herr Harst. – Ali, fahre heim!“

„Halt!“ rief Harald da. „Ali, warte noch …“

Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb ein paar Zeilen mit Bleistift, indem er das aufgeschlagene Notizbuch als Unterlage benutzte.

Dann tat er den Zettel in einen Umschlag, klebte diesen zu und versah ihn mit einer Adresse.

„Ali, kannst Du das lesen?“ fragte er den Diener.

„Jawohl, Herr Harst. Genau so gut, wie ich das Deutsche beherrsche.“

„Dann wirst Du den Brief dem Herrn abgeben, für den er bestimmt ist, falls wir nicht bis elf Uhr zurückgekehrt sein sollten.“

„Sehr wohl, Herr Harst …“ Und der Wagen rollte von dannen. –

Ich hatte mit Staunen beobachtet, daß Harald, dieses Universalgenie, bei der Fertigstellung dieses Briefes mit wahrer Taschenspielergewandtheit … nicht den beschriebenen Zettel, sondern ein leeres Blatt in den Umschlag geschoben und das andere Blatt in der linken Hand als Papierkügelchen zusammengepreßt hatte verschwinden lassen.

Ich begriff nicht recht, was das bedeutete. Was sollte der mir noch unbekannte Empfänger des Briefes mit dem leeren Zettel?!

Da sagte Harald schon zu Maximilian:

„Landsmann, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß das, was wir vorhaben, wahrscheinlich nicht ohne ernste Zwischenfälle ablaufen wird …“

Maximilian lächelte und reckte die Arme vor. „Bitte – fühlen Sie die Muskeln!! Wem ich mit der Faust ans Jehirn tippe, dem vergeht das Niesen!“

„Gut – ich habe Sie gewarnt,“ meinte Harst sehr ernst. „Ein Spion ist hinter uns her: einer der Derwisch-Jünglinge, der jetzt aber einen Leinenanzug an hat und radeln kann.“

Auch mir war diese Eröffnung wie ein kaltes Bad.

„Nu – wenn schon!“ Und Neumann zuckte die Achseln. „Wo steckt denn der Bengel?“

„Er stand soeben noch dort hinter dem Steinhaufen.“

„Fangen wir ihn also …!“

Harald schüttelte den Kopf. „Das dürfte schwer werden. Er hat ein Rad, und er fährt sehr sicher. – Suchen wir die Tote …“

Wir bogen vom Wege ab. Wir fanden die alte Mauer, fanden das Dickicht …

Nur – den Ledersack fanden wir nicht.

Harst gab weitere Nachforschungen sehr bald auf. „Es hätte keinen Zweck. Der Zusammenhang ist ziemlich klar,“ sagte er leise. „Wir hatten die beiden Derwischschüler über Bord gejagt. Vielleicht hat einer von ihnen schwimmend den Segler Barrings erreicht und sich in der Dunkelheit an Deck geschwungen und dort verborgen. Vielleicht hat er auf diese Weise dann auch den Zugang zu den Gewölben der Ruinen ermittelt, indem er uns beiden nachschlich, wie wir Barring folgten …“

Maximilian nickte eifrig. „Das wär’ nicht unmöglich.“

„Und dann …“ fügte Harald hinzu, „dann müssen wir damit rechnen, daß in den Gewölben Wilson und Genossen uns erwarten …“

„Ei verflucht!!“ entfuhr es Maximilian.

„Deshalb warne ich Sie nochmals, Landsmann …“

„Was sehr überflüssig ist …“

„Dann – vorwärts!“

Er ging voraus.

Nur er hat diesen fein ausgebildeten Ortssinn, der selbst einen in dunkler Nacht zurückgelegten Weg mit unfehlbarer Sicherheit wiederfindet.

Fünf Minuten später standen wir vor dem Baume mit den stachligen Ästen, die bis zum Boden herabhingen und den Eingang des Durchschlupfes durch das Gestrüpp am Fuße der Turmruine verdeckten.

„Wir nehmen Maximilian in die Mitte,“ flüsterte Harald.

Dann bückte er sich, riß ein paar Halme ab und zeigte sie uns.

Eine grünliche Schlammkruste lag auf den Halmen.

„Hier ist der Sack niedergelegt worden,“ erklärte er ganz leise. „Der Ledersack war mit diesem Schlamm überzogen. Wir werden die unbekannte Tote in den Gewölben wiedersehen.“

Er nahm die Clement aus der Tasche, spannte sie und meinte: „Wir schießen, sobald sich etwas Verdächtiges zeigt. Wilson und sein Gelichter haben’s nicht anders verdient, denn – sie sind die Mörder des blonden jungen Weibes.“

Über uns säuselte der Wind in den hohen Zypressen und breitästigen Buchen – umsäuselte die Türme des alten Schlosses, das noch die Zeiten des byzantinischen Kaiserreichs mitgemacht hatte, des christlichen Byzanz, bevor die ungeheure Mongolenwelle die alte Kultur hier mit fortspülte und bis nach Ungarn – bis vor Wien sich mit blutigen Spuren wilder Kämpfe ergoß.

Maximilian Neumann holte seine Mauser hervor.

„Schießen werd’ ich ooch!! Ob ich was treffe, weeß ick nich! Aber knallen wird’s! Und Spektakel bringt den Gegner valeicht amende noch aus die Joldfassung!“ Er lachte in sich hinein. „Mit Ihnen beiden riskier’ ich alles! Selbst heiraten würd’ ich dann, und das is das Eenzigte, wovor ich richtiggehenden Schedder habe, wat der Berliner mit Angst bezeichnet.“

Harald bog die Zweige beiseite.

Ich schob die Sicherung meiner Waffe zurück …

Da sagte Maximilian hastig:

„Halt, noch einen Augenblick Geduld …“

Ich dachte, er würde nun doch vielleicht den besseren Teil der Tapferkeit vor- und sich zurückziehen …

Falsch geraten. – Er fügte hinzu: „Herr Harst, es gibt noch einen zweiten Zugang zu den Gewölben dieses Teiles der Ruine. Ich bin hier als junger Mensch aus Neugier überall herumgekrochen …“

„Gut. Führen Sie uns hin,“ meinte Harald ebenso hastig.

Maximilian ging voran.

Wir kamen durch einen von Schlinggewächsen völlig umsponnenen kleinen Torbogen. Die eiserne Tür, verrostet und schief in den Angeln hängend, war offen.

Ein schmaler Hof nahm uns auf. Wir sahen ringsum dicke Mauern mit kleinen, vergitterten Fensterchen.

„Diese Burg wurde einst wie der Tower in London als Staatsgefängnis benutzt,“ erklärte Maximilian. „Dies hier ist einer der kleineren Höfe. Die Touristen besichtigen stets nur die leichter zugänglichen Teile. Zum Glück! Denn für zarte Nerven sind diese Verließe nichts. In dem einen fand ich acht Skelette, die noch mit Ketten an die Wand angeschmiedet waren …“

Er ging weiter – auf eine Bresche in der einen Mauer zu.

„Im Jahre 1894 hat Stambul böse durch ein Erdbeben gelitten,“ sagte er wieder. „Den Gewalten der Tiefe widerstanden selbst diese Mauern nicht. Daher die Bresche.“

Wir kletterten über Geröll abwärts – immer tiefer, bis wir den Steinboden eines schmalen gewölbten Kellers erreicht hatten, in dem hie und da Sandhaufen lagen.

„Dies ist ein Teil der Wasserleitung, die Kaiser Theodosius anlegen ließ,“ bedeutete der ortskundige Maximilian uns. „Daher auch die Sandreste, meine Herren. Wir befinden uns jetzt unter den Gewölben …“

Harsts Taschenlampe war schon vorhin aufgeblitzt und zerteilte die Finsternis mit grellem Lichtkegel.

Maximilian schritt den unterirdischen Kanal nach Süden entlang – bis zu einer noch gut erhaltenen Steintreppe linker Hand, die in einem schrägen Schacht der Mauer aufwärts lief.

Die Treppe endete vor einem Schuttberg.

„Die Welt ist hier scheinbar mit Brettern vernagelt,“ lachte Maximilian leise. „Ich habe hier vor dreizehn Jahren lange herumsuchen müssen, bis ich … folgendes entdeckte.“

Er nahm Haralds Lampe und beleuchtete ein paar flache Felsplatten, die scheinbar zufällig am Fuße des Schutthaufens lehnten. Er rollte zwei beiseite. Und da kam eine halb verschüttete Türöffnung zum Vorschein.

Wir krochen hindurch und standen jetzt in einem der Gewölbe des Turmes. In einer Ecke schimmerte es weiß: ein Berg menschlicher Gebeine …

Gelbliche Schädel grinsten uns mit blanken Zähnen an.

„Vielleicht die Überreste türkischer Großwürdenträger,“ flüsterte Maximilian. „Die Sultane ersäuften ihre Haremsweiber im Bosporus und ließen ihre Vezire hier verhungern. Es waren Gemütsmenschen.“

In der anderen Ecke waren die Mauern eingestürzt. Einen Ausgang schien’s hier nicht zu geben. Aber unser Landsmann kannte sich aus, räumte einen Mauerklotz weg und legte ein Loch frei, durch das mein Bäuchlein genau so knapp hindurchging wie das Maximilians.

„Leise!“ warnte er nun. „Wir haben nur noch drei Keller zu durchschreiten, dann sind wir an Ort und Stelle.“

„Schuhe aus!“ meinte Harald.

Wir lehnten uns an die Mauer. Wir knoteten dann die Senkel zusammen und hängten die Schuhe um den Hals.

Wie die Katzen glitten wir vorwärts. Harst übernahm wieder die Führung. Wir hörten plötzlich eine laute, befehlende Stimme … englische Worte.

Aber noch verstanden wir den Sprecher nicht …

Bis wir vor uns einen Lichtschein gewahrten, der durch die Türöffnung ziemlich grell hindurchfiel …

„Antworten Sie!“ sagte da jemand wieder sehr laut auf Englisch. „Wenn Mr. Harst Sie hier als Gefangene zurückgelassen hat, wird er uns ohnehin alles erklären.“

Eine Weile nichts …

Dann dieselbe barsche Stimme: „Robbin, geh’ und telephoniere vom Bahnhof, daß man mir noch vier Beamte schickt. Beeile Dich!“

„Die interalliierte Polizei!“ hauchte Maximilian entsetzt. „Nun kommt meine Zollhinterziehung an den Tag.“

Harst trat rasch vor …

Wir waren in Barrings Keller. Wir sahen sechs Polizeibeamte, sahen Barring, Latrome, Anni und Hitzgräfe und die beiden braunen Halunken …

Die Beamten richteten ihre Laternen auf uns.

„He – wer sind Sie denn?!“ fuhr uns der eine grob an. „Robbin, versperre ihnen den Rückweg …“

„Harst,“ stellte mein Freund sich vor.

Der Beamte verbeugte sich. „Mr. Harst, Sie kommen wie gerufen …“

Harald schob die Pistole in die Jackentasche. „Haben Sie hier eine Frauenleiche gefunden?“ fragte er gespannt.

„Ja.“ Er winkte uns drei näher heran, als ob er uns leise eine besondere Mitteilung machen wollte.

Oh – – der Schuft spielte seine Rolle glänzend – glänzend!!

Wir steckten denn auch ahnungslos die Köpfe zusammen.

Der Halunke schmunzelte pfiffig. „Die Leiche, Mr. Harst, die Leiche der Frau wird in der kommenden Nacht zusammen mit mehreren Lebenden abermals dem verschwiegenen Bosporus anvertraut werden …!“

Sein Schmunzeln ward grimmer Hohn. Er lachte laut auf …

„Packt sie!!“ brüllte er …

Da hatten seine Kumpane uns auch schon mit Gummiknütteln über die Schädel geschlagen, daß wir in die Knie knickten …

Da benutzten die Schufte die Sekunden unserer halben Bewußtlosigkeit dazu, uns bereitgehaltene Stahlfesseln um die Handgelenke zu pressen …

Wie zwei Verrückte schossen da hinter einer Kiste die beiden Derwischschüler hervor, umtanzten uns, drehten sich wie die Kreisel …

Wir erhoben uns taumelnd – wehrlos …

Und einer der als Polizisten Maskierten stellte sich vor uns hin, riß den blonden Bart weg …

„Wilson heiße ich – Fred Wilson, Mr. Harst! Nun – – habe ich Euch ebenfalls!!“

 

5. Kapitel.

Das leere Blatt.

Dann zuckte er die Achseln. „Nette Dummköpfe seid Ihr!!“ Und wandte sich an die Derwisch-Jünglinge, die noch immer wie rasend sich gebärdeten. „Verhaltet Euch ruhig, zum Teufel!“

Die Burschen zogen sich scheu zurück.

„Da – setzt Euch!“ – Das galt wieder uns. Er deutete auf zwei Kisten.

Wir nahmen Platz. Was sollten wir sonst tun?! Mit Handschellen, mit den Armen auf dem Rücken gegenüber fünf Revolvern, mit denen die Pseudopolizisten uns bedrohten, war vorläufig nichts zu machen …

Uns gegenüber saßen Barring, Latrome und Anni und ihr Herr Gemahl, der Hitzgräfe. Jeder mit einem Knebel im Munde, wie wir jetzt erst sahen.

Lionel Barring schaute uns trübe an … Er schien uns zu bedauern.

„Wir wollen uns hier nicht lange mit Redensarten aufhalten,“ begann Fred Wilson und zündete sich mit Gemütsruhe und einem Streichholz eine Zigarre an. „Die Sachlage ist die: Ihr alle hier, Ihr sieben Europäer, müßt nachts Bosporuswasser schlucken. Nur Ihnen, Mr. Neumann, bietet sich eine Möglichkeit, mit dem Leben davonzukommen. Schreiben Sie an Ihren Diener Ali einen Brief, daß er den beiden Überbringern des Briefes die Rucksäcke mit den Büchern und die Kiste Nr. 5 der vorigen Berliner Sendung ausliefern soll. Dann sollen Sie nach zwei Tagen frei sein, Mr. Neumann.“

Maximilian stierte den vor ihm Stehenden eine Weile wortlos an.

„Verzichte!“ sagte er dann. „Sie Lump glauben wohl, daß ein Buchhändler keinen Mut hat!“ Und – – er spie dem Mr. Fred Wilson verächtlich auf die Stiefel.

Wilson lachte höhnisch. „Wir werden Sie schon zu dem Briefe zwingen! – Robbin, bring’ mal die … Lötlampe herbei …“

Robbin holte eine große Lötlampe, die mit Spiritus gefüllt war, entzündete den Docht und wartete, bis aus dem Loche der Röhre mit feinem Sausen die Spitzflamme herausschoß …

„Haltet ihn fest!“ befahl Wilson weiter.

Drei Kerle warfen sich auf Maximilian, rissen ihn von der Kiste herab und knieten auf ihm. Einer schlang einen Strick um des Wehrlosen Fußgelenke.

Wilson griff nach der zischenden Lötlampe, bückte sich.

Er wollte des Ärmsten Fußsohlen durch die Stichflamme versengen … –

Bisher hatte mich dieser Überfall merkwürdig kalt gelassen. Bis zur Nacht waren’s ja noch viele Stunden. Was konnte bis dahin alles geschehen!

Nun aber fühlte ich doch ein Frösteln mir über den Rücken laufen …

Da sagte Harald mit einem Male:

„Wilson, einen Augenblick …“

Der Schurke schaute Harst an …

„Einen Augenblick …“ fuhr Harald fort. „Sie haben uns doch durch einen der Derwischschüler beobachten lassen, nicht wahr?“

„Allerdings …“

„Der Bursche hat doch auch gesehen, daß ich einen Zettel schrieb und dann dem Diener, dem Kutscher des Wagens, einen Brief mitgab …“

„Ja. – Was soll das?“

„Seitdem ist etwa eine Stunde vergangen, Wilson. Etwas mehr, denke ich. Um acht Uhr händigte ich Ali das Schreiben aus. Er sollte es sofort zur Polizei bringen.“

Wilson sprang auf die Füße.

„Sie lügen!“ – Aber man merkte: er war unruhig geworden!

„In dem Schreiben bat ich Mr. Macdonald Gorby, den Leiter der hiesigen interalliierten Polizei, der mir persönlich von London her gut bekannt ist, sofort mit zwei Autos und zwanzig Beamten hierherzueilen …“

„Lüge!!“ zischte Wilson. „Sie schlauer Hund wollen mich einschüchtern!“

„Ich will Ihnen nur klarmachen, daß jetzt bereits Mr. Gorby mit zwanzig Mann die sämtlichen Ausgänge dieser Gewölbe belegt hat. Ich will Ihnen weiter verraten, daß ich Ihre und Ihrer Kumpane Masken sofort durchschaute. Mir kam der Angriff nicht überraschend. Ich wollte Sie nur hineinlegen – betreffs der Toten im Ledersack! Diese Tote ist diejenige Person, die das Dolchmesser mit der abschraubbaren Kapsel und dem Pergamentstreifen ahnungslos von Berlin im Auftrage Ihrer dortigen Falschmünzergruppe hierher brachte. Sie haben diese Frau dann durch zwei Messerstiche für immer stumm gemacht und im Bosporus fast gleichzeitig mit der Kiste versenkt, dachten natürlich nicht, daß eine sonderbare Verkettung von Umständen gerade mich die Leiche würde finden lassen. Im Taucheranzug habe ich flüchtig die Kleider der Toten betastet und – entdeckte darin eine aufgeweichte, aber noch lesbare Fahrkarte Wien–Konstantinopel … – Und jetzt haben Sie, Fred Wilson, hier soeben erklärt, auch diese Leiche würden Sie wieder verschwinden lassen. Wenn die Tote Sie nichts anginge, würden Sie sich damit begnügen, sie hier irgendwo zu verscharren. Aber – das ist Ihnen zu gefährlich. Der Bosporus verhüllt Ihr Verbrechen sicherer …“

Fred Wilson stand mit verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten da. Die Lötlampe hatte er Robbin gereicht.

„Schuft, – – Du lügst!“ knirschte er …

„Bitte – ich schrieb den Zettel und benutzte mein Notizbuch als Unterlage. Die Schrift wird sich durchgedrückt haben …“

Wilson riß Harst das Büchlein aus der Brusttasche …

„Leuchte mir, Robbin …“

Er blätterte, fand auch die leere Seite mit der durchgedrückten Schrift …

Und – – schleuderte das Büchlein mit einem Fluche zu Boden … kreischte:

„Ich … ich habe das Weib nicht getötet. Sistawa tat es, weil sie um Hilfe rufen wollte. Sistawa ist ertrunken.“

„Desto besser, Wilson. Dann wird man Sie nur wegen versuchter Ausgabe falschen Geldes bestrafen können. – Nehmen Sie uns die Fesseln ab. Mr. Gorby wird Sie sanfter behandeln, wenn ich bezeugen kann, daß Sie …“

„Macht sie los!“ rief Wilson. „Die Partie ist verloren. Mr. Harst hat tatsächlich an Gorby geschrieben.“ –

Wir waren frei. Auch Barring und seinen drei Freunden wurden die Fesseln abgenommen.

Wilson und sein Anhang lieferten ebenso gehorsam die Waffen ab, ließen sich ebenso widerstandslos die Handschellen anlegen.

Harald zog sein Zigarettenetui und nahm eine Mirakulum, setzte sie mit der Lötlampe in Brand und sagte nach zwei Zügen:

„Wilson, wie hieß die Tote?“

„Anna Karsten. – Mehr weiß ich von Ihr nicht.“

„Wilson, Sie haben sich von mir doch ins Bockshorn jagen lassen. Der Briefumschlag an Gorby enthielt einen leeren Zettel. Den beschriebenen warf ich nachher weg. Ich wollte nur ein Mittel bei der Hand haben, Sie zu schrecken. Ich arbeite nicht gern mit der Polizei. Ich – – gewinne auch so, Wilson. Nicht ein einziger Beamter steht vor dem Turme.“ –

Wir drei hatten nicht weiter auf Barring und dessen Freunde achtgegeben. Maximilian war’s, der deren Verschwinden zuerst bemerkte.

„Oh – die fangen wir schon noch,“ tröstete Harst. „Schraut, nun geh’ und hole die Polizei. Nun – – bin ich zufrieden.“

Mir kam es so vor, als ob er Barring hatte entschlüpfen lassen wollen … –

Eine halbe Stunde darauf wurden Wilson und Genossen weggebracht.

Und wieder eine Stunde später gingen wir drei Landsleute über die Sultan-Valide-Brücke nach Galata hinüber …

Sahen drüben das reizende Pera, die Europäervorstadt, mit seinen modernen Bauten auf der Höhe liegen.

Fuhren mit der unterirdischen Drahtseilbahn nach Pera hinauf … Waren plötzlich aus dem Orient nach dem Okzident[8] versetzt … Aßen in einem eleganten Hotel ein Diner von sechs Gängen und tranken deutschen Rheinwein und Sekt. – Maximilian bezahlte alles. So feierten wir unseren Sieg … –

Acht Tage noch waren wir unseres Landsmannes Gäste. Acht Tage durchstreiften wir Konstantinopel und Umgegend. Als es dann ans Abschiednehmen ging, waren Maximilian die Augen feucht. – –

Und heute – heute liegt ein Brief Maximilians vor mir:

Mein lieber Schraut!

Vielen herzlichen Dank für den Bürstenabzug Ihrer Erzählung „Das Geheimnis des Bosporus“. Sie können sich denken, wie ich mich beim Lesen gefreut habe! Maximilian Neumann als halber Held eines Harst-Abenteuers – – nie hätte ich mir das träumen lassen! – Da ich weiß, daß Eure Detektivkasse nie prall gefüllt ist, sende ich Euch beiden lieben Kerlen ein Extrahonorar! Trinkt dafür auf mein Wohl ein paar Buddeln Schampus … –

Ja – so anhänglich ist unser Maximilian!! –

Der Leser fragt: Und Barring?!

Nur Geduld! erwidere ich. Im nächsten Band werde ich erzählen, wer die arme Anna Karsten war und wie es uns mit den Banknotenfälschern in Berlin erging. Auch Barring taucht da wieder auf … –

Nun … Schluß! – Ich packe Maximilians Ansichtskarten und Brief wieder in den Karton zurück. Aber seine Photographie mit Widmung bleibt dort auf dem Paneelbrett stehen. Wer sich also unseren Konstantinopeler Freund anschauen will, muß sich zu mir bemühen: Max Schraut, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10 …

 

Nächster Band:

Anna Karstens Amulett.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Bädeker“. Reiseführer, 1827 von Karl Baedeker in Koblenz gegründeter Verlag. Siehe auch Wikipedia: Baedeker.
  2. Seit 1930 offiziell „Istanbul“ (mit „n“). Einige Nachschlagewerke vor dieser Zeit wie z. B. Meyers Konversations-Lexikon und auch Meyers Blitz-Lexikon geben „Istambul“ als Name an. Daher so belassen. Siehe auch Wikipedia: Istanbul.
  3. In der Vorlage steht: „Lager“.
  4. Asiatischer Teil von Istanbul.
  5. „Derwischjünglinge“ / „Derwisch-Jünglinge“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Derwisch-Jünglinge“ geändert.
  6. Ein Leuchtturm, dessen europäische Namensgebung auf die Sage von Hero und Leander aus der griechischen Mythologie zurückgeht, die hierfür von den Dardanellen in den Bosporus verlegt wurde. Siehe auch Wikipedia: Leanderturm sowie Hero und Leander.
  7. Thomas Woodrow Wilson, 28. Präsident der Vereinigten Staaten, schlug als Basis des Friedensschlusses sein bereits im Januar 1918 vorgestelltes 14-Punkte-Programm vor. Siehe auch Wikipedia: Thomas Woodrow Wilson und das 14-Punkte-Programm.
  8. Abendland.