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Der goldene Kakadu

Der goldene Kakadu

von

Isodora Tunkhahn.

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

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Frau Sieglinde Marschner kehrte vom Leihhaus in die Mansardenwohnung zurück, fand ihre Tochter Adele im gemeinsamen Schlafzimmer vor dem großen Eckspiegel damit beschäftigt, ihrem reizvollen, schlanken Körper, der lediglich in ein langes Stück alte Gardine in Ermangelung eines kostbaren Schleiers gehüllt war, neue, raffiniert müde-elegante Tanzbewegungen einzudrillen, schaute Adelchen eine Weile andächtig und in süße Erinnerungen versunken zu, ließ sich dann jedoch von der in ihr scheinbar aufgespeicherten Wut übermannen, warf die fünfundachtzig Mark in schmutzigen Geldscheinen auf das eine, noch ungemachte Bett und rief mit dem Pathos einer Maria Stuart von der Schmiere:

„Mein armes Kind, abermals hat der schamlose Geizhals von Karfunkelstein mir einen namenlos schwere Enttäuschung bereitet. Für deine Brosche hat dieser Blutsauger nur fünfundachtzig Mark gegeben. Da sind sie!“ –

Sie deutete auf die klebrigen Papierlappen mit einer Handbewegung, als weise sie auf etwas hin, das sie bis in die tiefsten Tiefen ihres Künstlerherzens verachtete.

Adelchen hatte ihr pfiffiges Bubengesicht der Mutter zugewandt, machte nun mit ihren nackten Füßen ein paar seltsam steife Tanzschritte, wobei sie die junge, knospende Brust kokett herausdrückte, blieb erst dicht vor dem hohen Eckspiegel stehen, drehte den Kopf in die natürliche Lage zurück und sagte so scheinbar zu ihrem Spiegelbild, das in seiner halben Nacktheit jedes Malerauge entzückt hätte:

„Ja – einen namenlos schwere Enttäuschung! Allerdings! Mein Herr Papa, der seit zwölf Jahren angeblich von dir geschieden ist, scheint mir, der damals Achtjährigen, also wirklich eine unechte Brosche mit unechten Steinen geschenkt zu haben! Und er soll doch so fabelhaft reich gewesen sein – nach deiner Schilderung, Mama! Nun sind wir also auch das letzte Wertstück los, das wir noch besaßen, und das sich nun als von Karfunkelstein lediglich auf fünfundachtzig Mark ‚unwert’ herausgestellt hat. Nun kämen also dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nach die entbehrlichsten Möbel heran, wenn die fünfundachtzig Mark alle sind, was in drei Tagen der Fall sein dürfte. –

Übrigens, Mama, gib mir bitte den Pfandschein in Verwahrung. Den letzten über eine goldene Uhr hast du ja leider verlegt oder verloren, was insofern sehr unangenehm ist, als wir ihn hätten verkaufen können, wobei vielleicht noch etwa hundert Mark herauszuschlagen gewesen wären.“

Frau Sieglinde seufzte tief und verhältnismäßig melodisch, begann in ihrer abgeschabten Lederhandtasche zu kramen und sagte dabei:

„Ja, ja, der Pfandschein! Wer wie ich noch immer in den köstlichen Erinnerungen an eine glorreiche Laufbahn als Bühnenkünstlerin schwelgt, vergißt nur zu leicht, auf die nüchternen Alltagsdinge zu achten –“

„Stimmt, Mama!“ warf Adelchen ein und machte vor dem Spiegelbild kehrt, damit dieser nun auch ihre nicht minder reizvoller, rundgewölbte Kehrseite verdoppeln könne. „Stimmt! Du hast nämlich zufällig meine Lackschuhe und meine Florstrümpfe an, was nun bereits zum vierten Mal geschieht. Ich hätte ja an sich gegen diesen Kommunismus durchaus nichts einzuwenden, sofern du nur mit meinen Sachen etwas sorgsamer umgehen wolltest. Ich schone meine Kleider und so weiter aufs äußerste, begnüge mich daheim wie du siehst, mit einer Gardine als Morgengewand. Du aber hast mir den linken Schuh durch einen Kratzer quer über die Spitze ganz böse zugerichtet. Und deshalb –“

Frau Sieglinde lächelte ein Engelslächeln. „Ach – wirklich, – eine Schramme! Das war dieser Tölpel von Kellner bei Brückner, der –“ Sie hüstelte, verbesserte sich schnell: „Tölpel von Karfunkelstein, der mir auf den Schuh trat, als er mir die Tür weit öffnete und mich wie eine Fürstin hinauskomplimentierte –“

Adeles Bubengesicht hatte bei dem Wort ‚Kellner’ ein helles Leuchten überflogen. Auch sie lächelte jetzt, aber kein Engelslächeln! Nein – es war etwas leise Ironisch–Mitleidiges darin.

„Wo ist der Pfandschein, Mama?“ sagte sie jedoch ganz harmlos und näherte sich der hageren einstigen Heroine1 der vereinigten Theater von Allenstein, Insterburg, Soldau, und Darkehnen, wobei sie genau deren Hände beobachtete. „Wir sind vom Thema abgekommen. Und das Thema war der Pfandschein –“

Frau Sieglinde mit den dunkelbraun gefärbten Haaren und dem geschminkten und gepuderten Puppengesicht stieß einen leisen Schrei aus.

„Himmel – ich finde ihn nicht! Sollte ich ihn ebenfalls –“

„Gestatte!“ unterbrach Adelchen sie. Und mit keckem Griff hatte sie die Tasche an sich gerissen, tat einen Sprung rückwärts, einen zweiten mitten auf das Bett und rettete sich vor den direkt nach ihr langenden Armen der plötzlich feuerrot gewordenen Mutter.

Daß bei diesen beiden Sprüngen die Gardine sich stark gelockert hatte und stellenweise Adelchen nun gänzlich im Evakostüm prangte, daran nahmen weder die Mama noch das Töchterchen Anstoß, und zwar aus dem sehr einfachen Grund nicht, weil beide zu erregt waren, um auf derartiges zu achten.

Frau Sieglinde stand jetzt wie erstarrt mit vorgestreckten Händen da. Ihre Augen verfolgten entsetzt das Tun Adelchens, die in die Tasche griff und einen zusammengefalteten Zettel hervorholte.

„Adele!“ kreischte die Mama in höchster Angst. „Adele – sofort gibst du –“

Sie schoß vorwärts, um Adelchen zu packen.

Die aber rettete sich abermals mit elegantem Satz, lief um das Bett herum und las dabei laut vor, nachdem sie flink den Zettel entfaltet hat–te:

„– eine goldene Brosche mit Brillantsplittern Wert vierhundert Mark – beliehen mit zweihundertundfünfundachtzig Mark –“

Frau Sieglinde war auf den Bettrand gesunken.

„Adele – Adele! Schämst du dich nicht. Schau’ nur mal in den Spiegel. Ja – schau’ nur! Die Gardine weht hinter dir her wie ein Mantel. Nackt bist du, splitternackt!“

Adelchen stand mit dem Rücken nach der Tür, die ins Wohnzimmer führte. Und Adelchen schaute wirklich in den Spiegel.

Und sie sah –

Was sie erblickte, veranlaßte sie, mit einem wahren Akrobatensprung an der Mutter vorbei ins Bett zu hopsen und die Decke bis über über den Kopf zu ziehen. –

*

Alexander Herbert Joachim von Bernstra-Berneburg saß beim Morgenkaffee in seinem alles andere als eleganten Junggesellenheim bei Frau Ulrike Röhrich, Stellenvermittlung, Berlin N., Kleine Hamburger Straße 129 a, 1 Treppe.

Der Kaffee war kein Kaffee, sondern eine Brühe, die man ebenso gut als Nußbaumbeize hätte verwenden können. Das K.–Brot2 hatte den üblichen Klitschstreifen, und die Marmelade bitterte scheußlich nach, was Joachim heute jedoch weniger empfand, da bereits der Brief seines Oheims einen galligen Geschmack in seinem freiherrlichen Mund erzeugt hatte.

„Dieses vafluchte Mädel!“ brummte Achim jetzt. „Wenn ich wüßt’, wo diese kleine Kanaille wohnt und wie sie heißt, würd’ ich ihr kaltblütig den Hals umdrehen!“

Nach diesem kurzen, leisen Selbstgespräch versank er wieder in schmerzliches Grübeln. Dann holte er seine Brieftasche hervor, legte die Vorladung zur Ableistung des Offenbarungseides neben die Schmähbriefe des Herrn Saul Koblitzer – der Mann hatte Grund, so frech zu werden, denn er hatte bei Joachim von Bernstra runde zwanzigtausend Märker eingebüßt! – holte weiter ein paar Geldscheine hervor, zählte sie fünfmal halblaut durch und sah schließlich ein, daß alles Zählen nichts half: es blieben 23 Mark und 50 Pfennig!

Abermals grübelte er. Dann stand er auf, ging zur Tür und rief in den Flur hinaus: „Frau Röhrich – bitte einen Augenblick –“

Und sie kam angeschwebt, die achtunddreißigjährige, üppige Witwe, kam und lächelte süß und fragte flötend:

„Sie wünschen, lieber Herr Baron?“

„Mir ‘n anderen Onkel und Ihnen ‘n anderen Mieter! –

Doch – nehmen Sie Platz, Verehrteste. –

So, und nun hören Sie geduldig zu. Ich will’s möglichst kurz machen. –

Sie kennen meine Verhältnisse, das heißt – meine Lage! Denn ein Verhältnis kann ich mir zur Zeit nicht leisten –“

„Aber Herr Baron!“ warf Frau Ulrike ein. „Leisten – leisten?! Sie brauchen doch nur die Hand auszustrecken, und an jedem Finger klebt eine! Ein Mann wie Sie, – elegant, vornehm, Monokel, tadellose Erscheinung –“

„Verbindlichen Dank!“ schnitt Joachim ihr das Wort ab. „Ähnliches hörte ich von Ihnen schon verschiedentlich, ohne daß sie darauf Rücksicht nahmen, daß kaputte Stiefelsohlen und ein durchgesessener Hosenboden der einzigen und halbwegs tragfähigen Kluft den Ausdruck elegant als Ironie erscheinen lassen und daß ich Ihnen gleich nach meinen Einzug vor sechs Wochen erklärte, weshalb ich darauf verzichte, die Hand auszustrecken, damit darin nicht etwa ein goldbepflastertes Mägdulein kleben bleibt, was man so in der modernen Verkehrssprache ‚Reinigungsheirat’ nennt, abgeleitet von ‚bereinigen’ – nämlich von Schulden! –

Doch – Sie haben mir meinen schönen Redefaden zerschnitten. Ich hatte begonnen: Sie wissen, daß ich von Saul Koblitzer nunmehr vor die Schranken des Amtsgerichts gehetzt worden bin, daß meine letzte Hoffnung mein Onkel Hugo war und daß mir vorhin die Postzustellung einen dünnen Brief brachte. Dort liegt er – ich meine, der Brief. Es ist eine glatte Absage von besagtem sagenhaften sackseidegroben und unsagbar geizigem Oheim mütterlicherseits, der als pensionierter Oberst seit Jahren auf Rügen in einem kleinen Fischerdorf haust und so eine Art deutscher Graf Tolstoi ist –“

„Aha – Tolstoi, – der so – so zweideutige Geschichten geschrieben hat –“

„Nee, Frau Röhrich, – das ist nun nicht gerade seine Hauptstärke. Im Gegenteil: er ist Philosoph und Menschheitsverbesserer.“

„Davon verstehe ich nichts. Jedenfalls hat er sehr freie Novellen –“

„Streiten wir uns nicht über Tolstoi,“ winkte Achim ab. „Gestatten Sie mir vielmehr, Ihnen den Brief des Oheims vorzulesen, der für ihn überaus kennzeichnend ist. – Er schreibt hier:

Lieber Joachim!

Bedaure. Habe für wen anders zu sorgen. Weißt ja Bescheid. –

Sehr brav, daß du nicht deinen Namen verkaufst und daß du versuchst, Arbeit zu finden. Hast ja auch vor dem Krieg lange genug herumgelumpt, um nun auch mal durchmachen zu können, was der Daseinskampf bedeutet. Halte die Ohren steif, Junge. –

Wenn nicht anders, dann nenn’ dich schlicht Berneburg und werde Landarbeiter. –

Immerhin will ich dir so etwas unter die Arme greifen. Füge die Beschreibung über ein Verfahren bei, wie man Zelluloidsachen, Hartgummigegenstände und Ähnliches tadellos reparieren kann. Der Kitt und das Verfahren sind meine eigene Erfindung. Wenn du ernstlich bemüht bist, dir eine ehrliche Existenz zu gründen, wird dir die Beschreibung nützen. Geld würdest du doch nur schleunigst wieder auf den Kopp schlagen.

Und – wie gesagt! – Meine paar Kröten bleiben für das Mädel. –

Gott befohlen, dein Onkel
Hugo von Blenkner –

So – das ist sein Schreiben, Frau Röhrich. Infolge dieser Absage werde ich nun übermorgen die Schwurhand erheben und beeiden, daß ich außer zwei Anzügen, einem Ulster, fünf Oberhemden, einer Nickeluhr und einem Wappenring, abgesehen von ganz wertlosen Dingen wie zum Beispiel von Ihnen liebenswürdigst mehrfach gestopften Strümpfen – nichts besitze; und in Folge derselben Absage muß ich heute auch bereits dieses luxuriöse Quartier hier räumen und mich fürderhin mit einer Dachkammer begnügen. Ich schulde Ihnen noch zehn Mark und 38 Pfennig. –

Bitte hier sind sie. Morgen ist der 1. April. Sie werden unschwer für mich einen Ersatzmann finden –“

Frau Ulrike drückte die Rechte auf den weit vorgewölbten, sehr lebhaft wogenden Busen, schüttelte mit einem halb verzweifelten Augenaufschlag den Kopf und seufzte:

„Lieber – lieber Herr Baron, wenn Sie doch nur mehr Verständnis für die Einsamkeit eines armen Weibes hätten! Herr Baron – Sie können bei mir wohnen, solange Sie wollen. –

Keinen Pfennig sollen Sie bezahlen –“

Sie schaute ihn schmachtend an.

„Oh – Sie ahnen ja nicht, wie sehr ich mich nach einem Menschen sehne, der – der nachts seine Tür nicht immer verriegelt –“.

Sie lächelte verschämt…

„Der mir abends behilflich wäre, den Blusenkragen zu öffnen und –“

Achim Bernstra stand auf und trat dicht vor das verliebte Weibchen hin.

„Frau Röhrich, – heiraten Sie!“ sagte er leise. „Heiraten Sie den Friseur Plintzke aus dem Erdgeschoß. Der Mann ist ein anständiger Kerl und wird Ihnen – genügen. Er liebt sie – wirklich. Er hat es mir gebeichtet. Stoßen Sie sich nicht an seiner Magerkeit. – Ein guter Hahn darf nicht fett sein. –

Heiraten Sie!!

So, und nun werde ich packen und mir dann ein Logis suchen, das nur so viel kosten darf, wie ich jetzt dafür anlegen will –“

Frau Ulrike schluchzte auf. „Lieber – lieber Herr Baron, – was – was wollen Sie denn eigentlich –“

„Fabrikbesitzer will ich werden. – Sie können mir Kundschaft besorgen helfen, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen ein Plakat für Ihr Bureau bringen zum Aushängen:

Haarschmuck, Kämme

und alle Gegenstände

aus Zelluloid und Hartgummi

werden tadellos repariert

in der Fabrik

von Joachim Berneburg.

mäßige Preise,

schnell, zuverlässig, sauber.

Frau Ulrike seufzte. „Und das – das ein Baron! Ein Baron von dem Etzterjier – mit ‘n Monokel –“

„– mit Löchern in den Stiefelsohlen!“ ergänzte Achim kühl und holte seinen einzigen Koffer unter dem Bett hervor, wobei er aus einem Gefäß, dem ohnedies schon der Henkel fehlte, ein Stück ausschlug, worauf Frau Röhrich sofort tröstend rief:

„Schad’ nichts, Herr Baron. Scherben bedeuten ja Glück –“

„Na na!“ meinte er zweifelnd.

„Auch – solche Scherben?!“

Und die liebebedürftige Witwe kicherte:

„Gerade die, Herr Baron, – gerade die!“

*

Er war in einer Ecke des Wohnzimmers der Marschnerschen Mansardenbehausung untergebracht; er war schon so sehr alt und gar nicht mehr schön; nein – sein Kleid war im Lauf der Jahre recht schäbig geworden; noch schäbiger sein Charakter; seine boshafte Denkungsart übertraf nicht mal das Fräulein Helene Beng eine Etage tiefer, die fünfunddreißigjährige, jungfräuliche Tochter des Gymnasialprofessors Theodor Beng, Vorsitzende des Vereins christlicher Jungfrauen; und das wollte etwas heißen.

Er hatte auch andere Untugenden; litt an Wutanfällen und kreischte dann wie Fräulein Helene Beng, wenn sie Schubertsche Liebeslieder sang und dabei mit verzückten Augen sich ausmalte, wie schön und anregend doch die Liebe war, die erst mit der Hochzeit begann.

Er litt auch oft an ganz gemeinem Durchfall, weil er ein Vielfraß war. Letztens hatte er das neueste Versteck Frau Sieglindens für ihre Näschereien oben auf dem Ofen entdeckt und ihr eine ganze Stange Schokolade gestohlen. Es war ihm auch danach bekommen. Er mußte schwarzen Tee saufen und sich in einen wollenes Tuch packen lassen – scheußlich.

Sein schlimmster Fehler aber war ohne Frage die Fertigkeit, Leuten Grobheiten an den Kopf zu werfen oder Redensarten gerade in ungünstigsten Augenblick zu machen, – Redensarten noch dazu, die er irgendwo auf der Gasse aufgelesen zu haben schien.

Wenn Adelchen sich im Wohnzimmer mal gelegentlich gründlich wusch, um das Geld für ein warmes Bad zu sparen, dann bekam er es fertig, höhnisch zu kichern und zu rufen: ‚Runter mit’s Hemd, ich hab’ allens bezahlt!’ –

Und wenn Frau Sieglinde ihre Wangen morgens zart rötlich färbte, brüllte er oft genug: ‚Mit det Jesichte willst du angeln jehn?’

Kurz: er war ein Scheusal, äußerlich und innerlich, und trotzdem wurde er von Frau Sieglinde geradezu abgöttisch geliebt; sie nannte ihn nicht anders als ‚mein goldenes Kakaduchen’; nannte ihn so, obwohl er sie täglich aufs gröblichste beleidigte. –

Heute morgen hatte seine Herrin vergessen, das Tuch von seinen in der Ecke am Ofen stehenden Bauer zu nehmen. Er hockte also noch im Dunkeln und schnaubte förmlich vor Wut. Als Frau Sieglinde dann von Karfunkelstein angeblich nur mit fünfundachtzig Mark heimkehrte, verhielt er sich absichtlich mäuschenstill. Er wollte nachher den Schwerkranken spielen; er wußte, damit strafte er seine Herrin am meisten, die dann vor Angst verging.

Nun saß er da mit aufgeplustertem Gefieder und freute sich schon auf den Augenblick, wo Frau Sieglinde die Decke entfernte und dann rufen würde: ‚Mein goldenes Kakaduchen, bist du unpäßlich?’ –

Und dann würde er mit etwas antworten, daß weder Wort noch Schrei und doch so vielsagend sein würde: mit – einer plötzlichen Darmentleerung, für die er nun bereits sozusagen Stoff aufsparte.

Er freute sich also. Aber – es dauerte ja verwünscht lange, ehe Frau Sieglinde wieder erschien. Was trieben Mutter und Tochter nur im Schlafzimmer? –

Ah – jetzt gab’s dort laute Stimmen! Schade, daß er nicht dabei war! Er hätte zu gern noch seinen Senf dazu gegeben, – etwa die schöne Redensart, die ihm ebenfalls der Sohn des Hauswarts beigebracht hatte, dem Adelchen früher täglich die Schularbeiten durchgesehen – die Redensart: ‚Hau’ ihr eene runter, Maxe, damit det Aas ‘n klaren Kopp kriegt!’

Da – hörte er noch etwas! Und das war ein kräftiges Klopfen an der Tür, die in den Flur führte.

‚Hm,’ dachte er. ‚Angeklingelt hat niemand. Also hat die Olle wieder aus Dösigkeit im Flurschloß den Schnepper stecken lassen. Und die elektrische Glocke wird auch noch abgestellt sein, damit meine Damen nicht im Morgenschlaf gestört werden können. Vielleicht ist’s wieder der Junge vom Kaufmann von nebenan mit der Rechnung. Das gibt dann eine feine Überraschung. Rufen wir also ‚Herein!’ –

Doch der, der angeklopft hatte, war Joachim von Bernstra.

Er klopfte nun abermals. –

Ah – endlich eine Stimme. Er drückte auf das laute „Herein“ die Klinke herab und öffnete die Tür, befand sich nun in einem sehr bescheiden ausgestatteten Zimmer, in dem an der einen Wand eine Unmenge von Lorbeerkränzen mit Schleifen und Dutzende von Photographien in allen Größen hingen. Er kannte ähnliche Dekorationen von früher her, – als er noch herumgelumpt hatte, wie Onkel Hugo behauptete. Das Heim einer Bühnenkünstlerin also. An der Flurtür hatte der Name ‚Sieglinde Marschner’ gestanden. Ganz unbekannte Größe.

Aber – hier im Zimmer war ja keine Seele. Hinter jener Tür jedoch, da ging’s recht lebhaft zu. Vielleicht erteilte die Dame dramatischen Unterricht. Fraglos erwartete sie wohl, daß der Besucher ihr dorthin folgen würde, nachdem sie ihn so laut zum eintreten aufgefordert hatte. –

‚Gut – machen wir!’ dachte Achim. ‚Bei dieser ‚Diva’ geht’s eben bühnenmäßig zwanglos her.’

Er pochte trotzdem noch drüben leise an. Aber niemand hört ihn; er drückte die Tür sacht auf – ein Stück erst, dann immer weiter.

Dann – Donnerwetter – das war ja ein Bild – ein Bild!

Da stand vier Schritt vor einem hohen Eckspiegel ein süßes, schlankes Mädel im schönsten aller Frühjahrskostüme. Lediglich ein langer Gardinenschal hing ihr von den Schultern zu beiden Seiten herab.

Die Rückfront dieses entzückenden, tadellos gewachsenen Körpers war ihm zugekehrt, und den Anblick der Vorderfront vermittelte ihm der Spiegel.

Donnerwetter – das war wirklich eine Überraschung!

Doch – nur Sekunden hatte er mit schönheitsbegeistertem Blick dieses Naturgemälde einer junionischen Gestalt schauen dürfen! –

Das süße Mädel hatte sich schnell wie eine rosige Wolke in das Bett geflüchtet, war ganz unter dem Zudeck verschwunden. Und gleichzeitig hatte dann ein anderes weniger holdes Wesen das Gehege ihrer leuchtenden, falschen Zahnreihen geöffnet und sich mit dem Ruf:

„Hinaus – hinaus!“ ihm entgegengestellt.

Achim trat denn auch einen beschleunigten Rückzug an, schmetterte die Tür wieder zu und – lachte, lachte still in sich hinein, wobei er sich förmlich vor Vergnügen über die soeben durchlebte Szene krümmte.

Da – und wie eine Ohrfeige trafen ihn diese heiser gekrächzten, höhnischen Worte:

„Hau’ ihr eene runter, Maxe, damit det Aas ‘n klaren Kopp kriegt!“

Er fuhr herum. Nirgends ein lebendes Wesen, nirgends!

Ihm wurde ganz bänglich zu mute. –

Was er hier in eine verhexte Wohnung geraten? Träumte er das alles etwa nur? –

Doch nein – unmöglich! Er war wach. Er war auf der Suche nach einem neuen, ganz billigen Quartier gewesen, war so nach Moabit geraten und hatte hier am Ende der Turmstraße an einer Haustür ein Pappschild entdeckt mit der Aufschrift:

Einfach möbliertes Stübchen nur einen älteren, soliden Herrn oder hochanständige Frau zu vermieten – 4 Treppen bei M.

Und dann hatte er sich plötzlich als älterer, solider Herr gefühlt und war nach oben geklettert, war in die Mansardenbehausung eingedrungen und so Zeuge einer köstlichen Nacktvorstellung geworden.

Aber nun – woher nur diese scheußliche Stimme, die manche Worte so undeutlich formte wie aus einem zahnlosen Mund – woher nur?! –

Abermals schaute er sich um. Dann gewahrte er unter dem dunkelgrünen Tuch die Umrisse des großen Papageienbauers.

Er lachte jetzt laut auf. Er konnte nicht anders. Denn soeben begann das goldene Kakaduchen zu kreischen: „Runter mit’s Hemde – ick hab’–“

Da tauchte Frau Sieglinde in der Tür auf, rief empört:

„Still, Jocko, – wirst du mal still sein! Schäm dich! Du blamierst –“

Jockochen hatte ja nur darauf gelauert, daß seine Herrin sich meldete. Kaum hatte er ihre stets so gezierte, flötende Stimme erkannt, als er mitten im Satz abbrach und dann förmlich zischte:

„Spinatwachtel – olle gefärbte Spinatwachtel! – Hi – hi – hi – olle Naschkatze – Komödiantin –“

Frau Sieglinde wandte sich mit einem Dulderlächeln an Achim.

„Entschuldigen Sie nur, mein Herr. Das liebe Tierchen wird sofort manierlicher werden. Ein garstiger Junge hat ihm all das beigebracht. – Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr? –

Ich fürchte, ich habe den Schnepper stecken lassen, und die Glocke wird abgestellt gewesen sein –“

Jockochen schwieg jetzt. –

Achim aber wunderte sich, daß diese so jugendlich herausgeputzte Dame so gar kein Wort der Empörung mehr für sein Eindringen in das Schlafzimmer fand.

„Ich komme des Stübchens wegen,“ erklärte er daher ganz zwanglos zur Sache kommend. Mein Name ist Berneburg, und ich bin –“

Sieglinde Marschner hatte leise aufgeschrien. „Mein Gott, – Berneburg? Etwa – Freiherr von –“

„Ne – ne, keine Spur! Berneburg, Joachim Berneburg, Gewerbetreibender –“ Und er teilte der zerstreut Zuhörenden mit, daß er eine Reparaturwerkstatt für Haarschmuck, Kämme und dergleichen einzurichten gedenke; er sei sehr solide, bereits vierzig Jahre alt, lebe von seiner Frau getrennt und möchte gern das Stübchen mieten.

Frau Sieglinde musterte ihn argwöhnisch.

„Mein Herr,“ sagte sie dann, „Sie haben mal bessere Tage gesehen. Geben Sie dies nur ruhig zu. Auch ich bin ja einst auf den Höhen der Menschheit gewandelt; ich war zuletzt Heroine an einem bedeutenden Kunstinstitut. Jetzt geht es mir nicht zubest. Deshalb müssen wir auch die Bodenkammer vermieten. Es ist nämlich mehr eine Kammer als ein Stübchen. Ihnen, mein Herr, dürfte diese Unterkunft kaum genügen.“

„Hm – ansehen möchte ich mir das – Gelaß doch einmal –“

„Sehr gern. Bitte – ich zeige es Ihnen sofort. Wollen –“

Diesen Augenblick schien das goldene Kakaduchen gut abgepaßt zu haben. „Runter mit’s Hemde, damit det Aas ‘n klaren Kopp kriegt,“ kreischte Jocko los, indem er seine unfeinen Sprüche durcheinander warf.

„Ein liebes Tierchen!“ meinte Achim harmlos. „Scheint sehr gelehrig zu sein. So lange Sätze hörte ich noch keinen Papagei sprechen –“

„Mir sind schon tausend Mark für das süße Papchen geboten worden,“ flötete die gefärbte Sieglinde. „Nicht für eine Million wär’ er zu haben –“

„Spinatwachtel,“ rief Jockochen. „Ick hab’ allens bezahlt. Runter mit’s Hemde –“

Joachim Berneburg feixte. „Wirklich ein Unikum, verehrteste Frau Marschner –“

Die hatte schon die Tür nach dem kleinen Flur geöffnet und führte den zukünftigen Mieter nun auf den Vorboden. Die Kammer hatte ein schmales Fenster nach dem Hof hinaus, und ein zweites größeres mündete so auf das Dach, daß man das Marschnersche Küchenfenster schräg rechts vor sich hatte. Eigentlich waren es zwei Räume, die rechtwinklig zueinander lagen, und deren Decke an der einen Seite schräg verlief. Die Einrichtung war sehr dürftig. –

Achim dachte: ‚Das möblierte Zimmer bei der verliebten Röhrich war ein fürstliches Gemach im Vergleich zu dieser Bude. Aber – das Fürstliche wird hier ersetzt durch das holde Mägdelein mit der flatternden Gardine und dem – Frühjahrskostüm à la Paradies!’

Absichtlich hatte er bisher jede nähere Frage nach dem liebreizenden Geschöpf unterdrückt. Er konnte sich ja selbst sagen, daß die kleine Juno mit dem kecken Bubengesicht das Töchterlein der – Spinatwachtel sei. Er wollte Frau Sieglinde nicht mißtrauisch machen und in allem den Mann ‚mit der getrennten Frau’ hervorkehren.

Er mietete also. Frau Marschner verlangte vierzig Mark monatlich. Achim legte zehn Mark zu; „denn,“ sagte er,“ das Stübchen paßt für meine Zwecke ausgezeichnet, weil ich die vordere Hälfte als Werkstatt und Empfangsraum und die andere als Wohn- und Schlafgemach benutzen kann.“ –

Er zahlte zehn Mark an und erklärte, er wurde sofort einziehen.

Als er sich nun verabschiedete, konnte er doch die Frage nicht unterdrücken, weshalb Frau Marschner ihn vorhin denn für einen Freiherrn gehalten hätte.

Sie lächelte etwas verschämt, seufze, schlug den Blick gen Himmel und erwiderte: „Der Name Berneburg weckte in mir liebe, liebe Erinnerungen –“

‚Hm!’ dachte Achim. ‚Ob etwa mein seliger Papa, – der ja in außerehelichen Seitensprüngen Erhebliches geleistet haben soll, mit dieser verflossenen Schönheiten mal getechtelmechtelt hat?! Ausgeschlossen ist das nicht. Im Gegenteil! Fürs Theater schwärmte er immer, das heißt für den unterrocktragenden Teil –’ –

Er schied mit festem Händedruck von der stark komischen Heroine, stieg in den ersten Stock zum Hauswirt hinab, vertraute sich diesem an, bat sein Inkognito zu wahren, und begab sich hierauf in ein Leihhaus, wo er seinen Wappenring vorläufig in Verwahrung gab. Der Leihhausbesitzer war ausgerechnet der selber Herr Karfunkelstein, zu dem auch Marschners in geschäftlichen Beziehungen standen.

Gerade als Herr Sally Runkelstein Achim einhundertzwanzig Reichsmark in klebrigen bedruckten Zetteln hinzählte, tat sich die Ladentür auf, und herein schwebte eine tiefverschleierte Dame, die gerade noch hörte, wie Karfunkelstein katzbuckelnd erklärte:

„Herr Baron, wenn Sie wollen verkaufen den Ring, dann geb’ ich Ihnen gleich dreihundert Mark –“

„Danke!“ meinte Achim, der jetzt wieder das geliebte Monokel eingeklemmt hatte. „Den Ring verkaufe ich um keinen Preis – auch nicht für eine Million! Er sagte Million, weil er an Frau Sieglinde dachte, die ihr Jockochen ja ebenfalls so hoch einschätzte.

Dann verließ er den Laden.

Die Verschleierte, die bei seinem Anblick unmerklich zusammengezuckt war, schaute ihm nach und fragte dann Sally Karfunkelstein vertraulichen Tones:

„Baron von Bernstra–Berneburg war das eben, nicht wahr?“

Karfunkelstein hob die Schultern bis zu den Ohren.

„Diskretion bei uns Ehrensache! – Aber – valeicht haben Se geraten ganz richtig, Fräulein Marschner –“

Adelchen wußte genug. –

„Herr Karfunkelstein, Mama hat doch heute morgen eine Brosche hier versetzt,“ begann sie wieder. „Sie gaben darauf zweihundertfünfundachtzig Mark. Etwas wenig –“

„Wie heißt wenig! Die Frau Mama hat nur zweihundertfünfundschtzig Mark haben wollen. Sie hätte auch gekriegt hundert mehr –“

„So – so. – Den Pfandschein über meine Uhr haben sie wohl schon von Mama erhalten, – ich meine, Mama hat Ihnen denselben schon verkauft. Ich hätte die Uhr so gern wiedergehabt –“

Karfunkelstein machte ein sehr bedrücktes Gesicht.

„Hätt’ ich das können ahnen, liebes Fräulein! Nu is die Uhr nämlich schon so gut wie weiterverkauft. Aber – ich wird’ Ihnen beweisen, daß ich’s meine gut mit Ihnen –“ Er hatte sich auf den Ladentisch aufgestützt und drückte Adelchens Hand, ließ dann seine Finger auf ihrem Handrücken und streichelte die weiche Sammethaut.

„Ich will machen rückgängig den Verkauf. Neunhundert Mark sollte ich kriegen for das Ührchen. Nu – for Ihnen leg’ ich sie beiseite, und Sie haben sie zerück for achthundertfünfzig –“

Er schielte nach der Tür hin, die in seine Privatwohnung führte. Aber – seine bessere Hälfte war jetzt kaum zu fürchten.

Seiner roten Augen wurden gieriger. –

„Liebes Fräulein,“ flüsterte er, „Sie sollen haben das Ührchen auch ganz umsonst, wenn Se wir wollen geben e einzigen – Kuß – “ Er zitterte jetzt vor Aufregung, dachte: ‚Wenn Sie dir de Kuß gewährt, kannst de auch mehr verlangen – gegen gute Bezahlung –’

Adelchen war in Berlin groß geworden. Sie kannte das Leben. Sie wußte Bescheid – aber nur aus Büchern und vom Hörensagen. Aber – sie war ein schlauer kleiner Racker, in dieser Beziehung so ganz das Kind der Heroine Sieglinde Marschner, die einst auch nach Kräften sich um reiche Verehrer bemüht hatte. Aber damit sah es bei dem vereinigten Städtetheater dort oben in Ostpreußen faul aus. Weshalb Frau Sieglinde sich denn auch nur mit einem sehr geringen Kapital hatte zur Ruhe setzen können und in der Hauptsache auf das Geld angewiesen war, das Adelchens Vater pünktlich jeden Monat schickte.

Adelchen war schlau. –

Sie schlug den Schleier hoch und zeigte Sally Karfunkelstein ihr frisches, pikantes Gesichtchen.

„Wo haben Sie die Uhr?“ meinte sie dabei ganz ernst.

Er holte sie aus einem Schrank mit unzähligen Fächern hervor und legte sie auf den Ladentisch.

„Wenn Sie noch den Ring des Barons beifügen, bekommen Sie ein Kuß,“ erklärte Adelchen nun sehr gelassen.

„Gott der Gerechte! Wie soll ich geben den Ring, wo er doch nur versetzt ist!“ jammerte Karfunkelstein. „Was haben Sie vor mit den Ring? Sie müssen kennen den Baron. Ist’s nicht so, Fräulein Marschner?“

Sie nickte. „Er wohnt bei uns. Ich möchte ihm eine Überraschung bereiten. Ich verspreche Ihnen, den Ring nur dem Eigentümer auszuhändigen.“

Sallys Gewissen war schneller beruhigt als seine Gier nach den tauchfrischen Lippen.

„Nu – gut. Ich habe Vertrauen zu Ihnen –“

„Schön. Jetzt machen Sie die Augen zu, ganz fest aber. Nur so gebe ich Ihnen einen Kuß –“

Karfunkelstein grinste. „Wird gemacht. Aber es muß sein e langer Kuß. Nich bloß so –“

„Keine Sorge! Aber ehrlich Spiel! Sonst gibt’s nie wieder –“ Sie lächelte ihn vielsagend an.

Er beugte sich noch weiter über den Ladentisch und kniff die Augen zu, reckte den Kopf nach oben.

Adelchen hatte sich auf einen Schelmentrick aus der Schulzeit besonnen. Damals war ein allerliebstes Spiel Mode gewesen: ‚Küsse raten’, – das heißt, echte von unechten mußte die ‚Kußempfängerin’ zu unterscheiden suchen. Die ‚gemogelten’ Küsse wurden in der Weise verabfolgt, daß man den leicht gekrümmten, eng aneinander gelegten und mit dem Zünglein leicht angefeuchteten Zeige– und Mittelfinger so auf die Lippen legte, daß der andere Teil mit seinen Lippen dann die Mittelglieder dieser Finger berührte, was etwa dem gleichkam, als wenn man ein paar fest zusammengepreßte Lippen küßte. –

Adelchen hatte seiner Zeit hierbei eine große Fertigkeit entwickelt und hoffte nun auch Karfunkelstein bemogeln zu können. –

Und – es gelang.

Er spürte ja ihren Atem dicht vor sich, spürte dann auch feuchte, warme Haut, mit einer Rille dazwischen. Etwas sonderbar kam ihm die Geschichte aber doch vor. Und so riß er denn plötzlich die Augen auf. Aber ebenso plötzlich hatte Adelchen auch die Hand vom Mund sinken lassen und rief nun empört: „Pfui – Sie halten ja Ihr Versprechen nicht!“

Er ahnte nichts, entschuldigte sich, bat dann flehentlich, sie möchte ihn doch morgen um sechs Uhr nachmittags besuchen; er wollte ihr da nur ein paar wundervolle Brilliantohrringe zeigen.

Adelchen sagte zu.

„Ich komme bestimmt, Herr Karfunkelstein. Aber Sie müssen mir erlauben, Mama mitzubringen. Sie liebt schönen Schmuck so –“

Inzwischen hatte sie Uhr und Ring schon in ihr Handtäschchen gesteckt. Ehe Karfunkelstein sich noch von seiner Enttäuschung erholt hat te, war sie schon zur Ladentür getänzelt und rief ihm von hier aus zu: „Auf Wiedersehen, Herr Karfunkelstein. –

Und – besten Dank für Ihre – Großmut. Mit solchen Küssen warte ich gern auf –“

Die Tür schlug hinter ihr zu. Sally Karfunkelstein aber ging an den Spiegel, der neben dem Schreibpult hing, schaute hinein und sagte zu sich selbst:

„So sieht e veritables Rindvieh aus. Uhr weg, Ring weg! Die kleine Kanaille!“

*

Die kleine Kanaille kam heim. Frau Sieglinde stand gerade vor Jockos Bauer und fütterte ihren Liebling mit Keks.

Adelchen trat hinzu. Sofort plusterte sich das goldene Kakaduchen wütend auf und kreischte: „Spinatwachtel – Nachteule – Zoddelziege!“

„Mama,“ sagte Adelchen gemütlich, „ich war soeben bei Karfunkelstein. Meine Uhr hat er mir zurückgegeben. –

Mama – so geht das nicht weiter. Du gibst für Näschereien und für Besuche der nahen Brücknerschen Konditorei mehr aus, als unsere ganze Verpflegung kostet. Ich bin bisher zu alledem still gewesen. Jetzt müssen wir mal gründlich reinen Tisch machen.“

Frau Sieglinde hob verzweifelt die Arme:

„So – so wagst du mit deiner Mutter zu reden! Kind, Kind, wo bleibt da die Ehrfurcht, die –“

Adelchen zeigte auf einen der einst blau gewesenen Plüschsessel, die jetzt mehr ins Grünliche hinüberspielten, und überall Mottenfraßstellen hatten.

„Setz’ dich, Mama,“ unterbrach sie die noch immer in sehr wirkungsvoller Pose Dastehende. „Ich habe nämlich noch anderes mit dir zu verhandeln –“

Frau Sieglinde sank in den Sessel. Ihr angstvoller Gesichtsausdruck jetzt war echt. Sie ahnte, was kommen würde.

Adelchen lehnte sich ihr gegenüber an den altmodischen Damenschreibtisch. –

„Mama,“ begann sie sehr ernst, „ich bin jetzt zwanzig Jahre alt, also kein Kind mehr. Du hast mich bisher darüber im Unklaren gelassen, weshalb ich Marschner heiße, das heißt genau so wie du mit deinem Mädchennamen. Du hast stets behauptet, auch mein Vater habe Marschner geheißen und sei ein Vetter von dir gewesen.“ –

Kleine Pause.

„Mama, ich bin ein – uneheliches Kind, nicht wahr? – Wie lautet der Name meines Vaters?“

Frau Sieglinde weinte nun leise; und es waren nun echte Tränen. Es dauerte lange, ehe sie sprechen konnte. Dann erklärte sie, häufig noch immer aufschluchzend: „Ich – ich habe deinem Vater feierlich geloben müssen, nie – nie seinen Namen dir zu verraten. Er – will es selbst tun, sobald du mündig bist. Ich schwöre dir’s, Adele, – es ist die volle Wahrheit!“

Das junge Mädchen nickte. „Ich glaube dir, Mama. – Noch eine Frage: weshalb hast du mich nichts Rechtes lernen lassen, mir vielmehr nur eine Erziehung gegeben, wie sie mehr für ein Millionärstöchterchen paßt? – Weshalb duldest du nicht, daß ich meine doch fraglos vorhandene Begabungen für Charaktertänze zum Gelderwerb benutze? Hast du etwa – eine reiche Partie für mich in Aussicht? Dann erkläre ich dir hier gleich ein für allemal: ich heirate nur aus Liebe. Als ich beim Roten Kreuz mithalf, Truppentransporte zu verpflegen, da – lernte ich flüchtig jemand kennen, der sofort auf mein noch ganz unberührtes Herz –“

Frau Sieglinde rang plötzlich die Hände, rief:

„Adele, um Himmels willen, – nur das nicht, nur nicht so einer Schwärmerei folgen. Kind, du würdest dir alles verscherzen! Du – du bist nicht arm. Nein, du wirst einst vielleicht sogar sehr reich sein, wenn du – ach – ich darf ja auch darüber nicht sprechen!“

Ihre Tränen flossen schon wieder.

Adelchen zuckte die Achseln. „Von Schwärmerei ist bei mir gewiß keine Rede, nein! Ich stehe sogar mit meinen beiden Füßen auf sehr nüchternem Boden. Aber mir paßt es nicht länger, mich von einem Mann unterhalten zu lassen, der zwar mein Vater ist, der aber trotzdem nie so viel Liebe für mich aufgebracht hat, daß er mich mal persönlich kennenlernen wollte. Ich werde jetzt einen Beruf ergreifen – irgendetwas. Und daran wirst du mich nicht hindern können. –

Mama, laß doch die Tränen!“ Sie kam auf Frau Sieglinde zu, stellte sich neben den Sessel und legte den linken Arm der Mutter um die Schultern. „Mama,“ fuhr sie zärtlich fort, „wir beide haben nun schon so viele Jahre Schulter an Schulter gekämpft; ich weiß ja, daß du mich auf deine Art liebst. –

Mama – jetzt gib mir die volle Handlungsfreiheit. Nur so können wir auch weiterhin miteinander leben – jetzt eher als Freundinnen –“

Frau Sieglinde erwiderte nichts. Das Antworten hatte Jockochen übernommen. Er begann plötzlich zu pfeifen, und er pfiff alles leidlich richtig: ‚Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern findst du nit –’

Adele schaute nach dem goldenen Kakaduchen hinüber. „Er hat recht: Kameraden!“ sagte sie leise. „Mama, laß uns fortan gute Kameraden sein –“

Frau Marschners Herz wurde weich. Sie zog ihr Kind auf den Schoß. Und dann beichtete sie alles – alles. Nur – den Namen dessen verschwieg sie, der damals als Leutnant bei den Allensteier Dragonern gestanden hatte und der ihr Schicksal geworden.

„Wir hatten uns ehrlich lieb. Aber – an Heiraten war ja nicht zu denken. Er war arm, ich noch ärmer. Und ich – war Komödiantin. Drei Jahre haben wir beide mit starkem Willen unser heißes junges Blut gezügelt. –

Ach, Kind, es war so schwer, stark zu bleiben. –

Dann – dann mußte er sich nach einer reichen Partie umsehen. Er hatte Schulden – Schulden! –

Bevor er sich verlobte, trafen wir uns ein letztes Mal heimlich in Königsberg. Und da – da war ich es, die am Abend mit ihm ging, – an einem Maiabend, Kind, als die Luft die ganze süße Verführung des Frühlings aushauchte, als unsere Herzen in Jammer sich aufbäumten, weil wir auseinander gehen mußten für immer. Und in dieser einen Liebesnacht, die ich mit deinem Vater durchlebte, wurdest du empfangen. –

Nachher dann, als er geheiratet hatte und nach dem Westen versetzt worden war, als du geboren und bei Fremden zunächst untergebracht warst, da habe ich, um mich zu betäuben, wahllos fast Liebhaber gehabt, – geliebt aber keinen mehr, sondern nur auf eins gesehen: das – ich sparen konnte – für dich – für sein Kind. –

Seine Frau starb, als du zehn Jahre alt wurdest. Kinder aus dieser Ehe hatte er nicht. Er – begann nun für dich zu sorgen. Und – er liebt dich, Adele, – liebt dich mehr, als du ahnst, hat dich – häufiger gesehen, als du wissen kannst. –

Er – ist ein guter Mensch geblieben. Ich – ich aber – schäme mich meines Lebens, all meiner Schwächen. Ich kann das Komödiantenhafte nicht mehr abstreifen; ich habe nur ein Gutes an mir: daß ich weiß, wie ich bin –“

Sie weinte wieder leise in sich hinein. Die rinnenden Tränen hatten längst Rillen in die Schminke- und Puderschicht gegraben. Frau Sieglinde sah um zwanzig Jahre älter jetzt aus; war fast zur Greisin geworden.

Adele streichelte ihre Hände.

„Arme, liebe Mama – arme, liebe Mama,“ flüsterte sie begütigend. „Wir wollen jetzt ein neues Leben beginnen; Hand in Hand; Herz an Herz; mit offenen Seelen –“

„Wie – wie gut, wie verständig du bist,“ schluchzte die alte Komödiantin gerührt. Und wieder war all das ehrlich; war – keine Komödie. „Es ist mir, als ob – er aus dir spricht. Er – er war ja so klug, so Willensstark. Nur arm war er, und dabei – Kavallerieoffizier – ja – ein neues Leben – ganz recht. Ich bin ja auch so – so namenlos selbstsüchtig gewesen. Ich habe dich belogen –“ Sie schluchzte auf – „so oft belogen – so oft! Den Jocko habe ich mit Süßigkeiten gefüttert – und dir sie verheimlicht –“

Draußen schlug die Flurglocke an.

„Ich werde öffnen gehen, Mama,“ meinte Adele. „Es wird der Briefträger sein. Es ist gerade seine Zeit.“

Ahnungslos huschte sie hinaus. Das Achim Berneburg bereits am Vormittag einziehen würde, wußte sie nicht.

Sie hakte die Sperrkette los. Sie war so fest davon überzeugt, es könne nur der Postbote sein, daß sie gar nicht mehr durch das Guckloch schaute.

Und dann stand Achim vor ihr. Seinen Koffer hatte er neben sich gesetzt.

Adelchen prallte zurück, wurde feuerrot.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er schnell, um dieser Situation alles Peinliche zu nehmen, „Sie gestatten, daß ich mich Ihnen als der neue Mieter vorstelle: Joachim Berneburg –“ – Er sagte das absichtlich weder übertrieben höflich noch allzu fremd tuend; mehr so in einem Ton, als hätte er etwa einen jungen Mann vor sich, mit dem er sich von vornherein recht gut stellen wollte. –

„Wir werden uns hoffentlich miteinander einleben,“ fuhr er fort. „Ich nehme gern jede Rücksicht. Ich würde mich auch freuen, wenn ich hier so etwas Familienanschluß fände. Ich stehe ganz allein da –“

Adele hatte sich inzwischen längst gefaßt, sie war ihm von Herzen dankbar, daß er mit so viel Takt ihr über dieses erste Wiedersehen nach jener Schlafzimmerszene hinweghalf.

„Ich werde den Stubenschlüssel holen, Herr Berneburg,“ meinte sie nun. „Warten Sie einen Augenblick –“

Sie war sofort wieder zurück, schloß nun das Stübchen auf und sagte, als er seine neues Heim betrat, mit ehrlicher Herzlichkeit: „Mag dieses Haus Ihnen Glück bringen, Herr Berneburg. Mama erzählte mir, daß Sie sich hier in besonderer Weise betätigen wollen –“

Er hatte seinen Koffer auf einen Stuhl gesetzt, und sie kamen ins Gespräch miteinander. Er erzählte ihr, wie und weshalb er auf den Gedanken gekommen sei, in dieser Weise nunmehr sein Brot zu verdienen. Über seine Vergangenheit ging er jedoch mit ein paar Redensarten hinweg.

„Ich darf unten an der Haustür ein Schild anbringen,“ fügte er nun hinzu. „Dann will ich mir Reklamezettel drucken lassen und diese überall da abgeben und um Aushang bitten, wo Dame aus – und eingehen. An Werkzeugen brauche ich nicht viel. Auch der ‚Patentkitt’ ist nicht allzu teuer. Die Bestandteile habe ich bereits eingekauft. Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir vielleicht alte Haarspangen und dergleichen beschaffen könnten, damit ich mich etwas auf mein Handwerk einüben kann –“

Er hatte Adele im vollen Licht des größeren Fensters vor sich. Sein Blick ruhte schon eine Weile mit forschendem Grübeln auf ihrem pikanten Gesichtchen. Nun sagte er ganz unvermittelt: „Mir ist, als müßte ich Sie bereits früher einmal irgendwo gesehen haben, gnädiges Fräulein –“

„Bitte – nicht ‚gnädiges Fräulein’,“ meinte sie zwanglos. „Nennen Sie mich ruhig Fräulein Adele. Wir sind ja jetzt Hausgenossen. –

Was aber eine Bekanntschaft von früher anbetrifft, – das ist wohl ausgeschlossen –“

„Hm – und doch – und doch – ich kann mich auf mein Gedächtnis stets verlassen! – Ich muß Sie bereits gesehen und auch gesprochen haben –“

Adele schüttelte den Kopf. „Wohl nur eine Verwechslung, Herr Berneburg. –

Ich muß jetzt gehen. – Nochmals: viel Glück im neuen Heim!“ Sie nickte ihm freundlich zu und eilte etwas zu schnell hinaus, um nicht bei ihm den Eindruck zu hinterlassen, daß sie dieses Gespräch jetzt absichtlich hatte beenden wollen.

Achim begann auszupacken. Viel besaß er ja nicht mehr. Dann stellte er die Möbelstücke um, damit der vordere Teil lediglich als Arbeits- und Empfangsraum dienen könnte. –

Er war mit diesem Heim wirklich sehr zufrieden; er dachte kaum mehr an das, was er alles bereits von diesem lieben, natürlichen Mädel bereits kannte, nicht mehr an die Szene im Schlafzimmer drüben. Die wollte er vergessen. Es kam ihm geradezu unvornehm vor, die Erinnerung daran eventuell aufzufrischen. –

Das Mittagessen nahm er billig und schlecht in einer nahe Kneipe ein, kehrte sofort wieder nach hause zurück und schrieb an den Onkel Hugo einen ausführlichen Dankesbrief, entwarf dann die Reklamezettel, zeichnete das Pappschild für die Haustür und war dann damit gerade fertig, als es klopfte und Adele ihm fünf zerbrochene Kämme und acht Haarspangen brachte, die sie im Haus zusammengebettelt hatte. Auch Frau Sieglinde fand sich nun bei dem neuen Mieter ein und versprach ihm, ebenfalls für Kundschaft zu sorgen.

Frau Marschner hatte jetzt nach der Aussprache mit ihrem Kind alles Theatralische abgestreift und gab sich alle Mühe, nicht wieder in ihre alten Fehler zu verfallen.

Achim war dem Zufall aufrichtig dankbar, der ihn mit diesen beiden Menschen bekannt gemacht hatte. Er würde sich hier ganz behaglich fühlen. Das merkte er. Mutter und Tochter gaben sich schon jetzt alle Mühe, ihn ein wenig zu zerstreuen und aufzumuntern.

*

Die Reklamezettel hatte Adele mit unterbringen helfen. Und – sie wirkten! Besonders Friseure übertrugen der neuen ‚Fabrik’ sofort so viel Arbeit, daß Achim schon am vierten Tag nach seinem Einzug im neuen Heim kaum mehr wußte, wie er alles fertigstellen sollte. Als er dies abends drüben bei Marschners erwähnte, wo man ihn stets herzlich zu einem Plauderstündchen willkommen hieß, meinte Adelchen, er solle sich doch einen Gehilfen halten – und sie lächelte ein wenig dazu.

„Oder – eine Gehilfin – nämlich mich!“ fügte sie nach einer Weile hinzu. „Ja, Herr Berneburg. Ich scherze nicht. Sie werden ja am besten wissen, wie viel Gehalt Sie etwa anlegen können. Denn – umsonst ist nicht einmal der Tod, heißt es im Volksmund.“

Frau Sieglinde wagte es nicht, gegen diese Absicht ihres Kindes etwas einzuwenden. –

Und Achim?! Der konnte sich kaum etwas Schöneres denken, als das frische, natürlichen Mädel als Mitarbeiterin zu haben. –

Die Sache wurde nun also rein geschäftsmäßig von ihm erledigt. Es war dies am passendsten, um alles Peinliche wegen der Geldfrage auszuschalten.

So wurde denn Adele wirklich Achims Gehilfin. Schon am folgenden Tag trat sie den Dienst an. Auf ihren Vorschlag wurde die Reklame für das neue Unternehmen noch verstärkt. Überhaupt: Sie war in allen Dingen sehr gewandt, und Achim sah von Tag zu Tag mehr ein, daß er wirklich allen Grund hatte dem Geschick dankbar zu sein, weil es ihn in dieses Haus geführt hatte. Auch Frau Marschner war jetzt nach einer Woche völlig darüber beruhigt, daß Adelchen den Vor- und Nachmittag in Berneburgs kleiner Werkstatt zubrachte. Erst hatte sie gefürchtet, es könnten sich da womöglich zwischen dem neuen Mieter und ihrem Kind zarte Beziehungen anspinnen. Aber Berneburg spielte sich nach wie vor so geschickt als Weiberfeind auf, der durch ‚seine Ehe’ scheffelweise die traurigsten Erfahrungen gemacht habe, daß sie ihn immer mehr für gänzlich ungefährlich hielt.

*

Im Hause hatte es sich längst herumgesprochen, daß Adelchen ‚Fabrikarbeiterin’ oben bei dem ‚Kammacher’ geworden sei. Niemand fand etwas dabei. Jeder nannte Adelchen ein verständiges Mädel, weil sie in diesen traurigen Zeiten mit verdienen half. Nur die ‚fromme Helene’ aus dem dritten Stock – so hieß Fräulein Helene Benz in der ganzen Nachbarschaft ihres züchtigen Verhaltens wegen – regte sich über diese ‚Aufdringlichkeit der Komödiantentochter’ weidlich auf, so daß selbst der Vater, der seelensgute, aber völlig unter ihrer Fuchtel stehende Gymnasialprofessor einmal kopfschüttelnd sagte, Helene urteile denn doch wohl zu scharf und lieblos über die Kleine von oben, worauf die züchtige, nebenbei bemerkt eine vollbusige, stattliche Erscheinung mehr mit dem Äußeren einer verheirateten Frau, sofort sehr spitz erwidert hatte, er, der Herr Papa, habe wohl auch wie alle anderen Leute an diesem ‚Geschöpf’ eine Narren gefressen. Doch die ginge offenbar nur darauf aus, den Berneburg, dessen gute Herkunft jeder sofort erkennen müsse und der doch wohl nur aus Not dieses Gewerbe ergriffen habe, für sich zu kapern

Die fromme Helene gehörte nämlich mit zu Achim Berneburgs Gönnerinnen, das heißt, sie warb nicht nur in den zahlreichen Vereinen, in denen sie im Vorstand war, Kundschaft, sondern scheute sich auch nicht, bei ihren Bekannten reparaturbedürftige Sachen zu sammeln und diese dann stets nach sechs Uhr abends, also nach der eigentlichen Geschäftszeit, zu Berneburg nach oben zu tragen und mit diesem dann noch ein wenig zu plaudern. Fand sie zufällig in der Werkstatt Adelchen noch vor, so gab sie nur einen kleinen Teil der Sache ab und kam mit dem Rest dann erst wieder, wenn sie bestimmt wußte, Berneburg sei allein.

Inzwischen hatte sich nun in dem Leben der beiden Marschnerschen Frauen insofern auch eine große Veränderung vollzogen, als das goldene Kakaduchen für einige Zeit bei Berneburg untergebracht worden war, der sich erboten hatte, dem süßen Jocko all die scheußlichen Redensarten wieder abzugewöhnen. Achim hatte nämlich merkwürdigerweise auf den frechen, bunten Schwätzer sehr bald Einfluß gewonnen. Papchen fürchtete nichts auf der Welt – nur Achim Berneburg! Und zwar aus dem sehr einfachen Grund, weil dieser nicht die geringste Angst vor seinem scharfen Schnabel hatte. Frau Sieglinde und Adelchen wagten den gelehrig Kakadu nicht anzurühren. Achim dagegen hatte sich einmal, als Papchen vom Ofensims durchaus nicht herabzulocken war, ein paar dicke Lederhandschuhe angezogen und dann ohne Scheu den kreischende Frechdachs beim Wickel genommen. Seitdem brauchte er Jocko nur scharfen Tones anzurufen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Nun stand das große Bauer in Berneburgs Wohnraum, der jetzt von der vorderen Hälfte durch eine dicke Portiere abgeteilt war. –

So waren nun fast vierzehn Tage seit dem Einzug Achims bei Marschners vergangen. –

Es war ein regnerischer Abend. Adele hatte sich soeben verabschiedet. Man war den Tag über sehr fleißig gewesen, denn die Aufträge häuften sich. Berneburg wollte sich gerade in seinem ‚Speisezimmer’ an den selbstgedeckten Abendbrottisch setzen, als es klopfte. Er rief „Herein!“ und durfte dann – zu seiner mäßigen Freude! – die fromme Helene begrüßen, die wieder im Verein für Säuglingspflege zwei Dutzend ramponierte Haarspangen, Kämme und dergleichen eingesammelt hatte.

Achim mußte diese Gönnerin notwendig mit größter Zuvorkommenheit behandeln, obwohl ihre ganz gemachte schüchternzüchtige Art ihm wenig behagte und er als guter Frauenkenner längst herausgemerkt hatte, daß an dieser so fraulich-rundlichen Helene irgend etwas nicht ganz stimmte. Er bot ihr einen Stuhl an, und sie nahm auch mit einem verlegen holden Lächeln zögernd Platz.

Er kannte dies alles schon. Erst tat sie so, als ob sie nur wenige Minuten Zeit hätte, und dann blieb sie oft eine Stunde und länger.

In dem Arbeitsraum brannten zwei einfache elektrische Hängelampen über Adeles und Achims Arbeitstischchen. Es war daher blendend hell in der schmalen Kammer, so daß Achim heute deutlicher denn je jede Einzelheit der Gesamterscheinung der frommen Helene vor sich hatte. –

Achim mußte zugeben: Wilhelm Buschs berühmter frommen Helene ähnelte diese Helene in keiner Weise. Nein – heute in dieser hellen Batistbluse mit dem freien Hals und dem etwas fußfreien Rock, mit dem gefällig frisierten kastanienbraunen Haar und dem matten, wohl auf Puder zurückzuführenden Teint sah die Professorstochter recht sympathisch aus. Und wenn man ihr Gesicht zerlegte, fand man eigentlich nur etwas, das unschön wirkte: der Mund hatte zu volle Lippen, – Lippen, die brennend rot waren und jenen feuchten Schimmer hatten, der Kennern stets verrät, ob Temperament vorhanden.

Helene Benz spielte die Naive genau so geschickt wie die gegenüber allen Weltsünden völlig Ahnungslose. Meist blickte sie in den Schoß. Wenn sie gelegentlich den Blick hob und die Lider ihre großen dunklen Augen enthüllten, wenn sie dann den mit ihr Sprechenden so kindlich unschuldsvoll ansah, so hätte jedes harmlose Männergemüt tausend Eide geschworen, daß dieses reife, durchaus nicht unüble Weib sicherlich sehr gern nur deswegen an den Klapperstorch glaubte, um nur nicht mit dem Wort ‚Säugling’ gleich an die natürliche Entstehungsgeschichte so winziger Wesen denken zu müssen. –

Jedes harmlose Männergemüt! Nur nicht ein Jochem von Bernstra-Berneburg! Denn der war mit allen Hunden gehetzt; er hatte die Tausende, mit denen der bedauernswerte Saul Koblitzer jetzt hängen geblieben war, mit Ballettratten und ähnlichen ‚Mäuschen’ vergnügt verjuxt und viele, sehr viele Erfahrungen hinter sich. –

Die fromme Helene war für ihn daher auch ein recht interessantes Studienobjekt. Er war neugierig, was ihre Besucher bei ihm eigentlich bezweckten. Wollte sie ihn etwa für sich einfangen? –

Nein, das konnte nicht gut möglich sein! Er hatte ihr gegenüber ja bereits angedeutet, daß er eine unglückliche Ehe hinter sich habe. Diese seine ‚Gattin’, die er in einem Moment halben Übermuts ‚erfunden’ hatte, um sich einen würdigeren Anstrich zu geben, schützte ihn sehr wirksam gegen alle derartigen Wünsche älterer Jungfrauen. –

Was also beabsichtigte die fromme Helene? Und – weshalb hatte sie gerade heute sogar ein sündhaft süßliches Parfüm benutzt, weshalb saß sie heute so zurückgelehnt mit übergeschlagenen Beinen da, daß der dünne Kleiderrockes jede Linie ihrer freien Schenkel so klar wiedergab?!

Achim dachte: ‚Junge – Junge, – Vorsicht! Hier wird, so scheint’s, heute zur Attacke geblasen!“’–

Und er beobachtete sein Studienobjekt weiter mit den kühl kritischen Blicken des siebenmal Gesiebten. –

Jocko verhielt sich im Nebenraum ganz still. Achim war mit dem Besserungsunterricht bei ihm schon so weit gediehen, daß das goldene Kakaduchen nur noch hin und wieder den Anfang seiner häßlichen Redensarten herauskreischte.

Die fromme Helene sprach jetzt über die ‚liebe Frau Marschner’, die sie so sehr verkehre, fügte dann hinzu, es sei zu häßlich von der Nachbarschaft, das Gerede aufgebracht zu haben, daß der früheren Schauspielerin der Titel ‚Frau’ eigentlich gar nicht zustehe. „Ja, diese Böswilligkeit geht so weit, zu behaupten,“ sagte sie weiter, „Adele sei ein – ein – uneheliches Kind, Herr Berneburg. –

Stellen Sie sich diese – diese – Gemeinheit vor!“

‚Aha!’ dachte Jochem Bernstra. ‚Sie will also Adelchen mir – vergraulen! Schau – Schau! – Warten wir ab, was noch weiter folgt.’

Und – das, was folgte, war selbst für einen siebenmal Gesiebten reichlich starker Tobak. –

Nach einer Weile bat die fromme Helene nämlich, Achim möchte ihr doch mal auch seinen Wohnraum zeigen. –

Er tat’s. Er hatte sich nun diesen Teil der Kammer mit allerlei Kleinigkeiten, die Frau Marschner gespendet hatte, ganz behaglich hergerichtet. Daß dieses winzige Gemach auch gleichzeitig Schlafzimmer war, merkte niemand, da die Betten, die für die Nacht auf den Diwan gelegt wurden, tagsüber unter diesem in einem Bettsack verwahrt wurden.

Helenchen fand das Miniaturzimmer reizend. Auch den gedeckten Tisch lobte sie über alle Maßen. –

„Man merkt sofort, Herr Berneburg,“ meinte sie, „daß Sie Sinn für Schönheit haben und das Auge sozusagen auch mitspeisen lassen wollen.“ –

Sie setzte sich unaufgefordert auf den Diwan. Da über dem kleinen Tisch eine Lampe mit rotem Seidenschirm hing, war die Diwanecke in ein molliges rosiges Licht gehüllt.

Und dann – dann kam der Knalleffekt. Und er wurde so raffiniert eingeleitet, daß selbst Achim erst das Spiel durchschaute, als – es beinahe schon zu spät für ihn war, zum Rückzug zu blasen.

Die fromme Helene hatte soeben nochmals über den Schönheitssinn im Allgemeinen und über den Wert einer gedeckten Tafel im besonderen sich ausgelassen, als sie plötzlich mitten im Satz abbrach und aufstöhnend hintenübersank, so daß ihr Oberkörper nun auf den beiden Diwankissen ruhte.

Achim sprang sofort zu, beugte sich über sie.

„Was fehlt Ihnen?“ fragte er teilnehmend. „Darf ich Ihnen ein Glas Wasser reichen?“

Sie hatte die Augen geschlossen; sie atmete stoßweise.

Achim wurde wirklich Angst. –

„Ich werde Ihren Vater holen, Fräulein Benz. Am besten ist wohl, wir schaffen Sie hinunter –“

„Papa ist nicht zu Hause,“ flüsterte sie. „Bitte – gehen Sie ein Weilchen hinaus. Nur Atemnot ist’s. Es hat nichts zu bedeuten. Ich – ich muß es mir nur etwas bequem machen –“

Achim verschwand in der Werkstatt; setzte sich an seinen Arbeitstisch und wartete; nahm eine Haarspange vor und setzte eine neue Öse an; wurde besorgt, da Helenchen sich gar nicht meldete. –

Nach zehn Minuten trat der an den Vorhang und rief leise: „Wie geht es Ihnen, Fräulein Benz?“

Keine Antwort. –

Nochmals rief er. Dann glaubte er mit gutem Recht, als sie sich wieder nicht meldete, eintreten zu dürfen. –

Er schlich auf Fußspitzen an den Diwan heran. Und er stand und starrte – starrte auf die sehr zwanglos Daliegende herab, auf die geöffneten Kleider, auf die halb herabgelassene Bluse, auf die zarten Spitzen eines tief ausgeschnittenen Frauenhemdes, auf so manches, was er in so praller Rundung lange nicht so dicht vor sich gehabt hatte. –

Er war ja Mann – auch nur ein Mann, der Sklave seiner Sinne wird, wenn diese Sinne seit Wochen geschwiegen haben. Ihm wurde siedend heiß. Dann aber überkam ihn ebenso jäh die Sorge, dieses recht begehrenswerte, reife Weib da könnte vielleicht wirklich krank sein, könnte das Bewußtsein verloren haben.

Er beugte sich ganz tief über sie – ganz tief. Sie hatte die Augen fast geschlossen. Nur der Mund war halb geöffnet. Und um die vollen, feucht schimmernden Lippen lag – ein seltsames Lächeln. –

Da wurde er stutzig.

Aber – schon umschlangen ihn ihre Arme, zogen ihn mit einer Kraft herab, der er nachgeben mußte. Er fiel halb über sie; sein Gesicht versank in einer Fülle weicher, weißer Halbkugeln. Der Duft eines Frauenleibes, vermischt mit dem süßlichen Parfüm, benebelte ihn vollends.

Er verlor die Gewalt über sich. Er hörte das begehrliche Weib in heißen Lauten flüstern: „Du – du – ich sehne mich so nach dir! Komm…“ –

Er hob seinen Kopf zwischen den Wonnekugeln hervor und drückte die Lippen auf ihren sengend lechzenden Mund. Er merkte: das war kein unschuldsvolles Lämmchen mehr, – das war eine, die den Sinnenrausch kannte, die ein ungezügeltes Temperament schlau hinter der Alltagsmaske höchster Wohlanständigkeit zu verbergen wußte, die fraglos insgeheim schon oft den Becher der Liebe bis zum Grund geleert hatte. –

Ihre Zähne hatten sich geöffnet. Wie ein Schlänglein wand sich ihre Zunge hindurch. –. –

Oh – sie wußte, wie man küßt in solchen Stunden! Sie wußte, wie man Männer zur Tollheit reizt.

Dann flüsterte sie wieder: „Mein sollst du sein – ganz mein! Ich verlange nichts als Liebe – Liebesrausch! Ich will dich die Andere vergessen machen, – die Andere, die nichts kennt von den Süßigkeiten, die Frau Venus spendet –“

Die Andere!?

Nur Adele, nur das liebe, traute Mädel könnte damit gemeint sein! – Adele! Adele, die er längst insgeheim nur noch Seelchen nannte, wenn er sich in Gedanken mit ihr beschäftigte.

Adele, seine treue Gehilfin, seine Arbeitskameradin! –

‚Wirklich – wirklich nur das – nur Kameradin?’ schoß es ihm jetzt durch den Kopf.

Und – seltsam – in demselben Moment hatte er sich wieder in der Gewalt. In demselben Moment machte er sich frei aus den Armen des lüsternen Weibes, die ihn fast schon besiegt gehabt hatte.

Er richtete sich auf, trat zurück, sagte kühl:

„Ich sehe, daß es Ihnen bereits besser geht, Fräulein Helene. Sollten Sie sich jetzt fähig fühlen, Ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen, so wäre dies vielleicht in Ihrem Interesse besser. Es könnte jemand zu mir kommen, und – die Böswilligkeit der Menschen ist so sehr groß, so schnell bei der Hand mit allerlei Verdächtigungen –“ –

Ein ungeheurer Ekel hatte ihn gepackt; er hatte diese Frau durchschaut; er wußte nun, daß sie versucht hatte, zwischen Seelchen und ihm eine Schranke aufzurichten, die ihn für immer von dem holden Kind getrennt hätte. –

Er kehrte in den Arbeitsraum zurück; er begann wieder ein Stück zu reparieren.

Und – da meldete sich Jocko, pfiff plötzlich:

„Ich hatt’ einen Kameraden –“, brach plötzlich ab, lachte gellend, wie Papageien lachen, und schrie dann:

„Spinatwachtel, Zoddelziege – runter mit’s Hemd. Kopp klar wird – Kopp klar wird!“

Diese Blütenlese der Sprachkünste des goldenen Kakaduchens wirkte jetzt nach dieser Diwanszene so grotesk komisch, daß Achim unwillkürlich schallend mit einem Gelächter herausplatzte – einem all seinen Ekel hinwegspülenden, befreienden Gelächter.

Und während er noch so in ehrlicher Heiterkeit sich schüttelte, während Papchen abermals schrie: „Mit det Jesichte willst ‘e angeln jehn – Spinatwachtel – Spinatwachtel!“ – eilte Fräulein Helene Benz davon, warf die Tür ins Schloß und hastete die Treppe hinab, im enttäuschten Herzen die unsinnigsten Rachepläne wälzend und wie loderndes Feuer die unermeßliche Wut und Demütigung empfindend. –

Achim war allein. – Nein, Jockochen war ja noch bei ihm. Und der wollte jetzt scheinbar den Rückfall in seine alten Sünden wieder gutmachen und sagte nun genau so zärtlich, wie Achim es ihm vorgesprochen hatte:

„Adele, meine Seele, mein liebes Seelchen klein, Adele, holdes Mädchen, sollst mein lieb’ Frauchen sein –“

Achim nickte gedankenvoll. ‚Meine lieb’ Frauchen sein!’ dachte er. ‚Ja – mit der Kameradschaft ist’s ja doch nichts mehr! Mir ist vorhin ein Licht aufgegangen. Ich habe dich ja lieb gewonnen, so sehr schnell lieb gewonnen!’

Er stand auf und setzte sich dann an seinen einsamen Abendbrottisch im Nebengelaß. – Wenn Adelchen jetzt so ihm gegenübersitzen würde! Wenn das neue Geschäft, wenn die Spangen und Kämme doch genug für sie und ihn abwerfen würden. Dann – dann könnte er es wohl wagen, sich Seelchen anders als nur als getrennter Ehemann zu nähern.

Wenn – wenn!

Und – da klopfte es abermals – klopfte sehr energisch.

*

Er öffnete. Denn auf sein lautes „Herein“ war niemand erschienen. Er öffnete also. –

Kein Mensch befand sich auf dem Vorboden. Nur – unten in der 3. Etage schnappte ein Türschloß zu. –

Was bedeutete das? Was nur? –

Ah – da lag ja ein Brief dicht vor der Tür auf den Dielen.

Ein Brief! –

Er hob ihn auf. Er las: ‚Herrn Joachim von Bernstra–Berneburg’ stand da als Aufschrift. Die Briefklappe war nur flüchtig zugeklebt. In dem Umschlag steckte ein Zettel; mit Bleistift darauf folgendes:

Vielleicht klettern Sie mal von Ihrem Fenster aus auf das Dach. Die Aussicht – oder besser die Einsicht in das Marschnersche Wohnzimmer hinein ist heute sehr interessant und lehrreich. Vielleicht bringt diese ‚Einsicht’ Sie zu einer anderen Einsicht –

Keine Unterschrift! –

Natürlich war die fromme Helene die Absenderin dieser schlecht verhüllten Verdächtigungen.

Achim zerriß den Wisch. Aber – wie leicht schlägt eine böse Saat gerade im Herzen eines Liebenden Wurzeln – gerade da! –

Achim zog es wie mit tausend unsichtbaren Fäden auf das Dach vor seinem Fenster; er hatte die ungefährliche Kletterpartie ja bereits mehrfach unternommen, freilich nicht, um zu spionieren, sondern um sich mit Adelchen einen harmlosen Scherz zu erlauben, wenn sie über Mittag in der Küche das Geschirr säuberte. Dann hatte er ihr mal eine Rose, mal einen Fliederzweig, mal ein Veilchensträußchen zugeworfen.

Und – die Fenster des Wohnzimmers lagen so, daß er nur um den Küchenvorbau der Mansarde herumzubiegen brauchte. Dann hatte er sie dicht vor sich, konnte sehr wahrscheinlich jedes Wort verstehen, was da im Zimmer gewechselt wurde. –

Der Versucher wühlte und wühlte. Und – siegte schließlich! –

Achim schloß seine Tür ab, drehte das Licht aus, wartete noch eine Weile und öffnete das kleinere Fenster. –

Ah – da klopfte es ja schon wieder bei ihm an! Nein – jetzt meldete er sich nicht! Jetzt tat er, als sei niemand daheim. –

Nochmals das starke Pochen. Dann Stille. –

Und nun stieg er durch das Fenster hinaus; nun stand er draußen – als elender Horcher vor fremden Fenstern! Er kam sich so erniedrigt vor sich selbst vor. So – gemein! Er wollte schon wieder kehrtmachen – wollte! Aber leider waren die Vorhänge bei Marschners nicht zugezogen. Ein Gegenüber gab es ja für diese Mansardenwohnung nicht.

Nicht zugezogen!

Und – ein einziger Blick schon hatte genügt. Da stand der verschossene Plüschsessel. Da – saß ein älterer Herr darin und – hatte Seelchen auf dem Schoß – Seelchen, Seelchen!

Und – diese – diese Adele hatte die Arme um den Hals des alten Lustgreises geschlungen, schmiegte sich ganz eng an seine Brust – küßte den – den elenden Kerl immer wieder. –

Und – die beiden waren allein im Zimmer!

Natürlich! Die alte Kupplerin, diese geschminkte Komödiantin, war natürlich ausgegangen – vielleicht ins Theater, um das Schäferstündchen nicht zu stören.

Da – jetzt klopfte dieser alte Lump da drinnen dieser heuchlerischen kleinen Kanaille sogar sehr vertraulich auf das allerunterste, gewölbte Ende des Rückens.

Und nun – nun streichelte er ihr die Wangen, nun – verschob sich Adele Kopf etwas und gab so das Gesicht des Lustgreises völlig frei.

Achim stierte dorthin, wo dies von einem kurzgehaltenen, grauen Bart umrahmte, von der Sonne rotbraun gebrannte Männerantlitz sich gegen die helle Tapete so scharf abhob.

Himmel – war’s möglich?! –

Das – das war doch Onkel Hugo!

Das – mußte er sein! Das war keine bloße Ähnlichkeit! Denn eine solche rotbraune Gesichtshaut besaß nur der Oberst a.D. Hugo von Blenkner, nur Onkel Hugo, der da oben auf Rügen den Weltverbesserer spielte.

Achim hätte jetzt am liebsten losgebrüllt: ‚Onkel – Onkel, laß ab von dem Mädel! Du stiehlst mir ja das Liebste, was ich habe, – du stiehlst mir meine Zukunftsträume – mein Seelchen stiehlst du mir!’

Aber er knirschte nur vor ohnmächtigem Grimm mit den Zähnen. Er wußte überhaupt nicht, was er tun sollte, was er tat. –

Plötzlich befand er sich wieder in seinem Wohngemach; saß am kleinen Tischchen; döste vor sich hin.

Da – Jocko meldete sich. Meldete sich mit einer alten Unart, kreischte: „Runter mit’s Hemd. – Aas auf ‘n Kopp hauen. – Zoddelziege. – Spinatwachtel.“

Die kreischende Stimme weckte Achim aus dem stumpfen Grübeln. – Ihn war es jetzt geradezu eine Wohltat, daß er nicht ganz allein war mit seinen Gedanken. Wenn es auch nur ein unvernünftiges Tier war, das er als Gesellschaft hatte, – es war doch immer ein lebendes Wesen.

Er stand auf, öffnete das Bauer, streckte die Hand hinein. Und das goldene Kakaduchen hüpfte folgsam auf diese Hand, ließ sich herausnehmen und auf den Tisch setzen, wo es nun mit seinen Krallenfüßen gravitätisch hin und her wanderte und schließlich Achim über den aufgestützten Arm auf die Schulter kletterte. Hier machte Jocko es sich bequem; hier plusterte er sich auf, schnatterte erst leise vor sich hin und sagte dann zärtlich und weich:

„Adele, meine Seele, mein liebes Seelchen klein –“

Da wurde Achim plötzlich so todestraurig zu Mute. Er fühlte, wie – wie sehr ihm Seelchen bereits ans Herz gewachsen gewesen. –

Er langte nach oben und kraute Jocko den Kopf. Der dankte es ihm, indem er auf Papageienart behaglich schnatterte und leise lachte. –

Achims Liebesschmerz wurde nicht geringer; aber er konnte nun doch schon überlegen, was werden sollte.

Er würde Adele gegenüber sich nichts anmerken lassen. Dann würde er sich in aller Stille eine andere Wohnung besorgen und eines Tages heimlich von hier verschwinden. –

So weit war er gerade in seinen Gedanken gekommen, als es abermals klopfte – und wieder recht kräftig!

‚Nur zu!’ dachte Achim. ‚Ich melde mich nicht!’

Aber – er hatte die Rechnung ohne Jocko gemacht.

„Herein – herein – Spinatwachtel – herein – Joddelziege!“ kreischte Jocko, erbost, weil das laute Klopfen ihn erschreckt hatte.

„Still,“ mahnte Achim. „Still!“ Und er nahm Jocko und steckte ihn unter die Jacke. Dann drehte er die Lampe wieder aus.

Das Pochen verstummte. Achim setzte Papchen nun auf das Bauer und nahm selbst am Fenster in dem alten Korbsessel Platz, begann im Dunkeln wieder zu grübeln und – fuhr plötzlich infolge eines klirrenden Geräusches zusammen, schaltete das Licht ein, um der Ursache nachzugehen, sah Papchen oben auf dem Kleiderschrank hocken und mit langem Hals hinab in das neben dem Schrank stehende Waschbecken lugen – mit schiefem Kopf, wie dies Papageien tun.

In der leeren Waschschlüssel aber lag etwas Glänzendes, lag – ein Ring, – ein großer, schwerer Wappenring! –

Achim griff danach. Unter der Lampe schaute er den Ring genauer an. –

Es – war – sein eigener Ring, – sein Ring, den er bei Karfunkelstein versetzt und den er morgen hatte auslösen wollen!

Wie – wie in aller Welt kam der Ring hierher?!

Er überlegte. –

Der Ring konnte nur oben auf dem Schrank gelegen haben. Jocko mußte ihn hinabgeworfen haben! –

Aber – wer hatte den Ring bei Karfunkelstein ausgelöst, wer.

Es pochte schon wieder! Jetzt aber nicht an die Tür, sondern an die Fensterscheibe. Und – das konnte nur Adele sein!

Achim ging, schlug den Vorhang zurück, öffnete das Fenster. –

Und sofort schallte ihm Seelchen Stimme entgegen:

„Sie – Sie sind ja ein ganz schlechter Mensch! Schon drei Mal habe ich an Ihre Tür gehämmert, daß beinahe die Füllung herausfiel –“ –

Und dann sprang Adelchen mit elegantem Satz vom Fensterbrett ins Zimmer.

Inzwischen war Achim klar geworden, daß nur Frau Sieglinde oder Adele den Ring ausgelöst und auf den Schrank gelegt haben könnten. Er wollte sich sofort darüber Gewißheit verschaffen, weshalb entweder Mutter oder Tochter so eigenmächtig gehandelt hätte. –

Seelchen hatte ihm die Hand zum Gruß hingestreckt.

„Ich wollte Sie bitten, uns ein wenig Gesellschaft zu leisten,“ meinte sie nun. „Wir haben Besuch, – sehr lieben Besuch –“

Ihre Augen leuchteten. „Ach – ich bin heute ja so namenlos glücklich – namenlos! –

Denken Sie: Mein – Vater ist ganz überraschend zu uns gekommen!“

Achim wiederholte stockend: „Ihr – Ihr Vater?“

„Ja!“ Sie lachte. „Oder denken Sie etwa, ich hätte keinen Vater! – Oh – einen sehr lieben Papa habe ich sogar, obwohl er – eigentlich erst heute so recht mein Papa geworden ist –“

Achim dachte: ‚Und du elender Lump hast geglaubt, Seelchen ließe sich von einem Lustgreis abküssen! Schäm dich!’ –

Und er nahm nun Seelchens Rechte fest in die seine, hielt ihr die Linke mit dem Ring dicht unter die Augen und fragte:

„Seelchen – wie kommt dieser –“

Da schrie Adele leise auf. „Mein Himmel – und ich hab’ ihn schon so – so gesucht! Ich hatte ihn bei uns ganz oben auf den Ofen gelegt –“

„Aha!“ fiel Achim ihr ins Wort. „Und da wird ihn Jocko sich geholt und im Sand seines Bauers verscharrt – und so mit zu mir gebracht haben!“ –

Er faste auch ihre Linke noch, sprach weiter: „Seelchen – nun mal beichten – bitte, bitte!“

Und – sie tat’s. Sie erzählte vom Schöneberger Verladebahnhof. Von der Verpflegung der Transporte; von einem Oberleutnant, mit dem sie dort mal zehn Minuten geplaudert hätte. Und der habe Joachim von Bernstra-Berneburg geheißen.

Und – sie habe ihn dann gleich wiedererkannt – damals im Schlafzimmer. Sie schäme sich so – der – der Gardine wegen. Und bei Karfunkelstein –“

Weiter kam sie nicht. Achim hatte sie an sich gezogen.

„Seelchen – nicht wahr, – den Ring wollten Sie –“

„– eine Freude wollte ich dem damit machen, den – ich nicht vergessen konnte,“ sagte sie tapfer und schaute zu ihm auf.

Achim beugte sich hinab. Und sie bot ihm willig ihre Lippen. Und es war kein Mogelkuß – es war ein ganz, ganz echter Liebeskuß. –

Drüben im Wohnzimmer saßen zwei alte Leutchen Hand in Hand: Frau Sieglinde und der Onkel Hugo.

Und dann kamen, auch Hand in Hand und mit brennenden Gesichtern und heißen Lippen und glückstrunkenen Augen, Seelchen und Achim.

Es gab eine große Rührszene, Küsse, Umarmungen; bis der alte Herr sich Gehör verschaffte. –

„Junge,“ sagte er, „lieber Junge, – ich habe dich ja stets lieb gehabt. Und stets habe ich daran gedacht, aus euch beiden ein Paar zu machen. Wie mir Sieglinde nun schrieb, daß du ein so vernünftiger Kerl geworden, da – hab ich mich auf die Bahn gesetzt, um hier die Sache ins Reine zu bringen. Na – ihr seid mir zuvorgekommen. Desto besser! –

Und nun werden wir mein Haus in Göhren beziehen und werden hoffentlich in Frieden und Glück miteinander leben, – ihr Jungen als Ehepaar und – wir Alten auch. Ich habe ja für uns alle gespart. Aber – gefaulenzt wird nicht. Meine vier Morgen Land beackern wir selbst –“

Da gab’s neue Umarmungen, neue Küsse. –

Dann holte Achim den goldenen Kakadu herunter. –

„Er muß dabei sein!“ meinte er ernst. „Ohne ihn wäre ich vielleicht noch eine Weile sehr im Dunkeln umhergetappt, ehe ich ein Seelchen – mein Seelchen gefunden hätte.“ –

*

Als eine halbe Stunde später der erste Sektpfropfen im Wohnzimmer knallte, kreischte Papchen entsetzt auf und begann dann:

„Runter mit’s –“

Aber Achim rief dazwischen:

„Runter mit dem Vorhang! Das Stück ist aus. Die Liebe triumphiert!“

Doch der goldenen Kakadu behielt trotzdem das letzte Wort, indem er hinzugefügte:

„– soll mein lieb’ Frauchen sein –“

 

 

Aus!

 

 

Fussnoten:

1 Heldendarstellerin

2 K.–Brot = Kommißbrot