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Das Loch im Strumpf

 

Das Loch im Strumpf

Sittenroman

von

Ulrike Docht1

 

Verlag moderner Lektüre

— — — — — G.m.b.H. — — — — —

Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

 

Nachdruck verboten. — Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. —

Copyright 1928 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO. 16.

 

 

Druck: P. Lehmann G m. b. H., Berlin SO. 16.

 

 

Mein Tagebuch.

15. April 1920.

Berlin-Schöneberg, am Stadtpark Nr…

Ich habe keine Ahnung, wie man ein Tagebuch schreibt. Aber ich muß eins schreiben. Mutti hat mir gestern zu meinem achtzehnten Geburtstag ein verschließbares Tagebuch geschenkt und gesagt:

„So, Ulla, — alle jungen Mädchen führen ein Tagebuch. Den Schlüssel kannst Du stets auf dem Herzen tragen an einem Bändchen. Dann ruht der Schlüssel zu Deinen kleinen Geheimnissen dort, wo ihn niemand findet.”

Nun — Mama hat gut reden! Nicht finden! Wo jetzt die halsfreien Blusen modern sind. Dann sieht doch jeder das Band, und ich glaube beinahe, der Erwin wäre frech genug, mal an dem Bändchen zu zupfen.

Der ist überhaupt ungeheuer frech. Aber süß-frech. Nie unfein. Er weiß stets die richtige Grenze einzuhalten, — die, wo der Scherz aufhört und die sogenannte Zudringlichkeit oder Handgreiflichkeit anfängt.

Wer Erwin ist? — Mein Kollege! Und zwar mein Kontorkollege bei der Firma Hengst & Komp., Generalvertretungen in Seife, Margarine, Schmieröl und Toilettenpapier.

Ich bin erst vierzehn Tage bei den „Gäulen”, wie Erwin die Firma stets unter uns nennt, Und wir sind oft unter uns. Die beiden Chefs reisen viel. Wohin, wissen nur sie —

Hengst ist nämlich ein männliches Pferd, das aber genau so aussieht, wie weibliche. Wenigstens habe ich noch keinen Unterschied entdeckt. — Daher eben sagt Erwin auch „die Gäule”, Sie heißen richtig Otto Hengst und Gustav Meyer.

Hengst ist nicht verheiratet. Meyer sehr. Er hat eine Frau, die mindestens zwei Zentner wiegt und die Erwin immer den „Stinktopf” nennt. Er „nennt” eben alles. Mich immer „Fräulein Lampendocht”, — wenn wir unter uns sind —

Ich glaube, wenn Hengst auch verheiratet gewesen wäre, hätte ich diese Stelle als Buchhalterin nie bekommen. Denn es waren am 28. März noch 122 Bewerberinnen außer mir bei den Gäulen. Aber Hengst schickte sie alle weg, nachdem er mich kaum erkannt hatte.

Wer jemand erkennt, hat den Jemand schon mal gesehen — klar!

Hengst hatte aber zuerst mein Löchlein gesehen, das ich im Strumpf auf der rechten Wade hatte, als ich in den Anlagen des Lützowplatzes wartend am 28. März auf und ab ging.

Ich hatte von dem Loch keine Ahnung. Wahrscheinlich habe ich es mir in der Straßenbahn eingerissen. Mit Löchern in den Strümpfen wandele ich nie umher, denn ich bin leidlich ordnungsliebend. Das ist mir wohl angeboren. Mutti hatte ja auch in Thorn ein Pensionat für höhere Töchter. Aber nicht alle hat sie zur Ordnungsliebe erziehen können. — Dann mußten wir fort von Thorn, weil es polnisch wurde. Und nun haben wir nur Muttis kleine Pension, meinen Verdienst als Buchalterin, eine Dreizimmerwohnung im Gartenhause am Schöneberger Stadtpark, einen möblierten Herrn und unseren Dackel namens Strupp, der sehr viel frißt und sehr viel Hundesteuer kostet und nichts verdient. Strupp ist überhaupt bei all seiner Schläue viel unsolider als unser Möblierter, der Schriftsteller Joachim Albert Eduard Longreen. Seine Familie war nämlich mal englisch — ganz früher. Wenn Longreen dies lesen würde, sagte er bestimmt Schund. Denn alles, was andere schreiben, ist bei ihm Schund. Sonst ist er ein netter Mensch, während Strupp sich immer herumtreibt, wenn er nur irgendwie entwischen kann.

Wer weiß, wo Strupp dann umherlungert. Einmal traf ich ihn auf der Straße mit fünfzehn anderen Hunden zusammen, die offenbar Greifen spielten. Einer rannte voran, und die anderen hinterdrein. Es sah sehr ulkig aus. Als ich es im Kontor schilderte, sagte Hengst leise:

„Hundehochzeit!”

Worauf Meyer, der andere Gaul, eine Grimasse schnitt und Erwin ein Stück Papier schnell aufhob.

Bei der Hochzeit fahren ja auch viele Wagen hintereinander, aber ich finde den Vergleich trotzdem nicht recht passend.

Hengst macht überhaupt komische Witze.

Ach so — ich habe ja noch das Loch zu erledigen —

Die Sache war also so —

Ich sollte mich auf mein Bewerbungsschreiben hin um zehn Uhr vormittags am 28. März bei den Gäulen in ihrem Kontor am Lützowplatz vorstellen.

Ich hatte nun schon ein halbes Jahr lang umsonst versucht, eine Stellung zu bekommen. Diesmal war ich sehr früh dort, um ja die erste zu sein. Schon vor neun Uhr. Als ich dann in den Anlagen auf und ab schlenderte, rief mir mit einem Male jemand von Hinten zu;

„Gnädigste — entzückend!”

Und als ich mich umdrehte, stand da ein älterer, sehr eleganter Herr mit grauem Spitzbart, hatte ein Fernglas vor den Augen und das gelbe Etui am Riemen über der Schulter und guckte nach meinen Beinen.

Na ja, — ich finde, ich habe ganz hübsche Beine. Und meinetwegen können die kurzen Backfischröcke noch modern bleiben, bis ich Großmutter bin. Großmutter werden, ist ja der wahre Beruf der Frau, habe ich mal irgendwo gelesen.

Ich meßtete den Herrn von oben bis unten —

Nein — das ist falsch. Von „messtete” heißt die Vergangenheit „ich maß”.

Ich maß ihn also sehr hoheitsvoll und ging weiter.

Ahnungslos ging ich, und hörte wieder:

„Entzückend — dieses Florstrümpfchen mit dem Löchlein — entzückend!”

Na — da war ich nicht mehr ahnungslos —

Drehte mich wie ein Korkenzieher um mich selbst und sah die Bescherung.

Der alte Meergreis hatte recht: es war ein Loch da — und nicht zu klein!

Ich schämte mich furchtbar. Denn ich habe sehr zarte, weiße Haut, und die grinste so recht deutlich durch die Öffnung —

Was ich nun tat?— Ich rannte in einen Seitenweg hinein, nahm eine Sicherheitsnadel, eine schwarze (aus dem Strumpfhalter, denn der war mir morgens gerissen und ich hatte nur noch Zeit, zwei Sicherheitsnadeln durchzupieken) und steckte das Loch zu — oder heißt es: ’stach das Loch zu?! — Ich werde gelegentlich mal den Möblierten fragen.

Nun kommt das Schönste: der alte Meergreis hatte mich wieder beobachtet, hatte also auch gesehen, wo ich die Nadel hervorholte.

Manchmal plagt mich der Übermut. Außerdem war ich wütend. Ich machte also dem Meergreis einen ironischen Hofknix, wobei ich wie bei der Gavotte den Rock mit den Fingerspitzen breitzog.

Und er?! — Er klatschte Beifall und — kam auf mich zu —

Natürlich riß ich aus. Und da der Meergreis statt der Beine steife Knüppel in den Hosen zu haben schien, gelang das Ausreißen auch —

Um halb zehn stand ich auf der Treppe zum Kontor der Gäule. Es war ein altes, düsteres Haus. Das Kontor lag im dritten Stock.

Aber — es waren schon zehn andere Bewerberinnen da, und es kamen immer noch mehr.

Ich war ganz verzweifelt. Mutti hatte gesagt, wenn es diesmal wieder nichts würde, müßte Strupp verkauft werden. Und ich liebe Strupp doch so, wenn er sich auch rumtreibt.

Um zehn öffnete ein jüngerer Herr die große Tür, schaute uns alle an, schrie: „Alle guten Geister!” und schlug die Tür wieder zu.

Nach zehn Minuten ging die Tür von neuem auf. Ich stand in der vierten Reihe, machte mich ganz groß —

Ach — ich machte mich schnell wieder klein —

Denn — der Meergreis vom Lützowplatz war’s, der uns jetzt musterte —

Er hatte mich jedoch schon bemerkt, trat näher, fragte:

„Wie heißen Sie doch, Fräulein?”

„Ulla Docht —”

„Ganz recht — Ulla Docht! — Meine Damen,” wandte er sich an die anderen, „ich habe Fräulein Docht schon gestern so gut wie fest engagiert. Es tut mir leid — die Stelle ist also besetzt!”

„Na — lüg’ Du und noch einer!” dachte ich. Aber ich war trotzdem quietschvergnügt, folgte dem Meergreis durch das Kontor in das Zimmer der beiden Chefs, wurde hier Herrn Meyer vorgestellt, der klein und dick ist, und hörte nun auch den Namen des Meergreises: Hengst!

Denn Meyer hatte mich über den Kneifer und die Ablegernase (sie hat zwei große Wulste wie Höcker) eine Weile besehen und murmelte dann:

„Hengst — mach’ mir hier ins Jeschäft keene Zicken!”

Inhaltlich verstand ich dies nicht recht.

Jedenfalls — der Meergreis hieß Hengst.

Er war sehr nett zu mir, streichelte mir väterlich den Arm, wenn Meyer nicht hinsah, schielte immer nach meinen Beinen und wollte wohl feststellen, wie ich das Loch so fix zugekriegt hätte.

Dann bewilligte er mir sechshundert Mark Gehalt, führte mich nebenan ins Kontor, wo der junge Herr allein arbeitete, der vorhin „alle guten Geister!” gerufen hatte.

So lernte ich Erwin kennen.

Hengst sagte: „Herr Sperling, dies ist Ihre neue Hilfskraft, Fräulein Docht. Sie werden sie jetzt gleich so etwas in ihre Obliegenheiten einweihen. Aber, Herr Sperling —” — und da riß er die Augen auf, als ob er Erwin schlucken wollte — „aber ich bitte mir aus, daß — das Haus rein bleibt — bis ins Kleinste! Sie verstehen mich! Sonst —”

Worauf dieser Sperling lächelte und sagte:

„Für das Reinhalten des Kontors ist Frau Krawutzke da, Herr Hengst, Fräulein Docht braucht sich darum nicht zu sorgen.”

Worauf Hengst wie ein Walroß pustete und wie ein Kater fauchte:

„Lassen Sie Frau Krawutzke aus ’n Spiel, Sie —!”

Dann machte er kehrt und ballerte die Tür hinter sich zu.

Erwin aber reichte mir die Hand und meinte:

„Auf gute Zusammenarbeit, Fräulein Docht!”

Er hatte so treue, gute, braune Augen, daß ich mich gleich zu ihm hingezogen fühlte.

Das heißt: hingezogen klingt zu vertraulich. So meine ich das nicht. Ich meine: er war mir sympathisch.

Wie er aussieht? — Er ist einen halben Kopf größer als ich, achtundzwanzig Jahre alt, schlank, dunkelblond, hat kleines, kurzes Zahnbürstenschnurrbärtchen, ist etwas blaß, das Gesicht auch sehr mager, trägt Scheitel und im Kontor geflickte Hosen. Seine Mutter ist nämlich ebenfalls Witwe und hat noch weniger wie wir, nicht mal einen Dackel und einen Möblierten, denn sie haben nur zwei Zimmer und Küche im Gartenhaus in der Kantstraße in Charlottenburg —

Erwin ist soweit ganz nett. Aber er ist zu frech, auch zu den Gäulen, besonders zu Hengst, da Meyer überhaupt nicht viel redet. Der hat nämlich stets eine Zigarre im Munde. Ohne Zigarre ist er nie. Ob er auch mit Zigarre ißt, weiß ich nicht, denn er frühstückt stets nebenan in der Kneipe, wo ich nicht hingehe —

Die Firma hat nur drei Räume. In der Mitte sitzen Erwin und ich uns gegenüber. Aber die Schreibtische haben hohe Aufsätze, und wir sehen uns nicht, wenn wir sitzen, nur wenn wir um die Ecke gucken. Und das geschieht oft.

Rechts von uns liegt das „Lager” mit den Warenproben, links das Zimmer der Chefs. Die Firma ist erst ein Jahr alt. Erwin behauptet, die Gäule hätten schon im Kriege „geschoben” und schöben jetzt noch mehr.

Erst wußte ich nicht, was dieses „Schieben” ist. Kegelschieben kenne ich. Von „Schiebewalzer” las ich mal in einem Berliner Roman, den Mutti mir aber wegnahm, weil er zu unmoralisch war. Weshalb unmoralisch, begriff ich nicht. Ich war erst siebzehn, und nun bin ich klüger. Der Roman hieß nämlich „Die Dreieckehe”, und darin kam immer ein Herr zu der Frau Bankdirektor, der angeblich Masseur war, aber in Wirklichkeit ein rumänischer Fürst, der nachher der armen Dame alle Brillanten stahl und nur August Schmalzhirn hieß und ein Hochstapler mit einer Frau, acht Kindern und neun Jahren Vorstrafen war. Jedenfalls war es sehr interessant, besonders da der Bankdirektor immer gerade ausging, bevor der Masseur kam, was sehr ulkig wirkte. Mutti hatte ganz recht: ein Hochstapler ist unmoralisch, und ein Masseur, der Damen massiert, auch —

In den ersten vierzehn Tagen ist bei den Gäulen nichts passiert. Ich tippe Maschine und bediene das Telephon, schwatze mit Erwin und nenne ihn manchmal Spätzchen und gehe nicht mehr gern zu den Gäulen ins Zimmer, wenn nur Hengst drin ist, denn Hengst will mich immer bereden, Mutti mal zu beschwindeln und nicht ins Kino, sondern mit ihm anderswohin zu gehen. Aber die Pralinees, die er mir schenkt, nehme ich doch, obwohl Mutti letztens meinte, ich solle sie ablehnen, und auch Erwin mich immer so böse anschaut, wenn ich was Süßes knabbere.

Ich glaube, er ist eifersüchtig auf Hengst. Ich finde das zum Totschießen komisch! Erwin ist mir genau so schnuppe wie Hengst. Ich heirate nur mit Romantik, so wie in den Romanen in der „Hausfrau”, wo immer alle gegen die Heirat sind, er ein Prinz, Graf oder hoher Beamter und sie gar nichts ist und noch weniger hat. Das nennt man Romantik, besonders wenn es dann noch brennt und er sie halb erstickt aus dem Bett holt, in sein eigenes legt und gesund pflegt —

Nein — bei den Gäulen passiert nichts. Nur Frau Krawutzke kann mich nicht leiden, die Reinmachefrau. Sie ist noch jung, und wenn sie abends um sechs kommt, geht sie immer gleich zu den Chefs, — das heißt wenn Hengst allein ist. Dort fängt sie mit der Arbeit an. Und dann darf sie niemand stören. Erwin sagte mir, ich solle dann auf keinen Fall noch anklopfen. Die Krawutzke sei nervös. Meist kommt sie auch erst nach sechs, wenn Erwin und ich schon aufbrechen —

Übrigens habe ich auch Erwins Mutter kennen gelernt. Wir sind Leidensgefährten. Sie und Erwin wohnten in Bromberg, und Erwin hatte dort eine sehr gute Stelle bei seinem Onkel als Buchalter. Frau Sperling hat mir sehr gefallen. Sie kam mal ins Geschäft. Da sah ich sie. Mutti will sie mal einladen —

So, nun will ich für heute schließen. — Ich wohne hier bei uns im Mädchenzimmer, das ganz geräumig ist. So habe ich doch mein eigenes, kleines Reich für mich.

Joachim Longreen ist soeben nach Hause gekommen. Er schreibt jetzt einen Roman „Großstadtsumpf”. Manchmal lese ich so etwas in dem Manuskript, wenn er die Seiten auf dem Schreibtisch liegen läßt. Aber vieles davon verstehe ich nicht. Oder besser: ich kann mir gar nicht denken, daß es solche Mädchen und Frauen; geben kann! Er schildert alles so sehr frei. Ich werde oft rot. So dumm bin ich doch nicht mehr. Nur — ich begreife all das gar nicht! Das ist doch keine Liebe; das ist so, — so —, nein, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll —

Nun aber endgültig Schluß. Mir fallen schon die Augen zu. Außerdem habe ich fast nichts mehr an — Wenn Erwin mich so sähe, er würde sich totlachen —

*

*     *

 

 

20. April.

Ich habe nie geglaubt, daß man in fünf Tagen so unheimlich viel klüger an Lebensweisheit werden kann. Aber es ist so. Ich befolge eben Erwins Rat, der mir am 17. April vormittags sagte:

„Fräulein Ulla, Sie müssen unbedingt allmählich Ihr Lämmchenfell abstreifen und Großstädterin mit offenen Augen werden. Sie sind entzückend in Ihrer Harmlosigkeit. Man findet so etwas nicht so leicht wieder. Aber Ihre köstliche, echte Naivität und Herzenzreinheit birgt auch schwere Gefahren in sich. Sie müssen die Welt und die Menschen so zu nehmen verstehen, wie sie sind, — eben hundsmiserabel, Fräulein Ulla!”

Mich hatten diese Worte sehr ernst gestimmt. Wenn Erwin mich „Fräulein Ulla” nennt, meint er es bestimmt gut mit mir. Sagt er „Lampendochtchen”, dann darf man ihm nicht recht trauen. Manchmal spottet er gern. Aber sein Spott ist nie verletzend.

Ich habe mir seine Worte gut eingeprägt. Und ich hielt nun die Augen besser offen.

Übrigens hatte Erwins ernste Mahnung einen bestimmten Grund. Der Chefhengst hatte mir nämlich gleich morgens wieder einen Karton Pralinees und eine Parkettkarte zum Theater des Westens geschenkt, für die er keine Verwendung hatte — sagte er.

Als ich ganz selig Erwin die Karte zeigte, machte er ein unglaubliches Gesicht. Seine braunen Augen können einen Ausdruck annehmen — einfach zum Graulichwerden. Dann murmelte er etwas vor sich hin. Es klang so wie „Warte, Satan!” Aber ich kann mich auch verhört haben. Und dann kam das, was ich vorhin schon niedergeschrieben habe, eben die Geschichte vom „Lämmchenfell abstreifen”.

An demselben Tage wurde ich denn auch wirklich gleich etwas klüger.

Ich weiß nicht, an unseren Telephonapparaten muß irgend was nicht in Ordnung sein. Wenn ich zum Beispiel den Hörer meines Apparats von der Gabel nehme, die Gabel aber dabei herunterdrücke, und wenn Hengst und Meyer sich in ihrem Zimmer hinter der gepolsterten Doppeltür, die keine Silbe durchläßt, sehr laut unterhalten, — und sie schreien meist, als wären sie taub —, dann verstehe ich so ziemlich jedes Wort. Technisch ist das vom Telephonstandpunkt aus unmöglich. Und doch ist es so.

Ich hatte diese Entdeckung schon vorgestern, das heißt also am 14. April gemacht, denn ich hole jetzt ja hier meine Erlebnisse vom 16. ab nach.

Um elf Uhr kam Meyer krebsrot und sehr aufgeregt ins Geschäft, schmiß die Polstertür hinter sich zu und — ja, — das Horchen ist unfein und häßlich, aber ich war doch nun mal so schrecklich neugierig, weshalb der Meyergaul so in Ekstase wäre —

Kurz: ich lauschte per Telephon —

„Sie fallen — sie fallen!” brüllte Meyer.

Und ich hörte den Chefhengst gelassen erwidern:

„Nu — wenn schon! Sie steigen wieder —

Es Handelte sich offenbar um Papiere, um Spekulationswerte.

„Hundertzwanzig seit gestern,” brüllte Meyer wieder —

„Wart ab, Justav — Der Lehrling von Krandelsohn & Co. is zuverlässig. — Alles Mache —!”

„Gelacht! Zuverlässig!! So ein, sechzehnjähriger Bengel —!”

„Du hast ’ne Ahnung! Bengel! Ausjekocht is der Schnigotzke wie ’n — wie ’n oller Börsenjobber — Justav, sei vernünftig. Der Bengel hat Schneid. Durch die Ventilationsklappe hört er vom Klosett aus jedes Tönchen, was der Krandelsohn mit den anderen Kanonen hinter verschlossenen Türen bedibbert. Stundenlang sitzt der kleene Patentfatzke da. War der Tip mit Weser und Louisenhütte nicht gut? Haben wir nicht an —”

In diesem Augenblick mußte ich den Hörer schnell weglegen, da Erwin aufgestanden war —

Nachmittags von eins bis drei haben wir Tischzeit. Aber einer der Chefs bleibt immer da. Als ich um drei Uhr wieder erschien, saß Erwin schon an seinem Platz. Er war sehr niedergeschlagen. Ich sah es ihm gleich an. Seine Mutter kränkelte, und er hat doch nicht das Geld, sie gut zu verpflegen. Die Gäule bezahlen ihn schäbig für das, was er leistet. Tausend Mark kriegt er nur, und Weihnachten 500 Mark Gratifikation. Die Gäule sind gräßlich genau, was die Gehälter anbetrifft. Nur der Chefhengst macht mir hin und wieder eine „süße” Freude. Er ist überhaupt sehr väterlich—fürsorglich. Das heißt — dies trifft nur bis zum 18. April zu —

Ich will das alles aber der Reihe nach schildern.

Erwin war sehr trübe gestimmt und ging unruhig hin und her, redete allerlei und redete sich schließlich in eine große Wut gegen die Gäule hinein.

„Wenn ich der Bande nur hinter ihre Schliche käme!” sagte er so mehr zu sich selbst. „Aber die Schufte sind schlau — Tausende könnte man verdienen — Tausende! Und muß jetzt Margarine fressen und zusehen, wie die arme, alte Frau immer elender wird —”

Die Gäule waren noch nicht da und Erwin schimpfte weiter —

„Dabei darf man nicht mal um Zulage bitten — Sonst fliegt man. Sie kriegen ja sofort Ersatz für mich —”

Er blieb vor meinem Tische stehen.

„Fräulein Ulla — Sie können es mir glauben: die beiden scheffeln Millionen zusammen! Die Schieberei in Waren haben sie eingestellt. Sie spekulieren jetzt — Aber — woher kriegen sie die Tips — woher?! Ach, kleine Ulla, wenn wir —”

Da schwieg er und setzte sich schnell an seinen Tisch. Zum Glück knarren nämlich draußen die Treppenstufen so laut, daß man immer merkt, wenn jemand kommt.

Es war Otto Hengstchef, der kam.

„Mahlzeit, Herrschaften,” begrüßte er uns. Er ist stets — scheinbar — sehr gemütlich.

Meyer ist nie gemütlich. Trotz der Zigarre. Allerdings — mit d e r Frau! Und eine Tochter hat er auch. Die ist jetzt häufiger im Geschäft. Sie hat Glotzaugen und einen Affenpintscher, außerdem sehr schicke Kleider und noch mehr Brillanten als die Mutter, deren Finger zu kurz für viele Ringe sind. Auf meine gingen mindestens zehn herauf. Erwin behauptet, ich habe eine klassisch schöne Hand. Mag sein —

Um sechs kam die Krawutzke. Wieder in einer neuen Bluse. Sie sieht wie eine Dame aus. Nur hat sie einen zu tiefen Alt und zu große Füße. Ich habe bisher nicht recht begreifen können, daß sie Reinmachefrau spielen muß, Bisher —

Wir hatten noch zu arbeiten. Margarine geht jetzt großartig und auch das Toilettenpapier macht sich.

Und — ich konnte nun der Versuchung nicht widerstehen und wollte doch mal feststellen, was die Krawutzke mit dem Chefhengst wohl so sprach, wenn sie allein waren. Sie tut ja immer so, als ob sie hier die Chefeuse wäre. Sie hat einen genau so großen Mund wie üppigen Busen. Nein — so stark in der Brust möchte ich nicht sein. Das sieht unfein aus. Bei den Spreewälderinnen, die immer die Babys spazieren fahren, gehört das mit zum Beruf. Mutti sagt auch, daß Ammen eine segensreiche Erfindung sind. Aber ich würde mich dazu nicht eignen, wenn ich auch kleine Kinder einfach süß finde, falls sie nicht riechen.

Ich habe also wieder gehorcht — per Telephon. Ich tue es aber nie wieder nach sechs Uhr. Zum Glück wird ja niemand dieses Buch jemals lesen. Tagebücher sind nicht öffentlich. Und was nicht öffentlich ist, nennt man intim. Ich kann also frei von der Leber weg reden.

Die Krawutzke sprach erst leise, dann lauter. Und da verstand ich manches —

„Du — Du, und son junges Gemüse! Du oller Zitterrochen! Wo Du man grade so mit knapper Not durch —”

Nun kamen medizinische Erörterungen, die ich nicht recht begriff. Ich begreife ja überhaupt vieles nicht. Doch — daß die Krawutzke den Chefhengst mit „Du” anredete, war doch einmal ein recht starkes Stück, und dann war es auch der Beweis, daß sie sich sehr lange kennen müssen.

Es kam noch schlimmer.

Sie wurde immer erregter —

„Wenn ich merke, daß Du mit die Marjell anbandelst, Otto, dann schlägt’s dreizehn — das sag’ ich Dir! Dann fliegt die Kleene! Denk’ man nicht, daß ich mir so einfach wejschubsen lasse —”

Sie wurde gräßlich gewöhnlich. Und dann fiel ihrerseits eine Bemerkung, die mir das Lämmchenfell ein Stück abstreifte —

Ich wurde knallrot und legte den Hörer schnell weg —

Wenn das Erwin gehört hätte! Ich wäre einfach weggelaufen! Aber er hat ja kein Telephon auf dem Schreibtisch. Hengst hat ausdrücklich mir das Telephon übertragen. Ich glaube, er fürchtet Erwin so etwas. Der ist ihm zu schlau. Na — ich werde jetzt auch langsam klüger. Was die Krawutzke und den Chefhengst angeht, sind mir die Augen schon aufgegangen. Pfui — ist das gemein! Ich ärgerte mich beinahe schon, daß ich das Billett für das Theater angenommen habe — von so einem! Und die Krawutzke ist eine verheiratete Frau! Wenn sich der Mann auch in der Säuferheilanstalt aufhält, wie Erwin mir erzählte. Es sind schreckliche Zustände, Longreen schildert in seinem Roman die Großstadt ganz richtig. Das ist ein scheußlicher Sumpf. Ich beginne zu ahnen, daß das Leben und die Liebe doch ganz anders sind, wie in den Romanen der „Hausfrau” —

Mutti war über das Theaterbillet gar nicht erfreut und meinte seufzend: „Es ist ja nur, weil sie Dich sonst vielleicht entlassen. Sonst duldete ich das nicht — auf keinen Fall! Ein Trost bei alledem ist, daß Du so zuverlässig bist. Komm’ nur gleich heim, Ulla, wenn die Operette vorüber ist.”

Ich lachte: „Mutti — um noch soupieren zu gehen, dazu fehlt mir das Geld,” — und gab ihr einen Kuß —

Nach dem zweiten Akt war die große Pause. Ich wollte doch mal sehen, wie so ein Theaterfoyer aussieht. Und — als ich den Zuschauerraum verließ, — wer stand da und wartete: der Chefhengst im Smoking! — Tipp topp sah er aus — beinahe vornehm! Tatsache! — Und er benahm sich dann auch sehr nett. Wir setzten uns in eine Ecke an ein Tischchen; er bestellte Portwein und sündhaft teuren Hummersalat.

Gewiß — er war mir seit nachmittag ziemlich widerwärtig. Ich vergaß das aber schnell. Ich habe immer Hunger, und die Operettenmusik hatte mich so heiter gestimmt.

Nur als er durchaus haben wollte, ich solle mit ihm sofort in ein Weinrestaurant fahren und mir die letzten Akte schenken, — da ging mir ein Licht auf! Ich glaube, gestern wäre ich noch dumm genug gewesen, ihm nachzugeben. Doch das Lämmchenfell ist eben schon wieder ein Stückchen weiter abgerutscht —

Ich sagte, das ginge nicht. So was täte ich nicht. Das würde Mutti nicht fein finden. Mutti hätte doch ein Töchterpensionat gehabt und wüßte genau, was schicklich und unschicklich wäre.

Da kam auch schon ein anderer Herr an unseren Tisch, beglotzte mich frech durchs Monokel und meinte:

„Ja, Otto, — frische Ware?”

„Nee, — die Margarine is noch nich fällig,” sagte der Chefhengst kurz. „Verdufte, Emil —”

Ich mußte dann noch ein Glas Portwein trinken. Und er bat immer wieder. Ich blieb aber fest. Ich hatte ihn jedoch durchschaut. In Longreens Roman wird auch ein junges Mädchen in ein Weinrestaurant gelockt, und dann wacht sie morgens in Belgien auf, hat seidene Wäsche an und entflieht mit Hilfe eines edlen Retters, der nachher doch ein Schuft war und sie in seine Villa gebracht hatte. Bei Longreen sind alle reichen Leute Schufte.

Der Chefhengst sagte dann, er würde mich im Auto nach Hause bringen nach Schluß der Vorstellung.

Als ich aber in der Garderobe auf meine Sachen wartete, sah ich ihn mit der ganz aufgedonnerten Krawutzke hinter einem Pfeiler stehen. Nachher waren die beiden verschwunden. Ich wäre ruhig mit ihm Auto gefahren. Was hätte mir passieren können?! Ich bin nicht ängstlich.

Allerdings — an des Chefhengsts Väterlichkeit glaube ich jetzt nicht mehr! Ich werde mir auch nie wieder von ihm den Arm streicheln lassen, und wenn er fragt, ob ich nicht ein Löchlein im Strumpf hätte (ein paarmal bin ich darauf hineingefallen und habe mir die Waden beguckt), dann werde ich sagen: „Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Herr Hengst!” —

Ich fuhr mit der Untergrundbahn heim. Mir war doch etwas wirr im Kopf von der Musik und den zwei Gläsern Portwein.

Zu Hause machte Longreen sofort seine Tür auf und sagte mir, Erwin sei da gewesen; seiner Mutter ginge es sehr schlecht, er habe Mutti gebeten, bei der Kranken zu wachen, bis er um ein Uhr morgens frei wäre.

Offenbar hat Erwin also noch eine Beschäftigung abends, Davon hat er mir noch nie etwas mitgeteilt.

Longreen bat mich dann in sein Zimmer. Er bewohnt das größte mit dem Balkon, und er hat zum Teil seine eigenen Möbel.

Joachim Longreen ist viel ulkiger als Erwin und trägt immer Monokel. Er sieht so aus, wie die Lebemänner, die Koch-Gotha manchmal zeichnet, aber so mit einem Stich ins Durchgeistigte.

Er hat wundervolle Hände und am kleinen Finger zwei Brillantringe. Nach dem polizeilichen Anmeldezettel, den er bei uns beim Einzug ausfüllen mußte, ist er 31 Jahre alt, Manchmal sieht er älter, manchmal jünger aus. Er ist ganz ohne Schnurrbart, und der Scheitel hat schon mächtige Geheimratsecken.

Er hatte sich gerade Tee gekocht, und ich mußte eine Tasse trinken und Keks knabbern. Longreen hat so was Ruhiges, Abgeklärtes in seiner Art. Und doch ist er sehr komisch. Andere Leute sprechen das, was sie sagen wollen, doch meist ohne viele Geistreicheleien aus. Nur in den teuren Romanen von 15 Mark aufwärts reden die Menschen immer wie die Philosophen. Longreen redet stets witzig durch die Blume.

Nachdem wir Erwin seiner Mutter wegen ehrlich bedauert hatten — Longreen hat ihn heute erst kennen gelernt und findet ihn sehr nett —, mußte ich von der Operette erzählen. Als ich den Chefhengst erwähnte, den Hummersalat und das abgeschlagene — nein, das ausgeschlagene Souper, schaute Joachim mich mit ganz eigenem Lächeln an und meinte:

„Fräulein Ulla, das ist ein ziemlich gefährlicher Seiltanz für Sie —”

In seinen Augen war dabei so etwas Warmes, Streichelndes, Liebes, — beinahe so, wie Mutti mich manchmal anblickt.

Er saß in dem Klubsessel, ich in der Sofaecke. Neben uns brannte die Ständerlampe mit dem mattbunten Seidenschirm. Longreens Zimmer hat überhaupt so etwas Trauliches, Behagliches an sich. Man merkt gleich, daß man sich in dem Heim eines geistig bedeutenden Menschen befindet. Alles nur gute Gemälde, Kupferstiche, Kunstgegenstände. Nicht eine einzige Damenphotographie — merkwürdig!

„Seiltanz?” fragte ich nun. „Wie meinen Sie das?”

„Als Vergleich natürlich. Das Leben ist eine Tingeltangelbude; wir Menschen zum größeren Teil die Akrobaten, Klowns, Komiker, Soubretten und so weiter; zum kleineren Teil die Zuschauer —”

„Warten Sie!” rief ich. „Das muß ich erst verdauen.”

„Zu diesen wenigen Zuschauern gehöre auch ich. Es sind dies die Menschenverächter, die Wissenden. Wenn man eine große Phrase anwenden will: die Philosophen vom Schlage Nietsches, die an nichts mehr glauben. Ich allerdings glaube an etwas, und das macht mir Nietzsche fremd: an das Weib, an die Liebe!”

So hatte Longreen noch nie gesprochen. Ich kannte ihn kaum wieder.

„Sie sind Lebensakrobatin, Seiltänzerin, Ulla,” fuhr er seltsam ernst fort. „Sie halten sich vorläufig noch in der Banlance durch Ihre köstliche Reinheit, durch dieses echt weibliche, keusche Empfinden und durch Ihre ungekünstelte Naivität —”

Ähnlich hatte Erwin auch gesprochen, fiel mir ein.

„Die meisten Menschen sind Seiltänzer des Lebens, halten sich in der Schwebe, so lange ihre Balanzierstange auf der rechten, eigenen Seite noch genügend Gegengewicht gegen die Belastung durch des Daseins vielfache Fallstricke, Versuchungen und Widerwärtigkeiten besitzt. Gerade bei Ihnen, Ulla, wird diese Belastung auf der, linken Seite sich immer mehr steigern. Sie ahnen ja gar nicht, wie — wie gefährlich Sie die Männer machen können. Ihretwegen werden sie zu Intriganten, Lügnern, Schurken —”

„Das verstehe ich nicht, Herr Longreen,” warf ich verwirrt ein. Aber ich verstand ihn sehr gut. Oh — das Lämmchenfell rutscht immer weiter ab. Im Theater hatten mich die Herren, ob jung, ob alt, alle so merkwürdig angestarrt. Und auf der Straße, in der Elektrischen — überall merke ich dasselbe.

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ja genau, was an mir dran ist. Ich habe sehr lebhafte Augen, gewiß, — aber meiner Ansicht nach, sind sie stets wie von einem Schleier überzogen —

„Weil Sie zu hübsch sind, Ulla,” hatte Longreen weiter gesagt. „Zu pikant, — weil in Ihrem Blick etwas seltsam Lebenshungriges liegt, und weil dieser Blick, aus einer reinen Seele kommend, so oft falsch gedeutet wird — Deshalb sind Sie so gefährlich; deshalb wird der Seiltanz des Lebens für Sie schwieriger als für Tausende anderer Mädchen werden —”

Er hatte sich vorgebeugt und meine Linke zwischen seine tadellos gepflegten Hände genommen —

„Ulla, auch Ihre liebe Mutti ist zu gut für diese Welt, zu blind, zu sehr von dem Guten im Menschen überzeugt —”

Ich blickte ihn an. Und was ich nun in seinen Augen sah, war — heiße, werbende Zärtlichkeit —

Ja — in den Romanen der, Hausfrau habe ich oft solche Szenen geschildert gefunden. Und auch gelesen, daß die Stimme der Männer beben kann, wenn die heilige Liebe sie gepackt hat.

„Ulla, ich bin ein Suchender, ein Einsamer, — einer, der sich nach Glück sehnt,” fügte er noch leiser hinzu.

„Ulla, wir müssen gute Freunde werden, und später vielleicht —”

Da beugte er sich über meine Hand und küßte sie —

Komisch — der erste Handkuß —! Ich hätte nie gedacht, daß einem so wunderlich zu Mute wird, wenn Männerlippen unsere Haut berühren.

Ich hielt ganz still, stammelte nur:

„Aber — aber ich bin doch schon Ihre Freundin, Joachim — Mutti hat nichts dagegen, daß Sie mich manchmal Ulla nennen und ich Sie Joachim, Sie wohnen doch nun schon — ja — genau neun Monate bei uns. Und das ist eine lange Zeit.”

Er gab meine Hand frei, und ich hörte, wie er mit halb abgewandtem Kopf murmelte:

„Wie — wie köstlich, — eine Knospe, die noch nicht aufblühen will, weil —”

Das Weitere verstand ich nicht.

Dann hörten wir auch Mutti zurückkehren. Ich lief zur Tür, zog sie in Longreens Zimmer.

Sie mußte ebenfalls eine Tasse Tee trinken und erzählte, daß Frau Sperling an beiderseitiger Lungenentzündung erkrankt sei — wohl Grippe — sehr schwer —

Als ich Mutti in ihrem Schlafzimmer gute Nacht sagte und ihr berichtete, wie feierlich—ernst Longreen heute gewesen und wie er mir die Hand geküßt hatte, da gab Mutti mir einen Kuß und meinte so seltsam gerührt:

„Ulla — Ulla — ein so guter Mensch —”

Da hatte sie ganz recht: gut ist Longreen! Ich glaube, einen Schriftsteller, der so häuslich lebt, wie er, gibt es kaum noch. Er geht nur vormittags aus und bleibt dann bis gegen sieben Uhr abends weg. Wenigstens in letzter Zeit. Er macht Ausflüge. Er sieht auch so frisch aus, hat eine Haut wie — wie ein Matrose —

Ich ging dann ebenfalls zu Bett. Natürlich lag wieder Strupp unter dem Zudeck. Er versteht es großartig, sich mit der Schnauze vom Fußende wie ein Maulwurf durchzuwühlen. Im Winter ist er die beste Wärmflasche. Nur daß Wärmflaschen keine Flöhe absetzen. Strupp setzt welche ab. Und das stört. Wenn man dann halb im Einschlafen ist und plötzlich auf die kleinen Hüpfer Jagd machen muß, wird man ganz munter wieder.

Strupp liegt nachtsüber immer am Fußende des Bettes, falls er sich nicht gerade rumtreibt. Und morgens krabbelt er dann höher, und ich nehme ihn in den Arm wie ein süßes Baby und spiele mit ihm. Aber ein Baby wäre doch netter als Strupp, obwohl Mutti sagt, Strupp hätte vor Babys den Vorteil, daß er stubenrein ist. Und da hat Mutti wieder mal recht. Das Baby von unserer Portierfrau ist schon acht Monate alt und noch nicht stubenrein daher riecht es auch meistenteils —

So — nun ist dieser Tag erledigt, und es kommen die folgenden heran.

*     *

*

Wenn ich nur wüßte, wo ich anfangen soll. Es gibt ja so viel Stoff für das Tagebuch.

Zunächst Frau Sperling. — Es geht ihr etwas besser. Erwin hat sie am Tage nach ihrer Erkrankung in ein Lazarett gebracht. Wie sollte er sie auch pflegen und bedienen? Und Mutti hat doch mit unserer Wirtschaft so sehr viel zu tun, da sie mir doch noch meine Garderobe schneidert, selbst die Leibwäsche.

Erwin ist jetzt ganz verändert. Er muß im Krankenhause täglich 42 Mark für die zweite Station bezahlen. Er hat Geldsorgen. Seit gestern trägt er eine alte Nickeluhr ohne Kette, Seine goldene erscheint ihm jetzt wohl zu protzig in seinem Leid.

Ich bin sehr lieb zu ihm. Aber das hilft wenig. Er ist sogar merkwürdig ablehnend mit einem Male, sagt nur noch „Fräulein Docht” zu mir und schaut immer an mir vorbei. Er muß mir irgend etwas übel genommen haben. Er sagt jedoch nicht, was, obwohl ich ihn so gebeten habe, ehrlich zu sein. Nur eine ganz unverständliche Bemerkung machte er:

„Longreen ist ein famoser Mensch, und so reich! Er wird Ihnen ein — ein besserer Freund sein als ich —”

Ob das ironisch oder etwas gehässig klingen sollte, weiß ich nicht, Ich traue das Erwin auch nicht zu. Er wird wohl nur einen verborgenen Sinn haben hineinlegen wollen.

Jedenfalls ist es im Geschäft jetzt sehr trübselig. Das Horchen am Telephon habe ich aufgegeben. Was gehen mich die Spekulationen der Gäule an?! Gar nichts! Und die Krawutzke erst recht nichts. Und der Chefhengst noch weniger.

Als der mir wieder über die Hand streichen wollte und mit seinen Knien mir zu nahe kam, trat ich zurück und sagte sehr würdig:

„Herr Hengst, ich weiß jetzt Bescheid! Sie sind das linke Ende meiner Balanzierstange! Und nach meinen Waden brauchen Sie nicht zu sehen. Es gibt für Sie keine Löcher mehr — merken Sie sich das!”

Er runzelte die Stirn, lachte dann aber meckernd, holte aus dem Schreibtisch einen Karton Konfekt hervor und zwinkerte mich an —

Da drehte ich mich um; man soll der Versuchung besser nicht ins Gesicht sehen, wenn sie aus einem süßen Karton besteht. Und ich erklärte:

„Herr Hengst, auch das hängt an der linken Seite der Balanzierstange, wenn man’s ißt! Das Lammfellchen rutscht immer weiter. — Haben Sie noch Befehle, Herr Hengst?”

„Nein — verdrehtes, süßes Flick!”

Dann hatte ich die Polstertür schon geschlossen.

Und — wen fand ich im Hauptkontor neben Erwins Schreibtisch stehen: Olga Meyer! Des Chefmeyers einzige Tochter und einziges Kind. — Na — für ein einziges Kind könnte sie schöner ausgefallen sein. Figur hat sie ja. Nur zu klein ist sie. Und mit dreißig wird sie wohl schon 180 Pfund wiegen, und mit vierzig zwei Zentner.

Sie ist mächtig hochnäsig, obwohl Meyer doch noch 1916 mit Lumpen, Knochen, Papier und ähnlichem gehandelt hat. Das ist Tatsache. Erwin weiß es genau. Nur Hengst stammt aus anderen Kreisen: der war Buchmacher, also so einer, der am Totalisator andere Geld verlieren läßt. Ich bin noch nie zu einem Roßrennen gewesen. Aber Erwin beschrieb es mir.

„Frölein Docht, Sü können für mich mal aus der Potsdamer von Heßler ein Pfund Kognakkirschen holen — Da —”

Und das „Da” war ein Hundertmarkschein.

„Bitte —” meinte ich nur. „Ich gehe gern mal an die Luft.”

Und als ich in die Potsdamer einbog, stand da an einem Laternenpfahl ein ganz schrecklich abgerissener Bettler und hielt mir seinen Hut hin. Es war ein ganz alter, weißbärtiger Mann, und er hatte ein Schild auf der Brust:

Blind

Aber wenn man genauer hinsah, stand darunter mit Tinte geschrieben:

bin ich nicht, aber ohne Arbeit.

Ich hatte ihm schon einen Groschen in den Hut geworfen. Hätte ich den Nachsatz vorher gelesen, würde er keinen Pfennig bekommen haben.

Er sagte mit zitternder Stimme: „Danke schön, Fräuleinchen —” Und — komisch! — Die zitterige Stimme kam mir so bekannt vor — Na, vielleicht hatte ich dem Alten schon einmal was gegeben. Ich glaube, ich habe ihn in der Nähe des Schöneberger Stadtparks bereits bemerkt —

Als ich nach einer halben Stunde mit den Kognakkirschen und dem Restgeld von 12 Mark zurückkehrte, saß Olga Meyer auf Erwins Schreibtisch, und das ganze Kontor roch nach ihr. Ich kenne dies Parfüm nicht, aber es ist widerlich-süßlich, roch schlimmer als das der alten Meyern, die Erwin deshalb immer Stinktopf nennt.

Ich setzte mich und arbeitete. Die Olga hatte kaum danke gesagt.

Sie lachte in einem fort, und sie redete immer von Papas Auto, von der Achtzimmerwohnung, von dem Diener und den echten Persern.

Erwin war sehr einsilbig. Kein Wunder! Bei der ekligen Protzerei mußte einem schlecht werden.

Der Köter war natürlich auch da — der Affenpintscher — Süßerle heißt er. Als er meinen Papiekorb taufen wollte, gab ich ihm einen Fußtritt. Er ist nämlich nicht stubenrein. Noch schlimmer als ein Baby ist er. Die haben wenigstens Windeln.

Und das Vieh heulte nun los, als hätte ich es morden wollen. Und die Meyertochter kam um die Schreibtische gehopst und fuhr mich an:

„Wie können Sie so roh sein, Frölein! Pfui!”

Worauf ich mit der Hand auf die Dielen zeigte und meinte:

„Ich habe selbst einen Dackel. Aber der benimmt sich nicht so — so feucht! Und die Krawutzke schilt jedes Mal, wenn sie so etwas findet —”

Olga hatte ihr Süßerle aufgehoben und küßte ihn, warf mir einen Blick zu und sagte spitz:

„Wenn es Ihnen hier nicht gefällt können Sie ja eine andere Stelle annehmen.”

Nun — da schwieg ich. Was sollte wohl werden, wenn ich hier die 600 Mark nicht verdiente! Da muß man eben kuschen — selbst vor einer Olga Meyer. Das ist nicht anders, wenn man Angestellte ist. In dieser Beziehung denke ich sehr vernünftig — aus Not! —

Das war am Vormittag. Und nachmittags um vier Uhr war die Meyertochter wieder da. Die Gäule aber waren nicht da. Und wieder schickte sie mich weg — nach der Leipziger Straße nach ein Paar Handschuhen —

Ja — und Da — habe ich etwas gemerkt! Sie will mit Erwin allein sein! Das ist’s!

Ja — und — komisch; da war ich plötzlich so wütend auf sie, daß ich — ihr den Spaß verderben wollte. Ich fuhr mit der Straßenbahn hin und zurück, war schon nach einer Viertelstunde zurück, schlich ganz leise an der Seite die Treppe hoch, daß die Stufen nicht knarren sollten, und — und — wirklich, ich tat es — und schaute durch das Schlüsselloch.

Aber Erwins Schreibtisch war leer. — Ich trat ein — keine Seele —

Sollten sie etwa im Chefzimmer sein?

Ein Gedanke — das Patenttelephon!

Ich setzte mich, lauschte —

Wahrhaftig — Die Olga sagte gerade:

„Lieber Herr Erwin, Sie müssen uns morgen abend besuchen —”

„Das — das geht nicht —”

Sie lachte —

„Oh, Erwin, ich weiß ja: Sie unterrichten abends noch in einer Privathandelsschule! Das haben Sie doch nicht nötig —”

Na so eine Frechheit: Erwin nannte sie ihn schon —

Ich bekam einen roten Kopf vor Wut — Tatsache!

„Erwin —” flötete sie nun, „Erwinchen, seien Sie doch nicht so — so kalt —” Und wieder lachte sie und sang dann — und sie sang nicht schlecht, so recht wie eine Sirene, die den Odysseus verführen wollte:

„Du — Du — Du, bist so kalt und machst

alles so heiß!

Du — Du — Du, zauberst Flammen hervor

aus dem Eis —”

Pfui — war das gemein! Das war ja genau so wie in Joachims Roman, wo eine vierzigjährige Brettlsängerin zu einem neunzehnjährigen Studenten in Liebe entbrannt ist, ihm Sekt zu trinken gibt und vor ihm in Schleiern tanzt — Näher will ich das nicht beschreiben. Das kann nur Longreen. Und wenn man’s liest, wird man immer röter. Aber — es mag so was schon im Leben geben. Dann hängt eben an der Balanzierstange des Seiltänzerstudenten links der Sekt, der Schleiertanz und die vierzigjährige Soubrette, und rechts hängen nur die neunzehn harmlosen Jungenjahre, und dann purzelt der Seiltänzer natürlich ab, weil das Übergewicht links zu groß ist —

Oh — ich habe Joachim sehr wohl verstanden! Und jeden Tag begreife ich mehr, was er meint —

Die Olga mit den Glotzaugen lachte abermals —

„So kommen Sie doch, lieber, lieber Erwin — Hier auf dem Klubsofa haben wir beide Platz — wirklich — Und wenn Sie Kavalier sind, schnüren Sie mir den linken Lackschuh auf. Der drückt nämlich —”

Von Erwin hörte ich keinen Ton. Ich zitterte für ihn. Ob er wirklich den Lackschuh aufschnüren würde?! Dann mußte er doch vor der Meyertochter knien — Und — er hatte doch kein Geld. Und sie hatte viel — sehr viel, und wie leicht konnte er —

Da — mit einem Male legte ich den Hörer hin, legte noch was anderes hin, nämlich den Kopf auf die Arme, und diese auf die Tischplatte, und — heulte — heulte —

Denn — weinen war das nicht! Noch nie in meinem Leben hatte ich so geweint. — Weshalb jetzt gerade, wußte ich nicht recht. Wohl vor Wut —

Dann ein Gedanke —: ich stellte das Telephon um, und als im Chefzimmer Erwin sich meldete, sagte ich mit rauher Stimme:

„Hier Schnigotzke vom Bankhaus Krandelsohn —”

„Hier Firma Otto Hengst —”

„Ist Herr Hengst zu sprechen?”

„Bedauere — nein —”

„Danke. Schluß. Den neuen Tip kann ich ihm nur persönlich geben —”

Dann legte ich den Hörer weg, ging zur Polstertür, klopfte und trat ein.

Erwin drehte sich nach mir um, wurde sehr rot.

„Hier sind die Handschuhe, Fräulein Meyer, —”

Oh — wie wütend sie war!

„Für Sie bin ich gnädiges Fräulein,” sagte sie und riß mir das Päckchen aus der Hand.

Erwin hatte sich abgewandt und ging wieder hinaus.

Und sehr bald schwebte dann die Meyertochter mit ihrem Süßerle davon —

Erwin saß und schrieb. Wir sahen uns nicht. Aber — ich merkte, daß er mich trotzdem sah — durch das Holz der Aufsätze hindurch —

Und dann stand er auf, trat hinter meinen Stuhl —

„Ulla,” flüsterte er, „weshalb — weshalb hatten Sie so — so verweinte Augen “

„Mir war was reingeflogen auf der Straße. Da habe ich gerieben —” — Oh — ich war ihm böse. Ich haßte ihn plötzlich — Ich sagte das so recht schnippisch.

„Ulla —” — Wie weich das klang, und so sehnsüchtig —

Da — mir schossen schon wieder Tränen in die Augen — Ich merkte: zwei dicke Tropfen fielen, auf den Brief, den ich soeben getippt hatte, und eine fiel; gerade auf das „„Sau”, auf den Anfang des Namens Saulmann, und das war der Inhaber der Firma Saulmann & Schlobitzer in Fürstenwalde, Getreide en gros — auch Schieber! Und das „Sau” zerfloß ganz lila, und die zweite Träne machte den Schlobitzer undeutlich und wischte ihm hinten was weg, so daß es nachher wie Schlot aussah.

Aber Erwin sah das alles, und — mit einem Male hatte er meine Schultern gepackt, — und ich fühlte, daß er mein Haar küßte, hörte, wie er keuchte:

„Ulla — Ulla — wenn wir Geld hätten!”

Ich zitterte — Und ich haßte ihn gar nicht mehr und ich wartete —

Wollte er sich wirklich mit meinem Haar begnügen?! Hatte ich nicht noch Lippen, —?! Dachte er gar nicht daran, daß ich — ich schreckliches Dummchen ihn — ihn — schrecklich gern hatte, wie ich nun endlich wußte —

Aber — er ließ mich los und ging wieder hinter die Aufsätze, stöhnte tief und murmelte:

„Vergessen — vergessen!”

Und dann erschien auch schon Frau Krawutzke, ging ins Chefzimmer, stürzte wieder heraus und kreischte:

„Das Biest is wieder hier jewesen! Mitten auf ’n Teppich liejt wat! Und eener is noch rinjetreten —! Ich dreh’ die Karnallje des Jnick um, wenn ich se hier mal erwisch’! So ’ne Schweinerei!”

Ach — das war die Begleitmusik meiner ersten scheuen Liebesgedanken —

Schrecklich! —

Erwin suchte die Krawutzke zu beruhigen. Aber sie tobte weiter.

„Sie haben jut reden —! Ick muß den Saustall nu reinmachen, und nich Sie!” —

Erwin und ich zogen uns schleunigst an. Auf der Treppe trafen wir den Chefhengst, der die Stufen mühsam raufstelzte. Er wird immer steifer in den Kniegelenken. Als Rennpferd ist dieser Gaul nicht mehr. zu benutzen.

An der Haltestelle der Straßenbahn reichte Erwin mir die Hand. Er war sehr blaß und ernst —

„Leben Sie wohl, kleine Ulla —,” sagte er leise. „Das Schicksal ist so hart, so grausam — Und die Sohnespflicht oft bitter — Leben Sie wohl —!”

Das war so, als ob er mir gesagt hätte: „Wenn ich nicht die kranke Mutter hätte und das Schicksal mir Reichtümer in den Schoß werfen würde, dann — dann dürfte ich Dich lieb haben —”

Ja — ich bin jetzt sehend geworden und habe gute Ohren — Ich höre auch das, was unausgesprochen bleibt.

In der Straßenbahn saß ich ganz vorn, und die Tränen rollten mir über die Wangen — Aber hier war kein Brief von Saulmann & Schlobitzer, hier waren nur meine Hände, und die wurden im Schoße ganz naß.

*

*     *

 

 

25. April.

Wieder sind fünf Tage vergangen.

Der Seiltanz des Lebens geht weiter. — Oh — was habe ich alles durchgemacht in dieser Zeit —!

Ich sitze in meinem Stübchen an dem kleinen Tisch. Das Fenster steht etwas offen. Irgendwo spielt ein Grammophon einen Walzer —

Strupp liegt im Bett. Er war drei Tage weg und kam ganz zerbissen zurück. Und so mager war er. Joachim sagte etwas von „Kampf um das Weib”, als er ihn in diesem Zustande sah.

Noch vor vierzehn Tagen hätte ich nicht gewußt, was er meinte. Jetzt habe ich das Lämmchenfell fast ganz abgestreift —

Strupp geht eben auf Liebesabenteuer aus. Und so eine Hundehochzeit führt oft zu Gefechten, zu Duellen — wie bei den Menschen. Strupp ist mir deshalb nicht unsympathisch geworden. Nein — ich begreife ihn vollständig. Ich war ein Kind bisher, und bin nun Weib, — und bin Braut —

Mein liebes Tagebuch, ich habe Dich lieb gewonnen. Was ich selbst Mutti nicht anvertraue —: Du erfährst alles! —

Doch — ich muß alles der Reihe nach niederschreiben, Ich kann jetzt trotz meines Herzenjammers viel klarer denken als früher. Und ich will nur die Hauptereignisse herausgreifen —

Als ich damals heim kam — mit so roten Augenlidern, da hat Mutti mich sofort in die Arme genommen und mich ausgeforscht.

Ich habe ihr auch alles erzählt. Aber — seltsam: ich habe alles anders erzählt! Bisher hatte ich Mutti nie belogen — nie! Ich brauchte es ja auch nicht zu tun. Ich hatte keine Herzensgeheimmisse — Nun habe ich sie, und — das ist das Seltsame dabei — nun verschließe ich meine wahren Gedanken.

Ich erzählte Mutti, daß die Olga Meyer mich so hochmütig behandelt hätte und daß ich für sie wie ein Laufbursche Besorgungen machen müsse, Das hätte mich so empört —

Mutti streichelte mir die Wangen —

„Kind, Kind, nur gut, daß Du nicht heftig ihr gegenüber wurdest. — Ulla — was sollte werden, wenn Du diese Stellung verlierst?! Wir haben mit Deinem Verdienst nur gerade so das knappe Durchkommen. Und Dein Erbteil von der Tante, die vierzigtausend Mark, die dürfen wir doch nicht anbrechen. Die müssen für Dich zur Aussteuer bleiben —”

Sie drückte mich fester an sich.

„Ulla — zur Aussteuer —! Nicht wahr, Kind, wenn zum Beispiel nun der Joachim eines Tages käme und um Dich anhielte, dann —”

Mir wurde ganz eiskalt, Joachim — Joachim?! Nie — niemals!

„— dann wärest Du versorgt. Er ist reich, Kind, und er ist ein so anständiger Charakter. Letztens hat er doch wieder aus sich selbst heraus die Miete erhöht und zahlt auch mehr für den Morgenkaffee und das Abendbrot —”

So sprach sie weiter. Und ich war ganz still, hatte den Kopf an ihre Brust gedrückt und dachte nur immer: „Joachim — niemals! Ich kann es nicht! Ich liebe Erwin —”

Und schließlich weinte ich, und Mutti faßte das falsch auf und glaubte, ich weinte vor Glück — vor freudiger Erwartung —

Und nachher im Bett klapperten mir die Zähne wie im Fieberfrost. Strupp kroch aus Mitgefühl zu mir nach oben, kuschelte sich an mich an, leckte mir den Hals und sein Dackelschwanz schlug dabei immer gegen mein Ohr.

Ich war so froh, daß ich in all meinem Herzeleid wenigstens ein treues Wesen im Bett hatte.

Bald wurde mir auch so heiß wieder, und ich sehnte mich so nach Erwin. Und wenn er bei mir gewesen wäre, hätte ich ihm bestimmt gesagt, wie lieb ich ihn habe.

So aber hat’s nur Strupp gehört. Und Strupp kann es ihm nicht erzählen.

Als ich eingeschlafen war, habe ich so merkwürdig geträumt wie noch nie —: daß ich auf einem Seil tanzte, und rechts hing Erwin an der Balanzierstange, und links die Meyertochter. Sie futterte in einem fort Kognakkirschen und Handschuhe und wurde zusehends dicker und schwerer, und die Stange zog mich nach links hinüber. Ich konnte nicht mehr das Gleichgewicht halten — Ich warf sie weg, sprang nach rechts, und Erwin umarmte mich, und wir beide sanken in einen brennenden Abgrund, wo er mich küßte und immer wieder küßte, bis die Hitze so groß wurde, daß ich am linken Arm heftige Schmerzen verspürte —

Und — da wachte ich auf, drehte das Nachttischlämpchen mit der rechten Hand an und — sah auf dem linken Unterarm — einen großen Floh saugen, so einen bräunlichen, und das sollen die weiblichen Flöhe sein, die die jungen Flöhe zur Entstehung bringen.

Er hopste mir aber davon und flüchtete in Strupps Fell, wo er auch hingehörte.

Nachher habe ich wieder geträumt, nur von Erwin, und Erwin und ich waren verheiratet und hatten ein Baby, und das Baby hatte im Chefzimmer den Teppich beschmutzt, weshalb die Krawutzke es mit dem Schrubber totschlagen wollte.

So wirft man im Traum alles durcheinander —

Am nächsten Morgen im Geschäft wagte ich Erwin gar nicht anzusehen. Ich schämte mich so. Wenn er den Traum von unserem Baby auch nur geahnt hätte!

Wir sprachen nur das Nötigste miteinander. Nachmittags kam Olga Meyer mit ihrem Süßerle und unterhielt sich mit Erwin über den Abend, den er bei Meyers heute verleben sollte.

Diesmal konnte sie mich nicht wegschicken, denn beide Gäule waren im Chefzimmer.

Oh — wenn ich Olga die Papierschere hätte ins Herz stoßen können! Ich schwankte auf meinem Stuhl immer zwischen Weinen und Mordgedanken.

Was die Liebe doch aus den Menschen macht! Ich war nie so — so häßlich in meinem Denken wie jetzt. Und immer wieder habe ich vorbeigetippt.

Es war ein furchtbarer Nachmittag.

Abends war Mutti zu Frau Sperling gegangen, die bereits wieder daheim ist und dort von ihrer Schwester gepflegt wird, die extra aus Königsberg herübergekommen ist.

Ich glaube, Mutti wollte nur, daß Joachim und ich wieder mal allein seien. Und Joachim holte mich denn auch in sein Zimmer und zeigte mir Photographien von seinen Orientreisen. Auf vielen Bildern stand neben ihm eine Dame. Und diese Bilder legte er immer schneller weg als die anderen.

Er sagte mir, daß er im Herbst wieder nach Ceylon reisen wolle —

„Hoffentlich nicht allein,” fügte er hinzu und schaute mich so innig an.

Da wurde ich rot, stand schnell auf und erklärte, Strupp müsse noch vor die Tür gelassen werden.

Er begleitete mich, und da kniff Strupp uns aus, rannte wie besessen davon, die Nase immer auf der Erde. So was nennt man Witterung. Und dann kam Strupp erst nach drei Tagen wieder.

Joachim sprach über seinen Roman, und wie schwer es sei, das Milieu echt zu schildern. Dazu gehörten viele Studien — an Ort und Stelle, und das sei manchmal sehr unangenehm.

Wir tranken wieder Tee. Zum Glück erschien Mutti schon um halb elf. Nun konnte ich in meinem Stübchen mich ausweinen. Denn ich wußte ja: Erwin war bei Meyers! Und vielleicht mußte er Olga wieder die Lackschuhe aufschnüren —

Ach — ich starb fast vor Eifersucht. Und Strupp fehlte mir so sehr. Er hätte wieder geleckt und mit, dem Schwanz geklopft, und das hätte mich doch wenigstens etwas beruhigt —

Am nächsten Morgen war Erwin noch scheuer mir gegenüber. Meyer nannte ihn jetzt „Lieber Sperling”, und das ließ tief blicken.

Nachmittags war nur der Chefhengst im Chefzimmer. Er rief mich hinein und streichelte mir wieder den Arm —

Ich dachte an Mutti, — daß ich die Stellung hier nicht verlieren dürfe!

Der Chefhengst war nämlich am Tage vorher so unfreundlich und grob zu mir gewesen, daß ich schon fürchtete, er würde mir kündigen.

Ich hielt also still. Und nahm auch den Karton Konfekt und das Theaterbillett zum Neuen Operettentheater. Ich mußte ja! Ich würde ja Joachim nie heiraten — nie! Nein — das konnte ich mir gar nicht ausdenken. Mit Erwin. war das ganz anders. Da hatten wir gleich im Traum ein Baby gehabt, und wir waren so namenlos glücklich.

Ich mußte also! — Und der Chefhengst küßte mir auch die Hand — Mir war alles gleichgültig — alles! Nur als er sich dann bückte und nachsehen wollte, ob ich wieder vielleicht ein winziges Löchlein im Strumpf hätte, schlug ich ihm auf die zitternde Pfote, machte einen Gavotteknix und sagte: „Bitte, Herr Hengst, was erlauben Sie sich!”

Dann zwinkerte er mit den scheußlichen, roten Augen und meinte:

„Ullachen, wir werden sehr bald auf einem Verlobungsfest tanzen können — bei Mevers!”

„Ich verstand, Aber ich beherrschte mich, sagte nur:

„Mich werden Meyers kaum einladen!”

Und dann eilte ich hinaus —

Das war dieser Tag. Und es folgte ein noch schrecklicherer —

Vormittags war die Olga wieder im Kontor und die Gäule waren weg.

Erwins Mutter, das hatte mir Mama am Abend vorher erzählt, sollte in ein Sanatorium nach der Schweiz. Und der Chefmeyer wollte das alles bezahlen, und Frau Sperling sollte so glücklich sein, weil ihr Junge eine so glänzende Partie machen würde —

Olga schickte mich nach einem Flacon Badesalz zu Wertheim. Ich war froh, daß ich auf diese Weise aus dem Kontor kam. In mir war alles wie tot. Ich wäre ins Wasser gegangen, wenn Mutti nicht gewesen wäre. Die hätte sich zu Tode gegrämt.

In der Potsdamer Straße stand wieder der alte Bettler. Aber ich gab ihm nichts. Andere gaben, das sah ich. Sie lasen eben nicht, was unter dem „Blind” geschrieben war, und das war Betrug —

Als ich nach anderthalb Stunden zurückkehrte, war nur der Chefhengst da.

Er telephonierte aber mit jemand, und ich drückte mich wieder, denn ich wollte mit ihm nicht allein sein. Außerdem war es gleich zwölf.

Nachmittags belauschte ich durch das Patenttelephon ein Gespräch zwischen den Gäulen.

Sie sprachen über Schnigotzke den Banklehrling, und darüber, daß man nächste Woche unbedingt Mangrovia-Aktien kaufen müsse, die erst künstlich gedrückt werden und nachher immens hochklettern würden.

Ich war jetzt schon so bewandert in Spekulationsdingen und Börsenschiebereien, daß ich genau wußte, was das alles bedeutete —

Mein Theaterbillett galt erst für den nächsten Tag. Mutti war abends wieder bei Frau Sperling und Joachim ging mit mir in ein Kino, wo es die Lieblingsfrau des Maharadscha gab.

Ich erzählte ihm, daß ich morgen die neue Operette mir ansehen würde, Er sagte nichts dazu, war wieder sehr lieb und herzlich und fragte nur wiederholt, weshalb ich so blaß sei.

Ach — was wußte er von meinen durchweinten Nächten, von meinem zerrissenen Herzen! Nichts — nichts! Nicht mal Mutti ahnte etwas —

Als wir aus dem Kino kamen, faßte Joachim mich unter. Ich merkte, daß er mir einen Antrag machen wollte.

Oh — wie froh war ich, als ich da inmitten einer Schar von Hunden unseren Strupp entdeckte!

Strupp rettete mich — Und Strupp wurde nach Hause geschleift und nachher im Bett halb tot gedrückt. Wie selig war ich, daß ich ihn wieder bei mir hatte! Leider war er so müde, daß er sich gleich zusammenringelte und ganz fest schlief —

Der Theaterabend — dieser Theaterabend! Zugleich meine Verlobungsnacht —

Was ganz häßlich ist, soll man in seinem Tagebuch nur andeuten. Und ich habe den Abschaum des Menschlichen erlebt. Ich weiß nicht, ob dieser Ausdruck richtig ist. Man sagt doch aber „Abschaum der Menschen” und meint damit Leute vom Schlage des Massenmörders Großmann, der hier in Berlin so viele arme Frauen hingeschlachtet hat. Daher muß doch auch „Abschaum des Menschlichen” eine Tat bezeichnen können, die etwa ebenso gemein ist.

Und so, wie der Chefhengst an mir gehandelt hat, — das war gemein! Nie hätte ich diesem stelzbeinigen Lebegreis (das ist aus Joachims Roman) solche Raffiniertheit zugetraut.

Ganz ahnungslos fuhr ich ins Theater. Mutti warnte mich vorher noch: „Ulla, sei vorsichtig!”

Worauf ich erwiderte: „Mutti, ich kenne die Großstadt jetzt ! Mich zieht keiner vom Seil nach links hinüber.”

Mutti verstand das nicht ganz. Aber der Sinn war ihr doch klar, denn sie nickte und meinte: „Ich weiß ja, Ulla, bei all Deiner Kindlichkeit bist Du energisch, wenn es darauf ankommt — Und lange wirst Du ja hoffentlich nicht mehr bei Hengst und Meyer bleiben brauchen —” — Sie lächelte so glücklich, die arme Mutti! Sie hofft ja, daß ich mich mit Joachim verloben werde —

Ach — ich fuhr so gern ins Theater. Ich wollte einmal all mein Herzeleid vergessen. Denn jeden Vor- und Nachmittag den armen Erwin vor Augen haben, der wie eine wandelnde Leiche und nicht wie ein zukünftiger Millionär-Schwiegersohn umherschleicht, — das war zu viel, besonders wenn man nachts immer von Familienglück und süßen Babys träumt! Und meine Babys sind — im Traum — ganz stubenrein und riechen nie —

Als ich kaum meinen Parkettsitz eingenommen hatte, — wer erschien da: der Chefhengst!

Und er hatte den Sitz rechts von mir, begrüßte mich so recht väterlich:

„Na, Ulla, — wie geht’s? Was macht die Mama?”

Die Umsitzenden dachten sicher, es wäre mein Onkel oder so was Ähnliches.

Er hatte mir eine Theatertüte wundervolles Konfekt mitgebracht. Obenauf lag ein Nußpralinee, son Ding mit einer halben Walnuß obendrauf.

Und das probierte ich sofort. Denn ich esse jetzt fast nichts daheim. Jeder Bissen bleibt mir in der Kehle stecken.

Der Vorhang ging hoch.

Es war so eine ganz moderne Operette. Der erste Akt spielte in einem Freibad. Ich schämte mich etwas, denn die Badekostüme waren sehr wenig dezent, meist zu eng, vielleicht absichtlich. Und manche Damen hatten, fleischfarbene Trikots an, und wenn man flüchtig hinsah, sah es ganz so aus als hätten sie nur die Badekappe auf.

Mit einem Male wurde mir siedend heiß und furchtbar übel.

Mir flimmerte es vor den Augen. Einen Moment wurde es besser. Aber der nächste Anfall war noch schlimmer.

„Ich muß — raus,” hauchte ich dem Chefhengst zu.

Die Umsitzenden waren wütend über die Störung. Einer zischte: „Olle Zimperliese — dann soll sie zu Hause bleiben!” worauf der Hengst sagte: „Du hast schon zu lange noch all Deine Backzähne beieinander, Du Fletz!”

Er nahm sich meiner also in liebenswürdigster Weise an, brachte mich hinaus, ließ mir ein Glas Malaga reichen und sagte, er würde mich nach Hause fahren.

Im Auto wurde mir noch schlechter. Aber direkt übel wurde mir nicht. Es war so eine Mattigkeit, die sehr bald beinahe schön war, so als ob man gar kein Gewicht mehr hätte und gen Himmel schwebte —

Ich konnte die Augen nicht mehr aufhalten. Ich war ganz wehrlos —

Und doch blieb der Schuft vorläufig noch Kavalier.

Vorläufig —! — Er streichelte nur meine Hand, und ich hörte, wie er scheinbar aus ganz — ganz weiter Ferne sagte: „Ulla, ich kann Sie in diesem Zustand nicht zu Ihrer Mutter bringen. Sie würde zu sehr erschrecken —”

Ich blieb stumm, Mir war alles gleichgültig. Wenn jetzt Erwin neben mir gesessen hätte, dann würde ich gern mit ihm bis an mein Lebensende Auto gefahren sein — Hand in Hand —

Dann führte der Chefhengst mich in ein Haus. Er stützte mich, und ich schwankte in eine Wohnung, sank auf einen Diwan —

Nach einer Weile gab er mir Sekt zu trinken. Ich hatte auch brennenden Durst, Und trank — ich glaube drei Gläser —

Und konnte nun die Augen aufmachen, sah dieses Scheusal neben mir knien, fühlte seinen keuchenden Atem, sah seine roten Kaninchenaugen, fühlte seine zitternde Hand, hörte, wie er gleich einem Trunkenen lallte —

„Süße, einzige Ulla — Hast Du ein Löchlein im Strumpf? Ich — ich muß doch mal —”

„Pfui —!” — Und mit einem Satz war ich hinter dem Diwan —

Aber er hielt noch meine linke Hand, riß mich brutal zurück —

Ich wollte schreien. Aber das Entsetzen lähmte mich —

Da — die Flurglocke rasselte — rasselte unaufhörlich.

Und das Scheusal fluchte, stürzte hinaus —

Ich wollte fliehen, sank mitten auf dem Perserteppich zusammen —

Die Tür flog auf —

Ein zerlumpter Mann, jener alte Bettler, erschien, lief auf mich zu, hob mich empor —

Und es war Joachims Stimme, die mich bebend vor Angst fragte:

„Ulla — hat er Ihnen etwas getan —?”

Oh — diese Seligkeit ! Es war Longreen —!

Ich schüttelte nur den Kopf —

Dann kam der Schuft — Und Joachim sagte nichts, gab ihm nur zwei furchtbare Ohrfeigen und einen Boxhieb vor den Magen —

Der Chefhengst flog in die Ofenecke und schnappte nach Luft —

Das sah furchtbar komisch aus —

Dann kam noch jemand: die Krawutzke — in einer lachsfarbenen Bluse, mit offenem Mantel und schickem kleinen Hut —

Beinahe tat das Scheusal mir jetzt leid, denn die Krawutzke ist doch sehr kräftig, und auch sie ohrfeigte den Chefhengst nun in einer Weise, daß er nur immer stammeln konnte:

„Aber — aber — Lina — Lina!” Und zwischendurch klatschte es immer —

Dann hatte mich Joachim schon in ein draußen wartendes Auto getragen, hielt mich zart an sich gedrückt —

Und — er hatte noch eine zweite Wohnung, wie ich nun sah, — in einem alten Hause in Schöneberg im Erdgeschoß, — zwei kleine Zimmer.

Er war der alte Bettler mit dem betrügerischen Pappschild. Er bettelte zu Studienzwecken und besuchte in dieser Verkleidung die Kaschemmen —

Er hatte mich in die Sofaecke gesetzt, gab mir kalten Tee zu trinken. Auch zwei Tabletten mußte ich schlucken, Da wurde mir besser — sogar ganz gut, und ich konnte mich nun mal erst gehörig ausweinen —

Und Joachim kniete vor mir, zog mir die Hände vom Gesicht und sprach von seinem einsamen Leben, von seiner Vergangenheit —

Daß er einmal ein Weib geliebt, eine vornehme Engländerin, die Tochter eines Lords. Und deren Vater hätte sie beide getrennt, und Evelyn Blampoole hatte einen anderen heiraten müssen. Aber vergessen hatte sie Joachim nicht, und er sie nicht. Er krankte noch an dieser Liebe —

Das war so romantisch, so ganz wie in der Hausfrau. Er tat mir leid —

„Ulla,” flehte er, „Ulla, helfen Sie mir, dieses Liebesleid begraben. Nur Sie können es, nur Sie — Ich liebe Sie, Ulla —”

Und — er tat mir doch so leid — Und als er mich emporhob, als er mich umschlang, da kam ich mir an seiner Brust so geborgen vor —

Aber — küssen ließ ich mich nicht —

„Nein — nein, — später, Joachim —,” wehrte ich ab —

Er nannte mich sein Bräutchen, küßte meine Hände —

Den Bart und die schäbigen Kleider hatte er schon vorher abgelegt —

Braut — Braut —?! — Ich konnte es nicht sein, nicht für ihn — Nein, das konnte ich nicht!

Aber ich schwieg, bat ihn nur, der Mutti nichts von dem Scheusal zu erzählen — nichts!

Er versprach es — Er verlangte aber, ich solle nicht mehr zu den Gäulen gehen — nie wieder!

Und — das konnte ich auch nicht! Ich würde ja nie seine Frau werden ich durfte die Stellung nicht verlieren — !

Aus Dankbarkeit und Mitleid sollte heute dieses Verlöbnis von mir geduldet werden. Aber morgen — oder übermorgen wollte ich ihm ehrlich alles gestehen. Und ein Mann wie Joachim würde einsehen, daß ohne Liebe eine Ehe unmöglich war, zumal er doch noch immer jene Evelyn im Herzen trug und ich Erwin nie vergessen würde — nie, und wenn ich schon alt und Großmutter war —

Ich war ganz ruhig, als ich ihm vorstellte, daß ich wenigstens bis zum 1. Mai meinen Dienst weiter versehen müsse. Sonst würde Mutti merken, daß heute etwas Besonderes geschehen sei. Und das dürfe nicht sein. Auch nicht früher als am 1. Mai solle er bei Mutti um mich anhalten —

Er war einverstanden. Er ist ja so zart und so lieb. Und trotzdem — Erwin ist es nicht! Erwin ist so ganz anders. Wenn Joachim auch witzig ist, — er hat so etwas an sich, das Respekt einflößt. Und vor Erwin habe ich gar keinen Respekt. Nur lieb habe ich ihn —

Mutti hat denn auch nichts gemerkt, gar nichts. Joachim brachte mich bis vor die Haustür, und ich ging allein nach oben.

Strupp habe ich wieder den ganzen Kopf naß geweint — Und nachher hatte ich drei Flöhe auf der Brust.

Das Leben ist furchtbar.

*

*     *

 

 

15. Mai.

Endlich finde ich Zeit, wieder einmal an mein Tagebuch zu denken.

Wie sollte ich dies auch inzwischen, wo sich doch die Ereignisse geradezu überstürzten —! Ich hatte für nichts Gedanken, nur für Erwin und Mangrovia —

Doch — eins hinter dem anderen —

Als ich am nächsten Tage ins Geschäft kam, war der Chefhengst schon da. Er sah ganz verschwollen aus. Erwin saß wie ein Häufchen Unglück auf seinem Platz.

Der Chefhengst pustete sich auf wie ein Frosch, sah mich heimtückisch an und sagte, als ich noch die Jacke und den Hut ablegte:

„Auch Ihnen kündige ich hiermit zum 15. Mai, Fräulein Ulrike Docht! Genau so, wie Sperling schon gekündigt ist.”

Mir sanken die Arme schlaff herab. Der Hut rollte auf die Erde und bis vor Erwins Füße.

Er hob ihn auf, stäubte ihn ab und stand nun dicht neben mir, mit dem Rücken gegen den Chefhengst hin, hing ihn auf — meinen Hut — und flüsterte:

„Zeigen Sie ihm doch nicht so, wie entsetzt Sie sind —!”

Das gab mir die Fassung wieder.

„Es ist gut, Herr Hengst,” sagte ich kühl. „Ich wollte mich ohnedies verändern.”

Das war gelogen. Aber es war ein Trumpf. — Er ging und ballerte die Polstertür hinter sich zu.

Erwin und ich waren allein.

Wir schauten uns an, schauten weg.

Ich lehnte noch an der Wand. Und als ich nun vortrat — ritsch, da war ein Nagel unten in der Tapete gewesen, und — das Loch im Strumpf war fertig — gerade an der rechten Wade — wie damals, als das Scheusal mich durch das Fernglas beluxt hatte.

Aber ich achtete nicht darauf —

„Weshalb werden denn Sie rausgeschmissen ?” fragte ich Erwin ganz atemlos,

Er blickte zu Boden, wurde sehr rot —

Eine unsichere Hoffnung war in mir aufgekeimt — Sollte es etwa mit der Meyertochter aus sein, sollte —

Und da sagte Erwin schon leise: —

„Lampendochtchen — ich konnte nicht —

Und er sah mich an. Und ich las so Entzückendes in seinem Blick —

„Was konnten Sie nicht? Los doch —!”

„Mich mit der — der Olga verloben —”

Ich preßte die Hände aufs Herz. Sonst wäre es kaputt gegangen, so heftig klopfte es —

„Nein — ich konnte nicht. Sie war mir zu — zu gewöhnlich, zu aufdringlich, und — und ich habe eine andere lieb, der darf ich’s aber nicht sagen — Sie hat nichts, und ich habe nichts, und am fünfzehnten Mai —”

Er schluckte, konnte nicht weitersprechen, ging an seinen Schreibtisch und nahm das Hauptbuch vor.

Ich tat dasselbe. Das heißt: ich tippte! Und in mir war Jubel und Verzweiflung, — ganz vermengt. Mal kam der Jubel nach oben, weil Erwin mich so liebte, daß er die Meyermillionen schießen ließ; dann wieder die Verzweiflung, weil ich nun hier so sehr bald nicht mehr tippen würde — und weil das Gehalt wegfiel — und weil ich dem Namen nach Braut war —

Und der Brief, den ich tippte, kriegte lauter verwaschene Stellen, aber ein „Sau” und ein „Schlot” kamen dabei nicht heraus, weil das Schreiben an Gottlieb Ehrlich & Komp. ging — auch Schieber.

Da — das Telephon schrillte. Ich erkannte des Banklehrlings Schnigotzke Stimme und verband mit dem Chefzimmer.

Nachher war ich neugierig, was der Bengel wieder den Gäulen mitgeteilt haben mochte.

Ich horchte also durch das Patenttelephon —

Und Hengst brüllte:

„Mensch, Du bist verrückt —! Mindestens vierzigtausend Mark riskieren wir jeder — mindestens. Die Mangrovia klettern in vierzehn Tagen unheimlich. Der Schnigotzke hat uns noch nie falsch informiert. Und seine Prozente sind auch mäßig. Vierzigtausend jeden Tag, damit es nicht auffällt, — das is der Hauptwitz. Wir lejen uns so peu a peu mit zweihunderttausend fest, und —”

Da gab ich das Horchen auf.

Eine blitzartige Erkenntnis war in mir aufgezuckt —, ein Plan, reich zu werden, — und wenn ich Geld hatte, konnte Erwins Mutter in die Schweiz, dann konnten auch die Träume von dem süßen Baby Wirklichkeit werden, dann —

Ich saß ganz still da, überlegte! — Als der Chef-Hengst die 40000 Mark erwähnt hatte, war mir mein Erbteil eingefallen — 40 00 Mark in bar auf der Deutschen Bank —

Mutti mußte das Geld abheben — sie mußte es tun! Ich würde so lange betteln, bis — bis sie eben nachgab —

Die Gäule gingen gleich darauf weg.

Ich wollte mir zunächst mal das Loch zunähen, denn es war ein gehöriges Loch. Und Nadel und Zwirn hatte ich im Handtäschchen.

Ich setzte den Fuß auf den Stuhl —

Aber — es war eine sehr mühsame Arbeit, und — da hatte ich mich wirklich gestochen und „Au!” geschrien.

Erwin stürzte sofort herbei —

„Warten Sie, Ullachen, das erledige ich — Hm — am besten ist, Sie legen sich lang auf meinen Schreibtisch —”

Warum sollte ich es nicht tun?! Es war doch Erwin, der mich flicken wollte, und Erwin würde nichts dabei finden, wenn ich auf dem Bauche lag —

Ja — ich lachte sogar; die Verzweiflung war vergessen. Die Mangrovia-Aktien waren der Hoffnungsfaden, an dem ich zum süßen, stubenreinen Baby und zum Familienglück mit Erwin emporzuklettern hoffte.

Erst kletterte ich aber mal auf den Tisch und legte mich zurecht —

Und — da kam’s!

Dieser Erwin! — Er flickte nicht — bewahre, — er — küßte immer wieder meine Haut durch das Loch hindurch — Und ich hielt ganz still —

Bis er mich dann einfach vom Tische hob, mich an sich riß und — wo anders küßte. Und meine, Lippen waren bald glühend heiß, und meine ganze Frisur war futsch —

Ach — war das eine Seligkeit!

Ich saß ihm nun auf den Knien, kuschelte mich an ihn und erzählte von Schnigotzke, der immer im Klosett horchte. Aber das Klosett umschrieb ich. Und von den Mangrovia-Aktien, dem Patenttelephon und meinen 40000 Mark —

Auch von gestern abend — von Joachim, der mir nur die Hände geküßt hatte und dem ich gleich heute mittag sagen würde, daß ich nie — nie seine Frau werden könnte — nie! —

Erwin war sehr verständig, war nur ganz wenig eifersüchtig. Er redete dann sehr ernst mit mir, riet mir ab, mein Geld —

Ich ließ ihn gar nicht aussprechen.

„Erwin — unser Glück — Deine Mutter —!” — und das genügte.

Er wollte die Aktien aufkaufen. Er weiß ja mit so was Bescheid —

Die Gäule kamen vom Frühstück zurück. Und Meyer schnauzte Erwin so recht gemein eines Versehens wegen an —

Kunststück — ich tippte auch immer daneben! War das ein Wunder! —

Mittags klopfte ich daheim sofort bei Joachim an — noch in Hut und Jacke. Er war ausnahmsweise zu Hause. Seine Bettlerstudien hatte er eingestellt.

Er saß am Schreibtisch, erhob sich sofort. Ich ging ohne Scheu zu ihm hin. Als ich aber sein Gesicht sah, stutzte ich —

„Herr Longreen, — was fehlt Ihnen?”

Unwillkürlich tat ich wieder ganz fremd. Er war mir ja schließlich auch nichts als ein guter Freund. — Bräutigam — Verlobter, — das war wer anders! Das war der süß-freche Erwin, der mir das Loch unglaublich schlecht zugenäht hatte. Davon hatte er keine Ahnung! Das mußte er erst in der Ehe lernen —

Joachim schaute mich an. Und allmählich wurde sein Gesicht weniger düster.

„Weshalb — ,Herr Longreen’ , Ulla?” fragte er zögernd.

Da sprudelte ich denn alles hervor; griff nach seiner Hand, sagte schließlich:

„Joachim, Sie sind ein lieber Mensch! Und ich bin Ihnen auch gut — so, wie einem lieben Bruder eben —

Und er — er lachte fröhlich auf, nahm meinen Kopf, küßte mich, zeigte mir dann die Depesche, die vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen Hatte —

Und da stand:

„Bin wieder frei. Komme übermorgen nach Berlin.

Evelyn,”

Ich begriff alles, rief:

„Joachim, sie hat sich scheiden lassen —”

Er nickte. „Ja, kleine Ulla! Es steht heute auch in den Morgenzeitungen, daß die Herzogin von Worcester die Scheidungsklage wegen körperlicher Mißhandlungen angestrengt hat.”

„Herzogin” — oh, und —

„— und jetzt wird sie Frau Longreen, kleine Ulla, ganz schlicht Frau Longreen, und Sie, süße Ulla, werden Frau Sperling! Ihre Mutter werden wir schon herumkriegen, daß sie die vierzigtausend Mark hergibt, und ich selbst werde Erwin noch vierzigtausend dazu pumpen, damit das Geschäft auch lohnt —”

Und — als wir uns gerade bei den Händen hielten und im Zimmer umhertanzten — rein wie die Kinder, öffnete Mutti die Tür, hob segnend die Hände und rief strahlend:

„Ich wünsche Euch Glück, meine lieben, lieben Brautleute —” — Und die Tränen perlten ihr über die Wangen.

Joachim nahm sie dann einfach um. die Taille, drängte mich hinaus und brachte mit Mutti alles ins Reine —

Mutti war die erste Zeit über noch sehr still. Sie traute dem Schnigotzke und den Mangrovia nicht. Aber ich betete jeden Abend im Bett, daß sie steigen möchten. Und Strupp betete auch, — das heißt, ich legte ihm die Vorderpfoten zusammen und kniff ihn etwas in den Schwanz. Dann quiekte er. Und das genügte.

Sie stiegen — sie stiegen unheimlich. Wir hatten sie mit 197 gekauft, und jetzt standen sie schon 1250! —

Ja — und heute vormittag, als sie 1982,5 standen, da hat Erwin sie verkauft !Und nachmittags um sechs Uhr war der feierliche Abschied von den Gäulen. Wir hatten alles schlau überlegt —

Arm in Arm gingen wir ins Chefzimmer. Die Olga war auch da. Und Erwin sagte:

„Meine Braut und ich wollten Ihnen lebewohl und alles Gute für die Zukunft der ehrenwerten Firma wünschen. Wir scheiden ohne Groll — aber reich! Wir sind ein einziges Mal Börsenschieber gewesen. Jetzt werden wir ein Ehepaar und anständige Kaufleute, — was nicht jeder von sich behaupten kann. Das Loch im Strumpf hat uns Glück gebracht, hat uns zusammengeführt, hat — Aber das geht nur uns was an. — Mahlzeit — wir haben die zweifelhafte Ehre — Mahlzeit!”

Das war fein! Auf der Treppe haben wir uns schief gelacht über die drei Gesichter —

Und nun trage ich ein gülden Ringlein am Finger, und Strupp hat ein halbes Pfund Leberwurst kriegen sollen. Leider war er wieder zu einer Hundehochzeit eingeladen.

So werde ich denn nun allein ins Bett schlüpfen. Ich werde nicht mehr lange allein sein: nach vier Wochen bin ich Frau Sperling —

Wird das himmlisch werden —!

*

*     *

 

 

2. Februar.

Zehn Monate sind vergangen. Strupp liegt nie mehr bei mir im Bett. Seit vorgestern habe ich ein Baby, einen Jungen, neun Pfund wog er. Erwin ist mächtig stolz. Aber — stubenrein ist er nicht, der süße Knirps. Ach nein —

Der Chefhengst hat übrigens die Krawutzke heiraten müssen, nachdem deren Mann an Alkohol jämmerlich zu Grunde gegangen ist. Er ertrank nämlich in einer Brauerei im Bierbottich. Erwin meint, das wird für ihn ein angenehmer Tod gewesen sein.

Longreen und Frau sind in Indien und genau so glücklich wie wir, nur noch ohne Baby.

Ich muß jetzt schließen. Ich schreibe im Bett, und Baby hat Hunger. Strupp ist auch mal an der Mutterbrust großgezogen worden. Das gehört zum Familienglück —

* * *

 

 

Fußnote:

1 Verfasserangabe Umschlagbild: Ulrike Doch; Innentitel: Ulrike Docht