Sittenroman
von
Otto Bröse
Verlag moderner Lektüre
— — — — — G.m.b.H. — — — — —
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin 26. — 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G m. b. H., Berlin
Erstes Kapitel.
Der Aufstieg.
Wenn Herr Sigurd Pacheles an seine Vergangenheit dachte, dann leuchteten stets dieselben Bilder vor ihm auf — Erstens:
Eine enge Gasse in der Nähe des Marktes in Konitz —
Konitz — fraglos e berihmte Stadt, fraglos —! — Mordprozeß Winter; Gymnasiast Winter; Ritualmordgerüchte —
Damals war Konitz in aller Munde; damals hatte es Herr Sigurd Pacheles recht gut gehabt — Es war die Zeit gewesen, wo der Weizen der Antisemiten geblüht hatte. Und wie —! — Warum ausgerechnet Pacheles es recht gut gehabt hatte —? Nu — Sie werden staunen —! —
Ja — eine enge Gasse; alte, windschiefe Häuser mit grünangelaufenen Scheiben — Und in so einem Häuschen hatte Pacheles sein „Herrengarderoben-Geschäft” gehabt; dort hatte er vor der Ladentür gestanden, wenn es warm war, und sein schönes Ich war eingerahmt gewesen von den an den Türpfosten zur Schau aushängenden Herrenhosen, Herrenjacken, Unterhosen, Hemden und so weiter.
Wenn ein Windstoß kam, dann lebten diese Sachen auf. Die Hosenbeine schlenkerten, die Hemden bauschten sich auf, als befände sich ein Schmerbauch darunter. Es sah das oft geradezu unmoralisch aus. Und die Frau Gymnasialprofessor Pforlach hatte daher auch ihren keuschen Töchtern ein für allemal verboten, diese Gasse zu betreten. Die Töchter waren 28 und 30 Jahre alt und lasen nur ganz gepfefferte Romane, die ihnen der Pforlachsche Pensionär, der Primaner von Blubberitz, freundlichst ohne Wissen der Mama, innerlich satanisch feixend, lieh.
Fünfzehn Jahre lang hatten diese Hosen und Hemden Käufer für die Firma Sigurd Pacheles in der berühmten Stadt Konitz anlocken sollen.
Gott ja — es kamen ja auch welche. Aber — immer noch zu wenige, um reich zu werden. Die Hosen brachten zu geringen Profit. Die Konitzer „Haut voll Flöh kaufte nicht bei Pacheles. — Hm — Sie zerbrechen sich den Kopf, was „Haut voll Flöh” bedeutet. Es ist die Verdeutschung des französischen „Hautevolee”, vornehmste Gesellschaft. So, nun wissen Sie es —
Und — Pacheles wollte reich werden. Das will jeder. Wer es nicht will, ist ein Rindvieh, mild gesagt. Denn nur das Geld macht satt. Das sieht man heutzutage am besten, wo alles so teuer geworden ist, auch die Hemden und die Hosen.
Aber — Pacheles konnte anfangen, was er wollte. Er wurde nicht reich. Er wurde nur immer aufs neue Vater. Und daran lag ihm gar nichts.
Sieben kleine Pachelesse bohrten jetzt schon mit dem Finger in der großen Nase herum. Sieben ist ’ne Unglückszahl. Es kam eine Diphtheritisepidemie, und da waren es nur noch drei, ein Junge und zwei Mädchen.
Dann kam was anderes: der Winter—Prozeß. Auch Herrn Pacheles warf man sämtliche Fenster ein und stahl ihm aus dem Schaufenster für 8000 Mark Waren, — behauptete Pacheles! Daß er zur Vorsicht am Tage vor dem Krawall den ältesten Schund in sein Schaufenster gelegt hatte, sagte er jedoch nicht.
Er meldete 8000 Mark Schaden an und — bekam sie auch.
Und weil er sie bekam, kam er auf den Geschmack. Er bedauerte aufrichtig, daß Militär in Konitz einrückte und daß keine Schaufenster mehr geplündert wurden.
Er kam also auf den Geschmack. Die Hosen warfen nicht genug ab. Da warf Sigurd Pacheles sich auf das Pleitemachen.
Bitte: stellen Sie sich das nicht so leicht vor. Es ist nicht nur nicht leicht, sondern sogar gefährlich. Es gibt da gewisse Strafrechtsparagraphen, die irgendein mißgünstiger, weltfremder Jurist erfunden hat. Und diese Paragraphen sind wie Hürden, über die man beim Pleite-Rennen stürzen kann.
Pacheles kaufte sich also damals ein Strafgesetzbuch und studierte darin vier Wochen lang. Seine Frau warnte ihn. Sie ahnte, daß er was vorhabe —
Pacheles lachte. Er kannte die Konkursparagraphen in- und auswendig und befingerte die Sache so tadellos, daß er — seines Erachtens — als Unschuldsengel aus dem Schlamassel hervorgehen mußte. —
So — und nun kommt das zweite Bild, das Sigurd stets sah, wenn er an das Einst zurückdachte —:
Einen großen Arbeitssaal im Gefängnis in Danzig —
Darin Tische; Gefangene in Leinenkitteln —
Darin auch er, Sigurd Pacheles —
Er hatte die Paragraphen doch nicht ganz begriffen gehabt; er hatte bei der Pleite Fehler gemacht. Und — wer nicht hat begriffen, wird ergriffen —!
So war es auch dem armen Pacheles gegangen. Ein Jahr hatte man ihm aufgebrummt. Beinahe wär’s noch mehr geworden. Aber sein Verteidiger, der berühmte Rechtsanwalt Itzigsohn 6, Berlin, hatte mit Mund und mit „die Händ’” derart ergreifend zur Entschuldigung des „harmlosen” Pacheles das Blaue vom Himmel heruntergelogen, daß die Richter es bei einem Jährchen beließen —
In Konitz waren die Pacheles nun unmöglich geworden. Während Sigurd im Gefängnis Säcke nähte, wohnte Frau Laura Pacheles mit den drei Sprößlingen in einer Kellerwohnung in Berlin 27, Gartenstraße, und handelte mit Hilfe ihrer drei Liebespfänder wieder mit Hosen — aber mit alten Hosen, nebenbei mit allem, was etwas einbrachte.
Die Liebespfänder waren damals fünfzehn, vierzehn und zwölf Jahre alt. Das fünfzehnjährige war ein Junge, Sally mit Vornamen. Er sah auch ganz nach Sally aus. Die Beschreibung spare ich mir für später auf.
Sally war unzweifelhaft ein Genie. Eigentlich war er die Seele des Kellergeschäfts. Am Tage klapperte er die Häuser ab und fragte nach „alten Sachen”. Abends verkaufte er in den Tanzlokalen, wo angeblich junge Witwen anständigen Anschluß suchten, daher Witwenbälle genannt, Blumen, Schokolade, Konfekt und — Photographien. Diese Photographien „gingen” am besten. Wo Sally sie her hatte, ahnte niemand. Aber jedenfalls waren sie so, dass ein total besoffenes Schwein darüber errötet wäre. —
Die vierzehnjährige Else wieder war die „Pestbeule” der Familie, wie Sally sich geschmackvoll ausdrückte.
Sie war völlig aus der Art geschlagen; sie besaß keinerlei Erwerbssinn; sie war auch stinkend faul, wozu bei Pachelessens insofern nicht viel gehörte, als die Kellerwohnung derart duftete, daß alles davon „anzog” — auch die Pachelesse; das heißt also: diese stanken schon an und für sich; Else stank aber noch extra vor Faulheit, las Romane, poussierte mit den Studenten und mit dem dicken Hauswirt Schmudicke. Sie war nämlich für ihre vierzehn Jahre körperlich bereits fast zu sehr entwickelt, war schlank und biegsam, hatte dunkle, verträumte Augen und brennend rote Lippen, dazu winzige Hände und Füße mit feinen, zierlichen Enkeln. — Gott weiß, woher sie diese Füße hatte! Sigurd Pacheles war glücklicher Besitzer totaler Plattbeine, Größe „Rheinuferabtreter”, und seine teure, fette Laura wieder hatte das, was man „Kniestbeine” oder „Elefantenenkel” nennt.
Sally und Else standen auf Hauen und Stechen. Sally predigte der Mutter jeden Tag: „Wenn Else würd’ jehn als Blumenmädchen, mecht’ se verdienen pro Abend ihre zwanzig Mark.”
Else zuckte die Achseln. „Ich jeh’ mal zu’n Kino,” sagte sie. „Ich verplempere mich nich —” — Sie blieb die Pestbeule. Sie stank von Tag zu Tag mehr vor Faulheit. Ihre Strümpfe bestanden nur aus Löchern; über ihre sonstige Untergarderobe ganz zu schweigen —
Dann das dritte noch übriggebliebene Liebespfand, die kleine zwölfjährige Rebekka.
Hm — eigentlich war das auch keine echte Pacheles. Sie war zu fleißig in der Wirtschaft, war zu sauber. Wenn sie mal zwanzig Pfennig ihr eigen nannte, ging sie ins Volksbad baden. Wahrhaftig: baden! — Aber trotzdem vertrug sie sich mit Sally gut, der jetzt während der „Sommerreise” des Vaters das Haus kommandierte. Denn — sie besaß Erwerbssinn. Sie kaufte im Sommer von den Apfelsinen-Wagen billige Früchte und verkaufte sie teurer auf dem Stettiner Bahnhof. Im Winter handelte sie ebenda mit Zigaretten. — Sie war vielleicht noch zierlicher und hübscher wie Else. In ihren schwarzen Augen wohnte die Schelmerei und — die Gerissenheit.
Nun kennen wir die Pachelesse so ziemlich.
Und nun — kehrte auch Sigurd aus der Sommerfrische vom Säckenähen heim.
Er war platt, wie seine Plattbeine, daß es den Seinen so gut ging; er lobte Sally. Nur den Handel mit den Photographien verbot er ihm. Sally wollte bockbeinig werden. Aber Vater Pacheles holte das Strafgesetzbuch hervor und zeigte Sally einen Paragraphen. Da sagte der Sohn: „Schade! Aber recht hast de, Tatte, Es is ßu jefährlich —”
Die Pachelesse blieben noch ein Jahr in dem Keller. Dann kaufte Tatte Sigurd nach eifrigem Studium des Strafgesetzbuches ein Stofflager „aus Gefälligkeit”, mietete gleich den Laden dazu und war nun Tuchhändler.
Das Geschäft lag ganz oben in der Friedrichstraße. Die Fabrik, die dem Vorgänger die Stoffe geliefert hatte, zeigte Sigurd wegen Beihilfe zum Betruge an. Aber — Sigurd hatte inzwischen zugelernt. Ihm war nichts am Zeuge zu flicken. Kunststück — bei einem Tuchhändler!
Hinter dem Laden lag gleich die Wohnung: zwei Stuben, Küche, Kammer. — Hier begann der Aufstieg der Pachelesse.
Sigurd und Sally führten noch andere Artikel ein. Sie bezahlten alles bar. Die Fabriken lieferten gern für die Firma Pacheles. Dann aber, nachdem Sigurd und Sally die Sache genügend vorbereitet, d. h. verschleiert hatten, kam die — große Pleite —!
Diesmal gelang’s; diesmal brauchte Tatte Sigurd nicht in die Sommerfrische, um Säcke zu nähen. — Es wurde ein Vergleich auf 33 Prozent mit den vor ohnmächtiger Wut halb meschuggenen Gläubigern geschlossen, und die Pachelesse konnten drei Monate später zum ersten Male nach Heringsdorf in die „echte” Sommerfrische reisen. Nun — sie reisten nicht alle auf einmal. Erst Tatte Sigurd mit Frau Laura und der Pestbeule, die jetzt längst junge Dame war. Dann löste Sigurd seinen Filius Sally in Berlin ab, und Sally nahm die fleißige Rebekka mit.
Es ging weiter bergan. Im nächsten Jahre mieteten die Pachelesse an der Ecke einen weit größeren Laden und bezogen die Fünfzimmer-Wohnung darüber.
Wieder wollten sie im Juni nach Heringsdorf. Aber Tatte Sigurd hatte einen feinen Riecher für politische Ereignisse. Der Mord in Serajewo roch für ihn sofort nach Weltkrieg. Man blieb hübsch daheim und kaufte auf Spekulation allerhand, was nach Sigurds und Sallys Ansicht bald knapp werden mußte, wenn der Krieg wirklich ausbrach.
Es war unglaublich, was die Pachelesse alles kauften. Sogar ein leeres, kleines Fabrikgrundstück in der Schlegelstraße. Und dann — dann betete die ganze Familie heimlich jeden Abend, daß Frankreich sich doch nur ihrer erbarmen und Rußland in den Krieg hetzen solle.
Nur die Pestbeule betete nicht mit. Die hatte nämlich grade ihre erste ernsthafte Herzensangelegenbeit mit einem Oberleutnant von der Garde namens Heribert von Goschner — pardon, Freiherr von Goschner. Dieser Heribert spielt nachher noch eine große Rolle. Es genügt: er war von der Garde und Freiherr und arm, so arm, daß er abends oft nur trocken Brot aß. — Lachen Sie nicht! Es hat wirklich so arme Gardeleutnants gegeben!”
Also die Pestbeule besaß auch jetzt so wenig Familiensinn, daß sie um das gerade Gegenteil flehte: um Erhaltung des Friedens! Doch zum Glück wurden ihre Gebete nicht erhört: es gab Krieg!
Sally war jetzt achtzehn Jahre. Er hätte also eigentlich das Männermorden mitmachen müssen. Doch: Vaterns Plattbeine hatten sich auf ihn vererbt, und daher konnte er zunächst sich mit vollem Eifer um das Vaterland anderswie verdient machen: er richtete mit Tatte Sigurd auf dem Fabrikgrundstück eine Fabrik für Militärtornister ein. —
Wenn ich hier das fernere Aufblühen der Pachelesse in seinen einzelnen Etappen beschreiben wollte, müßte ich ein dickes Buch dazu nehmen. Es genügt folgendes: Im Jahre 1917 besaßen die Pachelesse vier Fabriken. Sally war einmal eingezogen worden, mußte aber wegen Epilepsie entlassen werden. Wo er die Epilepsie herhatte, konnte nur Tatte Sigurds Geldschrank verraten.
Dann kam die Revolution. Als sie geglückt war, führten Sigurd und Sally in ihrem stilvollen Comptoir auf dem echten Perser einen Indianertanz vor Freuden aus. Sie hatten sich nämlich ganz auf dieses Ereignis geschäftlich „eingestellt” — seit Monaten.
Bisher hatten sie, Geld gescheffelt. Jetzt floß es ihnen von selbst zu. Bis Oktober 1919 sorgten sie in uneigennützigster Weise für die Bevölkerung, indem sie mit Lebensmitteln aller Art handelten. Der Verdienst dabei war mäßig: vielleicht 200 Prozent.
Dann — hm Ja — dann hätten Sigurd und Sally beinahe Pech gehabt! Eben im Oktober 1919. Die Zuckersendung im Werte von einer Million wäre um ein Haar „geklappt” worden. Zwei Tage schwitzten Vater und Sohn Angst — schwitzten so, daß Tatte Sigurd zehn Pfund abnahm.
Aber — die Geschichte wurde noch im letzten Moment eingerenkt, wurde mit dem Mantel der Liebe, aus Tausendmarkscheinen genäht, zugedeckt. An diesem Tage schworen Vater und Sohn, daß sie nie mehr schieben wollten. Und da nur das Schieben scheffelte, gaben sie den ganzen Kram auf, zogen sich vom Geschäft endgültig zurück, wurden Rentiers —
Der Aufstieg war beendet. Die Pachelesse versteuerten ein Vermögen von zehn Millionen. Was sie in Wirklichkeit besaßen, wußten nur die Verstecke in ihrer Villa im Tiergartenviertel —
Und nun beginnt der zweite Teil —
* * *
Zweites Kapitel.
Sally-Erich.
Januar 1920 hießen die Pachelesse „auf Antrag” infolge guter Beziehungen zu den höchsten Regierungsstellen fernerhin Pachaly.
Pachaly –– das klang so halb ungarisch. Sally hatte diese Namensänderung durchgesetzt. Er hieß auch nicht mehr Sally, Er hieß jetzt Erich — Erich Pachaly. Und er war blond, künstlich blond. Ein Friseur besorgte das jede Woche durch Kopfwaschungen.
Erich Pachaly war sehr elegant, trug Monokel und zur Verdeckung seiner O-Beine einen sogenannten „Egalisator”. Er hatte noch mehr als nur die Namensänderung durchgesetzt. Dem Glauben der Väter waren die Pachelesse innerlich längst schon untreu geworden — Religion?! Überwundener Standpunkt! Weshalb also nicht den Glauben wechseln?! Es hatte fraglos große Vorteile — gesellschaftlicher Art!
Sigurd sträubte sich hiergegen. Aber Sally-Erich siegte, da die drei Damen auf seiner Seite waren.
Die waren nämlich auch blond geworden — durch eine Friseuse! Sigurd war der einzige „Schwarze” in der Familie. Zum Glück hatte er bereits einen totalen Kahlkopf, und der Spitzbart fing an, grau zu werden. Tatte Sigurd war überhaupt das „Schmerzenskind” — Alle hatten sich spielend leicht an die vielen Millionen akklimatisiert. Er nicht —! Wenigstens nicht so, wie es seine Gattin und seine Kinder wünschten. Er sprach noch immer „Jargon”; er jüdelte; auch mit die Händ’, wenn er erregt wurde, und das wurde er leicht —
Else Pachaly war in Erich-Sallys Augen längst keine Pestbeule mehr. Nein — wenn er nicht so viel Ehrfurcht vor dem Vater gehabt hätte, würde er diesen jetzt als „Pestbeule” bezeichnet haben — Nun, er tat es auch. Aber nur in Gedanken.
Und weshalb hatte der jetzt 24 jährige Erich-Sally die Seinen derart umgemodelt? Weshalb hatte er am ersten Neujahrsfeiertag die Seinen gezwungen, zum Vormittagsgottesdienst in den Dom zu gehen? Weshalb hatte er dort für sich selbst einen Stehplatz gewählt, von wo aus er die altüberlieferten Plätze des hohen Adels bequem übersehen und selbst gesehen werden konnte? Weshalb hielt er jetzt die antisemitischste aller Tageszeitungen Berlins?
Nun — der Grund war aschblond, schlank und hieß Erika Gräfin von Palchering.
Der „Grund” wohnte Pachalys gerade gegenüber in einem der kleinsten, ältesten Häuser des Tiergartenviertels. Dieses Haus war seit seiner Erbauung Eigentum der Palcherings. Es war eigentlich das letzte, was die feudale Familie besaß.
Erich-Sally hatte Erika ein paarmal am Fenster gesehen. Dann war er ihr auf der Straße begegnet; dann fühlte er: dieses Mädchen, für das er trotz all seiner Millionen Luft war, würde sein Schicksal werden.
Er stellte alles mögliche an, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es gelang ihm vorbei. Die Komtesse hatte so eine Art, Leute nicht zu sehen, wie sie nur in ihren Kreisen in solcher Vollendung gefunden wird.
Sally-Erich lauerte ihr Ende Januar regelmäßig geradezu auf. Er hoffte, ein glücklicher Zufall würde es fügen, daß er ihr einen Ritterdienst leisten dürfe.
Als er einmal in der Untergrundbahn neben ihr stand und Moses Schleimitzer, ein ganz intimer Geschäftsfreund von früher, ihn ansprach:
„Nu, Sally, wie geiht’s?” da sagte er mit vor Wut halberstickter Stimme:
„Sie müssen sich irren, mein Herr. Ich kenne Sie nicht. Ich heiße nicht Sally, und ich verbitte mir auch jede weitere Belästigung von Ihnen —”
Und hinterher murmelte er so, daß die Komtesse es hören mußte:
„Freche Judenbagage —!”
Schleimitzer kniff ein Auge zu und grinste. Dann fiel ihm ein: Richtig, die Pachelesse waren ja nun Christen geworden und hießen Pachaly — Irgend wer hatte ihm das letztens erzählt — Sein Grinsen wurde verächtlich. Und — er markierte in sehr unfeiner Weise ein Ausspucken —
Sally-Erich nahm sich nach diesem scheußlichen Pech vor, die ganze ehemalige Bekanntschaft zu „schneiden”. Als er mittags um zwei Uhr heimkehrte, als er die Familie im Salon versammelt fand, um Perserteppiche auszuwählen, sagte er noch immer bibbernd vor Ärger über die „Blamage”:
„Dieses gewöhnliche Pack kennen wir nicht mehr — keinen einzigen! Wer es auch sei! Ganz besonders werden wir uns die Verwandtschaft vom Leibe halten —”
Die Damen nickten eifrig. Tatte Sigurd, der ja überhaupt kaum noch was zu sagen hatte, seufzte nur. Und um seinem Herzen Luft zu machen, ging er hinab zum Portier, der im Hause bereits 15 Jahre diese Stelle innehatte und — kündigte ihm, weil der bejahrte Mann gewagt hatte, um Lohnerhöhung zu bitten.
Portier Reschke war ganz sprachlos über diese Hartherzigkeit. Er rechnete Sigurd Pachaly vor, daß er unmöglich mit 250 Mark monatlich auskommen könne. Alle Portiers hätten Zulagen erhalten; und Herrn Pachaly machten doch 50 Mark monatlich nichts aus —
„So — so — nichts aus?!” begann Tatte Sigurd sich aufzuregen. „Denken Se, ich hab’ mei Geld jestohlen? Sauer verdient hab’ ich’s mir —”
Da kam der „junge Herr” dazu —
„Gekündigt hast Du, Papa?” meinte er. „Gut. Sie — Sie repräsentieren zu wenig, Reschke. Ein buckliger Portier ist nichts für ein vornehmes Haus. Ihre Frau läuft auch immer wie ein Drecklappen umher.”
Dann gingen Pachaly Vater und Sohn wieder nach oben und bezahlten die beiden Perser, die man ausgesucht hatte — für zusammen 42000 Mark.
Gleich darauf setzte man sich zu Tisch. Man aß um halb vier. Der Diener servierte. Es gab nur fünf Gänge heute.
Unten in der Portierwohnung hockte der alte Reschke ganz stumpfsinnig in seinem Korbstuhl — Gekündigt —! Fünfzehn Jahre war er nun hier im Hause — Jeden Winkel kannte er. — Jeden Strauch im Garten — Und — wie gut hatte er den Garten stets in Ordnung gehalten! Das Haus ebenso! Blitzte nicht alles vor Sauberkeit —! — Was nun?! Gekündigt auf die alten Tage —
Sein Kollege von drüben, der Meinert kam da gerade auf so ’nen kleinen Plausch zu ihm —
„Na nu? Wat is denn los, Karl? So’n Gesicht?” — Und als Reschke erzählt hatte da stieß Meinert nur so mit einer unnachahmlichen Verachtung im Ausdruck zwischen den Zähnen hervor;
„Schieber!”
Oben im Speisesaal erhoben Pachalys sich von Tisch. Den Kaffee nahm man regelmäßig im Wintergarten ein — unter Palmen, beim Plätschern des kleinen Springbrunnens —
Hier hielt Sally-Erich den Seinen einen neuen, langen Vortrag: wie man es anstellen könnte, Zutritt zu der Hautevolee — der echten, alten Hautevolee — zu bekommen —
„Vergangene Nacht habe ich da im Klub einen Baron kennengelernt, — Baron von Perski. Kein Pollack, nein, alter deutscher Adel. Die Perskis haben es verflucht knapp, und der alte Esel spielt noch dazu. — Kurz und gut: die Baronin ist in einem Komitee zur Veranstaltung eines Wohltätigkeitsfestes —”
„Schon faul,” grunzte Tatte Sigurd schlaftrunken aus seinem Korbsessel heraus.
„Schweig’!” fuhr die blonde Rebekka auf.
Sigurd duckte sich scheu zusammen.
Sally-Erich sprach weiter —
„Else repräsentiert am besten,” meinte er unter anderem. „Ich werde nachmittags mit ihr ins Adlon zum Tee gehen. Dort treffe ich den Baron. Angepumpt hat er mich schon —”
Sally-Erich bewohnte in der Villa im Erdgeschoß vier Zimmer und hielt sich seit acht Tagen eine Privatsekretärin — über vierzig alt! Also bitte keine Nebengedanken! — Er hatte nämlich seine schriftstellerische Ader entdeckt. Er diktierte der Sekretärin jetzt seinen ersten Roman. Selbstkosten-Verlagsanstalten gab es ja genug —
Else begleitete den Bruder in sein Arbeitszimmer. Die Einrichtung hatte keine 100000 Mark gekostet. — Sie setzte sich in einen Klubsessel —
„Was willst Du eigentlich von mir?” fragte Sally-Erich argwöhnisch — So recht schätzte er die Schwester nicht mehr. Sie war ihm jetzt in vielem über. Sie sah fraglos vornehm und gar nicht mehr jüdisch aus. Und sie hatte sich ein so sicheres Benehmen angewöhnt, daß sie beinahe wirklich Dame war — auch für kritikgeübte Augen.
„Über Erika von Palchering mit Dir sprechen,” erklärte sie kühl. „Du brauchst nicht verlegen zu werden. Ich weiß Bescheid. Und — ich will Dir helfen, wenn — Du mir hilfst —”
„Bitte deutlicher —” Er streckte die Beine im Sessel lang und nahm eine Zigarette, beschaute seine polierten Fingernägel und seine Brillantringe und suchte den Gleichgültigen zu spielen.
„Erst verspricht mir, alles zu tun, worum ich Dich bitte, Erich,” meinte Else mit einem spöttischen Verziehen der Mundwinkel. Sie merkte ja, daß ihr Bruder in Wahrheit ganz zappelig vor Ungeduld war.
„Nun ja doch, — los denn!”
„Du sollst mir einen Früheren Hauptmann, Freiherrn von Goschner, Heribert von Goschner, suchen helfen. Er geriet 1918 im März in französische Gefangenschaft —”
„Wird gemacht,” unterbrach er sie. „Und die Komtesse —?”
„Den Palcherings geht es miserabel, Erich. Sie haben von der alten Bude da drüben vom 1. Februar das Erdgeschoß vermietet — vermieten müssen. Der Graf hat sein ganzes Vermögen in russischen Wertpapieren angelegt gehabt. Vorgestern hat die Komtesse einen Brillantschmuck bei Saulmann in der Kronenstraße verpfändet.”
Sally-Erich war starr.
„Woher weißt Du das?”
„Durch Rochus u. Knöpfler —”
„Wa—a—as? Durch — durch die Detektei?”
„Ja. — Die Komtesse ist eine entfernte Cousine Goschners. Ich hoffte durch die Palcherings über den jetzigen Aufenthalt Goschners etwas zu erfahren.”
„So — so. — Na — und —?”
„Gott, bist Du kurzsichtig, Brüderlein — Wenn Palcherings schon anfangen, Juwelen zu versetzen, hätte vielleicht ein früherer Sally Pacheles Aussicht — und so weiter. Vielleicht könnte ich die Bekanntschaft vermitteln —”
Sally-Erich fuhr auf.
„Verdammt — nicht so laut! Das Frauenzimmer tippt doch nebenan —”
„Wenn sie tippt, hört sie nichts —”
Sally-Erich hielt jetzt den blonden Kopf gesenkt. Er dachte nach. Hm — die Else war doch ganz gerissen. Sie war doch eine echte Pacheles —
„Else, so viel Grips hätte ich Dir gar nicht zugetraut,” sagte er anerkennend. „Ich werde mir die Sache überlegen. Die Kosten für Rochus u. Knöpfler trage ich fortan. — Hm, was den Goschner angeht, — Du, das ist doch wohl derselbe, mit dem Du vor —”
Else nickte. „Laß nur die Einzelheiten ruhen. Es ist derselbe —” — Ihr Gesicht hatte sich verändert, — die großen Augen verschwanden hinter den langen,schwarzen Wimpern.
Sally-Erich beobachtete die Schwester. Er sah, wie es nun auch um ihren Mund schmerzlich zuckte. — Hm — das war ja eine sehr, sehr dauerhafte Liebe —! Diese Else —! — Und ihm schoß so durch den Sinn: „Else kann sich jetzt den Freiherrn kaufen, und Du — Du vielleicht die Komtesse —!”
Dann fragte er: „Weißt Du denn gar nichts über Goschner? Ist er in Frankreich verschollen?”
„Ich weiß nur, daß er 1917 Hauptmann wurde und März 1918 in Gefangenschaft geriet, nachdem gegen ihn bereits eine Untersuchung wegen eines dienstlichen Versehens, das er an der Front als Bataillonsführer gemacht hatte, eingeleitet war. Seine früheren Kameraden haben erklärt, sie würden ihn nicht mehr kennen, wenn er wieder auftauchte; er sei wahrscheinlich zu den Franzosen übergelaufen, um dem kriegsgerichtlichen Verfahren zu entgehen.”
„Wie?! Und um einen solchen gesellschaftlich toten Menschen kümmerst Du Dich noch?! Aber Else! Was soll das!”
„Das ist meine Sache —! Für mich kommt nicht der frühere Offizier, sondern der Mann in Betracht. Und — diesen Mann, der Heribert von Goschner heißt, liebe ich noch —!”
Sally-Erich schüttelte den Kopf —
„Du bist verdreht! Was willst Du mit so einem Gescheiterten?! Heiraten etwa —?” Er lachte kurz auf. „Daraus würde nie was werden, Else, nie! Merk’ Dir das! Wir sind reich. Wir haben den goldenen Berg glücklich erklommen. Jetzt will ich uns auch noch auf den anderen führen, den — geselligen Verkehrs —!”
„Du sprichst wie ein Dichter, Brüderlein!” Auch sie lachte jetzt. Beißend spöttisch fuhr sie fort: „Uns, die — Schieber, auf den Berg geselligen Verkehrs —! Köstlich naiv! Du bist doch sonst so schlau, Brüderlein —! Geselligen Verkehr werden wir nur dort finden, wo unseresgleichen sich versammelt und — die Drohnen, die also, die — die Schieber aussaugen. Wirklich feine Kreise kehren uns genau so den Rücken, wie sie dies einst den Pacheles gegenüber getan hätten. Auch Dein Baron von Perski wird Dich nur mit „gesellschaftlicher Halbwelt” bekannt machen. Ich warne Dich vor Enttäuschungen —”
„Enttäuschungen?!” Sally-Erich war aufgesprungen. Er merkte, es zuckte ihm in den Armen; er war erregt; und dann redete auch er noch manchmal mit die Händ’. Daher schob er sie schnell in die Hosentaschen. Das war ein probates Mittel.
„Enttäuschungen?! Allerdings — wenn Du daran denkst, so — so einen Menschen wie diesen Goschner zu heiraten, dann — dann werde ich mein hohes Ziel nie erreichen! — Else, unter diesen Umständen nehme ich mein Versprechen zurück! Such’ Dir selber Deinen Goschner! Aber, davon sei überzeugt: so lange ich hier noch, Herr im Hause bin, und ich bin’s, das weißt Du, — so lange wird aus dieser Ehe insofern nichts, als Du auch nicht einen gebogenen Heller mitbekommst! Das merke Dir —”
Die schlanke, rassige Else Pachaly lehnte ganz tief im Klubsessel und hatte den Kopf etwas zurückgebogen. Zwischen den halb geschlossenen Lidern hindurch schaute sie den Bruder langsam von den Lackstiefeln bis zu dem blonden Scheitel hinauf mit einer grenzenlosen Verachtung an, sagte dann leise:
„Dummer — Bocher!”
Er verfärbte sich. Seine Hände fuhren aus den Taschen, krampften sich halb erhoben zur Faust —
„Du — Du!” zischte er. „Du denkst, Du bist mir über — Du! Du sollst mich kennen lernen —”
Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen und ließ das obere wippen. Dabei kam ihr dünner Enkel, ihr schicker Lackschuh mit perlgrauem Einsatz, sehr gut zur Geltung.
„Also Krieg, Brüderlein?!” sagte sie kalt und bog sich vor, nahm vom Rauchtischchen eine Zigarette. „Krieg in der Familie, Brüderlein?!” fügte sie hinzu. „Etwa so wie damals, als Du — ausgerechnet Du den Moralischen spieltest und mir verbieten wolltest, Heribert zu besuchen? — Weißt Du noch, Sally, — ja?! Du — Du mir das verbieten! Besinnst Du Dich auf die — die Photographien, mit denen Du so gute Geschäfte machtest, — die wir oben auf dem Hausboden aufnahmen, — die — indische Tänzerin mit dem stets verschleierten Gesicht — Sally, es war ein feiner Trick, mich vor Rebekka und der Mutter stets die faule Pestbeule zu nennen, damit niemand ahnen sollte, was wir beide für Geschäfte machten. Und als der Vater Dir den Handel verbot, als dann die Sache mit Goschner begann, da — da wolltest Du, weil Du ja keinen Nutzen mehr von mir hattest, mir das — das bißchen Sonnenschein stehlen — Oh — ich habe nichts vergessen, Brüderlein, nichts — Ich habe, sogar noch ein paar Platten von jenen Photographien — Geh’ Deine Wege, Sally — und laß mich die meinen gehen. Besser wär’s ja, wir gingen zusammen, glaub’ mir —”
Er stand vor ihr und stierte sie aus seinen stets etwas vorquellenden Glotzaugen durchdringend an. Das Monokel im rechten Auge ließ dies noch größer erscheinen. Auf Sallys starker Nase schillerten feine Schweißperlen. Merkwürdig: anderen trat Schweiß auf die Stirn, ihm auf das echt Pachelessche Riechorgan. Da half kein Pudern, kein Waschen mit allerlei Mitteln: diese Nase sah oft aus wie ein unförmiges, halb welkes Rosenblatt mit vielen Tautropfen —
Er starrte sie an. Neid beschlich ihn jetzt. Himmel — was für ein Weib war doch aus Else geworden! — Und als nächstes Gefühl kam etwas wie — wie Angst vor ihr! Und dieses leise Furchtgefühl gebar wieder ein anderes: den Haß! — Ja — er haßte sie jetzt! Er sah in ihr nur das Hindernis, auch den zweiten Berg zu erklimmen. Sie — ja, sie hätte ihm dabei am besten helfen können. Sie war — Dame von Welt geworden. Und nun — nun diese Verrücktheit mit jenem Heribert —!
Da — ein satanischer Gedanke zuckte in ihm auf. Ein ähnlicher Gedanke wie die, die dem Tatte Sigurd stets so ungeheuer imponiert hatten, als man im und nach dem Krieg derart „schob” und „schieben” half, als existiere keinerlei Polizei, keinerlei Strafbestimmung —
Warum nicht so tun, als wäre man mit allem einverstanden? Warum nicht?! Ob Goschner je wieder auftauchen würde, war ja sehr die Frage. Und — sollte es der Fall sein, daß man ihn fände, dann —
Else rauchte nachlässig ihre Zigarette —
„Du, ich hab’ mir die Geschichte überlegt,” sagte Sally-Erich? da vertraulich. „Ich denke, Else, wir einigen uns. Wenn Du durchaus Deinen Heribert haben willst, dann — dann mußt Du mit ihm aber hier aus Berlin verschwinden —”
Sie nickte nur. Sie hatte die Augen wieder unter den langen Wimpern verborgen —
„Also Friedensschluß,” lächelte sie scheinbar harmlos. „Sehr vernünftig von Dir, Brüderlein. — Du hast doch Beziehungen zum Auswärtigen Amt, Maulwurfsbeziehungen —” Sie lächelte stärker. „Jedenfalls hast Du sie. Wir wollen etwas springen lassen, damit bei der französischen Regierung Goschners wegen angefragt wird — baldigst —!”
„Machen wir, Else!” — Er streckte ihr die Hand hin. Sie legte nur die Fingerspitzen hinein. Er hatte stets so feuchte, kalte Hände — Und — sie dachte stets an nasse Frösche, wenn sie diese Hände nur ansah.
„Zieh’ Dich dann um für’s Adlon,” fügte er hinzu. „Ich habe das Auto um fünf bestellt. — Übrigens — wir haben Reschke gekündigt, Else. Er macht eine zu schlechte Figur als Portier mit seinem Buckel —”
„Das werdet Ihr widerrufen,” sagte sie ruhig und erhob sich. „Du bist ein miserabler Diplomat, Brüderlein — Reschke ist mit dem Portier der Palcherings befreundet. Palcherings erfahren fraglos etwas von der Kündigung. Und was das für einen Eindruck auf die Komtesse machen wird —”
Sally-Erich nagte an der Unterlippe.
„Hm — Du hast recht —”
Sie lächelte wieder „Ja — Schieben ist leichter als Diplomat sein, mein Lieber —”
„Verdammt — so hör’ doch mit diesem — ekelhaften Ausdruck auf —!” — Er zischte es wieder förmlich. „Weshalb warst Du denn vorhin bei Tisch ganz einverstanden damit, daß Reschke weggeschickt würde? Du hättest doch gleich darauf hinweisen —”
„Nein,” fiel sie ihm ins Wort. „Nein, mein lieber Sally. So konnte ich Dir jetzt deutlicher klarmachen, daß ich doch die — Klügere bin. Gerissener und — gewissenloser magst Du sein. Klüger bin ich —”
Sie nickte ihm zu und ging hinaus, ging nach oben in ihr Schlafzimmer, läutete viermal nach der Zofe und ließ sich beim Umkleiden helfen.
* * *
Drittes Kapitel.
Der blasse Kellner.
Der Baron Alexander von Perski sah etwa so aus wie ein alter, vertrottelter Fürst, den ein guter Charakterdarsteller zu mimen hat. Aber — daß er Baron war oder so was Ähnliches, merkte man auf den ersten Blick, selbst wenn er nicht im Adlon gesessen und nicht schon nachmittags Sekt getrunken hätte.
Alexanderchen, wie ihn seine Freunde nannten, hielt gerade so die Grenzlinie zwischen Hochstapler und einem vom Pump und Spiel lebenden „Jubelgreise” ein. Er war jetzt 52 Jahre alt, konnte aber ebenso gut für 40 gelten. Um Frau und Kinder kümmerte er sich nur insofern, als er nachts zuweilen zu Hause schlief. Seine beiden Töchter, längst verblüht, waren am Statistischen Amt angestellt. Seine Frau malte und zeichnete. Die drei Frauen verdienten so viel, daß sie leben und die Fünfzimmerwohnung in der Bleibtreustraße beibelhalten konnten — trotz der schlechten Zeiten.
Es war jetzt fünf Uhr nachmittags. Er hatte im Adlon diniert. Das verdankte er dem als Gentleman herausgeputzten Judenjungen, diesem Pachaly. Na — Geld stinkt nicht —! Der Pachaly war ja fraglos’n Schieber. Die konnte man schon rupfen. Schade nur: er hätte ihn gleich um 2000 Emchen anpumpen sollen. Diese dämliche Bescheidenheit, nur 1000 zu fordern —! —
Vorhin hatte er Udo von Palchering antelephoniert, ob er nicht mit seinen Mädels mal zum Nachmittagstee ins Adlon kommen wolle; er hätte was mit ihm zu besprechen — wegen Versilberung der sogenannten Klosett-Aktien, wie die russischen Papiere jetzt hießen. — Palchering war erst sehr kühl gewesen. Aber der Köder mit den Klosett-Aktien hatte doch gewirkt. —
Graf Palchering hatte dann daheim zu Erika und Margot gesagt: „Kinder, Ihr sollt auch wieder mal raus — Baron Perski hat mich soeben angeläutet. Man geht ihm zwar besser aus dem Wege, aber —” — er seufzte — „man muß heutzutage oft beide Augen zudrücken. Perski will mir helfen, die verdammten Ural-Aktien loszuwerden —”
Die Gräfin Palchering war seit zwei Jahren gelähmt. Sie war um fünf Jahre älter als ihr Gatte und eine geborene Müller — schlechtweg Müller, hatte mal einen sehr reichen Vater gehabt, der dann aber kurz vor dem Kriege alles verlor —
Erika und Margot freuten sich nur mäßig auf das Adlon. Seit man an allen Ecken und Enden sparen mußte, kamen sie sich „deklassiert” vor. Sie waren einst maßlos verwöhnt gewesen, hatten von der Not des Krieges zuerst wenig gemerkt und waren nun so allmählich in einen Zustand verschlossener Unzufriedenheit hineingeraten. Margot, die um zwei Jahre jüngere und dunkelhaarige, ähnelte mehr der Mutter. Die 22 jährige Erika war dagegen die echte Palchering — in allem. Zwei Söhne waren gleich zu Anfang des Krieges gefallen.
Alexanderchen bestellte bei dem Kellner eine Zigarre.
„Nehmen Sie auch den Rest Sekt weg,” befahl er weiter. „Dann frisches Tischtuch — Ich erwarte noch Bekannte —”
Der Tisch stand an der Seitenwand. Der stilvolle Saal war nur wenig besetzt. Die Musik spielte sehr diskret. Alles war hier auf das Halblaute, Vornehm-Geräuschlose abgestimmt.
Der Kellner brachte Zigarren zur Auswahl, dann den ebenfalls bestellten Mokka.
Es war ein schlanker, großer Mensch, dieser Kellner, mit dünnem durchgezogenen Scheitel. Das magere Gesicht mit dem kurzgestutzten, blonden Bärtchen war krankhaft bleich; die Augen, tief im Kopfe liegend, hatten einen ganz merkwürdigen Ausdruck.
Alexanderchen war wie alle Lebemänner seiner Sorte ein recht guter Beobachter und Menschenkenner. Er hatte diesen Augenausdruck ebenfalls bemerkt. Er wußte ihn aber nicht zu deuten —
Jetzt erschienen die drei Palcherings. Der Graf, groß, breitschultrig, grauer Spitzbart, mit dem vor der Weste an der Seidenschnur baumelnden Monokel, mußte überall auffallen. Er war der Typ des deutschen, feudalen Großgrundbesitzers. Leider fehlte den Palcherings aber der Grundbesitz. Den hatte schon des Grafen Großvater glücklich der Spielbank in Monte zu verdienen gegeben, und erst die geborene Müller hatte dem alten Namen wieder goldigen Glanz verliehen. Freilich — das alte Haus im Tiergartenviertel war ja auch Grundbesitz und heute Millionen wert, leider aber nicht zu veräußern infolge einer Testamentsklausel des Vaters des Grafen Udo.
Baron Perski wurde von den beiden jungen Damen nur durch Kopfneigen begrüßt. Sie kannten ihn kaum. Der Graf dagegen spielte in Rücksicht auf die Klosett-Aktien den Liebenswürdigen. —
Alexanderchen schwamm in Wonne. Die Geschichte hatte er fein gedeichselt! Wenn jetzt dieser Pseudo-Gentleman Pachaly mit Anhang anrückte, dann —
Und er überlegte schon, was er bei der Sache verdienen könnte —
Hm — wenn dieser Pachaly nur nicht hier mit seiner ganzen, womöglich aufgedonnerten Mischpoche auftauchte! Das wäre fatal —! Dann riß der Graf doch vielleicht aus —
Alexanderchen sah nach der Uhr. — Hm — zehn Minuten nach fünf. — Da würde dieser Kerl mit der Tropfen-Nase sicher bald erscheinen — Er entschuldigte sich also bei Palcherings und ging ins Vestibül —
Na — das nennt man Dusel haben. Da war der auf vornehme Bekanntschaften versessene Bocher ja schon —
Ei verflucht — und seine Begleiterin —! Donner noch eins —! Das war ja ein Bild von Weib —!
Alexanderchen lief das Wasser im Munde zusammen.
Dann wurde Else vorgestellt, die in ihrem schicken Pelz und dem geschmackvollen Hut mit Reiherstutz durchaus nicht aufgedonnert aussah.
Es war der erste Baron, den Else Pacheles, pardon, Pachaly, kennenlernte — wenigstens als „Dame”. Denn seinerzeit auf Heriberts Bude war sie von des Oberleutnants gelegentlich anwesenden Freunden doch nur als — na, so als — „Mäuschen” behandelt worden.
„Gnädiges ’Fräulein gestatten,” näselte Alexanderchen, der infolge des Sektes und fünfer Schnäpse noch vertrottelt-vornehmer als gewöhnlich wirkte. „Habe mit Ihrem Herrn Bruder nur noch etwas Geschäftliches zu erledigen — Paar Minuten nur, Gnädigste —”
Else setzte sich in einen Sessel und die Herren traten abseits.
„Herr Pachaly”, flüsterte der Baron, „es ist mir geglückt, den Grafen Palchering mit seinen beiden Töchtern herzulotsen. Ich merkte gestern, daß Ihnen gerade an der Bekanntschaft mit Palcherings etwas liegt — He — he, — feiner Riecher, was?!”
Sally-Erich war ganz blaß geworden. Ihm brauste das Blut in den Adern. Er war ja bereits halb verrückt vor Sehnsucht nach diesem aschblonden Weibe —
„Hören Sie doch zu, Herr Pachaly,” schnauzte Perski ihn da fast grob an. „Mensch — Sie sind ja im Jesicht mit ’n Mal wie Braunbier und Spucke —!” Der Baron ließ sich gern gehen beim Sprechen. Er „berlinerte” in der Vollendung, wenn er wollte. „Mensch — und Ihre Näse sieht wie beregnet aus — Wischen Sie sich die Schweißtropfen ab — Das wirkt ja unästhetisch; Haben Sie etwa auch —” Er wollte fragen: „Schweißbeene”, aber er verschluckte das, änderte den Satz um: „— etwa Angst vor den Palcherings?! — Sie, nu mal Achtung — der Graf hat Klosett-Aktien. Ich werde Sie ihm als den vorstellen, der ihm einen Teil der Dinger abkauft — Verstanden?!
Sally-Erich nickte nur und rieb mit dem Seidentuche diese verfluchte Tropfen-Nase.
„Na — dann los!” meinte Alexanderchen. „Ihr Fräulein Schwester muß den Grafen beschäftigen — Graf Udo war mal ’ne Festnummer, sag’ ich Ihnen! Da bin ich ’n Waisenknabe gegen — Tatsache —!
— Und nun Mut, Herr Pachaly — Halt, was sind Sie eigentlich? Ein Titel oder so was macht ’n guten Eindruck —”
„Schrift— Schriftsteller,” stieß Sally-Erich hervor.
„Wa—a—a—as?! Schriftsteller?”
Sally-Erich hatte sich jetzt gefaßt. — „Zum Teufel,” dachte er, „Du wirst Dich hier doch nicht wie ’n alter Idiot benehmen! Noch schöner —! Du bist Erich Pachaly! Und das ist mehr als so ’n Grafen- und Baron-Titel —!”
„Allerdings, Schriftsteller bin ich,” sagte er kühl und wischte nochmals die Pachelessche Familiennase ab.
„Famos!” rief Perski. „Famos! Das — das — ist besser als Koofmich oder sonst was. — Noch ’ne Frage, mein Lieber: Sie haben es doch auf eine von den beiden Komtessen abgesehen? Auf welche?”
Sally-Erich wurde rot. „Komtesse Erika —”
„Gut, bon, — also die Erika. — Vorwärts denn —”
Erika von Palchering hatte soeben ihrem Vater zugeflüstert:
„Papa, der — der Kellner —! Hast Du’s bemerkt?!” Sie konnte kaum sprechen vor Aufregung.
„Ich bemerke nichts, was ich nicht will,” sagte der Graf hart. „Der Mensch ist für uns erledigt. Wenn mich etwas versöhnlicher stimmen könnte, dann wär’s das eine, daß er jetzt wenigstens auf ehrliche Art sein Geld verdient. Beachtet ihn nicht. Damit ist die Sache erledigt —
Der Baron und die beiden Pachalys näherten sich.
Die drei Palcherings stutzten doch etwas bei der Vorstellung. Sie hatten sehr wohl ihre Gegenüberwohner erkannt. Sie wußten auch, daß es Kriegsgewinnler waren, die die Villa gekauft hatten, — mehr noch: getaufte Juden! — Das hatte sich von Portier zu Portier weitergesprochen —
Die drei Palcherings waren eisig-höflich, nichts weiter. Else kam neben Margot zu sitzen. Sie versuchte eine Unterhaltung. Die jüngste Palchering antwortete nur mit Ja und Nein. Da gab Else es auf. Sie hatte dies auch vorausgesehen.
Schieber —! Schieber — und hier die Töchter eines Grafen! Dieser Sally, dieser Narr —!
Sally-Erich verhandelte mit dem Grafen leise wegen der Klosett-Aktien —
„Wenn Sie gestatten, Herr Graf, komme ich dieserhalb morgen zu Ihnen —” meinte er schlau. „Hier läßt sich so etwas kaum besprechen.”
„Bitte,” erklärte Udo Palchering. „Dann mittags um zwölf, wenn es Ihnen recht ist —”
Perski hatte es so eingerichtet, daß links neben Sally-Erich die ältere Palchering Platz genommen hatte.
Bisher war Sally-Erich so ziemlich ruhig gewesen.
Jetzt, wo er versuchen wollte, seinen „Schwarm” in ein Gespräch zu ziehen, wurde er nervös. Und weil — er nervös wurde, begann seine Nase zu schwitzen. Und weil er merkte, daß sie schwitzte, wurde er noch nervöser. Und wenn er noch nervöser wurde, schwitzte sie noch mehr. Aus demselben Grunde bekamen seine Hände jetzt die Farbe dunkelroten Unterhosenflanells und — schwitzten auch. Umsonst sagte sich Sally-Erich, daß er doch während seiner geschäftlichen Tätigkeit mit den höchsten Regierungsbeamten ganz kaltschnäuzig verhandelt und sie noch kaltschnäuziger „angeschmiert” hätte. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, was doch alles für seine geistige Überlegenheit spräche, und daß er mithin keinen Grund hätte, hier vor einem verarmten Grafenmädel wie ein kompletter Idiot zu zittern —
Es half alles nichts — Er hatte keine Ahnung, wie er die Unterhaltung anfangen solle; ihm fiel absolut nichts ein. Er schielte nur an dem Pachelesschen Familienerbstück angstvoll entlang, sah die Tropfen glänzen und riß das Seidentuch heraus —
Erika von Palchering ahnte, was hier vorging. Dieser Baron mit der Rotweinnase und dem ewigen sardonischen Grinsen war der Kuppler —
Sie wartete nur auf eine Gelegenheit, dem Vater einen Wink geben zu können, daß man aufbräche —
Der blasse Kellner brachte jetzt gerade für die beiden Pachalys den Mokka. Else hatte ihn vorhin nicht gesehen. Er hatte hinter ihrem Stuhl gestanden, als Sally-Erich bestellte —
Jetzt sah sie ihn —— Sie wurde so bleich, daß es dem Grafen auffiel.
„Gnädiges Fräulein, Ihnen scheint —” Er hatte sich ehrlich besorgt vorgebeugt. Else Hatte ihm gleich gefallen. Und daß Margot sie derart hochmütig behandelt hatte, ärgerte ihn.
Else lächelte schon. „Es ist hier etwas heiß, Herr Graf. Ein leichter Schwindel —”
Sally-Erich war wütend. Wie tadellos sicher Else sich benahm —! Und er — er hatte nur mit seiner dreimal verfluchten Nase zu tun —!
Sally-Erichs Hand schlackerte wie ein Lämmerzagel, als er sich den Mokka eingoß —
Dann faßte er sich ein Herz, wandte sich halb nach links und stammelte:
„Fi—fin—den Sie es hier auch sehr heiß, gnädigste Komtesse?”
Als er den Blödsinn glücklich heraus hatte, hätte er ihn gern wieder eingefangen und verschluckt. Da war es aber leider schon zu spät —
„Ja —,” sagte Erika Palchering, ohne ihn anzusehen. „Ich finde es hier sogar so heiß, daß ich Dich bitten möchte, Papa, sofort aufzubrechen —”
„Aha!” dachte Graf Udo. „Die macht’s genau so wie Margot!” — Und leicht geärgert erwiderte er:
„Ich will erst meinen Mokka austrinken, Kind. Übrigens — so sehr heiß ist es hier gar nicht. Ich werde Dir Fruchteis bestellen —” — Er sagte dies nicht etwa in Rücksicht auf die Klosett-Aktien. Nein — er wollte einmal seinen Mädels einen Dämpfer aufsetzten, dann aber auch sich noch mit Else unterhalten. Er fand diese blonde, getaufte Jüdin totschick und sehr anziehend. Und in seinem 56 jährigen Herzen regte sich noch recht oft der Mai —
Sally-Erich jubelte. Er sah schon in dem Grafen den Verbündeten, den Begünstiger seiner heißen, legitimen Wünsche. Er bekam Mut. — Und er fing sehr geistvoll an vom Wetter zu sprechen; daß er vorgestern bei dem trockenen Frost mit seinem neuen Auto eine Probefahrt unternommen habe —
Erst hörte er neben sich nur „Ja”, „Nein”, „So —?!” und ähnliche keineswegs aufmunternde Antworten und Fragen. Aber — er war hartnäckig. In ihm rumorte jetzt die Kühnheit der Verzweiflung. Er wollte um Jeden Preis „Eindruck schinden” — Und so kam er vom Auto auf die „Schieber” zu sprechen, diese Blutsauger des Volkes, flocht poetische Redensarten über die Tätigkeit seines Vaters als eines der wenigen ehrlichen Kaufleute ein, ging von der Ehrlichkeit zum Theater und seiner Schriftstellerei über und —
Ah — da hatte er’s geschafft! Da hatte er endlich das richtige Thema gefunden, denn — Erika, dieser aschblonde Engel, schriftstellerte selbst —
Margot war starr. Sie begriff die Schwester nicht! Wie konnte Erika nur?! — Und vorhin hatte der Vater sie auch so strafend angesehen, als sie diese — diese Pachaly so abfallen ließ. Hm, ob es da nicht klüger war, hier nicht so stocksteif zu sitzen und geradeaus zu stieren? Vielleicht war diese Pachaly in der Unterhaltung ganz nett. Man lernte doch auch mal so die Ansichten dieser „Schieber” kennen; der Papa schimpfte ja immer so unglaublich auf diese Gesellschaft.
Margot versuchte also eine Annäherung an Else. Aber — jetzt war diese es, die kaum antwortete. Sie saß ganz versonnen da. Und wenn Graf Udo ihr so einige faustdicke Schmeicheleien versetzte, in der ganz falschen Annahme, sie hätte ja doch für „so was” nicht die richtige Schätzung, dann schaute sie auch ihn nur so versonnen an und verzog ein wenig den Mund. Und das sah dann genau so aus, als ob sie über ihn spöttisch lächle —
Der Graf dachte: „Hm — da wirst Du wohl einen anderen Ton anschlagen müssen —! Diese Blonde merkt den Braten, daß Du sie nicht für voll nimmst.” — Als so was Ähnliches wie Flegel wollte er doch nicht in ihren Augen gelten —
Er änderte also sein Benehmen. Und — da kam er mit diesem rassigen Weibe sehr gut aus. Auch Margot verstand es, sich in das Gespräch zu mischen.
Alexanderchen aber jubelte. Die Sache machte sich! Dieser Erich Pachaly war wirklich ein geriebener Halunke. Wie der mit seinen Beziehungen zu Redakteuren erster Zeitschriften protzte — Ob das wirklich stimmte? Bei diesen Schiebern mußte man ja nie, wo das bißchen Wahrheit begann, das sie zu Tage förderten —
Sally-Erichs Nase schwitzte jetzt nicht mehr. Die Hände waren nicht mehr unterrockflanellrot. Er hatte seine ganze gottbegnadete Frechheit wiedergefunden. — Erika hatte nur einen Wunsch: sich mal gedruckt zu sehen! — Kunststück: sollte sie haben! Und wenn es ein paar braune Lappen kostete. —
Else hatte sich plötzlich erhoben und war in das Vestibül gegangen. Hier traf sie den blassen Kellner. Er wollte ihr ausweichen.
„Heribert!” sagte sie leise. „Weshalb fliehen Sie mich?” Sie war wieder sehr blaß. Ihre Augen flakerten. „Ich habe Sie sogar durch eine Detektei suchen lassen. Ihre letzte Karte aus dem Felde erhielt ich am 5. März 1918. Weshalb schrieben Sie damals: ‚Auf Nimmerwiedersehen‛ —? — Weshalb?”
Er blickte zu Boden. Der schwer zu enträtselnde Ausdruck in seinen Augen war noch deutlicher hervorgetreten.
„Gnädiges Fräulein,” sagte er gepreßt. „Ich — ich habe keime Zeit für — für eine Unterhaltung, weder jetzt noch sonstwann —” — Er verbeugte sich und ging in den Saal zurück.
Else blieb ganz ruhig. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Sie schritt dem Bureau des Hotels zu. Dort erfuhr sie die Wohnung des Kellners Heribert Goschner —
Um halb acht brachen Palcherings auf. Sie verabschiedeten sich von Alexander Perski und den beiden Pachalys so, wie man sich von Zufallsbekanntschaften verabschiedet. Nur Graf Udo war zu Else etwas wärmer, und Erika sagte zu Sally-Erich: „Da Sie morgen ja doch zu Papa kommen, Herr Pachaly, werde ich Ihnen auch gleich einige meiner Novellen mitgeben, wenn es Ihnen recht ist.” Die Hand reichte sie ihm nicht. Sie hatte es dieser etwas glasigen, glänzenden Haut seiner Hände angesehen, daß sie feucht und kalt sein mußten — Davor graute ihr —
Als Palcherings gegangen waren, sagte Perski mit meckerndem Lachen:
„Na — nicht fein gedreht die Jeschichte — he he?! Zufrieden, Herr Pachaly?”
Sally-Erich schwamm in Wonne — Er lud Alexanderchen zum Souper ein.
Else wollte erst gleichfalls noch bleiben. Um acht Uhr wechselten aber die Kellner. — Sie brach plötzlich sehr eilig auf und fuhr in einem Taxameterauto nach der Waldstraße in Schöneberg, stieg hier zwei Treppen in einer muffigen Mietskaserne empor und läutete linker Hand wo ein altmodisches Porzellanschild hing:
„v. Goschner.”
* * *
Viertes Kapitel.
Die andere Pestbeule.
Eine große, grauhaarige Dame öffnete ihr, fragte müde und ablehnend, indem sie die elegante Gestalt von oben bis unten musterte:
„Sie wünschen?”
„Ich möchte Herrn Heribert von Goschner sprechen.” Else war dabei ganz ruhig. Sie mußte eine Aussprache mit Heribert erzwingen — mußte —! — „Mein Name ist Pachaly — Else Pachaly, gnädige Frau.” Und bittend fügte sie noch hinzu: „Oh — bewegen Sie Ihren Sohn doch, daß er sich sprechen läßt, gnädige Frau —”
Sie wußte, wen sie vor sich hatte. Sie kannte Heriberts Familienverhältnisse ganz genau. Sein Vater war damals — damals — und eine heiße Welle schoß ihr zum Herzen, wenn sie an dieses damals dachte — als Major a. D. Lotterieeinnehmer in einer kleinen Stadt der Mark gewesen, hatte nur einen Ehrgeiz gekannt: daß seine drei Söhne den bunten Rock tragen könnten! Er hatte es ermöglicht. Heribert war sogar bei der Garde angekommen, war der älteste, der tüchtigste, fleißigste — 1917 war der Major in Litauen als „Etappenonkel” am Flecktyphus gestorben. Auch das wußte Else aus Heriberts Briefen, ebenso, daß seine jüngeren Brüder gefallen und daß seine Mutter nun so gut wie mittellos zurückgeblieben — ’Else hatte nach dem Verbleib der Freifrau von Goschner forschen lassen. Seltsam genug: selbst die Detektei hatte hierüber nichts ermittelt —
„Mein Sohn ist noch nicht zu Hause,” erklärte Frau von Goschner ernst, aber nicht unliebenswürdig. „Wollen Sie nicht nähertreten, Fräulein Pachaly?”
Sie führte Else in ein mehr als bescheiden eingerichtetes Eßzimmer. „Wir Heizen nur dieses,” meinte sie so nebenbei.
Die beiden Frauen saßen sich an dem viereckigen Tische gegenüber. — „Ich kenne Ihre früheren Beziehungen zu Heribert,” begann die alte Dame milden Tones. „Wir wollen hier ganz offen zu einander sein, Fräulein Pachaly. Nach dem, was Heribert mir erzählt hat, sind Sie damals vor — vor sechs Jahren — wie lange das schon her ist — aus reiner Zuneigung —” — sie suchte nach einem passenden Ausdruck —
„— seine Geliebte geworden,” ergänzte Else ruhig. „Das ist richtig, gnädige Frau: aus reiner Zuneigung! Vorteile habe ich von Heribert nie gehabt. Meine Liebe war selbstlos. Ich darf das getrost behaupten. — Ich habe nach Heribert forschen lassen, gnädige Frau. Seine Briefe und Karten aus dem Felde hörten plötzlich auf. Die Detektei Rochus u. Knöpfler hat monatelang alles versucht. Erst heute im Adlon — “ Else schluchzte plötzlich auf. Jetzt war es mit ihrer Fassung vorbei. Sie weinte, erhob sich und trat an das Fenster —
„Ja, Heribert ist stets ein guter Sohn gewesen,” sagte Frau von Goschner vom Tische her. „Ich war krank, als er aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Er traf einen Unteroffizier seiner Kompagnie. Der hat es ermöglicht, daß Heribert die gute Stelle als Kellner im Adlon erhielt —”
Else hatte sich wieder gefaßt.
„Wann — wann kommt er nach Hause?” fragte sie zaghaft.
„Gegen neun Uhr. Er geht stets noch ein Stück spazieren. — Kind, Kind — was wollen Sie denn von ihm? Ich weiß ja, Sie sind reich jetzt, schwerreich — Sie wohnen Palcherings gegenüber. — Lassen Sie von Heribert ab, Kind — Wozu soll das führen —?!”
Else kam an den Tisch zurück.
„Wenn Heribert mich noch liebt — und er hat mich mal geliebt! —, dann muß er mich heiraten, muß — als Ehrenmann,” sagte sie fest.
Frau von Goschners welke Hände strichen die billige Tischdecke glatt.
„Er — er ist kein Ehrenmann mehr — in den Augen der Welt, seiner Vorgesetzten, seiner Kameraden von einst.” Die Stimme der alten Dame zitterte. „Kind — er würde Ihnen einen mit einem Makel behafteten Namen nie geben — nie! Ich bitte Sie herzlich: lassen Sie ihm seinen mühsam errungenen inneren Frieden —”
Else stand da und schaute der alten Dame in das von Falten zerrissene Gesicht —
„Gnädige Frau, Sie wissen, daß ich Jüdin bin,” stieß sie überhastet hervor. „Wir Juden sind zäh. Was wir wollen, führen wir durch, und wenn wir noch so viele Fehlschläge erleiden. Es muß einen Weg geben, Heribert zu rehabilitieren, diesen Makel von ihm zu nehmen — Ich werde es versuchen, gnädige Frau. Aus — Liebe —!” Wieder schluchzte sie auf.
„Und — wenn ich gesiegt habe, finde ich mich hier wieder ein —”
Sie ergriff Frau von Goschners Hand, küßte sie und eilte hinaus. —
Als sie, abermals im Taxameterauto, daheim anlangte, fand sie die Mutter in Tränen vor.
Frau Laura Pachaly hatte sich allmählich zu etwa zwei Zentner hinaufgemästet. Sie jammerte jeden Tag über ihre Leibesfülle, mied Suppen und fette Speisen und — aß das beste Konfekt pfundweise. So machen es viele, die Geld haben und nicht dick werden möchten.
Frau Laura lag im Salon in einem Brokatsessel und — heulte geradezu. Rebekka, die längst nur Rea genannt wurde, saß in einem anderen Sessel und heulte auch. Tatte Sigurd raste auf dem Perser — 28000 Mark — wie ein Irrsinniger hin und her und redete nur noch „mit die Händ’” Zum Sprechen war er zu aufgeregt. Er wußte auch nicht, was er zu diesem fatalen Familienereignis sagen sollte.
Rea, nur etwas kleiner als Else, sonst aber eben so rassig und auch ganz Dame von Welt infolge einer geradezu kautschukartigen Anpassungsfähigkeit an die veränderten Verhältnisse und infolge einer eben so großen Gabe, das Damenhafte anderen abzulauschen, war vorhin von Tatte Sigurd mit dem Chauffeur Schmalzke, Otto Schmalzke, einem forschen, hübschen Menschen, in ihrem Zimmer belauscht worden.
Sigurd Pachaly war ganz zufällig an der Tür vorübergekommen, hatte so allerlei gehört, hatte durch das Schlüsselloch geschaut, und war durch den Anblick, der sich ihm darbot, bewogen worden, Herrn Otto Schmalzke vor derselben Tür aufzulauern. Er hatte noch volle 25 Minuten warten müssen. Gewiß — ein anderer Vater hätte vielleicht geklopft, hätte dadurch die Geschichte in das Stadium des Lärmenden übergeleitet. Dazu war Sigurd zu klug. —
Als Schmalzke aus dem Zimmer schlüpfte, hatte Sigurd dem Zurückprallenden nur zugeflüstert:
„Schämen Sie sich nicht? Am Tage! — Sie sind sofort entlassen —!”
Worauf Otto Schmalzke, der zu den ganz „ausgekochten” Chauffeuren gehörte, im Flur in aller Form um Reas Hand angehalten hatte —
Worauf Tatte Sigurd einen Wutkoller kriegte und dem Bewerber — „eine klebte” —, wie der Berliner sagt —
Worauf Schmalzke etwas von „getaufte Schieberkolonne”, „Steuerhinterziehung” und „noch nicht aller Tage Abend sein” murmelte und pfeifend die mit kostbaren Läufern belegte Treppe hinunterging. —
„Was — was ist denn passiert?” fragte Else ganz entsetzt.
Frau Laura heulte stärker, heulte so stark, daß ihr Bauch und ihr Busen wie Riesenpuddinge wackelten.
Tatte Sigurd aber pflanzte sich vor Else auf, deutete auf die ebenfalls stärker heulende Rea und sagte etwa in dem Tone, mit dem ein Schwurgerichtspräsident ein Todesurteil verkündet:
„Weißt De, was das for eine is?” Und leiser fügte er hinzu: „Mit dem Schmalzke hat se sich eingelassen, seit zwei Monaten — Und nu is ’s so weit. Se muß in de Sommerfrische — zu verschwiegenen Leuten —”
„Einfacher wäre, wenn Rea den Schmalzke heiratete,” meinte Else sehr sachlich und kühl.
Zwei Tränenströme versiegten. Frau Laura und die geknickte Blume Rea fuhren gleichzeitig hoch, riefen genau dasselbe;
„Bist Du verrückt?! Heiraten?!”
„Ganz wie Ihr wollt. Ich glaubte, Rea hätte den Schmalzke gern,” erklärte Else ebenso gelassen.
„So was heiratet man nicht,” trompete Frau Laura. Und Tatte Sigurd sagte ebenfalls:
„Ne — dazu hab’ ich mich nich mein ganzes Leben abjerackst, damit ich ’n Chauffeur als Schwiegersohn kriege.”
Und Rea unterstempelte das mit den Worten: „Noch besser — ein Chauffeur!”
In diesem Moment erschien Sally-Erich auf der Bildfläche. Er hatte schon eine ganze Weile hinter der Portiere zum Musikzimmer gestanden und gelauscht. Er machte das öfters so.
Die dicke Mama und die „hoffnungsreiche” Tochter kreischten auf. Vor Sally hatten alle einen Heidenrespekt.
Sally-Erich schritt auf Rea zu —
„Schämst Du Dich nicht, Du — Du — Dirne!” Er schäumte vor Wut. Aber er beherrschte sich. „Ich werde Dir einen Mann besorgen, der Dich heiratet, — einen Adligen, — durch Baron Perski. Der Baron hat prima Beziehungen. Und — wehe Dir, wenn Du nicht gehorchst!”
Er dachte nur an Erika, nur daran, daß dieser Schandfleck auf der Familienehre schleunigst weggewischt werden müsse.
Rea blickte den Bruder fragend an. „Wirklich, einen Adligen?”
„Ja — zum Teufel! — Und nun laßt das Heulen. Das ist ja ekelhaft — Hast Du Reschke gesagt, Papa, daß er bleiben kann und 100 Mark zugelegt bekommt?”
„Hm — fünfzig waren auch genug,” brummte Tatte Sigurd —
„Hundert — hundert!” schrie Sally bebend vor Wut. „Hundert hatte ich angeordnet — Diese verdammte Gaunerei bei Kleinigkeiten —! Palcherings sollen sehen, daß wir für unsere Angestellten ein Herz haben! — Zweihundert kriegt der Reschke jetzt mehr — jetzt gerade —!” Er stampfte mit dem Fuße auf —
„Nu — wenn schon,” meinte der Hausherr ängstlich. „Was Du kannst, mein Sohn, kann ich noch alle Tage. Zweihundertfünfzig — von mir aus! Ich werd's den Reschkes gleich mitteilen —”
Er schob ab. — Bei Reschke saß gerade der Portier von Palcherings und ein dritter Kollege. Sie spielten Skat.
Tatte Sigurd erklärte großartig:! „Reschke, wir haben es uns überlegt. Sie sollen pro Monat 250 Mark mehr haben. Aber dann müssen Sie dafür auch das Bohnern der Zimmer übernehmen.”
Als er hinaus war, sagte Reschke:
„Die Bande is übergeschnappt —! Hat man so wat schon erlebt! Erst schmeißen se einen raus, dann —”
„Laß man, Karl,” meinte der Kollege von gegenüber. „Wenn det Schieberpack so spendabel is, dann hat det ’n juten Jrund. Dir kann’s ja Wurscht sind. — Los — weiter. Ick hab’ hier ’m Jrand mit Vieren —”
Am nächsten Mittag machte Sally-Erich bei Palcherings seinen Besuch. Inzwischen hatte aber Erika mit ihrem Vater gesprochen und den Verdacht offen geäußert, daß Perski sich hier einen Kuppelpelz verdienen wolle; Pachaly seit ihr schon wiederholt auf der Straße gefolgt, und nach alledem hätte es den Anschein, daß dieser — dieser Mensch sich Hoffnungen mache.
Da hatte Graf Udo gelacht — so herzlich gelacht, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. „Mädel — Du bist verdreht!” meinte er. „Der Pachaly soll — soll —?! Blödsinn! So dämlich kann der Mensch doch nicht sein, daß er sich einbildet —” Und wieder lachte er, daß sein Monokel an der Schnur ordentlich tanzte.
Immerhin hatte diese Warnung Erikas zur Folge, daß er Sally-Erich geradezu eisig-kühl empfing, — ganz wie einen Geschäftsmann. Als Sally-Erich dann für die Klosett-Aktien einen Preis bot, den nur ein Geistesgestörter bieten konnte, sagte der Graf noch eisiger zu dem wieder total vertatterten Besucher:
„Dieser Preis ist derart, daß ich nur annehmen kann, Sie verfolgen mit diesem für Sie so ungünstigen Geschäft ganz bestimmte Zwecke. Welche, weiß ich nicht. Ich bedauere daher sehr, Herr Pachaly — Ich behalte die Aktien —”
Sally-Erich stürzte aus allen Himmeln. Er war so sprachlos, daß er sogar vergaß, seine Tropfen-Nase aufs neue abzuwischen. — Der Graf hatte sich erhoben. „Entschuldigen Sie schon, Herr Pachaly, — muß die Stadt. Ich danke Ihnen bestens für Ihren Besuch. Sollten Ihnen dadurch Unkosten entstanden sein —”
Sally war schon aufgesprungen.
„Herr Graf, weßhalb — weshalb behandeln Sie mich jetzt plötzlich wie — wie einen gewinnsüchtigen Makler —” stammelte er, aber nicht mehr vor Verlegenheit. Ein ähnlicher Haß, wie er ihn gestern gegenüber Else gespürt hatte, verwirrte ihm schier die Sinne. „Ihr — Ihr Fräulein Tochter wollte mir doch Novellen zur —”
Graf Palchering hatte schon abgewinkt. „Meine Tochter dankt Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, Herr Pachaly, die Arbeiten irgendwo unterzubringen. Sie möchte Sie jedoch lieber nicht bemühen. Sie hat jetzt keine Zeit für derartiges. Sie muß für Ihren Portier Reschke eine neue Stelle besorgen. Frau Reschke war mal Kinderfrau bei uns —”
Sally-Erich erbleichte — Ein zu einem Stöhnen herabgewürgter Wutschrei entrang sich seiner Kehle. Er zitterte am ganzen Körper —
„Herr Graf,” keuchte er, „Herr Graf, Reschke ist nie im Ernst gekündigt worden, nie — Mein Vater tat es in der Übereilung. Gestern abend schon haben wir Reschkes 250 Mark monatlich zugelegt — Fragen Sie Reschke, Herr Graf, — bitte, tun Sie es. Ich —”
„Mich geht die Sache nichts an,” schnitt ihm Udo Palchering ziemlich scharf das Wort ab. „Nochmals — Sie entschuldigen. Ich habe wirklich keine Zeit mehr —”
Sally-Erich verbeugte sich und ging —
„Rausgeschmissen! Rausgeschmissen!” heulte der Chor des Hasses in ihm. „Wartet — Ihr sollt Sally Pacheles kennen lernen —!”
In seiner wahnwitzigen Erregung stürmte er sofort in der Villa unten in die Portierwohnung.
„Reschke — sofort packen Sie Ihre Sachen — sofort! Da haben Sie das Gehalt für drei Monate.”
Er warf die Scheine auf den Tisch, rannte davon nach oben zu Else — Aber Else war nicht zu Hause —
* * *
Fünftes Kapitel.
Gold und Glück.
Tatte Sigurd Pachaly hatte seit einiger Zeit dieses Nichtstuerdasein nicht mehr ausgehalten. Er fühlte sich noch zu frisch, den Rentier zu spielen. Ihm lag der Hang zum Schachern nun mal im Blute. Da war er denn seit acht Tagen vormittags stets ein paar Stunden, unauffällig angezogen, in der Grenadierstraße gewesen. Dort und in den umliegenden Straßen hatte sich seit Monaten eine Börse ganz besonderer Art aufgetan. Dort wurde alles gehandelt — alles! Dort wurden Waggonladungen Heeresgut verschoben, dort wurden mit Gold und Silber, Wertpapieren, Brillanten und anderem in den unscheinbarsten Spelunken von ebenso unscheinbaren Leuten Schiebergeschäfte gemacht —
Sigurd Pachaly wurde hier in der Grenadierstraße wieder zum Sigurd Pacheles von einst. In der Konditorei Müller traf er stets seine neuen Bekannten: Schieber — alles Schieber! Zur Hälfte zugewanderte Galizier; alles Leute, die nicht gerissen, nein, die geradezu abgefeimt schlau und siebenmal gesiebt waren.
Hier lebte er wieder auf. Hier fühlte er doch wieder den Pulsschlag geschäftlichen Lebens! Hier war er seine verrückten Weiber los, die gar nicht wußten, was sie alles anstellen sollten, um schnell vornehm zu werden, und auch den Sally, diesen — diesen meschuggenen, verliebten Narren, der das Mädel von drüben verhimmelte wie ’n Märzkater —
Oh — Sigurd war hier in seinem Element. — Gerade als Sally-Erich mit dem Grafen die folgenschwere Aussprache hatte, saß Tatte Sigurd mit drei Ehrenmännern allerdunkelster Art an einem Ecktischchen in der Konditorei und verhandelte über ein Paket 1000-Rubelnoten, die man ihm billig ablassen wollte.
Mit einem Male standen seine drei Geschäftsfreunde auf, nahmen ihre Hüte und — rannten dorthin, wo „Für Herren” an der Tür zu lesen war.
Sigurd wunderte sich. Daß, die Polizei wieder mal hier eine große Razzia abhielt, wurde ihm erst klar, als ein Beamter ihn aufforderte, mit ihm zu kommen oder sich genügend auszuweisen. Auf dem Tische lag noch das Paket 1000-Rubelnoten — genau 500 Stück. Der Kriminalbeamte öffnete es, stutzte —
„Aha — Blüten!” meinte er.
Tatte Sigurd erbleichte, erzählte von den drei ausgerissenen Geschäftsfreunden — Der Beamte fragte den Kellner. Der zuckte die Achseln. — „Habe nichts gesehen, Herr Wachtmeister —”
Sigurd Pachaly mußte mit zur Polizei, obwohl er sich ausweisen konnte.
Zu derselben Zeit weilte Else Pachaly bei dem letzten Regimentskommandeur, den Heribert von Goschner im Feld gehabt hatte. Oberstleutnant Schmidt war jetzt Hausverwalter eines Häuserblocks der Aschinger-Gesellschaft am Viktoria-Louisen-Platz in Wilmersdorf.
Else erhielt hier freudige Botschaft: der Oberstleutnant hatte die Sache Goschner schon aus sich selbst heraus durch Anfragen bei Leuten und Unteroffizieren so weit geklärt, daß Goschner eigentlich jetzt bereits völlig rein dastand.
„Goschner war einer meiner besten Offiziere, gnädiges Fräulein,” sagte er unter anderem. „Ich war es ihm schuldig, die unglückselige Geschichte aus der Welt zu schaffen. Ein gerichtliches Verfahren ist ja nich mehr möglich, daher auch kein offizieller Freispruch. Ich werde aber aus Kameraden eine Art Ehrenrat bilden, und dessen Entscheidung werde ich in den Zeitungen veröffentlichen. Daß Goschner in Berlin weilt, wußte ich nicht. Geben Sie mir bitte seine Adresse.”
Else berichtete nun auch das letzte: daß Goschner Kellner im Adlon sei. — Der Oberstleutnant küßte ihr nachher die Hand. „Sie hören noch von mir, gnädiges Fräulein —” sagte er herzlich —
An demselben Tage kam dann bei Pachalys der große Krach.
Die Familie saß gerade bei Tisch. Sally-Erich ersäufte seinen Haß und seine Niedergeschlagenheit in Rotwein. Tatte Sigurd war noch immer nicht da. Man hatte ohne ihn zu „speisen” begonnen.
Dann erschienen Kriminalbeamte. Ein ganzes Dutzend. Und — mit ihnen erschien der kaum mehr menschenähnliche Familienvater — Das gab eine Szene! — Der Diener, die Köchin, die Zofe, das Hausmädchen standen in der Tür und sahen zu, wie die dicke Gnädige sich auf dem Teppich in Schreikrämpfen wand, wie der junge Herr schlotternd und käsig den Oberwachtmeister anstierte, der allerlei von „Blüten” und von einer Anzeige durch Chauffeur Schmalzke wegen Steuerhinterziehung, Geldverstecken und so weiter redete —
Die Familie wurde im Salon bewacht. Die Beamten suchten — und fanden! Denn Berliner Kriminalbeamte sind im Auffinden von Verstecken weit schlauer als selbst die Pachelesse im Anlegen solcher Verstecke —
Im Salon lagen derweil drei Leichen. Das heist: nicht totale Leichen. Nur leichenähnliche Gestalten: Tatte Sigurd, Mama Laura und Sally-Erich! — Alle drei schwitzten vor Angst. Nein — sie lösten sich förmlich in Schweiß auf. Sallys Familiennase tropfte. Tatte Sigurd nahm diesmal mindestens zwölf Pfund ab.
Else und Rea ließ die Sache sehr kalt. Rea hatte am Vormittag beim Reiten im Tattersal einen famosen Exleutnant kennengelernt, der jetzt Tattersal-Angestellter war: einen Herrn von und zu Mitzelitz. — Dieser Guido von und zu Mitzelitz war sofort Rea gegenüber von einer entzückenden Frechheit gewesen. Abends um sieben wollten sie sich bei Josty treffen. Rea hatte jetzt nur eine Sorge: daß diese ekelhaften Beamten hier länger als bis halb sieben suchen könnten —
Else dachte lediglich an Heribert —
Um sechs Uhr zogen die Beamten ab — reich beladen. Sie hatten in ausländischen Wertpapieren, deutschen Banknoten und Gold das bescheidene Sümmchen von etwa 25 Millionen aus acht Verstecken zu Tage befördert.
Sie zogen ab. — Und dann begann das Nachspiel, dann hielt Sally-Erich mit seinem Vater Abrechnung — wegen der Grenadierstraße — Jeder Rest von Ehrfurcht schwand. Man findet das nicht oft in jüdischen Kreisen, daß ein Sohn den Vater „Schandfleck der Familie” nennt — Und das war noch einer der milden Ausdrücke.
Sally tobte; er redete sich immer mehr in Wut; er war ungerecht; er warf dem Vater auch den Portier Reschke vor; und in seiner Sinnlosigkeit gab er sich die Blöße, einzugestehen, daß Graf Palchering ihn hinauskomplimentiert habe. — Dann kam Rea an die Reihe, die eigentliche Hauptschuldige. Als Sally ihr ein ganz gemeines Schimpfwort ins Gesicht schleuderte, lachte sie kurz auf —
„Prolet!” Und das sagte sie mit so unnachahmlicher Verachtung, daß Sally-Erich zur Besinnung kam. Rea hatte den Salon bereits verlassen. Jetzt wurde es dort stiller; jetzt begann Sally-Erich die Sachlage vom Geldstandpunkt aus zu beleuchten. Er flüsterte nur noch. Er berechnete, wieviel Strafe der betrogene Steuerfiskus einziehen würde. Dann erklärte er, indem er die Familiennase betupfte: „Wir sind schwerreich gewesen; wir sind es noch. Die Behörden können uns —! Die vier besten Verstecke hat die Bande doch nicht gefunden ——!”
Nachher verteilte er an die Dienstboten Schweigegeld. Sie sollten die Sache nicht in der Nachbarschaft herumtratschen. Jeder bekam 500 Mark, auch Reschke. Dessen Kündigung wurde abermals zurückgezogen.
Else war in ihre Zimmer hinaufgegangen. Neben Ihrem Schlafzimmer hatte sie sich einen entzückenden Salon eingerichtet. Sie saß im Dunkeln am Fenster, überdachte ihr Leben, vergegenwärtigte sich die Szenen vorhin —
Ein unendlicher Ekel stieg in ihr hoch; ein Widerwille gegen alles, was sie hier umgab, der ihr die Kehle zupreßte. — Sie dachte an anderes — An die heimlichen Stunden in Heriberts Offiziersbude; wie sie dort im Zusammensein mit ihm so allmählich gefühlt hatte, daß sie sich innerlich von den Ihren loszulösen begann —
Es klopfte kurz. Sally-Erich trat ein. Er setzte sich. Er begann — von seinen Racheplänen gegen Palcherings zu sprechen — Else schwieg. Als er sie dann fragte, ob sie ihm helfen wolle, erwiderte sie leise:
„Helfen?! Nein! Aber einen guten Rat will ich Dir geben. Ich habe seinerzeit Heribert nur einmal gesehen und verliebte mich in ihn. Diese Liebe blieb von Bestand. — Bei Dir ist es, was die Liebe auf den ersten Blick anbetrifft, ebenso. Wir Pacheles sind zäh. Auch in unseren Gefühlen. Bilde Dir nicht ein, diese Liebe durch Haß töten zu können. Sie wird weiter in Dir wühlen, sie wird die Qual Deiner Tage und Nächte werden. Ich kenne das, Sally. Ich weiß, was Sehnsucht heißt. Dieses Sehnen wird Dir das Mark aus den Knochen saugen. Und eines Tages wirst Du —” Sie dachte den Satz nur zu Ende, fuhr schnell fort: „Übrigens habe ich Heribert bereits gefunden. Er — er saß ebenfalls im Adlon. Du brauchst Dich also nicht mehr zu bemühen —”
Sally-Erich verhielt sich völlig regungslos.
„Sally!” sagte Else leise —
Es war ganz dunkel im Zimmer. Sie glaubte etwas wie ein Schluchzen zu hören. Dann ging der Bruder wortlos hinaus —
Zwei Tage später machte der Oberleutnant a. D. von und zu Mitzelitz bei Pachalys Besuch. Rea hatte die Eltern und Sally schon vorbereitet. — Sally-Erich empfing ihn, weihte ihn in die etwas zur Eile mahnenden „Umstände” ein. — Mitzelitz erklärte, er sei kein Lump; er würde Rea ein guter Gatte sein. Er hatte etwas in seinem ganzen Wesen, das für ihn einnahm. — So wurde denn Verlobung gefeiert und diese in allen Berliner Zeitungen veröffentlicht.
Vier Wochen darauf war die Hochzeit — im allerengsten Familienkreise, mit Haustrauung. Der Geistliche wurde zum Hochzeitsessen eingeladen, lehnte aber dankend ab. Der Diener, der bei der Tafel servierte, betrank sich sträflich. Als Sally-Erich ihn im Flur anschnauzte, grinste er und meinte: „Soll ich vielleicht nochmals die Kriminalpolizei holen?”
Sally-Erich hätte sich das früher nicht bieten lassen. Er war aber nicht mehr der alte Sally-Erich. Er sah wie ein Kranker aus. Er lebte ganz für sich, schriftstellerte, ging nur abends spazieren. Er verbrauchte Schlafmittel in Massen; er fühlte, daß Else recht behielt: Erika Palchering würde er nie vergessen!
Bei der Hochzeitstafel trank er nachher geradezu unmäßig Sekt. Das junge Paar verabschiedete sich. Er blieb sitzen, ganz stumpfsinnig. Er wunderte sich, daß er nicht betrunken wurde. — Tatte Sigurd, seit dem großen Krach ein gebrochener Mann, leistete ihm Gesellschaft. Es war ein seltsames Hochzeitsfest —
Frau Laura war in ihrem Sessel längst eingeschlafen und schnarchte. Else war in ihren Salon hinaufgegangen. Vater und Sohn sprachen kein Wort. Dann stand Sally-Erich auf, sagte lallend:
„Am besten ist, man — hängt sich auf —” Torkelnd schwankte er hinaus.
In Sigurd Pacheles alkoholgetränktem Hirn bohrte seit langem nur ein Gedanke, eine Frage: „Warst Du nicht in Konitz glücklicher?” — Und — heute zum ersten Male sehnte er sich nach Konitz zurück — Dann kam ihm zum Bewußtsein, was Sally mit so seltsamer Betonung gesagt hatte: „— man hängt sich auf —” — Jähe Angst erfaßte ihn. Auch er erhob sich, tastete sich die Treppen hinab in des Sohnes Wohnung —
In Sallys Arbeitszimmer brannte die Krone. Unter der Krone lag ein umgestürzter Stuhl. Und an der Krone hing Sally-Erich —
Sigurd Pacheles brüllte auf — Ein Schwindel faßte ihn; er schlug lang hin —
Der Arzt konnte bei Sally nur noch den bereits eingetretenen Tod und bei dem Vater einen Schlaganfall konstatieren. —
Acht Tage darauf erschien in den Zeitungen eine Notiz, daß der Hauptmann a. D. von Goschner durch den Spruch eines Ehrengerichts seiner Kameraden —
So weit las Else nur. Dann fuhr sie zu Goschners.
Heribert war daheim. Er zog Else wortlos an sich —
Dann nahm auch Frau von Goschner Else in die Arme, küßte sie —
„Mein Kind, mein Kind —! Wie mußt Du ihn geliebt haben — noch lieben —!”
All das war so schlicht, so aus tiefstem Gefühl heraus — Es war eben das Glück —
Heribert Goschner ist jetzt in einer Annoncenexpedition beschäftigt. Seine Frau hat von daheim nicht einmal eine Aussteuer angenommen. Trotzdem verkehren die „armen” Goschners viel in der Tiergartenvilla, aus der an warmen Tagen ein Rollstuhl mit Sigurd Pachaly darin von einem Diener hinausgeschoben wird. — Auch bei Palcherings geht das junge Ehepaar ein und aus. Erika ist auf dem besten Wege, eine zweite Anny Wothe zu werden. Margot ist verlobt —
Wenn Sigurd mit seiner Frau bei schönem Weiter auf dem Balkon sitzt, dann sprechen sie oft ganz leise von — Konitz, von den Hosen und Hemden an den Türpfosten und von dem Scheinglück des Reichtums.
Tatte Sigurd ist Philosoph geworden. Und Philosophen hängen nicht am Gelde — Er — hat es verachten gelernt; er fühlt, daß das Schicksal mächtiger gewesen ist als er. Seine Millionen geben ihm die Gesundheit nicht wieder —
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